10

Wie sie es vorausgesehen hatten, stießen sie auf Tepesch und die anderen. Nach Draculs Worten hatte Andrej eine Armee erwartet, aber der Drachenritter hatte keine drei Dutzend Männer bei sich, von denen ein Gutteil, nicht einmal Krieger zu sein schienen. Abu Dun saß auf einem Pferd neben Tepesch. Seine Hände waren nicht nur aneinander-, sondern auch an den Sattelknauf gebunden und zwar so, das er keine Möglichkeit hatte, die Zügel zu fassen. Falls sie in einen Kampf verwickelt wurden, war er so gut wie verloren. »Ihr kommt spät«, begrüßte sie Tepesch.

»So? Ich dachte, wir kämen genau zur verabredeten Zeit«, antwortete Andrej.

»Dann wollen wir hoffen, das sich die Brüder deines Freundes auch an den verabredeten Zeitplan halten«, sagte Tepesch mit einer Kopfbewegung auf Abu Dun.

»Sie sind schon ganz in der Nähe. Es wird Zeit, das wir das Feld räumen.« Andrej drehte sich halb herum und sah zum Dorf zurück. Aus der Entfernung betrachtet wirkte Rettenbach noch kleiner und ärmlicher - und vor allem wehrloser. Der Ort hatte keine Mauern, keine festen Häuser, keine Türme. Die Türken würden keine Mühe haben, ihn einzunehmen und mit seinen Bewohnern nach Belieben zu verfahren. Andrej konnte nur hoffen, das die vermeintlichen Heiden barmherziger waren als der Mann, der angeblich im Namen Christi kämpfte. Tepesch überließ sie einfach ihrem Schicksal - aber das war vielleicht nicht das Schlimmste, was ihnen durch diesen Mann widerfahren konnte.

»Spar dir deinen Atem«, sagte Dracul.

»Ich könnte nichts für sie tun, selbst wenn ich es wollte.«

»Du könntest sie mitnehmen«, sagte Andrej.

»Und mich von diesem Bauernpack aufhalten lassen?« Dracul lachte.

»Sie sind nur Ballast. Vlad - sein Pferd.« Vlad zerschnitt mit seinem Messer Andrejs Handfesseln, entfernte sich und kam kurz darauf mit zwei Pferden zurück. Andrej stieg in den Sattel und streckte die aneinander gelegten Handgelenke aus, aber Dracul schüttelte nur den Kopf.

»Ich bitte dich, lieber Freund«, sagte er hämisch.

»So viel Vertrauen muss doch sein, oder? Ich meine, wo wir doch Freunde werden wollen.«

»Wo ist Frederic?«, fragte Andrej. Tepesch sah ihn einen Moment nachdenklich an und gab dann das Zeichen zum Aufbruch. Erst als sie sich in Bewegung gesetzt hatten, antwortete er auf Andrejs Frage.

»An einem sicheren Ort.«

»Sicher vor dir?«

»Auch«, bestätigte Tepesch ungerührt.

»Jedenfalls hoffe ich es.«

»Was soll das heißen?« Tepesch lachte.

»Das ich nicht genau weiß, wo er sich im Moment aufhält«, sagte er. »Ich bin nicht dumm. Und ich begehe nicht den Fehler, dich zu unterschätzen. Mein treuester Diener hat ihn weggebracht - an einen Ort, den selbst ich nicht kenne.«

»Burg Waichs?«, vermutete Andrej. Tepesch seufzte.

»Vlad redet zu viel«, sagte er.

»Er ist ein zuverlässiger Diener, aber seine Zunge sitzt zu locker. Vielleicht sollte ich sie ihm an den Gaumen nageln lassen ... nein, ich weiß nicht, wo er ist. Er wird zu mir gebracht, sobald ich Burg Waichs unbeschadet erreiche. Sollte mir hingegen etwas zustoßen ...«

»Ich verstehe«, sagte Andrej düster.

»Du musst große Angst vor mir haben.«

»Verwechsle Respekt nicht mit Angst«, sagte Tepesch.

