5


Hin und wieder in ihrem Leben hatte es Zeiten gegeben, in denen Charity das Gefühl gehabt hatte, langsam aber unaufhaltsam auf einen Wutausbruch zuzusteuern, bei dem regelmäßig Teile des Mobiliars und gelegentlich auch ein paar Knochen zu Bruch gingen. Zu diesen Zeiten hatte sie immer das Gefühl gehabt, ein paar Schritte neben sich selbst zu stehen und sich dabei zuzusehen, wie sich kalte Wut langsam in ihrem ganzen Körper ausbreitete, vom Nacken den Rücken hinunterlief, sich im Bauch sammelte, um schließlich auch Beine und Arme zu erfassen, bis in die Zehen und Fingerspitzen hinein. Ein Tag begann dann typischerweise mit Kopfschmerzen nach dem Erwachen. Sie pflegte über Teppichkanten zu stolpern, leere Zahnputztuben vorzufinden, ihren Kaffee in die Untertasse zu verschütten. Irgendwann führte einer dieser Zwischenfälle zur ersten Unbeherrschtheit. Und dann schließlich, nach Stunden oder Tagen, erreichte sie einen Zustand, in dem ein Niesen sie in anhaltende berserkerhafte Wut versetzen konnte.

Seit drei Tagen saßen sie in der MacDonalds-Zentrale fest und warteten darauf, daß irgend etwas geschah. Sie beschäftigte sich mit der Beschreibung der Sicherungssysteme, und es trug nicht gerade zu ihrer Laune bei, daß es sich nicht um Klarschrift-Text, sondern um Sprachaufzeichnungen handelte, die nicht computerlesbar waren und daher auch nicht nach Stichwörtern durchsucht werden konnten. Zähneknirschend ließ sie sich Stunde um Stunde vorspielen und versuchte zu ertragen, daß die Aufzeichnungen von ihrem geschiedenen Mann angefertigt worden waren, dessen Stimme sie eigentlich nie wieder hatte hören wollen.

Immer wieder versuchte sie sich klarzumachen, daß es die erzwungene Untätigkeit war, die ihr so zu schaffen machte. Sie beneidete Skudder und Harris, die damit beschäftigt waren, das letzte verbliebene Schwerlast-Transportschiff zu überprüfen. Sie hatte Dubois im Auge behalten wollen und ihr deshalb die Aufgabe übertragen, die nicht weniger langweiligen Registrierungen und Kameraaufzeichnungen aus dem Tagebaugebiet durchzusehen. Nichts davon hatte sie wesentlich weiter gebracht. Weder Kias noch Gurk hatte sich über ihre Interpretation der Botschaft besonders überrascht gezeigt, und Charity argwöhnte, daß zumindest die Jared von Anfang an mehr von der Botschaft entschlüsselt hatten als sie zugeben wollten. Nun aber waren sie vermutlich genauso ratlos wie sie selbst. Sie hatten die Spur verloren. Von den Moroni-Gleitern, die das Wrack der HOME RUN angeflogen hatten, gab es keine Spur, und sie vermutete, daß der Trupp wieder zu der verborgenen Basis der Moroni zurückgekehrt war, wo immer sich diese Basis auch befinden mochte. Sie vermutete nach wie vor irgendwo eine unterirdische Anlage, und es hätte sie nicht verwundert, wenn der Transmitter in Grube II oder zumindest in einem der Zugänge gewesen wäre. Allerdings war er abgeschaltet geblieben, solange Dubois und der Würfel ihn überwacht hatten.

Sie drückte auf die Unterbrechungstaste und machte sich ein paar Notizen. Die meisten der improvisierten Fallen und Abwehranlagen von MacDonalds-Basis waren inzwischen abgeschaltet, aber die eigenständig handelnden Servomechanismen, angefangen bei den verdammten Reinigungsmaschinen bis hin zu den Magnetzügen, stellten noch immer eine Bedrohung dar. Sie seufzte leise und wünschte sich, die Moroni würden plötzlich eine große Neugier für MacDonalds entwickeln, dann hätte sie es den Ameisen überlassen können, herauszufinden, welche Teile der Basis sie betreten konnten und welche nicht.

»Darf ich Ihre Meditationen einen kurzen Moment unterbrechen«, erkundigte sich 370/98 höflich. Der Taktikcomputer verfügte über ein schier endloses Repertoire aus dummen Wortspielen und ironischen Formulierungen, und der Umgang mit ihm trug nicht dazu bei, Charitys Temperament in irgendeiner Weise zu besänftigen.

»Mach es kurz«, sagte sie lustlos.

»Ganz wie Sie wünschen, Lady.« Einer der Bildschirme an der Decke flackerte auf. »Ich empfange ein unregelmäßiges Signal auf einer Moroni-Notfrequenz.«

Charity war sofort hellwach. »Die Gleiter?« fragte sie alarmiert. Dubois warf ihr einen fragenden Blick zu.

»Keine Information«, antwortete der Würfel. »Ich möchte hinzufügen, daß es sich um dasselbe Frequenzband handelt, auf dem die Botschaft vom Pol aufgefangen wurde.«

»Akustische Wiedergabe«, schnappte Charity, bevor die Erklärung ihr richtig bewußt geworden war. Ein in unregelmäßigen Abständen auftretendes Piepgeräusch setzte sich deutlich gegen das Hintergrundrauschen ab. Die Sonnenaktivität störte jeden Funkempfang.

»Es handelt sich um eine Nachricht ...«

»... in Space-Force-Chiffre«, unterbrach Charity die sich anbahnende langatmige Erklärung. »Unsere unbekannten Lotsen. Dechiffrieren, 370.«

»370/98«, sagte der Würfel betont. »Soviel Zeit muß sein.«

Charity atmete tief ein und nahm sich vor, das Gehäuse des Taktikcomputers mit einer Axt zu demolieren, sobald sie etwas Zeit übrig hatte.

