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Der Luftschacht endete, wie Luftschächte zu enden pflegten, vor einem gewaltigen, sich einladend langsam drehenden Ventilator. Hartmann blieb stehen und rang nach Atem. In einer etwas höheren Schwerkraft hätte er sich auf die Knie fallen lassen, aber bei weniger als einem Zehntel Schwerkraft dauerte der Fall selbst viel zu lange. Er sah sich um und packte eines der an der Decke verlaufenden Kabelrohre. Die Moroni-Krieger konnten nicht weit hinter ihm sein, irgendwo in der Dunkelheit des schmalen Schachtes, der ebenso zur Inspektion wie für die Abluft zu dienen schien. Das Rohr löste sich leicht aus den spröde gewordenen Verankerungen. Es waren keine Kabel darin verlegt worden. Der größte Teil dieser Anlage war niemals wirklich benötigt worden, bis die Moroni sie in Besitz genommen hatten.

Wütend rammte er das Rohr vor eines der gewaltigen Schaufelblätter. Der Ventilator kam knirschend zum Stillstand, und Sekunden später unterbrach irgendeine zuvorkommende Sicherung die Stromzufuhr zu dem durchbrennenden Motor. Bei dieser Schwerkraft waren Motoren nur für niedrige Leistung ausgelegt, und wenn die Ventilatorschaufeln nicht rasiermesserscharf gewesen wären, hätte er sie wohl auch mit der Hand aufhalten können.

Er bückte sich und zwängte sich zwischen zwei Schaufeln hindurch, wobei er sich die Handflächen verletzte. Das Funkgerät schlug gegen seine Knie. Er kümmerte sich nicht darum, sondern blickte sich hastig in der Sammelkammer um. Ein Dutzend kleinerer Luftschächte führten von verschiedenen Ebenen in diese Kammer. Irgendwo hinter sich hörte er, wie Metall gegen Fels schlug. Hastig warf er sich in einen der abwärts führenden Schächte. Bei dreißig Grad Neigung vermochte auch eine geringe Schwerkraft nach einer Weile beachtliche Beschleunigung zu erzielen. Er rutschte kopfüber den Schacht hinunter, wobei das glatte Plastikmaterial die Überreste seiner Uniform aufheizte und in Stücke riß. Sein Sturz schien kein Ende nehmen zu wollen. Erschrocken schrie er auf, als er mit dem Kopf zuerst gegen einen Luftfilter prallte. Das feinmaschige Gitter war glücklicherweise nicht besonders gut befestigt worden, und er platzte wie ein Geschoß in den dunklen Raum hinein.

Nach einigen Sekunden Besinnungslosigkeit kam er abrupt wieder zu sich. Vorsichtig richtete er sich auf und tastete nach seiner rechten Schulter. Es sah so aus, als hätte er die Moroni vorerst abgehängt. Es würde den Ameisen schwerfallen, sich in diesen Schacht zu zwängen. Trotzdem legte er das ramponierte Funkgerät ab und verbrachte ein paar Minuten damit, einen leeren Schrank vor die Öffnung des Luftschachtes zu schieben und ihn mit herumliegendem Gerumpel zu füllen. Falls ihm jemand nachkommen sollte, würde er sich an der Rückwand des Schranks den Schädel einschlagen.

Hartmann rechnete nicht mehr damit, daß Kyle ihm nachkommen würde. Nicht einmal ein Megakrieger konnte eine solche Explosion überstanden haben, und die Moroni hatten sich vermutlich bereits seiner Reste angenommen. Soweit es ihn betraf, war der Krieg vorbei, und er gehörte zu den Verlierern. Nur die Erinnerung an Net und das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, hielt ihn noch auf den Beinen.

Er war in eine weitere Lagerhalle geraten, in der man anscheinend Maschinenteile abgeladen hatte. Es dauerte eine Viertelstunde, bis er die Tür aufgebrochen hatte und in einen niedrigen, kaum beleuchteten Gang hinausgelangte. Das Funkgerät hatte einige Beulen bekommen, aber die Kontrollanzeigen leuchteten noch immer grün. Er ließ es auf Empfang geschaltet und auf maximaler Lautstärke. Er konnte nur hoffen, daß das von Kyle programmierte Frequenzband noch eingestellt war. Seine Chancen, Net zu empfangen, waren andernfalls praktisch gleich Null.

