8

Als er zu sich kam, war er an Händen und Füßen gefesselt. Er lag bäuchlings im Sattel eines Pferdes, vielleicht auch eines Maultiers, dem schwankenden Gang nach zu schließen. Man hatte ihm einen Sack über den Kopf gestülpt, sodass er nicht nur blind war, sondern auch nur mühsam atmen konnte. Wenigstens konnte er hören. Hufschläge, sehr viele Stimmen, die mannigfaltigen, einzeln kaum identifizierbaren Laute, die in ihrer Gesamtheit die typische Geräuschkulisse eines Trosses abgaben, manchmal ein Wortfetzen, den er verstand. In seiner Umgebung wurden verschiedene Sprachen gesprochen, was gewisse Rückschlüsse auf die Zusammensetzung lies Trupps zuließ, der die türkische Patrouille überfallen hatte. Eine sehr lange Zeit verging auf diese Weise. Aber Andrej wußte, wie sehr das Zeitgefühl eines Menschen getäuscht werden konnte. Plötzlich bemerkte er eine Veränderung. Der Tross wurde langsamer und die Geräusche hörten sich anders an. Die Hufschläge der Pferde riefen nun hallende Echos hervor, als brächen sie sich an steinernen Wänden und er hörte noch andere, neue Laute, die ihm verrieten, das sie eine Stadt erreicht hatten, vielleicht auch eine Burg. Kurz darauf hielten sie an. Andrej wurde unsanft vom Rücken des Tieres gezerrt und auf die Füße gestellt.

Jemand durchtrennte seine Fußfesseln Er konnte gehen, aber an einen Fluchtversuch war gar nicht zu denken. Mindestens zwei Männer hielten ihn und wie viele noch in seiner Nähe waren, war nicht auszumachen. Andrej wurde grob vorangestoßen und in ein Haus bugsiert, dann ging es eine steile Treppe hinunter und m einen kalten, muffig riechenden Raum. Ein dunkler, rötlicher Lichtschimmer durchdrang den groben Stoff der Kapuze, die man ihm übergestülpt hatte, und er tunte Metall klirren. Auch seine Handfesseln wurden durchtrennt, aber seine Arme wurden sofort von jeweils zwei kräftigen Händen gepackt und nach oben gezwungen. In seinem Rücken spürte er harten Stein. Seine Gelenke wurden weit über seinem Kopf mit eisernen Handfesseln angekettet. Erst danach rissen ihm seine Peiniger die Kapuze vom Kopf. Andrej blinzelte ein paar Mal. Nicht weit von seinem Gesicht entfernt brannte eine Fackel, deren Licht ihm unangenehm grell erschien, sodass er im ersten Moment kaum etwas sehen konnte. Immerhin erkannte er, das seine Einschätzung richtig gewesen war: Er befand sich in einem niedrigen Gewölbekeller, dessen Wände aus nur grob behauenem Felsgestein bestanden. Auf dem Boden lag übelriechendes Stroh und hoch unter der Decke gab es ein schmales Fenster, hinter dem aber kein Tageslicht zu sehen war. Abgesehen von ihm selbst befanden sich noch drei weitere Männer hier unten; zwei der zehn Soldaten, die die türkische Patrouille überfallen hatten, und der Drachenritter. Er stand in einigen, Abstand da und starrte ihn durch die Sehschlitze seiner unheimlichen Maske durchdringend an. Andrej hörte ein gedämpftes Stöhnen, drehte den Kopf nach links und sah, das das Kellerverlies Kroch einen weiteren Bewohner hatte: Abu Dun war neben ihm an die Wand gekettet. Er bot einen schrecklichen Anblick. In sich zusammengesunken wurde er nur noch von den eisernen Ringen um seine Handgelenke gehalten. Er war kaum noch bei Bewusstsein, und sein Gesicht zeigte, das man ihn schwer geschlagen hatte.

»Es ist gut.« Der Drachenritter machte eine befehlende Geste und die beiden Männer verließen hastig den Keller. Andrej kam es vor, als flüchteten sie aus der Nähe ihres Herrn. Der Drachenritter kam mit langsamen Schritten näher. Statt des Morgensterns trug er ein Schwert mit einer gezahnten Klinge im Gürtel, eine Waffe, die zum Verletzen und Verstümmeln gemacht zu sein schien. Im flackernden, roten Licht der Fackel sah seine Rüstung nun wirklich aus, als wäre sie in Blut getaucht worden. Einen Momentlang sah der Ritter Andrej an, dann schlenderte er fast gemächlich zu Abu Dun hin, legte die Hand unter sein Kinn und hob seinen Kopf an. Abu Dun stöhnte und versuchte die Augen zu offnen, aber seine Lider waren zugeschwollen. Der Ritter ließ sein Kinn los, kam auf Andrej zu und hob abermals die Hand. Andrej ahnte, was kommen würde, aber er versuchte nicht, sich zu wehren oder auch nur den Kopf zu drehen. Es wäre ohnehin zwecklos gewesen, und er wollte dem Drachenritter nicht die Genugtuung gönnen, ihn in Angst versetzt zu haben. Langsam drehte der Ritter die Hand. Andrej biss die Zähne zusammen, als einer der rasiermesserscharfe Dornen auf dem Rücken seines Handschuhs seine Wange aufriss. Warmes Blut lief über sein Gesicht. Der Ritter zog die Hand zurück, wartete einen Moment und wischte dann das Blut von seiner Wange. Die Augen hinter den schmalen Sehschlitzen weiteten sich.

