Obwohl er es nicht gewollt hatte, war er doch noch eingeschlafen, wenn auch nur kurz. Er erwachte, als sich das Schiff mit einer schwerfälligen Bewegung und einem Geräusch, das an das Seufzen eines müden Wals erinnerte, leicht auf die Seite legte und den Bug in die Strömung drehte. Irgendwo über seinem Kopf erklang ein schweres, nasses Klatschen und graues Licht drang durch seine halb geschlossenen Lider. Etwas stieß unsanft in seine Rippen. Andrej hob widerwillig die Lider und war nicht überrascht, Abu Dun mit finsterem Gesicht über sich aufragen zu sehen. Der Pirat trug jetzt wieder seinen Turban und aus seinem Gürtel ragte der Griff eines gewaltigen Krummsäbels, auf den er die linke Hand gelegt hatte..
»Wach auf, Hexenmeister«, sagte Abu Dun und stieß ihn abermals mit dem Fuß an; diesmal so hart, das es wehtat.
»Es ist heller Tag und es geziemt sich nicht, das mein Leibwächter wie ein Hund hier oben an Deck schläft.«
»Mein Name ist Andrej«, murmelte der Angesprochene verschlafen.
»Und ich bin noch nicht dein Leibwächter. Erst wenn wir unser Ziel erreicht haben.« Die Nacht war einem Tag gewichen, der nicht wirklich ein Tag war. Klamme Feuchtigkeit hüllte das Schiff ein und die Umgebung war hinter einer grauen Wand verschwunden. Nebel war aufgekommen und es war sehr kalt. Andrej wartete einen Moment lang vergeblich darauf, das Abu Dun irgendetwas erwiderte, dann stand er vorsichtig auf, breitete die Decke über Frederic aus, der ungerührt weiterschlief, und entfernte sich ein paar Schritte. Abu Dun folgte ihm. Er sagte nichts, aber in seinen Augen funkelte es spöttisch. Andrej sah sich mit ärgerlich gerunzelter Stirn um. Abu Duns Männer hatten das Segel gesetzt und arbeiteten schnell, aber sehr präzise, um das plumpe Schiff endgültig in die Strömung zu drehen. Sie hatten bereits Fahrt aufgenommen, aber Andrej konnte das Ufer so wenig sehen wie in der Nacht, denn es wurde anstelle der Dunkelheit nun von einer Wand aus wattigem grauem Nebel verborgen.
»Was soll das, Abu Dun?«, fragte er.
»Soll ich ein paar Knoten für dich knüpfen oder deinen Männern helfen, die Segel zu setzen?« Abu Dun ignorierte seine Worte einfach. Er war wieder stehen geblieben und sah nachdenklich auf Frederic hinab, der sich im Schlaf in die Decke eingedreht und auf die Seite gewälzt hatte.
»Was ist das mit dir und diesem Jungen?«, fragte er.
»Ist er wie ... wie du?«
»Nein«, antwortete Andrej. Er war ziemlich sicher, das Abu Dun spürte, das er log. Trotzdem fuhr er fort:
»Er ist nur ein junge. Ich mag ihn, das ist alles. Vielleicht, weil er so einsam ist wie ich. Er hat niemanden, weißt du?« Abu Dun schwieg eine ganze Weile. Dann sagte er etwas, das Andrej erschreckte:
»Du solltest dich nicht zu sehr an ihn binden, Deläny. Der junge ist nicht gut. Etwas Dunkles lauert in seiner Seele.«
»Du bist also nicht nur Pirat und Sklavenhändler, sondern kannst auch in die Seelen von Menschen blicken.« Der Spott klang selbst in Andrejs Ohren schal, und Abu Dun machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Er sah nur den schlafenden jungen einige Augenblicke lang an, dann deutlich länger Andrej und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Der Himmel wird sich lichten, sobald die Sonne ganz aufgegangen ist«, sagte er.
