18

Als er die Eingangshalle des düsteren Gebäudes betrat, traf er auf die ersten Soldaten. Sie waren zu zweit, versahen ihren Dienst aber ebenso nachlässig wie ihre Kameraden auf dem Hof. Einer von ihnen schlief, als Andrej hereinkam, schrak aber hoch und griff nach seiner Waffe, der andere reagierte eine Winzigkeit schneller und stürzte sich mit erhobenem Speer auf ihn. Andrej tötete ihn mit einem blitzschnellen Schwertstreich, fuhr in der gleichen Bewegung herum und streckte auch seinen Kameraden nieder, noch bevor dieser sein Schwert ganz aus dem Gürtel gezogen hatte. Die beiden Männer starben schnell und lautlos, aber der Speer des einen fiel mit einem lang nachhallenden Scheppern zu Boden, das im gesamten Gebäude zu hören sein musste. Andrej blieb mit geschlossenen Augen stehen und lauschte. Für seine unnatürlich geschärften Sinne hatte das Geräusch geklungen wie das Dröhnen einer großen Kirchenglocke, aber es folgte keine Reaktion. Als das Klingeln in seinen Ohren nachließ, ortete er jedoch andere Laute. Er hörte gleichmäßige Atemzüge anderer Männer, ein unregelmäßiges Schnarchen, die Laute von Körpern, die sich im Schlaf bewegten. Hundert neue Sinneseindrücke und Informationen stürmten auf ihn ein, so schnell und mit solcher Wucht, dass er davon überrollt zu werden drohte. Ihm schwindelte. Es gelang ihm nur mit Mühe, sich gegen diese Flut von Geräuschen, Bildern und Gerüchen zu behaupten und sie schließlich so weit zurückzudrängen, dass er die für ihn wichtigen Informationen herausfiltern konnte. Noch immer waren Schreie zu hören, auch wenn sie jetzt mehr zu einem Wimmern geworden waren.

Nicht sehr weit entfernt befanden sich vier oder fünf Männer, die schliefen. Aber nicht sehr fest. Ein einziger Schrei oder ein verräterisches Geräusch konnten sie wecken. Er musste sie ausschalten. Sich einzig auf sein Gehör verlassend, fand Andrej nach kurzem Suchen den Raum, in dem sich die fünf Männer zur Ruhe begeben hatten. Er blieb vor der Tür stehen, presste das Ohr gegen das Holz und konzentrierte sich. Er konnte jetzt sogar riechen, was die Männer zu sich genommen hatten. Mindestens einer von ihnen war betrunken. Andrej öffnete lautlos die Tür, betrat den Raum und orientierte sich mit einem raschen Blick in die Runde. Sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht: Fünf von Tepeschs Kriegern hatten sich auf dem nackten Boden ausgestreckt und schliefen. Sie waren komplett angezogen und hatten ihre Waffen griffbereit neben sich liegen. Er tötete sie alle. Drei der Männer starben im Schlaf, die beiden anderen fanden zumindest noch Gelegenheit, hochzuschrecken und nach ihren Waffen zu greifen, aber vermutlich nicht mehr, zu begreifen, was mit ihnen geschah. Keiner von ihnen fand Zeit, einen Schrei auszustoßen. Andrej verließ den Raum, ging in die Halle zurück und lauschte. Er hörte jetzt keine Atemzüge mehr, aber er spürte, dass sich noch weitere Männer im Haus aufhielten - mit den gleichen, untrüglichen Instinkten, mit denen ein Raubtier die Nähe seiner Beute gespürt hätte, auch ohne sie zu hören oder ihre Witterung aufzunehmen. Der Gedanke beunruhigte ihn. War es das, wozu andere Menschen für ihn geworden waren? Beute? Und wenn es stimmte - was war er dann? Vielleicht hatte die Furcht, die diese Frage in ihm auslöste, ihn zu sehr abgelenkt, vielleicht waren seine neu erworbenen Sinne auch unzuverlässig - das Nächste, was er hörte, war das Geräusch einer Tür, unmittelbar gefolgt von einem überraschten Laut und dem Scharren von Metall.