»Übersetzung kommt«, sagte der Würfel, bevor sie Gelegenheit zu einem Kommentar hatte. »Monitor Zwei.«

Sie überflog den Text, »Warnung an Charity Laird«, las sie halblaut und überflog die Zeilen, noch während sie geschrieben wurden. »Befinden uns ... das ist die verdammte Botschaft.«

»Wort für Wort«, begann 370/98 und verstummte plötzlich.

»Radarkontakt«, rief Dubois und beugte sich hastig über ihr Pult. Alarmsirenen heulten irgendwo über ihnen an der dunklen Decke der menschenleeren Kommandozentrale. Auf dem großen Übersichtsbildschirm konnte man das Gelände von Grube II erkennen. Ein einzelner Moroni-Kampfgleiter zog nach oben, und ein zweiter entfernte sich vom Transmitter.

»Radar abschalten«, rief Charity. »Beeilen Sie sich.«

»Ausgeführt«, meldete der Taktikcomputer, ungewöhnlich wortkarg, noch ehe Dubois’ Finger die Konsole erreicht hatte. Der Alarm wurde gleichzeitig abgeschaltet.

Auf dem Bildschirm schloß sich der dritte Gleiter der Gruppe an. Das Übertragungsfeld im Transmitterring wogte plötzlich und zeigte sich in schillernden grünen Farben. Die Silhouette eines vierten Gleiters war zu erkennen. Laserschüsse trafen die nackte Felswand und bohrten sich in die kraterbedeckte Ebene, erzeugten gewaltige Staubfontänen. Charity konnte nicht erkennen, worauf der Moroni-Pilot eigentlich feuerte. Im nächsten Moment gab es innerhalb des Transmitterrings eine heftige Explosion, und ein paar Wrackteile regneten in Zeitlupe auf die Mondoberfläche herab. Das Transmitterfeld erlosch, und als die Staubwolken sich senkten, sah man den intakten Ring, der sich unverrückbar an seinem alten Platz erhob.

»Die Botschaft wurde in der dritten Wiederholung unterbrochen«, meldete der Würfel.

»Kein Zufall«, sagte Charity mürrisch. »Was ist mit den Gleitern?«

»Sie halten Position.« Der Würfel schwieg einen Moment. »Ich empfange gestreute Richtfunksignale. Anscheinend beraten sie sich.«

»Irgend etwas stimmt da nicht«, sagte Charity. Sie beugte sich zu einem der Pulte, das eine Standleitung zu den Docks am magnetischen Katapult hatte. »Skudder, Harris, zurück in die Zentrale. Beeilt euch.«

»Gib uns zwei Minuten«, kam Skudders knappe Antwort. Flüchtig kam ihr zu Bewußtsein, wie gut sie inzwischen aufeinander eingespielt waren. Es gab keine überflüssigen Fragen, keine Diskussionen, sie erkannten sofort den dringenden Tonfall in der Stimme des jeweils anderen.

»Haben die übrigen Gleiter auf irgend etwas geschossen?« fragte sie.

Dubois schüttelte den Kopf. »Es war nichts zu sehen. Ich habe nicht mal erkennen können, worauf überhaupt gezielt worden ist.«

»Vermutlich lag das Ziel auf der anderen Seite des Transmitters«, sagte Charity langsam. »Und dann ist die Übertragung schiefgelaufen.«

»Sie meinen, diese Moroni sind geflohen, während jemand ihren Transmitter in Fetzen geschossen hat?« erkundigte sich Dubois.

»Niemand schießt einen Transmitter in Fetzen«, sagte Charity und dachte an den ersten Sternentransmitter in dem Wrack, mit dem vor sechzig Jahren alles angefangen hatte. »Und diese ersten drei Piloten hatten es einfach nicht eilig genug. Nein, was immer passiert ist, es hat sie so überrascht wie uns.«

»Der Transmitter ist jedenfalls hin«, meinte Dubois und konzentrierte sich auf die Zeitlupen-Wiederholung der Kameraaufzeichnung. Charity sah ihr über die Schulter und verfolgte, wie der vierte Gleiter durchsichtig wurde und sich zu verformen begann.

»Vielleicht nicht«, sagte sie. »Ich habe so etwas schon einmal gesehen.«

Dubois warf ihr einen abwartenden Blick zu.

»Als wir von der Orbitstadt in die Schwarze Festung gesprungen sind, nach der Explosion der Black-Hole-Bombe«, erklärte Charity langsam. »Unser Gleiter wurde genauso auseinandergenommen wie dieser hier.«

»Das Netz ist vielleicht noch immer erschüttert von der Explosion«, mischte sich der Würfel in die Diskussion ein.

»Was du und ich über Transmitter wissen, könnte man in Großbuchstaben auf einen Fingernagel lackieren«, betonte Charity grimmig.

»Vielleicht ein Zehennagel?« witzelte der Computer.

Sie unterdrückte mühsam eine unflätige Antwort. »Was ist mit den drei Gleitern?«

»Sie haben sich in Bewegung gesetzt, in Richtung auf die Absturzstelle der HOME RUN.«

»Moroni«, sagte sie mißmutig. »Vermutlich war das ihr ursprünglicher Auftrag, und weil sie nicht wissen, was sie tun sollen, machen sie einfach, was man ihnen befohlen hat.«

Eine Explosion ließ den Boden vibrieren. Der Einschlagsort schien weit entfernt zu sein, aber dafür hatte es sich um ein großes Kaliber gehandelt. Der Bildschirm zeigte die drei silbernen Scheiben, die sich gleichmäßig an einer großen Pilzwolke vorbeibewegten.

»Was war das?« fragte Charity ohne Überraschung.