»Tatsächlich«, sagte er. »Ich habe mich nicht getauscht«, Er schwieg einen Moment, dann ging er wieder zu Abu Dun hin und ritzte auch seine Wange. Der Pirat stöhnte vor Schmerzen, hatte aber wohl nicht einmal die Kraft, den Kopf zur Seite zu drehen.

»Nein«, sagte der Drachenritter. »Bei ihm funktioniert es nicht«

»Warum tust du das?«, fragte Andrej, »Macht es dir Spaß, Menschen zu quälen?«

»Ja«, antwortete der Ritter. »Das größte Vergnügen überhaupt. Obwohl ich nicht sicher bin, ob ihr überhaupt Menschen seid.« Er kam wieder näher. »Bei diesem Mohr natürlich schon, aber bei dir? Was bist du?«

»Mach mich los und gib mir eine Waffe, dann zeige ich es dir«, knurrte Andrej. »Oder mach mich einfach nur los. Das würde schon reichen.« Der Ritter lachte.

»Das werde ich nicht tun. Aber ich gebe dir mein Wort, das ich nicht versuchen werde, dich daran zu hindern, dich aus eigener Kraft zu befreien. Hast du schon einmal einen Fuchs gesehen, der in eine Falle gegangen ist? Manchmal beißen sie sich selbst die Pfote ab, um sich zu befreien. Ich frage mich, ob du das auch könntest. Und ob deine Hand vielleicht nachwachsen würde.«

»Du bist tatsächlich ein außergewöhnlich tapferer Mann«, höhnte Andrej. »Es gehört schon eine Menge Mut dazu, einen Mann zu verspotten, der hilflos an die Wand gekettet ist.«

»Ich bin tapfer«, antwortete der Drachenritter ruhig. »Aber nicht dumm. Welche Chance hätte ich schon gegen einen Mann, der nicht verletzt werden kann?« Andrej lachte, obwohl ihm ganz und gar nicht danach zumute war.

»Willst du mich foltern? Das hätte wenig Zweck.«

»Oh, ganz im Gegenteil«, antwortete der Drachenritter lachend. »Es würde vieles für mich vereinfachen. Dieses Bauernpack hält nicht viel aus. Ich brauche ständig neues Material und in Zeiten wie diesen ist es manchmal nichtleicht, ausreichend Nachschub zu bekommen. Du würdest dieses Problem für eine ganze Weile lösen. Ich könnte mich lange mit dir amüsieren. Sehr lange.«

»Willst du mir Angst machen?«, fragte Andrej.

»Nein«, antwortete der Drachenritter. »Ich werde dich morgen wieder aufsuchen, und bis dahin hast du Zeit, über meine Worte nachzudenken.«

»Welche Worte?«, fragte Andrej trotzig.

»Du hast ja noch gar nichts gesagt.«

»Dein Geheimnis«, sagte der Ritter.

»Ich will, das du es mich lehrst« Andrej lachte böse.

»Du musst wahnsinnig sein, wenn du glaubst, das ich einem Monster wie dir ein solches Geheimnis anvertrauen würde - selbst wenn ich es könnte.«

»Wahnsinnig ... Wer weiß? Aber das spielt für dich keine Rolle, nicht wahr? Du wirst reden, so oder so, alter ich mache dir ein für mich ungewohnt großzügiges Angebot. Ich verspreche einen schnellen und schmerzlosen Tod, wenn du redest. Er kann aber auch Tage dauern. Wochen, wenn du willst«

»Du willst mich foltern?« Andrej zwang sich zu einem Grinsen.

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Wer spricht von dir?«, fragte der Drachenritter.

»Wie wäre es mit ihm?« Er deutete auf Abu Dun.

»Ich habe gerade von seinem Volk exquisite Tötungsarten gelernt, die ich gerne einmal an ihm ausprobieren wurde. Es liegt bei dir, oh ja, und selbstverständlich müsstest du dabei zusehen. Und außerdem: Hast du dich noch nicht gefragt, wo dein junger Freund geblieben ist?«

»Frederic?«, entfuhr es Andrej.