»Ich habe gesehen, wozu du fähig bist.«

»Und wenn wir in einen Hinterhalt geraten?«.

»Dann wäre es um deinen jungen Freund geschehen, fürchte ich«, sagte Tepesch gleichmütig.

»Das Leben ist voller Risiken.« Andrej sagte nichts mehr. Er hatte nicht vor, sich von Tepesch in ein Gespräch verwickeln zu lassen, dessen Verlauf nicht er bestimmte. Der Mann war gefährlich. In jeder Beziehung. Trotzdem war er es, der das Schweigen wieder brach, nachdem sie eine Weile nebeneinanderher geritten waren.

»Es gibt da etwas, das du tun könntest, um mein Vertrauen zu gewinnen.«

»So? Und was?« Tepesch klang nicht sonderlich interessiert. Er drehte nicht einmal den Kopf.

»Abu Dun.« Andrej deutete auf den Piraten, der mit einem Ausdruck leiser Überraschung den Blick hob, als er seinen Namen hörte.

»Lass ihn frei.«

»Und warum sollte ich das tun?«

»Er ist dir nicht von Nutzen«, sagte Andrej.

»Nur ein Gefangener mehr, auf den du Acht geben musst.«

»Das stimmt«, sagte Tepesch.

»Vielleicht sollte ich ihn töten lassen.«

»Lass ihn frei«, beharrte Andrej.

»Lass ihn gehen und wir reden.«

»Du meinst das ernst«, sagte Tepesch in erstauntem Ton.

»Ich hätte nicht gedacht, das du so billig zu haben bist.«

»Du weißt nicht, wovon du sprichst«, sagte Andrej.

»Selbst wenn ich dir gebe, was du von mir erwartest, wäre der Preis höher, als du dir auch nur vorstellen kannst.«

»Ich kann mir eine Menge vorstellen«, sagte Dracul.

»Aber gut, ich bin heute großzügig. Der Heide kann gehen: Früher oder später schneidet ihm sowieso jemand die Kehle durch.«

»Dann mach ihn los«, verlangte Andrej.

»Jetzt?« Tepesch schüttelte den Kopf.

»Mit dem türkischen Heer auf den Fersen? Das wäre nicht klug. Er wird freigelassen, sobald wir Petershausen erreichen. Darauf hast du mein Wort.«

»Und was ist dein Wort wert?«, fragte Andrej. Tepesch lachte böse. »Ich würde sagen: Mindestens so viel wie deines. Nicht weniger. Aber auch nicht mehr.« Sie ritten bis spät in die Nacht hinein und machten auch dann nur eine kurze Rast, gerade ausreichend um die Pferde zu tränken und den Männern Gelegen heit zu geben, sich die Beine zu vertreten und ihre steig gesessenen Glieder zu recken, dann ritten sie weiter Andrej war sicher, das sie ohne längere Rast durch reiten würden, bis sie Petershausen erreichten; was frühestens um die Mittagsstunde des nächsten Tage der Fall sein würde. Draculs Furcht vor der heran rückenden türkischen Armee schien größer zu sein als er zugab. Möglicherweise hatte er einen guten Grund dafür. Es mußte Mitternacht sein, als Andrej sich im Sattel herumdrehte und nach Osten zurücksah, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der Horizont glühte in einem dunklen Rot. Etwas brannte. Etwa Großes. Vielleicht nur das Heerlager der Türken, dessen Lagerfeuer den Himmel erhellte. Vielleicht auch Rettenbach. Die Nacht zog sich dahin. Als der Morgen graute, legten sie eine zweite, etwas längere Rast ein, in de Tepesch Andrejs erneute Bitte, Abu Dun sofort frei zulassen, wiederum abschlug. Sie ritten weiter und e: reichten am frühen Nachmittag die bewaldeten Hügel um Petershausen am Oberlauf des Flusses Arges, nicht weit entfernt von Poenari, auf dessen steilen Felsen der Walachen-Fürst gerade eine neue mächtige Burg errichten ließ, wie Andrej gehört hatte. Aber vielleicht war das auch nur ein Gerücht, das Tepesch in die Welt gesetzt hatte, um seine Feinde zu beeindrucken. Die Stadt Petershausen zumindest war real; sie war deutlich größer als Rettenbach und von einer wehrhaften, gut fünf Meter hohen Mauer umgeben, in die drei gewaltige Rundtürme eingebettet waren. Dahinter, schon fast an der Grenze des überhaupt noch Erkennbaren, erhob sich der düstere Umriss einer mittelgroßen Burg; Waichs, Vladimir Tepeschs gefürchteter Stammsitz. Als sie sich dem Tor näherten, zügelte Andrej sein Pferd und sah Tepesch auffordernd an.