Dubois hob den Kopf. »Die automatische Radarstation, die unsere Freunde angepeilt hatte.«

»Ameisengründlichkeit«, kommentierte Charity. Aus den Augenwinkeln sah sie, daß Skudder und Harris die Zentrale betraten, und nickte ihnen zu. »Halten sie Kurs?«

»Noch immer in Richtung HOME RUN«, meldete der Würfel. »Verlieren Höhe.«

»Dann haben wir erst mal Ruhe vor ihnen.« Charity sah zu den beiden Männern hinüber, die vom raschen Lauf noch außer Atem waren. »370/98, gib mir bitte eine Verbindung zu Kias. Und beeil dich ein wenig.«

Dubois hatte inzwischen auf ihrem Bildschirm nebeneinander zwei unterschiedlich lange Texte stehen, wobei der längere zahlreiche Lücken aufwies. »Das ist dieselbe Botschaft«, sagte sie.

»Irrtum ausgeschlossen?« fragte Charity.

»Dieselben Worte an denselben Stellen.« Skudder und Harris sahen auf den Bildschirm vor Dubois. »Vom Transmitter?« fragte Harris ungläubig. »Was ist da passiert?«

»Jemand, der sehr daran interessiert ist, hat uns eine Botschaft zukommen lassen«, meinte Charity. »Und es sieht so aus, als wenn unsere chitingepanzerten Freunde versucht hätten, ihn daran zu hindern, und sich dabei selbst in die Luft gejagt haben.«

»Diese Botschaft wurde nur dreimal wiederholt, wobei die letzte Wiederholung unvollständig ist«, bemerkte 370/98 pedantisch.

»Stimmt«, sagte Dubois. »Die Botschaft vom Pol wurde über mehr als zwanzig Minuten wiederholt, fast zwei Dutzend Mal.«

Charity zuckte die Achseln. »Wenn diese Idioten wissen, daß wir hier sind, warum teilen sie uns dann nicht etwas mit, das wir noch nicht ... Scheiße. Shait.«

Skudder nickte grimmig. »Diesmal haben wir den vollständigen Text. Es ist dort unten, und es hat einen Sternentransmitter.«

Charity starrte Dubois und Harris durchdringend an. »Das haben die Jared gewußt. Diese räudigen, stinkenden, dreckfressenden Misthaufen von eierlegenden Schmeißfliegenspottgeburten ...«

»Captain Laird?« erkundigte sich eine höfliche Stimme hinter ihr, von der Decke her. Sie beherrschte sich und drehte sich zu dem Bildschirm herum. Eine Ameise betrachtete sie. Kias, erkannte sie. Perfektes Timing.

»Ich will mit Stone sprechen.«

»Gouverneur Stone ist leider nicht zu sprechen.«

»Hör zu, mir ist es egal, ob er in Ungnade gefallen ist, oder ob ihr ihn irgendwo verlegt habt, ich will ihn sprechen. Jetzt!«

»Die Einheit Stone steht nicht zur Verfügung.«

Das brachte Charity zum Schweigen. Etwas ließ sie sehr, sehr vorsichtig werden.

»Ist er tot?« fragte sie nach einer Weile bedächtig.

»Ich kann Ihnen alles sagen, was er Ihnen sagen könnte«, antwortete Kias ausweichend.

Diesmal hatte sie begriffen. »Du meinst das wörtlich«, sagte sie.

Kias verzichtete auf einen Kommentar. Sie mußte drei Sekunden warten, um das herauszubekommen. Es trug nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei.

Sie griff über die Konsole und nahm ihr Gewehr hoch, entsicherte es in derselben Bewegung und richtete es auf Dubois und Harris.

»Bleiben Sie genau da sitzen«, sagte sie kurz angebunden, »und riskieren Sie nicht einmal einen bedrohlichen Blick.« Sie streifte Skudder mit einem Blick. »Tu mir den Gefallen und leg ein wenig Abstand dazwischen, ja.«

Skudder gehorchte wortlos, aber sein Gesichtsausdruck verriet, daß er nicht gerade einverstanden war mit ihrem Vorgehen.

»Kias, ich weiß nicht, für wie dämlich ihr mich haltet, aber ich habe eine ganze Kiste voller Fragen, die ich euch schon seit einiger Zeit stellen will, UND MEINE GEDULD IST ZU ENDE!« Sie hatte nicht gewußt, daß sie so gut bei Stimme war. Harris machte ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. Nach anderthalb Sekunden zuckte sogar Kias zusammen.

»Bitte«, sagte er dann.

»Warum habt ihr euch Stone geholt? Oder wurde er plötzlich von einem Anfall übermäßiger Sehnsucht nach Geselligkeit geplagt?«

»Ich glaube nicht, daß eine Antwort irgendeinen Sinn machen würde«, sagte Kias nach einer Weile. »Was immer Sie glauben, wir werden Sie nicht vom Gegenteil überzeugen können.«

»Verdammt richtig. Ich dachte, ihr nehmt niemanden gegen seinen Willen in den Hallen der wahren Gläubigen auf?«

»Glauben Sie mir, Captain Laird, wir haben kein Interesse, uns mehr mit Menschen einzulassen, als unbedingt zur Erhaltung der Nester notwendig ist. Meinen Sie wirklich, wir würden aus freien Stücken das geordnete Gefüge unserer Gemeinschaft durcheinanderbringen, indem wir Subjekte wie Sie oder Kyle auf Dauer in unser Bewußtsein einbeziehen?«

»Was soll das heißen?«

»Denken Sie darüber nach, was Sie in den letzten Jahren getan haben«, riet die Jared-Ameise.