»Das Wetter wird gut heute. Wenn wir günstigen Wind haben, werden wir ein gutes Stück Weg schaffen. Wir müssen ...« Er unterbrach sich, als ihm einer seiner Männer etwas zurief. Andrej verstand nicht was, aber auf Abu Duns Gesicht erschien ein überraschter, vielleicht auch erstaunter Ausdruck.
»Probleme?«, fragte er spöttisch. Abu Dun winkte ab, aber diesmal wirkte es eindeutig ärgerlich.
»Nichts, was dich beunruhigen müsste«, sagte er harsch.
»Hast du nicht selbst gesagt, das du nichts von der Seefahrt verstehst?«
»Aber ich bin für Euer Wohl verantwortlich, Herr«, sagte Andrej spöttisch.
»Also gestattet mir, das ich mir Sorgen mache.«
»Mach dir lieber Sorgen um deine Zunge«, grollte Abu Dun. Aber er lachte bei diesen Worten. Nach einem Augenblick fuhr er fort: »Der Mann im Ausguck glaubt ein anderes Schiff gesehen zu haben.«
»Und was ist daran so ungewöhnlich?«, fragte Andrej.
»Ich meine: Wir sind mitten auf der Donau. Dann und wann sollten auf großen Flüssen schon Schiffe gesichtet worden sein.«
»Kein Kapitän, der seine fünf Sinne noch beisammen hat, würde bei diesem Nebel lossegeln«, sagte Abu Dun.
»Es ist viel zu gefährlich.«
»Ach?«. Abu Dun spießte ihn mit Blicken regelrecht auf, als er Andrejs Grinsen bemerkte.
»Ich bin aus genau diesem Grund losgesegelt«, sagte er.
»Weil niemand sonst es täte.«
»Noch einer hat es getan«, antwortete Andrej.
»Ja«, bestätigte Abu Dun.
»Und genau das gefällt mir nicht. Bring den jungen unter Deck, Hexenmeister, und dann komm zurück. Und bring dein Schwert mit, nur für alle Fälle.« Andrej sah ihn fast bestürzt an. Es überraschte ihn kaum, zu begreifen, das Abu Dun ihm vielleicht doch etwas verschwiegen hatte. Was ihn beunruhigte, war der besorgte Ausdruck auf Abu Duns Gesicht. Wortlos drehte er sich zu Frederic herum und schüttelte ihn wach. Im selben Moment, in dem der junge die Augen aufschlug, wehte ein dumpfer Knall durch den Nebel herüber. Gleichzeitig erscholl ein gellender Schrei; ein Mann stürzte vom Ast herunter und schlug kaum einen Meter neben Abu Dun auf die Decksplanken. Abu Dun fuhr auf, riss sein Schwert aus dem Gürtel und sprang zur Seite. Er begann in seiner Muttersprache zu brüllen, und überall auf dem Schiff rissen die Piraten ihre Waffen hervor und machten sich zur Verteidigung bereit. Nur das es niemanden gab, gegen den sie sich verteidigen konnten. Dem Schuss, der den Mann im Ausguck getötet hatte, folgte kein weiterer. Die graue Wand, die das Piratenschiff einschloss, schien lautlos näher zu kriechen, aber sie spie keine Angreifer aus.
»Was ist geschehen?«, fragte Frederic.
»Andrej !«
»Nichts«, antwortete Andrej,.
»Ich weiß es nicht. Geh unter Deck, schnell. Und bleib dort, egal, was geschieht. Und tu diesmal, was ich dir sage!« Frederic blieb einen Moment trotzig stehen, dann drehte er sich um und verschwand mit raschen Bewegungen in der offen stehenden Luke. Andrej wartete, bis er aus seinem Blickfeld verschwunden war, und trat erst dann an Abu Duns Seite.
»Dieser verlogene Christenhund«, sagte Abu Dun gepresst.
»Möge der Teufel seine Seele fressen!«
»Ich glaube, das hat er bereits getan«, sagte Andrej.