»Abu Dun.« Auch Dracul hielt an. Andrej war schon fast überzeugt, das er sich nur einen seiner grausamen Scherze mit ihm erlaubte, aber dann nickte er und machte eine befehlende Geste.

»Bindet ihn los. Er kann gehen. Niemand wird ihn anrühren, habt ihr gehört?« Nicht nur Andrej war überrascht, als Vlad sein Pferd an das des Piraten heranlenkte und seine Handfesseln durchtrennte. Abu Dun riss ungläubig die Augen auf und starrte abwechselnd seine Hände, Tepesch und Andrej an. Er hatte sichtlich Mühe, zu glauben, was er sah.

»Worauf wartest du, Heide?«, herrschte Tepesch ihn an.

»Verschwinde. Reite zu deinen Brüdern und sag ihnen, das ich auf sie warte.«

»Das ... möchte ich nicht«, sagte Abu Dun stockend.

»Wie?« Tepesch legte lauernd den Kopf auf die Seite. Abu Dun sah nicht ihn, sondern Andrej an.

»Ich bleibe bei dir.«

»Was soll denn dieser Unsinn?«, fragte Andrej.

»Es ist kein Unsinn«, antwortete Abu Dun. Er versuchte, gleichmütig zu wirken, aber seine Stimme klang ein ganz kleines bisschen brüchig und er konnte nicht verhindern, das sein Blick immer wieder in Draculs Richtung irrte.

»Schließlich haben wir eine Abmachung.«

»Du bist verrückt«, sagte Andrej.

»Aber Andrej«, mischte sich Tepesch ein.

»Du wirst doch deinem Freund diesen Wunsch nicht abschlagen? Ich bin enttäuscht.« Er richtete sich im Sattel auf und sprach mit lauterer Stimme weiter.

»Ihr habt es alle gehört! Der Mohr ist mein Gast und ihr werdet ihn als solchen behandeln!« Andrej starrte Abu Dun an und zweifelte für einen Moment ernsthaft an dessen Verstand. Sie in diese Stadt zu begleiten bedeutete Abu Duns sicheren Tod. Bildete sich der ehemalige Sklavenhändler tatsächlich ein, das Tepesch ein Mann von Ehre war? Andrej war sicher, das Dracul nicht einmal wußte, was dieses Wort bedeutete.

»Vlad, du wirst mit den anderen weiterreiten«, fuhr Tepesch fort. »Ich sorge dafür, das unsere Gäste standesgemäß untergebracht werden. Dann folge ich euch.« Vlad zögerte. Er wirkte regelrecht bestürzt.

»Herr, seid Ihr sicher, das ...« Tepesch starrte ihn an, und Vlad verstummte und senkte hastig den Blick.

»Wie Ihr befehlt.« Er drehte hastig sein Pferd herum und sprengte los. Der Rest der kleinen Truppe folgte ihm. Für einen Augenblick waren sie allein. Zwar nur wenige Meter von der Stadtmauer entfernt, aber allein und nicht einmal gefesselt.

»Ich weiß, was jetzt hinter deiner Stirn vorgeht«, sagte Dracul.

»Zweifellos bist du dazu fähig, mich anzugreifen und zu töten, bevor mir jemand aus der Stadt zu Hilfe eilen könnte, obwohl ich bewaffnet bin und du nicht. Wirst du es tun?«

»Du bist wahnsinnig«, sagte Andrej.