Soweit er seine panische Flucht vor den Moroni noch rekonstruieren konnte, mußte er deutlich unterhalb der Transmitterhalle angekommen sein, noch unter der Halle, in der Net sich versteckt hatte, und ein ganzes Stück in Richtung auf den Transmitter, durch den Kyle, Net und er hierhergekommen waren. Er entschied sich dafür, dem Gang in dieser Richtung zu folgen. Nach einer halben Stunde erreichte er einen größeren Tunnel, der auf die nächste Ebene hinaufführte. Es gelang ihm, eines der geparkten Elektrofahrzeuge in Betrieb zu nehmen. Am anderen Ende des Tunnels wurden die nüchternen grauen Wände plötzlich von schwarz schillernden Moroni-Materialien ersetzt, und der Tunnel weitete sich zu einer riesigen Halle, deren Decke mindestens einen Kilometer hoch sein mußte.

Hartmann stoppte den Wagen hinter einer bizarr geformten Säule aus Basaltfelsen, die bis zur Decke hinaufreichte und mindestens zwanzig Meter Durchmesser hatte. Ein seltsames rotes Licht schien von überallher aus dem Fels zu dringen, und die Luft war warm und roch nach Schwefel und glühendem Eisen. Er hatte dieses Licht schon einmal gesehen. »Willkommen in der Hölle«, sagte er bitter. »Hatten Sie eine interessante Reise?«

Vermutlich spannte sich irgendwo über ihm in einem Loch in der Decke das Drahtseil, an dem Net und er sich die Hände aufgerissen hatten, und irgendwo über ihnen mußte auch der lavagefüllte Schacht sein. Er dachte an den Shait und wünschte sich eine Waffe. Vorsichtig umrundete er die Säule. Er befand sich auf einer Art Galerie, etwa hundert Meter breit und aus mehreren Metern Fels gemacht, die die gesamte Halle umspannte. Die Halle selbst schien wie eine Blase geformt zu sein, mit fast fünf Kilometern Durchmesser. Der Boden war bedeckt mit einer rotglühenden, brodelnden Masse. Hin und wieder löste sich eine Felsplatte aus der Wand oder der Galerie und stürzte in die Masse aus geschmolzenem Gestein, und gelbes Feuer verschlang sie, bis der Fels sich in roter Glut aufgelöst hatte und vollständig geschmolzen war.

Drähte spannten sich in alle Richtungen durch die Blase, und in unregelmäßigen Abständen waren Plattformen und Maschinen zwischen den Drahtgeflechten aufgehängt. Die Hitze stieg ihm in den Kopf und bedeckte seine Haut mit riesigen Schweißtropfen.

Er ging näher an den Rand der Galerie heran. Es gab kein Geländer. Etwa zweihundert Meter von ihm entfernt erhob sich mitten in der Lava eine weitere Säule, und dahinter konnte er weitere erkennen. Er fragte sich, ob sie tatsächlich die Decke der riesigen Blase stützten oder ob sie irgendeine andere rätselhafte Funktion hatten. Er hob den Kopf und versuchte, in dem schmerzhaften roten Licht irgend etwas zu erkennen.

Den Moroni bemerkte er erst, als er neben ihm stand. Eine Zange faßte nach seinem Arm. Instinktiv ließ er sich fallen und duckte sich nach vorn, bevor er begriff, daß er einen Fehler gemacht hatte.

Die Ameise hatte sein Vorgehen nicht erwartet. Sie griff ins Leere und verlor den Halt. Kreischend kippte sie über die Kante der Galerie und stürzte fast hundert Meter in die Tiefe, langsam erst, dann immer schneller, bevor sie in der rotglühenden Masse verschwand. Eine gelbe Stichflamme markierte sekundenlang die Stelle, an der der Moroni gestorben war.

Hartmann zog sich mühsam wieder über die Kante zurück. Trotz der geringen Schwerkraft zitterte er am ganzen Körper. Er sah die Galerie entlang und entdeckte weitere Moroni, die dort vor einem von der Galerie abzweigenden Seitenstollen standen. Ein paar von ihnen kamen in seine Richtung, und es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie ihn entdecken würden.

Hastig sah er in die andere Richtung. Nach einem halben Kilometer war der Bogen der Galerie von einem großen Einbruch unterbrochen, und auch dort bewegten sich plötzlich zahlreiche Insektengestalten. Anscheinend war er mitten in umfangreiche Bauarbeiten hineingeplatzt.