Sie wartete anstandshalber eine halbe Sekunde. »Und?«

»Würden Sie jemanden in Ihre Familie aufnehmen, der den größten Teil seines Lebens im Krieg verbracht hat? Ein Überbleibsel aus einer Welt, die vor sechzig Jahren untergegangen ist? Würden Sie jemanden in Ihr Kinderzimmer einsperren, der statt eines Stofftieres eine Laserpistole bei sich trägt? Sie haben in wenigen Monaten mehr Schaden angerichtet, als es uns jemals möglich gewesen wäre, und es scheint, als würden Sie immer wieder in Situationen wie diese geraten. Es ist einfach zu riskant, dasselbe Haus mit Ihnen zu bewohnen, Captain Laird.«

»Stone würde mir denselben Schwachsinn auftischen«, sagte sie.

»Ihm würden Sie nicht glauben«, erwiderte Kias mit bestechender Logik.

»Entzückend«, sagte sie spitz. Sie deutete zu Dubois und Henderson hinüber. »Was ist mit denen«, sagte sie bewußt abfällig. »Was sind sie?«

»Fragen Sie sie selbst«, riet Kias.

»Und was mache ich mit ihnen, wenn ich die Antworten habe?«

»Ihnen wird schon etwas einfallen«, antwortete Kias mit bemerkenswertem Desinteresse.

Charity sah zu den beiden Soldaten hinüber. »Loyalität ist nicht gerade seine starke Seite, was?« Die beiden verzichteten auf eine Antwort.

»Nächste Frage: der Zweck der Fracht auf der HOME RUN?«

»Was für eine Fracht?«

Charity schloß die Augen und versuchte sich vorzustellen, ihr Zorn wäre eine klebrige, rote Masse, die sie in einen Koffer pressen und darin verschließen konnte. Nein, besser in einem Panzerschrank. »Halt mich nicht zum Narren. Wenn deine Leute nichts von Brutpflege halten, ist das eine Sache, aber ich persönlich kann Kuckuckseier nicht ausstehen.«

»Haben die Moroni das Gelege geborgen?« fragte Kias neugierig.

»Das ist doch wohl ...« Sie beugte sich vor. »Woher zum Teufel soll ich das wissen. Wir haben nicht auf das Empfangskomitee gewartet, wie du dich vielleicht erinnerst. Was ist mit diesen verdammten Eiern?«

»Es war notwendig«, sagte Kias nach einer Pause, was natürlich auch keine Erklärung war. Sie verzichtete darauf, ihm einen entsprechenden Hinweis zu geben.

»Ich schätze diese Unterhaltungen«, sagte sie. »Das ist wie Boxtraining mit einem sechs Zentner schweren Sandsack. Irgendwie prallt alles ab, was einem nur einfällt.«

Kias neigte höflich den Kopf. »Es freut mich, daß Sie unsere Unterhaltungen zu schätzen wissen, Captain Laird.«

Sie grinste freudlos. »Manchmal habe ich ein schlechtes Gedächtnis, Kias, aber früher oder später fällt mir doch wieder ein, was ich vergessen habe.« Sie zog einen Handschuh über und griff in die Oberschenkeltasche ihres Druckanzugs, dann hielt sie das verknäulte Gespinst aus silbernen Fäden ganz dicht vor die Kamera.

»Beispielsweise wollte ich dich schon immer mal fragen, was zum Teufel das hier ist.«

»Woher haben Sie das?« fragte Kias erschrocken, und Dubois richtete sich auf.

Charity bewegte warnend ihren Gewehrlauf.

»Sagen wir, mir sind ein paar Ameisen über den Weg gelaufen, die komische Hüte trugen. Das ist schon eine Weile her. Um genau zu sein, passierte es in der Woche, bevor ihr diese Funkbotschaft aufgefangen habt.«

»Der Selbstmordangriff.«

Sie grinste wieder. »Hervorragend. Was ist es?«

»Sie sollten es nicht zu lange bei sich tragen«, antwortete Kias langsam. »Es zerrüttet das Nervensystem.«

»Eine Maschine?«

Kias schüttelte den Kopf. In den letzten Wochen hatten die Jared-Ameisen zunehmend menschliche Gesten übernommen. Ihre Chitinmasken waren glücklicherweise für diese Art der Nachahmung nicht geeignet. »Es handelt sich um künstlich erzeugtes Gewebe«, erklärte er. »In einigen Fällen sind auch elektronische Bauteile enthalten.«

»Das heißt, nach einem natürlichen Vorbild.« Sie verzog angewidert das Gesicht. »Ein Parasit.«

»Sie können es einen Dschinn nennen«, sagte Kias widerwillig. »Unser Feind verkrüppelt unsere Kinder, um sie auf uns zu hetzen. Begreifen Sie, was wir empfinden, Captain Laird?«

»Kein Kommentar«, sagte sie mit einem Blick auf Dubois und Harris. »Ihr habt gewußt, daß der Shait hier oben ist, nicht wahr?«

Kias nickte. »Selbstverständlich.«

»Und ihr habt euch zusammengereimt, daß die Botschaft nur von Kyle stammen konnte.«

»Hartmann hat den Sender bedient«, antwortete Kias. »Der Takt ... der innere Rhythmus in der Folge der Funkzeichen stimmt nicht mit Kyles motorischen Rhythmen überein.«

»Das könnt ihr heraushören?« Charity nickte anerkennend. »Dann wirst du vermutlich auch aus meiner Stimme hören können, wie ich darüber denke, daß ihr mir dieses Wissen verschwiegen habt«, fügte sie eisig hinzu.

Kias verzichtete erneut auf eine Antwort.

Vermutlich war es eine gute Idee. Sie legte das Silbergeflecht auf eines der Pulte und fragte sich, wie ein Lebewesen so viel Metall in seinem Gewebe enthalten konnte. »Ich werde dieses ... Ding ... durch eine Druckschleuse werfen, mit oder ohne euer Einverständnis«, sagte sie. »Was ist mit dem Loch?«

»Stabil«, antwortete Kias und nahm den Themenwechsel kommentarlos zur Kenntnis. »Der Ring hat neunzig Prozent seiner vollen Leistung erreicht.«

»Und es genügt nicht«, sagte sie. »Hab’ ich mir gedacht.«

»Gurk ist tot«, sagte Kias.