»Mag sein.« Tepesch deutete auf das offen stehende Stadttor Petershausens.

»Tu es oder reite dort hinein. Meine Zeit ist knapp.« Warum tat er es nicht? Andrej war ganz und gar nicht sicher, das er tatsächlich in der Lage gewesen wäre, den gut bewaffneten und gepanzerten Drachenritter in so kurzer Zeit zu überwältigen. Selbstverständlich würde die Torwache sofort Alarm schlagen; die Männer blickten schon jetzt misstrauisch in ihre Richtung. Er ließ einige Augenblicke verstreichen, dann wendete er sein Pferd und ritt auf das Stadttor zu. Unter dem gemauerten Torbogen hielten sie an und stiegen aus den Sätteln. Zwei Männer in Kettenhemden traten ihnen mit langen Spießen entgegen, hielten aber respektvollen Abstand - wenn auch eher zu ihrem Herrn als zu Andrej und Abu Dun. Tepesch mußte den Kopf senken, um nicht in dem Torbogen anzustoßen, machte aber keine Anstalten abzusteigen, sondern gestikulierte zu den beiden Wachen hin.

»Bringt die beiden in den Turm«, sagte er.

»Ich bin gleich zurück und will dann mit ihnen reden.«

»Turm?«

»Keine Sorge«, antwortete Dracul.

»Es klingt schlimmer, als es ist.« Die beiden Wächter führten sie eine steile Treppe hinauf in eine winzige, karg eingerichtete Kammer, die im oberen Stockwerk des massigen Turmes lag. Sie wurden nicht angekettet und auch vor dem schmalen Fenster gab es keine Gitter, aber als die Tür hinter ihnen geschlossen wurde, konnten sie das Geräusch eines schweren Riegels hören, der vorgelegt wurde. Darauf achtete Andrej aber kaum. Die Tür war noch nicht ganz geschlossen, da fuhr er herum und fauchte Abu Dun an:

»Was zum Teufel ist in dich gefahren?«

»Ich verstehe nicht«, behauptete Abu Dun.

»Du verstehst ganz genau, wovon ich spreche!« Andrej mußte sich beherrschen, um nicht zu schreien.

»Was soll dieser Irrsinn? Wieso bist du hier?« Abu Dun ging zum Fenster und beugte sich neugierig hinaus.

»Das sind gute zehn Meter«, sagte er.

»Und die Wand ist glatt. Trotzdem könnte man es schaffen.«

»Abu Dun!«, sagte Andrej scharf.

»Nur, was würde es nutzen?«, sinnierte Abu Dun.

»Dort draußen wird es spätestens in zwei Tagen von den Kriegern des Sultans wimmeln.« Er drehte sich herum, lehnte sich neben dem Fenster an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wusstest du, das zwei der Krieger entkommen sind?«

»Welche Krieger?«

»Türken der Patrouille, die Draculs Männer überfallen haben«, erklärte der Pirat.

»Zwei von ihnen sind entkommen, mindestens. Ich würde dort draußen keinen Tag überleben.«

»Oh«, sagte Andrej.

»Sie haben gesehen, wie wir Rücken an Rücken gegen ihre Brüder gekämpft haben, Deläny. Ich bin jetzt ein Verräter. Schlimmer als ein Feind. Jeder einzelne Mann des Heeres würde mir ohne zu zögern die Kehle durchschneiden.«

»Tepesch wird dich ebenfalls töten«, sagte Andrej.

»So wie dich«, fügte Abu Dun hinzu.

»Sobald er hat, was er von dir will.«

»Ich weiß«, sagte Andrej.

»Aber ich habe einen Grund, dieses Risiko einzugehen. Frederic.« Abu Dun sah ihn auf sonderbare Weise an.

»Man könnte meinen, er wäre wirklich dein Sohn.«

»Irgendwie ist er das auch«, murmelte Andrej, »in einem gewissen Sinne.« Er sah sich unschlüssig in der kleinen Kammer um. Es gab kein Bett, aber einen Tisch mit vier niedrigen Schemeln. Er ging hin und setzte sich auf einen davon, ehe er fortfuhr:

»Auf jeden Fall ist er alles, was ich noch habe.«.