Er ging zum Wagen zurück und nahm das Funkgerät heraus, dann lief er geduckt in der Deckung der Säule davon. Nicht weit entfernt war eines der dickeren Drahtseile in einer Halterung aus chitinähnlichem Moroni-Metall verankert. Hartmann vermied es, über seinen Plan nachzudenken. Er ergriff das Drahtseil, das glücklicherweise angenehm kühl war, und begann, es hinaufzuklettern. Diese Drähte schienen aus einem anderen Material zu bestehen als das senkrechte Zugseil in dem Schacht, den er mit Net hinaufgeklettert war. Die Moroni hatten ihn inzwischen vermutlich gesehen. Er blickte nicht zurück, bis er fast hundert Meter weit gekommen war. Einige Ameisen standen auf der Galerie und sahen zu ihm hinüber, aber sie schossen nicht auf ihn. Vielleicht wollten sie die Drähte nicht beschädigen oder die Maschinen, die an das Drahtgeflecht angeschlossen waren.

Hartmann sah nach unten. Hundertachtzig Meter unter ihm brodelte und kochte der Lavasee, der anscheinend das untere Drittel der Blase ausfüllte. Er schluckte, und einen Moment lang schienen seine schweißnassen Hände jeden Halt auf dem Draht zu verlieren. Hartmann schloß die Augen und versuchte, ruhiger zu atmen. Nach einer Weile setzte er seinen Weg fort und vermied es dabei sorgsam, den Blick nach unten zu richten. Inzwischen war er sich sicher, daß die Moroni ihm nicht folgen würden. Er erreichte eine Plattform und beschloß, sich ein wenig auszuruhen. Die Maschinenteile waren ihm völlig unbekannt, und es gab keine Bedienungselemente. In der niedrigen Schwerkraft fiel ihm das Klettern relativ leicht, und je höher er kam, desto weniger litt er unter der Hitze, die die Lava abstrahlte. Die heiße Luft selbst machte ihm weniger zu schaffen, obwohl sie seinen Hals austrocknen ließ und in der Lunge brannte.

Er folgte einem der steil zur Decke verlaufenden Drahtgeflechte mit den Augen und entschied sich, zunächst ein wenig Abstand zwischen sich und das geschmolzene Felsgestein zu legen. Irgendwo dort oben mußte die Ebene sein, die er kannte, und darüber die Oberfläche, an der Net auf ihn wartete.

Nur eine Frage der Ausdauer, dachte er, und ein hysterisches Lachen schüttelte ihn.


*


Die Bewegungen in der großen Halle schienen plötzlich einzufrieren. Moroni-Ameisen verharrten mitten in ihren insektenflinken Bewegungen und warteten. Eine schwache Vibration lief durch Boden, Wände und Luft, breitete sich aus, wurde reflektiert und lief wieder zurück zu ihrem Ursprung.

Zum Sternentransmitter.

Ein Moroni schnellte nach vorn und löste einen Alarm aus. Maschinen schalteten sich mit atemberaubender Plötzlichkeit ab, Energieversorgungen wurden unterbrochen, aber es war zu spät. Innerhalb des großen silberfarbenen Ringes begann etwas zwischen der Luft zu schillern, dehnte sich zu einer rasierklingendünnen Scheibe aus Nichts und wölbte sich weit in die Halle hinein. In hektischer Flucht rannten die Moroni-Ameisen durcheinander, versuchten, sich hinter tonnenschweren Geräten und auf weit ausgreifenden Laufstegen in Sicherheit zu bringen. In völliger Lautlosigkeit verschluckte das Übergangsfeld einen Teil der Hallendecke, die plötzlich kürzer zu sein schien. Fels wurde bis an die Belastungsgrenze verspannt und platzte auseinander. Platten von mehreren Metern Kantenlänge segelten mit majestätischer Langsamkeit herab. Das Feld verschlang Moroni-Ameisen, ließ Teile des eigenen Podestes und der schon auslaufenden Maschinen verblassen und zeichnete blasse, grüne Schimmer in die Dunkelheit der Halle hinein. Niemand bemerkte die winzigen grünen Schatten, die sich aus dem tobenden Übertragungsfeld lösten und verschwanden, indem sie einfach durch den Fels glitten. Eine Maschine, die plötzlich in einem unmöglichen Winkel geknickt war, explodierte, und eine zwei Meter durchmessende Linse aus Quarzglas spannte sich wie unter einer unsichtbaren Schockwelle, die sich nicht durch Materie auszubreiten schien, und zersprang in tausend Stücke. Die riesigen Scherben aus dem Deckengewölbe erreichten den Boden und zermalmten Baugerüste, Aufbauten und Bedienungspersonal. Es wirkte, als würde der Transmitter nicht die Dinge selbst verformen, wohl aber den Raum, in den sie eingebettet waren. Das Feld faltete den Raum, trennte Säume ab, schnitt Löcher hinein und setzte seine eigenen Nähte hinein, und alles, was sich in diesem Raum befand, mußte der Bewegung folgen, wurde zerstückelt, verbogen, in Fetzen gerissen ... auf rätselhafte Weise ausgedünnt.