Das war eine Überraschung. »Wie ist es passiert?«

Kias zögerte. Charity hatte den deutlichen Eindruck, daß die Jared-Einheit überlegte, was er ihr sagen konnte, und sie richtete sich ergeben darauf ein, daß man ihr wieder die Hälfte verschweigen und statt dessen ein paar Lügen erzählen würde. »Er hat eine Transportmaschine entführt. Es gab erhebliche Verluste an Material und Leben. Das Fahrzeug ist in dem Wirbelsturm verunglückt, der das Loch am Pol umgibt.«

Intuitiv wußte sie, was das fehlende Puzzlestück war. »Er wollte zum Pol?« fragte sie ungläubig. Im selben Moment verwünschte sie sich stumm dafür, nicht den Mund gehalten zu haben.

»Wie kommen Sie darauf?« erkundigte sich Kias gedehnt.

»Ich spiele Karten«, sagte sie sarkastisch. »Komm schon, Kias, raus damit. Ist er zum Loch geflogen?«

»Soweit wir seinen Weg rekonstruieren konnten, hat er es bis in die Übergangszone geschafft«, antwortete der Jared bedächtig.

Darüber mußte sie nachdenken. »Was zum Teufel hat das jetzt wieder zu bedeuten?« fragte sie ratlos.

Skudder breitete die Hände aus. »Keine Ahnung«, erklärte er und brach zum ersten Mal sein Schweigen. »Ich blicke hier schon lange nicht mehr durch.«

Sie hatte das vage Gefühl, daß sie den Grund eigentlich schon kannte, aber immer, wenn sie versuchte, den Gedanken in Worte zu fassen, entglitt er ihr.

»Gurk ist also nicht mehr am Leben«, sagte sie dann. Sie bemerkte, daß der Jared sie und Skudder auf seinem eigenen Bildschirm aufmerksam beobachtete. »Irgend etwas nicht in Ordnung, Kias?«

»Ist diese Frage ernst gemeint?« erkundigte sich Kias mit leiser Ironie. Seltsamerweise wirkte er auf unbestimmbare Weise zufrieden. Charity hatte das Gefühl, daß man sie gerade einem Test unterworfen hatte - und daß sie bestanden hatte -, auf welchem verschlungenen Umweg auch immer.

»Wir erwarten in den nächsten Stunden die heftigsten Rückstaus aus dem Netz«, teilte Kias mit. »Die Berechnungen decken sich weitgehend mit den Prognosen, die Gurk vor seiner ... Abreise von den Moroni-Computern anfertigen ließ.«

»Und das ist dann das Ende, nicht wahr?« sagte Charity müde.

»Es besteht die Möglichkeit, daß die Schockwellen das Loch drastisch vergrößern. Der Ring würde dabei zerstört werden«, antwortete Kias. Berücksichtigte man den inzwischen sprichwörtlichen Hang der Jared zur Untertreibung, dann stand der Weltuntergang unmittelbar bevor.

»Was können wir tun?«

»Warten«, antwortete der Jared lapidar. Er unterbrach die Verbindung.

Charity atmete langsam aus und kämpfte mühsam die Mutlosigkeit nieder, die sie befallen hatte. Sie erinnerte sich an das Gewehr in ihren Händen und richtete den Blick auf Harris und Dubois, die stumm vor der Mündung standen und sich nicht gerührt hatten.

»So wie ich das sehe, hat euer Dienstherr euch gerade gekündigt«, versetzte sie grimmig.

»Was soll das heißen?« fragte Harris verwirrt.

»Kommt schon, Leute«, sagte sie mit neu aufkommender Wut im Bauch. »Wenn ihr versucht, mich auf den Arm zu nehmen, dann werdet ihr eure Druckhelme als Nachttopf benutzen. Ich will ein paar Antworten. Jetzt.«

»Verraten Sie uns die Fragen?« erkundigte sich Dubois distanziert.

Sie fixierte die Frau, die ihren Blick unbeeindruckt erwiderte. Während Harris einen verwirrten und betretenen Gesichtsausdruck aufgelegt hatte, schien die angespannte Situation überhaupt nicht zu Dubois durchzudringen. Es sei denn, ihre Fähigkeiten als Schauspielerin waren noch beachtlicher als ihr Talent, mit Schußwaffen umzugehen.

»Wer seid ihr?« fragte Charity.

»Hören Sie, wenn das ein Witz sein soll ...« begann Harris.

Charity sah ihn an, und ihr Gesichtsausdruck brachte ihn zum Schweigen.

»Dann machen wir es anders«, sagte sie langsam. »Ich rede, und ihr nickt zustimmend mit dem Kopf. Könnte sein, daß wir auf diese Weise eine Menge Zeit sparen.«

Niemand erhob einen Einwand.

»So wie ich die Sache sehe, seid ihr beide zu gut, um wahr zu sein. Ich halte euch für Fälschungen. Die Jared haben euch ausgebrütet, wenn ihr mir das Wortspiel freundlicherweise nachsehen wollt.«

»Blödsinn«, sagte Harris aufgebracht.

Charity ignorierte ihn. »Sie haben sich einige der ausgebrannten Schalen genommen, die an den Lebenserhaltungsgeräten im Bunker hingen, und haben sie mit einem Namen, einer Identität und genug Erinnerungen ausgestattet, um ein paar Monate Gespräche auszufüllen. Und dann haben unsere Freunde diesen Kunstpersonen eine Uniform angezogen und uns erzählt, es handele sich um Freiwillige, denen man im Schnellverfahren Waffenkunde und technische Kenntnisse vermittelt hat.«

»Und einiges Geschick im Schachspiel«, warf Skudder ein. Sein Tonfall ließ nicht erkennen, ob er ihr wirklich zustimmte. Harris gab ein verächtliches Geräusch von sich.