»Vielleicht ist er mehr, als gut für dich ist«, sagte Abu Dun ernst.

»Der Junge ist böse, Andrej, begreif das endlich.«

»Das ist er nicht!«, widersprach Andrej heftig.

»Er ist jung. Er weiß es nicht besser. Er braucht jemanden, der ihn leitet.«

»Ich glaube, er hat ihn gefunden«, sagte Abu Dun.

»Ich weiß nicht, wen ich mehr bedauern soll - Fürst Tepesch oder ihn.«

»In einem Punkt gebe ich dir Recht«, sagte Andrej.

»Dracul ist eine Gefahr für ihn. Ich muss ihn aus den Klauen dieses Ungeheuers befreien. So schnell wie möglich.« Abu Dun stieß sich von der Wand ab und kam mit langsamen Schritten näher. Er setzte sich nicht, sondern blieb mit verschränkten Armen auf der anderen Seite des Tisches stehen und sah auf Andrej hinab, und Andrej fragte sich, ob er wohl wußte, wie drohend und einschüchternd er in dieser Pose wirkte.

»Ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, das es Menschen gibt, die einfach böse geboren werden?«, fragte er.

»Einen davon kenne ich«, sagte Andrej, aber Abu Dun verstand die spitze Bemerkung nicht einmal.

»Und deshalb hast du dich also entschieden, bei mir zu bleiben und auf mich aufzupassen«, fuhr Andrej böse fort.

»Ich verrate dir ein Geheimnis: Ich brauche keinen Leibwächter. Man kann mich nicht verletzen.«

»Schade«, sagte Abu Dun.

»Wäre es so, dann würde ich dich jetzt windelweich prügeln. So lange, bis du endlich Vernunft annimmst.« Er atmete hörbar ein, schwieg einen Moment und ließ sich dann auf einen der kleinen Hocker sinken. Das Möbelstück ächzte unter seinem Gewicht.

»Lass uns aufhören, miteinander zu streiten«, sagte er.

»Das führt zu nichts.«

»Ich habe nicht damit angefangen«, behauptete Andrej trotzig. Es klang so sehr nach einem verstockten Kind, das er selbst lachen mußte. Auch Abu Dun lachte leise, aber seine Augen blieben ernst. »Uns bleibt nicht viel Zeit«, sagte er nach einer Weile, jetzt aber in versöhnlichem Ton.

»Ich kenne Selics Pläne nicht, aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Im Moment ist es hier noch scheinbar friedlich, aber das ist ein Trugbild. In zwei, spätestens drei Tagen versinkt dieses Land im Chaos. Ich weiß nicht, ob Selic diese Stadt des Eroberns für wert hält. Ich täte es nicht. Aber selbst wenn er Petershausen ungeschoren lässt, werden seine Krieger das Land ringsum besetzen.«

»Und?«, fragte Andrej.

»Noch können wir fliehen«, sagte Abu Dun.

»Fliehen? Und wohin?«

»Nach Westen«, antwortete Abu Dun.

»Waren all deine Racheschwüre nur Gerede? Wir suchen diesen verdammten Inquisitor. Und wenn schon nicht ihn, dann das Mädchen. Oder war auch das nur so dahingesagt?«

»Welches ...« Andrej ballte die Hand zur Faust.

»Frederic«, murmelte er.

»Er redet zu viel. Ich habe ein- oder zweimal über sie gesprochen. Und ich habe niemals gesagt, das sie mir etwas bedeutet.«

»Du hättest deine Augen sehen sollen, als die Rede auf Maria kam«, sagte Abu Dun grinsend.