»Falls wir von dem gleichen Mann sprechen: Vater Domenicus.« Abu Duns Blick fuhr immer hektischer über die stumpfe graue Wand, die das Schiff einschloss. Aus dem Nebel drangen Geräusche, leise und sonderbar gedämpft, aber eindeutig als die eines Schiffes zu identifizieren, das allmählich näher kam.
»Ich hätte wissen müssen, das er mich hintergeht«, sagte Abu Dun. »Trau niemals einem Christen!« Er sah auf den toten Seemann neben sich und Andrej folgte seinem Blick. Der Mann war aus mehr als zehn Metern Höhe herabgefallen und mußte sich alle Knochen gebrochen haben, aber davon war er nicht gestorben: Seine Brust war voller Blut. Er war erschossen worden. Und das bedeutete, das die Angreifer nahe waren. Sie befanden sich in der Mitte des Flusses. Selbst der beste Schütze hätte den Mann nicht sf vom Ufer aus treffen können.
»Da!« Abu Dun deutete nach rechts. Eine plötzliche Windböe riss den Nebel auseinander und aus den grauen Fetzen tauchte ein riesiges Schiff auf, dessen Rumpf und Segel vor Nässe glänzten. In seinem Bug, der das Deck des Piratenseglers um mindestens zwei Meter überragte, standen drei hoch aufgerichtete Gestalten. Andrejs Atem stockte, als er den Schriftzug las, der am Bug des Schiffes prangte: ›Möwe‹. Es war Vater Domenicus’ Schiff.
»Hund!«, sagte Abu Dun hasserfüllt.
»Verdammter, verräterischer Hund! Dafür töte ich ihn! Macht euch bereit! Sie wollen uns entern!« Andrej teilte seine Meinung nicht. Die ›Möwe‹ hielt weiter auf sie zu, doch nun, als er den ersten Schrecken überwunden hatte, sah er auch, das das Schiff nicht annähernd so riesig war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Sein Deck lag ein gutes Stück höher als das des Sklavenseglers, aber es war viel kleiner und es war kein Kriegsschiff, sondern ein plumper Frachter..
»Da stimmt etwas nicht«, sagte er. Abu Dun nickte grimmig. Er mochte ein Mörder sein, aber er war kein Dummkopf.
»Vielleicht glaubt er ja, das sein Christengott ihn beschützt«, sagte er.
»Also gut, dann entern wir ihn. Ich will diesen Pfaffen lebendig, hört ihr?« Den letzten Satz hatte er geschrien, aber seine Männer machten auch jetzt keine Anstalten, seinem Befehl zu folgen. Denn der Wind frischte auf und eine weitere Böe riss den Nebel endgültig auseinander und gewährte ihnen einen Blick auf ein zweites, viel größeres Schiff, das aus der anderen Richtung auf sie zuhielt. Diesmal war Andrej nicht sicher, ob er das Schiff tatsächlich sah oder in eine schreckliche Vision hinabglitt. Das Schiff sah aus, als hätte die Hölle selbst es ausgespien. Es war schwarz. Es mußte mindestens doppelt so groß sein wie Abu Duns Sklavensegler. Die Reling war mit runden Schilden und gefährlich aussehenden metallenen Dornen gespickt. Auch Segel und Takelage waren schwarz. Das Einzige, was nicht schwarz an ihm war, war ein riesiger feuerroter Drache, der auf dem Hauptsegel prangte.
»Scheijtan!«, keuchte Abu Dun. Scheijtan, das arabische Wort für Teufel.
»Nicht ganz«, murmelte Andrej.
»Aber ich fürchte, du bist nahe dran.« Mühsam riss er seinen Blick von dem schwarzen Segler los und deutete wieder zur ›Möwe‹. Vater Domenicus’ Schiff war mittlerweile nahe genug herangekommen, das er die drei Männer erkennen konnte, die in seinem Bug standen. Domenicus und seine beiden dämonischen Krieger, die Männer in den goldenen Rüstungen. Domenicus stand zwar hoch aufgerichtet zwischen den beiden goldenen Rittern, aber nur, weil diese ihn unter den Armen ergriffen hatten und ihn stützten. Die Verletzung, die Frederic ihm zugefügt hatte, war offenbar noch lange nicht verheilt.