Andrej fuhr herum und sah sich vier weiteren, höchst wachen Kriegern gegenüber, die allerdings von seiner Anwesenheit mindestens ebenso überrascht waren wie umgekehrt er von ihrem Auftauchen. Aber er überwand seine Überraschung schneller. Andrej fuhr wie ein Dämon unter die Männer und tötete einen von ihnen schon mit seinem ersten, ungestümen Angriff. Die drei anderen prallten erschrocken zurück, formierten sich aber sofort zu hartnäckigem Widerstand. Sie waren gut. Andrej hatte alles vergessen, was er jemals über den Schwertkampf und ausgefeilte Techniken gelernt hatte. Er drosch und prügelte einfach mit ungebändigter Kraft auf seine Gegner ein, ohne Rücksicht darauf, ob er selbst getroffen wurde oder nicht, ob er selber traf oder was er traf. Ein zweiter Soldat fiel tödlich verletzt zu Boden. In den Augen der beiden anderen loderte plötzlich Angst auf. Statt zu tun, was ihnen ihr Kriegerinstinkt eingeben musste, statt ihn gemeinsam auf eine Art anzugreifen, die seine Raserei letztlich zum hilflosen Toben werden lassen würde, gerieten sie in Panik. Andrej spürte einen scharfen Schmerz in der Seite, als ein Schwert in sein Fleisch stieß. Der Angriff war eine Verzweiflungstat, die den Mann seine eigene Deckung vernachlässigen ließ. Andrejs Schwert durchbohrte ihn. Er war tot, bevor sein Körper zu Boden fiel. Der Letzte fuhr herum und stürzte durch die Tür davon. Andrej setzte ihm nach, aber er kam nicht dazu, ihn einzuholen. Der Mann taumelte plötzlich und griff sich an den Hals. Als er zusammenbrach, sah Andrej, dass seine Kehle verletzt war. Ein glutäugiger Riese in der Farbe der Nacht schwenkte sein blutiges Schwert. Andrej griff ihn ohne zu zögern an. Sein Denken war ausgeschaltet.

Er handelte ohne Plan, ohne Absicht, ohne Sinn. Er hatte sich in eine gnadenlose Tötungsmaschine verwandelt, die alles vernichten würde, was ihren Weg kreuzte. Sein Schwert zeichnete einen silbern funkelnden Dreiviertel-Kreis in die Luft und prallte mit solcher Gewalt auf die hochgerissene Klinge des schwarzen Riesen, dass blaue Funken aus dem Stahl stoben. Die Wucht seines eigenen Hiebes ließ Andrej zurücktaumeln, schmetterte aber auch den schwarzen Riesen gegen die Wand und brachte ihn dazu, seine Waffe fallen zu lassen. Andrej fing sein Stolpern ab, sprang in der gleichen Bewegung wieder vor und riss seine Klinge zum letzten entscheidenden Hieb in die Höhe. »Andrej! Nein!« Es war die Stimme des Piraten, die er erkannte, nicht sein ebenholzfarbenes Gesicht. Andrej versuchte verzweifelt, den Hieb zurückzuhalten, aber es war zu spät. Alles, was er noch tun konnte, war die Klinge zur Seite zu reißen. Sie prallte unmittelbar neben Abu Duns Gesicht mit solcher Gewalt gegen die Wand, dass sie zerbrach. Ein Schauer aus Metall- und Steinsplittern überschüttete Abu Dun und sprenkelte seine Wange mit winzigen roten Punkten. Andrej taumelte einen Schritt zurück, ließ das geborstene Schwert fallen und starrte Abu Dun entsetzt an. Sein Herz hämmerte..

»Abu Dun?«

»Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete der Pirat. Er hob die Hand, betastete seine Wange und blickte mit einem ärgerlichen Stirnrunzeln auf das Blut, das an seinen Fingerspitzen klebte.

»Bin ich tot, oder ist das nur ein Alptraum? Für einen Moment habe ich mir tatsächlich eingebildet, dass du mich umbringen willst.«

»Es tut mir Leid«, sagte Andrej.

»Ich dachte ...« Er brach ab, schüttelte verwirrt den Kopf und setzte neu an:

»Wie kommst du hierher?«

»Jemand war so freundlich, das Haupttor zu öffnen«, antwortete Abu Dun.

»Maria! Ich ...«

»Sie ist unversehrt«, sagte Abu Dun rasch.

»Und ihr Bruder auch - auch wenn ich nicht weiß, ob es wirklich eine Gnade ist, ihn am Leben zu lassen.«

»Nein«, antwortete Andrej.

»Das ist es nicht. Deshalb wollte ich, dass er lebt.«

»Manchmal weiß ich nicht, wen ich mehr fürchten soll«, sagte Abu Dun.