»Du liebst sie, habe ich Recht?« Andrej schwieg. Er hatte sich diese Frage bisher nicht gestellt. Vielleicht, weil er Angst vor der Antwort hatte. Es war lange her, das er die Frau, der er sein Herz geschenkt hatte, zu Grabe getragen hatte, und er hatte sich damals geschworen, sich dem süßen Gift der Liebe nie wieder hinzugeben. Der Preis war zu hoch. Selbst wenn sie ein Menschenleben währte, der Schmerz über den Verlust dauerte länger, so unendlich viel länger. Trotzdem verging kein Tag, an dem er nicht mindestens einmal an Maria dachte. Das Schicksal hatte sich einen besonders grausamen Scherz mit ihm erlaubt. Der Schmerz war bereits da. Er bezahlte den Preis, ohne die Gegenleistung dafür bekommen zu haben.

»Wenn du ihn nicht jagst, ich tue es auf jeden Fall«, sagte Abu Dun. »Der Kerl hat nicht nur deine Familie ausgelöscht. Er hat auch meine Männer getötet und mich betrogen.«

»Warum gehst du dann nicht ohne mich?«

»Weil ich es nicht kann«, gestand Abu Dun unumwunden.

»Araber sind im Augenblick in eurem Land nicht sonderlich beliebt, weißt du? Ich brauche dich. Und du mich.«

»Dann haben wir ein Problem«, sagte Andrej.

»Denn ich gehe ohne Frederic hier nicht weg.«

»Wen liebst du mehr, Deläny?«, fragte Abu Dun.

»Diesen Jungen oder das Mädchen? Weißt du was? Ich glaube, du weißt es selbst nicht. Oder ist es gar keine Liebe? Kann es sein, das du dich nur für etwas bestrafen willst?« Andrej antwortete darauf nicht. Aber für einen Moment hasste er Abu Dun dafür, das er diese Frage gestellt hatte. Vielleicht, weil er tief in sich spürte, das er Recht hatte. Tepesch kam an diesem Tag nicht mehr zu ihnen. Dafür erschienen nach einiger Zeit mehrere Bedienstete, die ihnen Strohsäcke zum Schlafen und eine überraschend reichhaltige Mahlzeit brachten. Alle schienen mit Taubheit geschlagen zu sein, denn sie beantworteten keine ihrer Fragen und reagierten nicht einmal auf ihre Versuche, ein Gespräch zu beginnen. Der Tag ging zu Ende, ohne das sie den Drachenritter oder einen seiner Krieger noch einmal gesehen hatten. Auch am nächsten Morgen blieben sie allein. Sie durften ihr Quartier zwar nicht verlassen, aber da das einzige Fenster unmittelbar über dem Tor lag, blieb ihnen nicht verborgen, das in der Stadt ein reges Kommen und Gehen herrschte. Den ganzen Tag über strebten Menschen in die Stadt, manche einzeln, zu Fuß oder in kleinen Gruppen, andere mit Pferdekarren oder Ochsen, auf die sie ihre hastig zusammengerafften Habseligkeiten gepackt hatten. Dieser Anblick erschreckte Andrej, denn er machte ihm klar, was in der Stadt vorging. Petershausen wappnete sich für den Krieg. Die Menschen kamen nicht, weil Markttag war oder ein Fest bevorstand. Sie hatten ihre Höfe und Dörfer verlassen, weil sie vor einer Gefahr flohen, die noch nicht zu sehen war, aber fast greifbar in der Luft lag. Erst, als sich die Sonne bereits wieder den Bergen im Westen entgegensenkte, bekamen sie Besuch. Es war jedoch nicht Tepesch, sondern Vlad. Er wirkte unausgeschlafen und übernächtigt. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe und seine Hände zitterten leicht. Etwas war geschehen, das spürte Andrej. »Dracul schickt mich«, sagte er, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.

»Ich soll ihn entschuldigen. Er hätte gerne selbst mit euch gesprochen, aber er wurde aufgehalten.«

»Er mußte ein paar Leute hinrichten, nehme ich an?«, fragte Andrej. »Selic ist im Anmarsch«, sagte Vlad.

»Sein gesamtes Heer.«

»Hierher?«, fragte Andrej zweifelnd.

»Mehr als dreitausend Mann«, bestätigte Vlad.