»Da sind sie!«, schrie Domenicus.
»Tötet sie! Verbrennt die Teufelsbrut! Tötet sie alle!« Er machte eine wedelnde Bewegung mit dem linken Arm, die ihn um ein Haar das Gleichgewicht gekostet hätte, und hinter der Reling des schwarzen Seglers erschien eine einzelne, bizarre Gestalt. Der Mann war riesig. Er mußte weit über zwei Meter messen und Andrej war nicht einmal sicher, das es sich wirklich um einen Mann handelte, denn sein Gesicht war so wenig zu erkennen wie irgendetwas von seinem Körper. Er trug eine dunkelrote Rüstung, die die Farbe geronnenen Blutes hatte und über und über mit fingerlangen Stacheln und Dornen gespickt war. Sein Gesicht verbarg sich hinter einem Visier, das der Form nach einem mythischen Fabelwesen nachempfunden worden war. Vermutlich war es der Drache, den das Schiff auch im Segel führte.
»Verbrennt die Hexen!«, schrie Domenicus mit schriller, fast überschnappender Stimme. Der rote Ritter hob den Arm. Hinter ihm glomm ein winziger, aber höllisch weißer Funke auf dem Deck des Schiffes auf. Andrej schloss geblendet die Augen und wandte sich ab, aber es nutzte nichts. Aus dem Funken wurde eine Linie aus orangerotem Feuer, die wie ein glühender Finger in die Höhe und dann wieder hinunter und nach dem Piratenschiff griff. Sie bewegte sich träge, fast gemächlich und sie war zu kurz gezielt: Der Halbkreis aus flüssigem Feuer verfehlte das Schiff und prallte zwei Meter vor dem Bug aufs Wasser. Die Flammen erloschen nicht. Andrej beobachtete fassungslos, das das Wasser das Feuer nicht löschte, sondern das Feuer den Fluss in Brand setzte! Abu Dun sog ungläubig die Luft zwischen den Zähnen ein.
»Was ist das?!«, keuchte er.
»Das ist Zauberei!« Nicht ganz, dachte Andrej entsetzt. Aber es kommt ihr nahe.
»Griechisches Feuer!«, murmelte er.
»Großer Gott, das ist Griechisches Feuer!« Abu Duns Antwort ging in einem gellenden Schrei unter. Der Feuerstrahl war weiter gewandert, berührte den Bug des Schiffes und setzte die Reling in Brand. Die Männer prallten entsetzt zurück, aber einer der Piraten reagierte nicht schnell genug. Nur ein Spritzer der brennenden Flüssigkeit berührte sein Gewand, aber schon dieser winzige Spritzer reichte, ihn wie eine lebende Fackel auflodern zu lassen. Schreiend torkelte der Mann einige Schritte zurück und brach zusammen, während vor ihm der gesamte Bug des Schiffes in Flammen aufging.
»Bei Allah!«, keuchte Abu Dun.
»Bringt euch in Sicherheit! Ins Wasser!« Falls seine Männer die Worte über dem Prasseln der Flammen und dem Chor gellender Schreie überhaupt hörten, so blieb ihnen keine Zeit mehr, darauf zu reagieren. Der Finger aus flüssigem Höllenfeuer wanderte weiter und setzte das gesamte Vorderschiff in Brand. Die Hitze war selbst hier so unerträglich, das t, Andrej abwehrend die Arme vor das Gesicht riss und für einen Moment keine Luft mehr bekam. Zwei, drei weitere von Abu Duns Männern wurden von den brodelnden Flammen ergriffen und verzehrt, den anderen gelang es, sich in Sicherheit zu bringen, und auch Andrej erwachte endlich aus seiner Erstarrung. Er fuhr herum und rannte mit Riesenschritten auf die Luke zu, in der Frederic verschwunden war.