»Dich oder euren Gott, der grausam genug ist, einen Mann, der sein Kleid trägt, mit solchen Wunden weiterleben zu lassen.«

»Der Wächter?«

»Mehmeds Leute haben ihn am Leben gelassen, wenn du das meinst«, antwortete Abu Dun hart.

»Aber er wird nie wieder ein Schwert in die Hand nehmen.« Er machte eine harsche Geste.

»Er hat erzählt, dass Waichs leer steht. Mehmeds Krieger sind bereits in der Burg. Niemand wird überleben. Hast du den Jungen gefunden?«

»Nein«, antwortete Andrej.

»Aber ich weiß, wo er ist.«

»Worauf warten wir dann noch?« Die Burg hallte vom Klirren der Schwerter und den Schreien der Kämpfenden und Sterbenden wider. Wenn Dimitri die Wahrheit gesagt hatte, dann musste die Anzahl der Männer auf beiden Seiten ungefähr gleich groß sein. Mehmeds Männer hatten die Gelegenheit ergriffen, die Burg zu stürmen und ihrem Herrn eine Festung zu präsentieren, über der schon die Fahne der türkischen Heere wehte, wenn er sein Lager aufschlug. Andrej war fast sicher, dass sie siegen würden, aber es würde ein harter Kampf werden, denn ihre Gegner kannten sich in der Festung aus, und sie kämpften um ihr nacktes Überleben. Es war ihm gleich, wer gewann, und ob es Überlebende auf einer der beiden Seiten gab. Es war nicht sein Krieg. Es ging ihn nichts an. Er würde sich nicht weiter hineinziehen lassen, als es unbedingt notwendig war. Sie hatten die Treppe hinab zum Keller gefunden, denn es gab einen grausigen Wegweiser: die gellenden Schreie der Gefolterten, denen sie nur zu folgen brauchten. Auf ihrem Weg hatten sich ihnen zweimal Soldaten des Drachenritters entgegengestellt, die sich ihnen mit dem Mut der Verzweiflung entgegenwarfen. Andrej hatte sie allesamt getötet. Er war erneut in diesen schrecklichen Blutrausch verfallen, in dem nur noch das Töten zählte, in dem er nicht mehr er selbst war, sondern nur noch ein ... Ding, das vorwärts marschierte, unverwundbar, unaufhaltsam und gnadenlos. Abu Dun war die ganze Zeit an seiner Seite gewesen, aber er hatte nicht ein einziges Mal sein Schwert gezogen. Sie hatten den Gang erreicht, an dessen Ende die vergitterte Tür zu Tepeschs Folterkeller lag. Die Schreie waren wieder zu einem Wimmern herabgesunken, dem gepeinigten Schluchzen eines Kindes, das verzweifelt um Gnade winselte und doch wusste, dass sie ihm nicht gewährt werden würde. Andrej wusste, wessen Stimme es war. Er hatte sie im ersten Moment erkannt, schon oben auf der Burgmauer, als er sie das erste Mal gehört hatte. Bisher hatte er sich nicht erlaubt, sie zu erkennen. Aber jetzt konnte er die Augen vor der Wahrheit nicht länger verschließen. Es war Frederic, der schrie. Vor der Tür am anderen Ende des Ganges stand ein einzelner, sehr großer Mann, der ihnen ruhig und ohne die mindeste Furcht entgegenblickte. Andrej kannte ihn. Es war Vlad, Tepeschs Vertrauter, den er in der Rolle des Drachenritters kennen gelernt hatte. Er trug nun eine andere Rüstung, die aber kaum weniger barbarisch war als die Tepeschs, und Andrej spürte sofort, wie gefährlich dieser Mann war.

»Ich wusste, dass du kommst, Vampyr«, sagte Vlad.

»Ich habe schon eher mit dir gerechnet.«

»Ich wurde aufgehalten«, antwortete Andrej.

»Aber nun bin ich da.« Er hob das Schwert, das er einem der Toten oben in der Halle abgenommen hatte.

»Gibst du den Weg frei, oder muss ich dich töten?«

»Kannst du es denn?«, fragte Vlad ruhig, »oder brauchst du die Hilfe deines heidnischen Freundes? Ihr seid zu zweit.« Andrej machte eine Handbewegung.

»Abu Dun wird sich nicht einmischen. Wenn du mich besiegst, kannst du gehen.«

»Oh ja«, sagte Vlad höhnisch.

»Einen Mann, der nicht verletzt werden kann. Ihn zu besiegen ist schier unmöglich. Es ist kein sehr gutes Angebot, das du mir machst, Hexer.«

»Dann gib den Weg frei«, sagte Andrej.