»Tepesch und die anderen Ritter des Drachenordens waren fast davon überzeugt, das sie Petershausen und Waichs meiden würden, um sich unverzüglich mit dem Hauptheer zu vereinigen, das sich im Westen zum Angriff auf den ungarischen König Matthias Corvinus sammelt, aber seine Kundschafter berichten, das sie auf direktem Wege hierher sind. Petershausen wird fallen. Und Burg Waichs zweifellos auch.«

»Mir bricht das Herz«, sagte Abu Dun. Vlad sah ihn kurz und feindselig an, ohne jedoch auf seine Bemerkung einzugehen. Andrej sagte rasch:

»Was hat er jetzt vor?«.

»Fürst Tepesch erörtert seine Pläne nicht mit mir«, antwortete Vlad. »Aber ihr könnt ihn selbst fragen. Ich bin zusammen mit zwanzig Männern hier, um euch abzuholen. Er will euch sehen.«

»Was für eine Ehre«, spöttelte Abu Dun.

»Ich nehme an, er braucht unsere Schwerter, um im Kampf gegen Selics Truppen zu bestehen.« Vlad warf ihm einen neuerlichen, noch zornigeren Blick zu und Andrej spürte, wie schwer es ihm fiel, die Fassung zu wahren. Er sagte jedoch auch dieses Mal nichts, sondern drehte sich wieder ganz zu Andrej herum und griff unter sein Wams. Andrej stockte der Atem, als er sah, was Vlad darunter hervorzog.

»Er sagte, ich solle dir das geben«, sagte Vlad.

»Du wüsstest schon, was es bedeutet.« Andrej griff mit zitternden Fingern nach dem Stück Tuch, das ihm Vlad hinhielt. Es bestand aus feinem, dunkelblauem Linnen, das an einer Seite mit einer kunstvollen Goldborte verziert und offensichtlich aus einem größeren Stück herausgerissen worden war. Aus einem Kleid. Er kannte es. Es war das Kleid, das Maria in Constäntä getragen hatte, als ... Er wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken, sondern schloss die Faust um den Stofffetzen.

»Ich sehe, du weißt es«, sagte Vlad. Andrej sagte nichts, sondern starrte Vlad nur an, sodass dieser fortfuhr:

»Gestern Nacht kamen Gäste auf Burg Waichs.«

»Ich nehme an, sie kamen ungefähr so freiwillig wie wir«, vermutete Abu Dun. Diesmal antwortete Vlad.

»Sie waren nicht in Ketten, wenn du das meinst«, sagte er.

»Aber ich hatte auch nicht das Gefühl, das sie vollkommen freiwillig gekommen sind.«

»Wie sahen sie aus?«, fragte Abu Dun.

»Zwei von ihnen müssen Ritter sein«, antwortete Vlad, »und der Dritte wohl ein Geistlicher. Er ist krank, glaube ich. Er konnte nicht aus eigener Kraft gehen.«

»Domenicus«, grollte Abu Dun. Sein Gesicht verfinsterte sich, aber im nächsten Moment lachte er.

»Scheinbar hat er sich mit dem Falschen eingelassen. Der Fuchs ist dem Wolf in die Falle gegangen.«

»Und das Mädchen?«, fragte Andrej. Vlad hob abermals die Schultern.

»Ich habe sie nur bei ihrer Ankunft gesehen«, sagte er.

»Sie ist nicht verletzt, das ist alles, was ich euch sagen kann.« Er machte eine Kopfbewegung auf das blaue Tuch in Andrejs Hand. »Sie bedeutet dir etwas?«

»Viel«, gestand Andrej, ohne auf Abu Duns mahnenden Blick zu achten.

»Aber ich frage mich, woher er das weiß.«

»Das fragst du dich wirklich?«, sagte Abu Dun.

»Dein junger Freund redet eben gerne.«

»Warum sollte er ...« Andrej sprach nicht weiter. Es war vollkommen sinnlos, das Gespräch fortzusetzen. Und es spielte im Grunde auch gar keine Rolle. Jetzt nicht mehr. Das Stück blauen Tuches in seiner Hand änderte alles. Er steckte es ein und stand mit versteinertem Gesicht auf.

»Gehen wir.«

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