»Was ist mit ihm?«

»Frederic. Das ist also sein Name. Um deine Frage zu beantworten: Nichts. Es geht ihm gut. Noch.«

»Wenn du ihm etwas antust ...«

»... wirst du noch aus der Hölle zurückkommen und mich töten, ja, ja«, unterbrach ihn der Drachen - »Ich weiß. Aber es liegt ganz bei dir.«

»Ich kann dir nicht geben, was du willst«, sagte Andrej.

»Es ist nichts, was man lernen kann.«

»Dann stille wenigstens meinen Wissensdurst«, sagte der Drachenritter spöttisch.

»Schlaf eine Nacht darüber. Du musst die spartanische Unterkunft verzeihen, aber wir haben Krieg und in solchen Zeiten muss man manchmal auf den gewohnten Luxus verzichten. Wenn du irgendwelche Wünsche hast, klingle einfach nach dem Diener.« Er lachte noch einmal, drehte sich dann um und ging. Der Raum hatte keine Tür, sodass Andrej hören konnte, wie seine Schritte draußen auf der Treppe verklangen. Er blieb jedoch nicht lange allein. Es vergingen nur Augenblicke, bis er erneut Schritte hörte und einer der beiden Soldaten zurückkam. Er bedachte Andrej nur mit einem flüchtigen Blick, ging dann zu Abu Dun und hob seinen Kopf an. Auf seinem Gesicht breitete sich ein Ausdruck von wachsendem Schrecken aus, als er Abu Duns zerschlagenes Antlitz betrachtete. »Gott im Himmel«, murmelte er erschüttert.

»Dieses ... Vieh.«

»Hast du keine Angst, das dein Herr hört, wie du über ihn sprichst?«, fragte Andrej.

»Teppesch?«

»Ist das sein Name? Der des Drachenritters?«

»Fürst Vladimir Teppesch«, bestätigte der Soldat.

»Aber er nennt sich selbst gerne Dracul. Du kannst ihn ruhig so ansprechen. Es macht ihm nichts aus. Ich glaube, es schmeichelt ihm. Er will, das die Menschen ihn fürchten.« Er wies mit einer Kopfbewegung auf Abu Dun.

»Ist er ein Freund von dir?«

»Ja«, antwortete Andrej.

»Auch wenn er ein Araber ist.«

»Wir sind hier auf dem Balkan, da hat so ziemlich jeder ein bisschen morgenländisches Blut in seiner Ahnenreihe. Selbst Tepesch - aber das sollte man ihm besser nicht ins Gesicht sagen. Vielleicht würde er dann doch böse.« Erlegte den Kopf auf die Seite.

»Ich bin Vlad. Wie ist dein Name?«

»Andrej. Vlad?«.

»Eigentlich Vladimir«, antwortete Vlad achselzuckend.

»Aber seit Dracul über Burg Waichs und damit über die Walachei und ganz Transsylvanien herrscht, ist dieser Name nicht mehr besonders beliebt. Keine Sorge - der Name ist alles, was ich mit ihm gemein habe.«

»Und das du ihm dienst.«

»Die andere Alternative wäre, zu Draculs Kurzweil beizutragen.« Vlad zog eine Grimasse.

»Wo kommt ihr her, das ihr so wenig über ihn wisst. Er genießt einen gewissen Ruf.«

»Von ... ziemlich weit her«, antwortete Andrej ausweichend.

»Ich verstehe.« Vlad nickte.

»Du willst nicht darüber reden. Es geht mich auch nichts an. Brauchst du etwas? Ich kann dir Wasser bringen oder auch ein Stück Brot.«

»Ein Arzt für Abu Dun wäre gut.«

»Das ist unmöglich. Wenn Dracul davon erführe ...« Er schüttelte den Kopf. Andrej nahm sich das erste Mal die Zeit, Vlad genauer zu betrachten. Er war ein Mann schwer zu schätzenden Alters mit einem scharf geschnittenen, harten Gesicht und dunklen Augen, etwas größer als Andrej, aber auch deutlich schlanker. Er hatte einen wachen Blick, der einen schärferen Geist verriet, als sein zerlumptes Äußeres und seine Art, sich zu geben, vermuten ließen. Andrej traute ihm nicht - und wie konnte er? - aber er hütete sich auch, ihn gleich als erbitterten Feind einzustufen. Der Grat zwischen angezeigter Vorsicht und krankhaftem Misstrauen war schmal.

»Vielleicht könntest du tatsächlich etwas für mich tun«, sagte er.

»Da war ein Junge bei uns. Sein Name ist Frederic. Ich möchte wissen, was ihm geschehen ist.«

»Ich werde keine Fragen stellen«, sagte Vlad.

»Dabei verliert man zu schnell seine Zunge. Aber ich werde die Ohren offen halten. Vielleicht höre ich etwas.«

»Danke«, sagte Andrej.

»Und ein Schluck Wasser wäre vielleicht doch nicht schlecht.«

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