»Lauft!«, schrie er.
»Bringt euch in Sicherheit!« Aber wie? Er wußte, das das Schiff verloren war. Nichts, keine Macht der Welt, konnte Griechisches Feuer löschen. Der gesamte Bug des Schiffes stand bereits in hellen Flammen, die erst dann erlöschen würden, wenn es nichts mehr gab, was sie verzehren konnten. Wer immer an Bord des Drachenseglers die teuflische Maschinerie bediente, die einen längst vergessen geglaubten Schrecken aus vergangener Zeit auf das Schiff schleuderte, er tat es mit erschreckender Präzision. Der Feuerstrahl fraß sich durch das Vorderdeck des Schiffes, spritzte lodernde Flammen in die Takelage und setzte die Segel in Brand. Andrej hatte Abu Dun längst aus den Augen verloren. Die Hitze war beinahe unerträglich. Er stürmte die Treppe hinunter und sah gerade noch, wie Frederic die schwere Tür zum Sklavenquartier aufschob, eine Aufgabe, die seine gesamte Kraft zu beanspruchen schien.
»Nein!«, brüllte er.
»Nicht!« Frederic hielt mitten in der Bewegung inne und drehte sich verwirrt zu ihm um. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, was direkt über seinem Kopf geschah. Andrej war mit einem einzigen gewaltigen Satz bei ihm und riss ihn zurück.
»He!«, schrie Frederic.
»Was ...?« Die Hitze war mittlerweile selbst hier unten zu spüren. Ein böses, loderndes Licht füllte die Luke aus, durch die Andrej heruntergekommen war. Er hatte keine Zeit für irgendeine Erklärung. Ohne auf Frederics Widerstand zu achten, zerrte er ihn herum, riss ihn in die Höhe und trug ihn zur Treppe zurück. Hitze schlug ihm wie eine unsichtbare Hand entgegen und nahm ihm den Atem, aber er stürmte weiter. Das Deck war eine Hölle aus Hitze, Licht, Schreien und tobender Bewegung. Frederic stieß einen keuchenden Schrei aus. Andrej versuchte erst gar nicht, sich zu orientieren, sondern rannte blindlings in die Richtung, in der das Licht am wenigsten grell war und wohin die Hitze nicht das Gesicht verbrannte. Eine in Flammen gehüllte Gestalt torkelte vorüber und brach zusammen, dann prallte Andrej gegen die Reling und wäre fast gestürzt. Ohne darüber nachzudenken, was er tat, schleuderte er Frederic in hohem Bogen über die Reling, fort von dem grausamen, verzehrenden Licht.
»Schwimm!«, schrie er.
»Zum Ufer!« Noch bevor Frederic mit einem gewaltigen Platschen im Wasser verschwand, schwang auch er sich über die Reling und sprang von Bord. Nach der grausamen Hitze, die auf dem Deck des Piratenseglers geherrscht hatte, war das eisige Wasser ein Schock. Andrej schnappte instinktiv nach Luft, schluckte Wasser und spürte, wie sein Herz aus dem Takt geriet, während er von der Wucht des Aufpralls meterweit unter die Wasseroberfläche gedrückt wurde. Automatisch begann er zu paddeln, kam wieder nach oben und rang keuchend nach Luft, als er die Wasseroberfläche durchbrach. Die Luft verbrannte seine Kehle und füllte seine Lungen mit weißem, flüssigem Schmerz. Er schrie, ging abermals unter und kam irgendwie wieder nach oben, ohne zu wissen, wo er war und in welche Richtung er sich bewegte. Neben ihm war plötzlich eine Gestalt, eigentlich nur eine Bewegung. Er glaubte, es sei Frederic, griff zu und spürte, das er sich getäuscht haben mußte. Die Gestalt war zu groß, viel zu schwer und vollkommen reglos. Der Mann war ohnmächtig oder bereits tot. Statt ihn jedoch loszulassen, drehte sich Andrej auf den Rücken, lud sich den Mann so auf die Brust, das sein Gesicht über Wasser blieb und er atmen konnte, und schwamm los. Er konnte nur hoffen, das er sich in die richtige Richtung bewegte. Diesmal war das Schicksal ausnahmsweise auf seiner Seite gewesen. Schon nach wenigen Augenblicken hatte ihn die an dieser Stelle außergewöhnlich starke Strömung ergriffen. Er hatte nicht versucht, dagegen anzukämpfen, sondern war nur bemüht gewesen, in einen möglichst gleichmäßigen und Kräfte sparenden Rhythmus zu gelangen.