Eine weitere Explosion blockierte die letzte laufende Maschine, und der Spuk verschwand so rasch, wie er begonnen hatte. Trümmer senkten sich zu Boden, fügten sich unter ohrenbetäubendem Lärm in das Durcheinander auf dem Hallenboden ein. Nach einer Weile begannen sich die Überlebenden zu regen und begannen in stoischer Ruhe mit den Aufräumungsarbeiten.

Eingeschlossen in den brandgeschwärzten Trümmern einer Plattform regte sich etwas, unbemerkt von den herumeilenden Moroni. Das Wesen, das einmal den Namen Kyle getragen hatte, erwachte langsam aus seinem tiefen Schlaf, reckte sich und probierte vorsichtig seinen neu erworbenen Körper aus. Undeutlich registrierte er am Rande seines Bewußtseins die Katastrophe, die gerade stattgefunden hatte. Schmerzen überlagerten seine Wahrnehmungen. Die Wirbelsäule war mehrfach gebrochen, und bevor der Heilungsprozeß abgeschlossen war, hatte er keine Kontrolle über seine Beine. Eine stählerne Verstrebung hatte sich tief in seinen Rücken gebohrt, eine Folge der Druckwelle, die Kyle in den Überresten des Treppengeländers aufgespießt hatte. Das veränderte Gewebe schloß die Strebe ein und versuchte, den Fremdkörper zu beseitigen. Wenn er noch Tage dort gelegen hätte, würde sein Körper die diamantharte Legierung einfach absorbiert haben, aber auf rätselhafte Weise wußte er, daß er keine Zeit haben würde. Er erkannte nun den Zweck seiner Verwandlung, und deshalb begrüßte er sie, statt insgeheim dagegen anzukämpfen. Hartmann hatte überhaupt nicht bemerkt, wieviel hinhaltenden Widerstand der frühere Kyle dem Prozeß entgegengesetzt hatte, welcher von ihm schon während des letzten Transmittersprungs Besitz ergriffen hatte. Nun unterstützte er die Verwandlung, die sich nach seinen schweren Verletzungen mit der Geschwindigkeit einer nuklearen Kettenreaktion entwickelte. Den schweren Brandverletzungen, die die Regenerationsfähigkeit eines Megakriegers überfordert hätten, verdankte er eine glänzend schwarze, starre Haut, die ihn mit dem rußbedeckten Trümmergewirr der Raffinerie zu einer Einheit verschmelzen ließ. Inzwischen waren verschiedene Organe seines Körpers in der Lage, ihn auch auf andere Weise vor Entdeckung durch die Moroni-Ameisen zu schützen. Er hätte sich zwischen ihnen bewegen können wie eine Messerklinge in der Luft, aber noch war die Zeit dazu nicht gekommen.

Ohne die peinigenden Schmerzen zu beachten, die seine wachsende Muskulatur zittern ließen, spannte er sich und drehte sich langsam in der kleinen Nische aus Schutt und Trümmern, in der sein Körper begraben worden war. Die scharfkantige Verstrebung glitt mit einem leisen, schmatzenden Geräusch aus der Wunde heraus, die sich um den Fremdkörper herum gebildet hatte. Sekundenlang war er wie gelähmt, und zahllose der nachgebildeten Nervenstränge rissen auseinander, als er in seiner veränderten Haltung zusammensank. Geduldig wartete er, während die Schmerzreaktion ausklang, die Muskeln sich entspannten und die Millionen chemischer Fabriken in seinen veränderten Körperzellen ihre vorbestimmte Tätigkeit fortsetzten. Sein Gewebe heilte mit atemberaubender Geschwindigkeit.

Der Shait war ein Parasit, ein Räuber an einer anderen Spezies, und das Wesen, das sich des Shaits bediente, war denselben Gesetzen unterworfen wie der Körper, den es sich ausgesucht hatte. Die Evolution hatte ihre eigenen erbarmungslosen Gesetze, und Erfolg war ein relativer Begriff, gemessen mit den Maßstäben der Evolution.

Erfolgreiche Parasiten hatten eigene Räuber zu fürchten.

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