»Ich habe beobachtet, wie sich die Jared die Soldaten aus dem Bunker geholt haben«, sagte Charity. »Ich habe gesehen, wie sie sich die Schläfer geholt haben. Ich weiß nicht, was sie in Paris und anderswo getan haben, um Freiwillige zu bekommen.« Sie fixierte Dubois. Deren Haare waren inzwischen wieder dunkler geworden, aber dafür waren sie länger. »Soweit es mich betrifft, denke ich, daß niemand von den Soldaten, die Stone mir unterstellt, zu den Überlebenden gehört und sich freiwillig gemeldet hat. Ich bin nicht eitel genug, um diese blödsinnigen Märchen über meinen Ruhm in den Ruinen zu glauben.«

Dubois straffte sich, aber sie entgegnete nichts. Charity ging um das Pult herum und blieb zwei Meter vor der Frau stehen.

»Wer sind Sie?« fragte sie.

»Dubois, Marie«, antwortete die andere ruhig. »Geboren im vierten Distrikt von Paris am ...«

»Blödsinn«, unterbrach Charity. »Sie wurden irgendwann vor ein paar Monaten geboren, nicht wahr?« Dubois zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Dieser Körper ist mindestens achtzig Jahre alt, natürlich.« Charity ging näher an die Frau heran. »Irgend jemand hat einen Fehler gemacht, Dubois. Ich habe diese Frau gesehen, bevor sie zu Ihnen wurde.«

»Tatsächlich.«

»In einem der Labors im Bunker, umgeben von Jared. In einer Station für unheilbare Fälle. Ich habe das Gesicht nicht sofort wiedererkannt. Die Haare waren damals schwarz, nicht so farblos, und das Gesicht von Schmerzen gezeichnet und gleichzeitig seltsam ausdruckslos.« Sie lächelte freudlos. »Es ist seltsam, wie sehr sich ein Gesicht verändern kann, wenn die Person hinter diesem Gesicht sich verändert hat ... oder nicht mehr existiert.«

Auf Dubois’ Lippen lag der Anflug eines Lächelns. Es kam selten genug dazu, daß sie ihre unheimliche Beherrschung so weit lockerte, eine menschliche Regung zu zeigen. Harris sah von einer zur anderen, als hätten beide Frauen den Verstand verloren, und Skudder kam vorsichtig näher.

»Erinnern Sie sich manchmal daran, Dubois? Daran, wer Sie vorher gewesen sind, meine ich?«

Dubois verzichtete auf eine Antwort.

»Ich vermute, daß dieses Selbstmordunternehmen der Moroni uns zu viele Verluste zugefügt hatte. Delgard, Tribeaux ... sind Sie Tribeaux’ Ersatzmann, Dubois? Nun, Sie sind nicht so überzeugend ausgefallen wie unser schachspielender Geizkragen hier.« Sie löste den Blick von Dubois und sah Harris an. »Einen schottischen Zweig in der Familie, John?«

»Ich bin mir keiner Schuld bewußt«, sagte Harris ehrlich.

»Natürlich.« Charity nickte. »Der Computer im Bunker kannte keinen Harris. Der zu Recht dahingegangene Gouverneur Stone wollte mir einreden, ich hätte keine ausreichende Autorisierung gehabt, aber seit Krämers Tod waren die Systeme offen!« Sie erlaubte sich ein mattes Grinsen. »Ich habe selten Probleme mit Computern, wissen Sie.«

»Hören Sie«, sagte Harris und breitete die leeren Hände aus. »Ich weiß nicht, auf welchem Trip Sie sind, aber ich weiß, wer ich bin. Ich erinnere mich daran, zur Schule gegangen zu sein, ich erinnere mich an meine Eltern, ich weiß, wie ich aufgewachsen bin, wer meine erste Freundin war, wie ich auf die schwachsinnige Idee gekommen bin, zur Armee zu gehen, wie man mich eingefroren hat ....« Er legte die Hände an die Brust. »Ich weiß sogar noch, wo ich dieses verdammte T-Shirt gekauft habe. Erzählen Sie mir nicht, wer ich bin.«

»Tut mir leid«, sagte Charity. »Für sich genommen sind Sie sehr überzeugend, John, aber die da ist ein ganz anderer Fall.« Sie fixierte Dubois. »Wo kaufen Sie Ihre Kleider, meine Liebe?«

Dubois wartete noch ein paar Sekunden, bis sie sicher war, daß Charity nicht weitersprach. »Er sagt die Wahrheit, wissen Sie«, meinte sie dann und deutete mit einer Kopfbewegung auf Harris.

»Jeder so gut wie er kann«, antwortete Charity knapp. »Er kann von sich selbst glauben, was er will, aber deswegen muß ich ihm noch lange nicht zustimmen.«

Dubois lachte. Erstaunlicherweise hatte sie ein warmes, sympathisches Lachen, das überhaupt nicht zu ihrem verschlossenen, unterkühlten Temperament passen wollte. »Nehmen wir mal an, daß Sie richtig geraten haben«, sagte sie dann und verschränkte die Arme vor der Brust. »Und nehmen wir an, daß die Jared uns ... perfekt ausgestattet haben. Nehmen wir an, Harris und ich glauben an das, was wir sagen ... was wir sind. Kann sein, daß wir Kunstpersonen sind, aber vielleicht wissen wir es selber nicht. Und vielleicht kommt es darauf auch überhaupt nicht mehr an.«

Charity starrte sie an, warf Skudder einen hilfesuchenden Blick zu.