»Und du lässt mich gehen?«, fragte Vlad zweifelnd. Sein Blick irrte unstet zwischen Andrej und Abu Dun hin und her. Andrej konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Hinter der Tür schrie Frederic gellend und so gepeinigt auf, dass Andrej fast das Blut in den Adern gefror.

»Gib den Weg frei und du lebst. Oder bleib stehen und stirb für deinen Herrn.«

»Für Tepesch?« Vlad machte ein abfälliges Geräusch.

»Bestimmt nicht.« Er steckte sein Schwert ein, lachte noch einmal kurz und bitter und ging dann hoch aufgerichtet an Andrej vorbei. Andrej wartete, bis er zwei Schritte hinter ihm war, dann drehte er sich herum, hob sein Schwert und stieß es Vlad ins Herz. Der dunkelhaarige Riese kippte wie vom Blitz getroffen zur Seite, prallte gegen die Wand und sackte kraftlos zusammen. Abu Dun keuchte. »Warum hast du das getan?«

»Weil er den Tod verdient hat«, antwortete Andrej. Er erschrak selbst vor der Kälte in seiner Stimme. Es war nicht die Wahrheit. Es stimmte - der Mann, der so oft in Tepeschs Haut geschlüpft war, war kaum besser als sein Herr gewesen und hatte den Tod tausendfach verdient -, aber das war nicht der Grund, aus dem er ihn getötet hatte. Der wirkliche Grund war viel einfacher: Er hatte es gewollt. Abu Dun antwortete nicht. Er sah Andrej nur an. In seinen Augen war etwas, das ihn an den Ausdruck in Marias Blick erinnerte und ihm fast ebenso große Angst machte. Hinter ihnen erscholl ein weiterer, noch gellenderer Schrei, und Andrej fuhr herum und stieß die Tür auf. Andrej hatte gewusst, was sie sehen würden. Es war nicht das erste Mal, dass er hier war. Und trotzdem ließ der Anblick einen Nebel aus roter Wut vor seinen Augen aufsteigen. Tod. Er sah Tod und er wollte Tod. Der riesige Gewölbekeller war von flackerndem rotem Licht erfüllt. Die Luft roch nach Ruß und ätzendem Rauch, aber auch nach Blut und menschlichem Leid und Sterben. Die großen Metallkäfige, die den Keller unterteilten, waren nach wie vor besetzt. Abu Dun hatte nur einen kleinen Teil der Gefangenen befreit. In die Gitterkäfige waren noch mindestens hundert Männer eingepfercht. Keiner von ihnen rührte sich. Die Männer waren tot. Alle.

»Dieses Ungeheuer!«, murmelte Abu Dun. Seine Stimme zitterte. »Dieses ... Tier! So etwas tut doch kein Mensch!« Andrej hörte ihn nicht. Sein Blick war starr auf den Gitterkäfig links neben dem Eingang gerichtet, Tepeschs Folterkeller. Tepesch und Frederic waren allein. Es gab keine weiteren Wächter oder Soldaten. Tepesch hatte Andrej und Abu Dun den Rücken zugekehrt und beugte sich über einen hölzernen Tisch, auf dem eine kleine Gestalt festgeschnallt war. Andrej konnte nicht genau erkennen, was er tat, aber Frederics Schreie gellten spitz und unmenschlich hoch in seinen Ohren.

»Dracul!«, schrie er. Tepesch fuhr hoch. Sein Gesicht war verzerrt, als er es Andrej zuwandte. Er hielt ein Messer mit einer gezahnten, sonderbar gebogenen Klinge in der Hand, von dem Blut tropfte. Andrej wagte sich nicht einmal vorzustellen, was er Frederic damit angetan hatte.

»Dracul!«, schrie er noch einmal.