Der Fluss war an dieser Stelle voller Wirbel und reißender Unterströmungen, die einen Schwimmer meilenweit davontragen konnten, aber es gab unweit des Ufers eine Felsgruppe, an der sich das Wasser brach, bis es in größer und langsamer werdenden Spiralen ans Ufer schwappte. Andrej erreichte die Stelle mit letzter Kraft, schleppte sich auf den sanft ansteigenden Streifen aus nassem Sand und kleinen, scharfkantigen Steinen und zerrte mit einer Hand den Mann hinter sich her, den er gerettet hatte. Er bemerkte erst jetzt, das es Abu Dun war. Er war ohne Bewusstsein, atmete aber, und Andrej verwandte sein letztes bisschen Kraft darauf, ihn an Land zu bringen und auf die Seite zu drehen. Dann fiel er auf den Rücken und war für die nächsten Minuten zu nichts anderem mehr fähig, als in den Himmel zu starren und in tiefen, gierigen Zügen ein- und auszuatmen. Eine Reihe qualvoller, würgender Geräusche riss ihn in die Wirklichkeit zurück. Mühsam stemmte er sich hoch, drehte den Kopf und sah, das Abu Dun sich ebenfalls halb aufgerichtet hatte und sich keuchend ins Wasser übergab. Der Anblick ließ auch in ihm Übelkeit aufsteigen. Hastig drehte er den Kopf in die andere Richtung und sah auf den Fluss hinaus. Der Nebel hatte sich weiter aufgelöst, wenn auch nicht vollkommen.
Der graue Dunst, der über dem Wasser hing, reichte gerade aus, die Konturen der Dinge zu verwischen und die Szenerie noch gespenstischer erscheinen zu lassen. Der Sklavensegler hatte sich in einen schwimmenden Scheiterhaufen verwandelt. Er brannte lichterloh vom Bug bis zum Heck. Takelage und Segel hatten sich in der infernalischen Hitze des Griechischen Feuers längst aufgelöst und gerade, als Andrejs Blick ihn streifte, brach der Mast brennend in zwei Teile und stürzte ins Wasser. Selbst der Fluss brannte. Sowohl die ›Möwe‹ als auch der schwarze Drachensegler waren wieder auf respektvollen Abstand gegangen, um nicht von dem Inferno erfasst zu werden, das sie selbst entfesselt hatten. Sie kamen Andrej vor wie zwei Raubtiere, die ihre Beute geschlagen hatten und nun geduldig abwarteten, bis sie ausgeblutet und ihr Todeskampf vorüber war. An Bord des Piratenschiffes konnte niemand überlebt haben. Andrej erinnerte sich an die Hitze, die selbst zehn Meter entfernt im Wasser schier unerträglich gewesen war. Niemand konnte diese Hölle länger als einige Augenblicke überstehen. Andrej betete, das es so war. Sein Blick suchte die ›Möwe‹. Sie befand sich noch immer auf der anderen Seite des brennenden Piratenschiffes und das gleißende Licht ließ sie zu einem bloßen Schemen werden, sodass er die drei Gestalten, die hoch aufgerichtet in ihrem Bug standen, nicht erkennen konnte. Vermutlich waren sie schon gar nicht mehr da, sondern vor der Hitze geflohen, die selbst in zwanzig oder dreißig Metern Entfernung noch enorm sein mußte. Er stellte sich Vater Domenicus’ Gesicht so deutlich vor, als stünde dieser Teufel im Inquisitor-Gewand auf Armeslänge vor ihm. Verbrennt die Hexen! Und sie waren tot. Seine Familie, beinahe jeder, den er gekannt hatte, jeder, der seines Blutes gewesen war, war ausgelöscht. Nun gab es nur noch ihn und Frederic. Verbrennt die Hexen!