»Sie hat recht«, sagte Skudder nachdenklich. »In letzter Konsequenz ist es wohl gleichgültig, auf welche Weise man zu einem Menschen wird. Es kommt nur darauf an, ein Mensch zu sein.«

Sie begegnete Dubois’ stetigem Blick. »Sind Sie ein Mensch?« fragte sie und wußte bereits, daß sie keine Antwort bekommen würde.

»Was erwarten Sie von mir?« Dubois lächelte sie an, und absurderweise hatte sie das Gefühl, mit einer alten Freundin zu sprechen. Vielleicht war dieser Eindruck ebenso bewußt erzeugt worden, wie Skudders Freundschaft mit Harris ein Produkt ausgeklügelten ... Designs sein mochte.

»Harris weiß vielleicht nicht, was er ist«, sagte Charity, »aber Sie sind anders. Wenn es nicht darauf ankommt, wie wäre es dann zur Abwechslung mit ein wenig Ehrlichkeit?«

»Was für eine Antwort wollen Sie hören?« fragte Dubois ernsthaft. »Sehen Sie, egal, was ich Ihnen sage, Sie würden mir niemals glauben können. Das wissen Sie. Warum sich mit Antworten aufhalten, die niemandem etwas nützen können?«

»Natürlich«, murmelte Charity. »Und was sollen wir jetzt machen?«

»Ihnen wird schon etwas einfallen«, erwiderte Dubois amüsiert.

Das, dachte Charity mißmutig, habe ich schon mal gehört.

Der Würfel gab ein schnalzendes Geräusch von sich und befreite sie von der Notwendigkeit, irgendeine Entscheidung treffen zu müssen. »Wir bekommen Besuch«, sagte er.

»Die Gleiter?« fragte Skudder.

»Das ist korrekt«, sagte 370/98. »Soweit erkennbar, folgen sie in geringer Höhe dem Weg, den wir von der HOME RUN hierher genommen haben.«

»Du bist getragen worden«, betonte Harris, den die Auseinandersetzung sichtlich mitgenommen hatte.

»Sie folgen den Spuren«, begriff Charity.

Dubois nickte und löste sich von dem Pult. »Die Frage ist, wie bald sie damit aufhören werden«, sagte sie. »Bevor sie damit anfangen, die ganze Basis zusammenzuschießen.«

»Das paßt«, sagte Skudder. »Wir sollten hier verschwinden.«

Charity senkte ihre Waffe und nickte Dubois zu. »Packt eure Sachen zusammen. Was ist mit dem Lastschiff?«

»Startklar und aufgetankt. Wenn man von den fehlenden Triebwerken absieht, ist der Eimer in Ordnung.« Skudder löste den Würfel von den Schaltpulten und lud ihn sich auf den Rücken. »Wir haben unsere kleine Bombe schon an Bord gebracht. Was hast du vor?«

»Wir setzen uns ab«, sagte sie. »Wir werden Hartmann besuchen.«

»Der Transmitter?« Skudder verzog das Gesicht.

»Warum habe ich gewußt, daß du das sagen würdest.«

»Weil du meine friedfertige Seele kennst«, antwortete sie grinsend. »370/98, hast du noch Verbindung zu den MacDonalds-Computern?«

»Über drahtlose Kanäle«, antwortete der Würfel. »Ich kann Ihnen mitteilen, daß die Gleiter sich inzwischen von unserer Route gelöst haben und in dreißig Sekunden über der Basis sein werden. Die automatischen Verteidigungsanlagen sind bereits aktiviert.«

Sie warf Dubois einen Blick zu. »Einfach großartig«, sagte sie. »Hier findet gleich ein mittleres Feuerwerk statt. Was haltet ihr von einem kleinen Dauerlauf?«

Sie erhielt keine Antwort. Nacheinander verließen sie die Zentrale, keiner von ihnen schaltete das Licht aus. Die Schaltpulte erwachten zu flimmerndem Leben, Bildschirme schalteten sich selbsttätig ein und Alarmsirenen heulten. Die Computer der Basis bereiteten sich darauf vor, einen eventuellen Angriff abzuwehren.

Sie hatten das Laufband in dem vom Verteilerring abzweigenden Tunnel zu den Dockanlagen erreicht, als die ersten Erschütterungen den Boden vibrieren ließen. Das Band rollte langsam an und beschleunigte dann. »Es geht los«, keuchte Charity. Ihre Kondition hatte in den letzten Monaten ziemlich gelitten. »Seht euch um, vielleicht steht die Anlage nicht mehr, wenn wir das nächste Mal herkommen.«

Wortlos setzten sie sich in Bewegung. Das Laufband transportierte sie schneller, als sie hätten laufen können, aber die steife Bandfläche erlaubte einen beachtlichen Sprint. Nach einer guten Minute hatten sie das Ende des Bandes erreicht. Ihr eigener Schwung riß sie von den Beinen und ließ sie in der niedrigen Mondgravitation durch die offenen Docktüren hindurchstolpern. Weitere Explosionen ließen das Gebäude erzittern, und in der Ferne hörten sie Dekompressionsalarm. Hastig rannten sie an den leeren Startbuchten vorbei auf den kapselförmigen Schwerlast-Transporter zu, der passenderweise mit dem Namen KEEP COOL gekennzeichnet war. Das Lastschiff hing in den mächtigen Kranauslegern vor der Abschußröhre der Katapultstrecke.

»Zum Glück sind die Magneten an«, rief Charity, als sie im Cockpit auf den Pilotensessel fiel.

»Nur die in der Röhre«, sagte Harris hinter ihr. »Der Katapult ist abgeschaltet.«

»Scheiße«, kommentierte sie lakonisch. »Dann werden wir zu Fuß gehen. Festhalten, Leute.«

Die KEEP COOL hatte ihre großen Hecktriebwerke an irgendeine ihrer verlorengegangenen Schwestern abgeben müssen. Glücklicherweise waren sie auf dem Mond, dessen schwaches Schwerefeld sich auch mit den kleineren Korrekturtriebwerken überwinden ließ. Unbeladen konnte das Lastschiff auf diese Weise wenigstens noch eine Umlaufbahn erreichen, sofern die Triebwerke nicht vorher wegen Überlastung ausbrannten. Charity setzte ein knappes Gebet ab, daß sich das Schiff auf diese Weise auch in Bodennähe halten ließ, und schob den Schubregler, den Harris notdürftig mit dem Lagekontroll-System verbunden hatte, bis an den Anschlag.