»Du wirst mir jetzt sagen, was du geplant hattest, Pirat«, sagte er, leise, kalt und mit einer Stimme, die so schneidend war wie Stahl. Abu Dun hatte aufgehört sich zu übergeben, und starrte wie er aus glasigen Augen auf den Fluss hinaus. Sein Gesicht war mit großen Brandblasen übersät.
»Wir hatten nichts ...«
»Sag es mir, Abu Dun!«, unterbrach ihn Andrej.
»Oder bei Gott, ich schwöre dir, das ich dir das Herz herausreiße und dich dabei zusehen lasse!« Er sprach nicht sehr laut und in seiner Stimme war fast kein Gefühl, aber vielleicht war es gerade das, was Abu Dun erkennen ließ, wie bitter ernst diese Worte gemeint waren. Der Pirat schwieg noch eine Weile, dann riss er seinen Blick mit erkennbarer Mühe von dem lodernden Scheiterhaufen los, der im Fluss schwamm.
»Wir hatten nichts geplant«, murmelte er.
»Domenicus’ Schergen haben mich hierher bestellt. Wir wollten uns treffen, eine knappe Tagesreise weiter flussaufwärts.«
»Wozu?«.
»Sie haben gesagt, sie hätten einen Käufer für die Sklaven«, antwortete Abu Dun.
»Einen Mann, der einen guten Preis für kräftige Arbeiter und fleißige Weibsstücke zahle.«
»Und warum hat er sie dann nicht selbst zu ihm gebracht?« Andrej beantwortete sich seine Frage: Ein Inquisitor, der mit Sklaven handelte? Ausgeschlossen!
»Er hat das geplant«, murmelte Abu Dun.
»Dieser ... dieser verlogene Hund! Er wollte uns alle töten! Mich!« Verbrennt die Hexen! Einen ganz kurzen Moment lang hatte sich Andrej gefragt, ob Domenicus vielleicht von Abu Duns plötzlichem Sinneswandel erfahren hatte und dieser heimtückische Überfall seine Antwort darauf war. Aber selbstverständlich war das unmöglich. Der Drachensegler war nicht aus dem Nichts aufgetaucht. Eine Falle wie die, in die sie gelaufen waren, bedurfte langer und sehr sorgfältiger Vorbereitung. Er löste seinen Blick von der ›Möwe‹ und dem brennenden Schiff davor und wandte sich dem Drachensegler zu. So wenig er Vater Domenicus und die beiden goldenen Ritter wirklich erkennen konnte, umso deutlicher sah er den Riesen in der blutfarbenen Rüstung. Sie verfehlte ihre Wirkung nicht.
»Ich werde ihn töten«, sagte Abu Dun.
»Und wenn es das Letzte ist, was ich tue.«
»Nein«, sagte Andrej leise.
»Das wirst du nicht, Pirat.« Er stand auf.
»Ich werde es tun. Zuerst ihn und dann Domenicus und seine beiden Schergen.« Erlegte eine hörbare Pause ein, in der er Abu Dun durchdringend und eisig ansah.
»Und wenn es sein muss, jeden, der sich mir in den Weg stellt.« Abu Dun wirkte für einen Moment regelrecht erschrocken, dann drehte er sich herum und schöpfte mit den Händen Wasser aus dem Fluss, um sich das Gesicht zu waschen.
»Ich habe mich noch gar nicht bei dir bedankt, das du mir das Leben gerettet hast, Hexenmeister«, sagte er.