Der Alarmstart riß die leeren Startbuchten in Stücke und stampfte die KEEP COOL in die dunkle Röhre des abgeschalteten Startkatapultes. Wandverkleidungen platzten auseinander und wirbelten in alle Himmelsrichtungen davon, bevor das Lastschiff torkelnd aus den Trümmern der Dockanlagen hervorbrach und sich in einem schwerfälligen Bogen in Richtung Tagebaugruben davonmachte.

Sie hatte klugerweise auf die Radaranlagen verzichtet, aber sie benötigte sie auch nicht. Über MacDonalds zeigte sich das farbenprächtige Schauspiel einer kleineren Schlacht. Raketenwerfer beschossen aus verschiedenen verborgenen Bodenstellungen zwei der drei Gleiter, die ihrerseits mit sichtbaren und unsichtbaren Strahlen aus verschiedenen Energiewaffen antworteten und immer größere Flächen der Anlage in glutflüssige Lava verwandelten. Der dritte Gleiter war nicht zu sehen, statt dessen hing eine gewaltige blaßrote Wolke über der Basis, und Trümmerstücke zogen rauchfarbene Bahnen hinter sich her, während sie langsam zu Boden sanken.

Der zweite Gleiter explodierte, und ein grelles, weißes Licht blendete sie sekundenlang.

Wenigstens blieben ihnen auf dem Mond die Druckwellen erspart. Der letzte Moroni-Pilot setzte nun schwere Kaliber ein, und die pilzförmigen Wolken nuklearer Explosionen stiegen dort auf, wo die Kommandozentrale gewesen war.

»Hoffen wir, daß sie uns in dem Durcheinander nicht bemerkt haben«, sagte Charity skeptisch, als sie hinter einer Hügelkette außer Sicht gerieten.

»Ich habe das Gefühl, sie nehmen immer weniger Rücksicht«, warf Skudder ein, der sich einfach gegen den Würfel gestemmt hatte, bevor der Beschleunigungsdruck einsetzte. »Ich meine, die Moroni waren nie besonders zartfühlend, aber inzwischen setzen sie bedenkenlos Atomwaffen ein.«

»Sie wissen, daß es zu Ende geht«, sagte Dubois.

Charity schüttelte den Kopf. »Da wissen sie mehr als ich.« Das Tagebaugebiet raste unter ihnen dahin. Charity vermutete, daß sogar die schwachen Triebwerke des Lastschiffs eine deutlich sichtbare Spur aus aufgewirbeltem Staub am Boden hinterlassen würden, aber sie wagte es nicht, auf größere Höhe zu gehen. »Dieses Ding fliegt sich wie ein nasser Badeschwamm«, murmelte sie.

»Was machen wir, wenn der Transmitter nicht eingeschaltet ist?« fragte Skudder.

»Keine Ahnung«, sagte sie. »Ich werde diese Henne auf Grund setzen, und wir werden gemeinsam über unserer dunklen Zukunft brüten.«

»Und wenn uns dasselbe passiert wie dem vierten Gleiter?« mischte sich Harris ein.

»Keine Ahnung«, wiederholte Charity und biß sich auf die Zunge, als eines der Triebwerke ausfiel und die KEEP COOL einen Satz nach vorn machte. »Kommt schon, ich bin fast so dumm wie ihr. Laßt mich in Ruhe diesen Badeschwamm fliegen, okay?« Der Bildschirm zeigte die leergeräumte Grube II in voller Breite, und sie konnte den Transmitterring sehen. »Außerdem ist die Tür offen.«

Dubois beugte sich vor und schaltete das Radar ein. Der Bildschirm zeigte die Felswand und unter dem Überhang ein Loch, dort, wo das Übertragungsfeld des Transmitters die Radarwellen einfach verschluckte.

»Entweder haben sie die Anlage repariert«, sagte Dubois, »oder sie öffnen das Tor nur zu bestimmten Zeiten ...«

Es war nicht schwer, ihre Gedanken zu erraten. Sie hatten keine Funksignale empfangen, die die Moroni-Gleiter zurückriefen.

»Der letzte Gleiter wird bald hier sein«, sprach Dubois ihre Befürchtungen aus.

»Wohl kaum«, preßte Charity zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus, als das Lastschiff wieder zur Seite ausbrach. Auf den Bildschirmen war eine gewaltige Explosion hinter den Hügeln zu sehen, dort, wo sich vor wenigen Minuten noch die MacDonalds-Basis befunden hatte. »Diesmal gewinnen wir das Rennen.«

Die anderen verzichteten auf einen Kommentar. Das Lastschiff zog so tief über den Boden, daß die Unterseite die Abraumhalden zu berühren schien. Mondstaub und kleinere Felsen wirbelten zu einer langgezogenen Schleppe empor, während der Transmitterring immer näher kam. Schwitzend und fluchend bemühte sich Charity, die unförmige Kapsel unter Kontrolle zu behalten. Der Ring war groß genug, um das Lastschiff durchzulassen, aber es blieb nicht viel Platz, und bei einer Kollision mit dem Ring oder der dahinterliegenden Felswand würde von ihnen nicht genug übrigbleiben, um ein Butterbrot zu belegen.

»BANNNZZAAAIIII«, brüllte sie, als der Ring ihnen entgegensprang. Im nächsten Moment hatte die graue Dunkelheit sie verschlungen.

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