»Ich werde dir zum Dank zwei Monate von deiner Schuld erlassen - oder sagen wir besser drei. Niemand soll Abu Dun nachsagen, das ihm sein eigenes Leben nichts wert ist.«
»Schuld?« Andrej schüttelte den Kopf.
»Ich schulde dir nichts, Pirat. Unser Handel ist hinfällig. Deine Ware ist gerade verbrannt.«
»Und du sagst, ich wäre ein harter Verhandlungspartner?« Abu Dun spie ins Wasser, stand auf und zog eine Grimasse, als er mit spitzen Fingern die Brandblasen auf seinem Gesicht betastete.
»Du hast mich gerettet und den jungen nicht«, sagte er nachdenklich.
»Frederic kann auf sich selbst aufpassen«, antwortete Andrej. Er starrte weiter in Richtung des Drachenseglers. Auf dem großen Schiff waren mittlerweile gut zwei Dutzend Männer erschienen, aber Andrej hatte nur Augen für den Mann in der blutfarbenen Rüstung.
»Der junge ist so wie du«, sagte Abu Dun.
»Warum überrascht mich das nicht? Er wird trotzdem nicht besonders erfreut sein, das du ihn im Stich gelassen hast, um das Leben eines Piraten zu retten.«
»Er ist vor allem nicht so geduldig wie ich.« Andrej antwortete, ohne eigentlich zu wissen, was er sagte. Sein Blick brannte sich währenddessen geradezu in den Drachenritter ein. Der Mann stand reglos wie eine aus rotem Stein gemeißelte Statue im Bug seines unheimlichen schwarzen Schiffes, das Gesicht in Richtung des brennenden Piratenseglers gerichtet, und trotzdem hatte Andrej das Gefühl, das er wußte, wer ihn vom Ufer aus beobachtete. Eine spürbare Bosheit schien von der Gestalt in der roten Rüstung auszugehen; reine Gewalt, die Gestalt angenommen hatte.
»Soll das eine Warnung sein?«
»Nein«, antwortete eine Stimme aus dem Wald hinter ihnen, bevor Andrej es tun konnte.
»Ein Versprechen. Gib mir einen Grund und ich reiße dir die Kehle heraus und trinke dein Blut.« Frederic stolperte aus dem Wald heraus und kam mit kleinen, ein wenig unsicher wirkenden Schritten auf ihn zu.
»Frederic«, sagte Andrej müde. Frederic sah aus zornig funkelnden Augen zu ihm hoch, aber er sagte nichts mehr, sondern ging wortlos an ihm und Abu Dun vorbei und stieg auf einen Felsen, der in Ufernähe aus dem Sand ragte. Es war vollkommen unnötig. Er mußte das nicht tun, um freie Sicht auf den Fluss und das brennende Schiff zu haben; Andrej kam sein Verhalten seltsam unangemessen vor. Vor allem, als er in sein Gesicht sah. Frederic war nicht entsetzt. Da war keine Trauer. Kein Zorn. Nicht einmal diese schreckliche, saugende Leere, die Andrej am Anfang gefühlt hatte und auch jetzt noch fühlte. Obwohl ihn der bloße Gedanke entsetzte, schien ihm alles, was er auf Frederics Gesicht erblickte, so etwas wie gelindes Interesse zu sein. Er betrachtete den Tod all seiner Freunde und Verwandten auf die gleiche Weise, mit der er einem eindrucksvollen, aber nicht besonders originellen Schauspiel gefolgt wäre.
»Wir sollten von hier verschwinden«, sagte Abu Dun.
»Dieser Teufel wird vielleicht das Ufer absuchen lassen, um sicher zu gehen, das es keine Überlebenden gibt.«
»Das braucht er nicht«, sagte Andrej leise.
»Er weiß, das wir hier sind.« Und als hätte er seine Worte gehört, drehte sich der Ritter in der stachelbewehrten roten Rüstung herum und sah ihn an.