»Hör auf! Wenn du Blut willst, dann versuch dir meines zu holen!« Er stürmte los. Es waren nur wenige Schritte bis zur offen stehenden Tür des Folterkäfigs, aber Tepesch war ihr noch näher und er musste wissen, dass es um ihn geschehen war, wenn es ihm nicht gelang, die Tür zu schließen. Er lief im gleichen Moment los wie Andrej. Er war der Tür erheblich näher als Andrej, musste allerdings erst die Folterbank umkreisen, auf der Frederic festgebunden war. Aber er bewegte sich mit fast übermenschlicher Geschwindigkeit - und er würde es schaffen. Andrej begriff mit entsetzlicher Klarheit, dass er nicht schnell genug sein würde. Er war noch vier Schritte von der Tür entfernt, Tepesch noch zwei. Da nahm er noch ein weiteres, aber entscheidendes Detail wahr: Die Tür hatte ein einfaches, aber sinnreiches Schloss, das es, einmal eingeschnappt, vollkommen unmöglich machte, es ohne den dazugehörigen Schlüssel zu öffnen. Tepesch würde es vor ihm schaffen, die Tür zu erreichen. Vielleicht nur den Bruchteil eines Augenblicks, aber er war schneller. Etwas flog mit einem hässlichen Geräusch an ihm vorbei. Tepesch keuchte, taumelte weniger als eine Armeslänge von der Tür entfernt, wie von einem gewaltigen Schlag getroffen zurück und prallte gegen die Gitterstäbe. Aus seiner linken Schulter ragte der Griff eines Dolches, den Abu Dun nach ihm geschleudert hatte. Andrej sprengte die Tür mit der Schulter vollends auf, sprang über Tepesch hinweg und war mit einem Satz an dem gewaltigen Tisch, auf dem Frederic festgebunden war. Er erstarrte. Ihm wurde übel, als er sah, was Tepesch dem Knaben angetan hatte. Frederic schrie. Er hatte die ganze Zeit über nicht aufgehört zu schreien, ein grässliches, an- und abschwellendes ununterbrochenes Kreischen, das in Andrejs Ohren vibrierte. Er blutete aus fürchterlichen Wunden, die Tepesch ihm zugefügt hatte. Andrej wusste, dass das Blut versiegen und die Wunden verheilen würden, aber was war mit den Verletzungen, die Tepesch seiner Seele zugefügt hatte? Frederic hörte auf zu schreien. Aus seinem furchtbaren Kreischen wurde ein nicht minder entsetzliches Schluchzen und Wimmern, während er den Kopf drehte und Andrej aus Augen ansah, in denen sich unvorstellbare Pein mit vielleicht noch größerer Verzweiflung mengte. Die Unsterblichkeit hatte einen Preis, begriff Andrej. Und vielleicht war er zu hoch.

»Hilf mir«, wimmerte Frederic.

»Bitte, hilf mir!« Vielleicht war das das Schlimmste, was er ihm antun konnte. Es war dasselbe, was Maria von ihm verlangt hatte. Die vielleicht einzige Bitte, die er nicht erfüllen konnte. Er konnte nicht helfen. Er konnte nicht heilen. Das Einzige, was er wirklich konnte, war zerstören. Hinter ihm erklang ein Schrei, dann ein Geräusch wie von dumpfen Schlägen. Er drehte sich nicht einmal herum. Zitternd streckte er die Hand aus, wie um Frederics zerstörten Körper zu berühren, wagte es aber dann doch nicht, sondern ließ seine Finger wenige Zentimeter über seinem geschundenen Fleisch schweben. Frederic Wunden begannen sich bereits zu schließen. Das Blut versiegte und sein Wimmern wurde leiser. Aber er hatte Schmerzen erlitten. Nichts konnte ihm die Qual nehmen, die der Drache ihm zugefügt hatte. Endlich erwachte Andrej aus seiner Erstarrung. Es war nicht viel, was er für Frederic tun konnte, aber immerhin dies: Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und durchtrennte mit vier schnellen Schnitten die breiten Lederbänder, mit denen Frederics Hand- und Fußgelenke gefesselt waren. Frederic seufzte hörbar, bäumte sich noch einmal auf dem Foltertisch auf und verlor endlich das Bewusstsein. Andrej schloss die Augen, versuchte den Sturm von Gefühlen niederzukämpfen, der in ihm tobte, und wandte sich dann um. Abu Dun hatte Tepesch in die Höhe gezerrt und das Messer aus seiner Schulter gerissen. Tepesch blutete heftig, wehrte sich aber trotzdem nach Kräften, aber der hünenhafte Schwarze hielt ihn so mühelos fest, wie ein Kind eine Gliederpuppe gehalten hätte.

»Wache!«, brüllte Tepesch.

»Wache! Hierher!«

»Gib dir keine Mühe«, sagte Andrej kalt.

»Es ist niemand mehr da.« Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und trat näher. Abu Dun schlug ihm das Messer aus der Hand.

»Nein! Mehmed will ihn lebend!« Er lachte grollend.

»Falls es dir ein Trost ist - er wäre dir vermutlich dankbar, wenn du ihn töten würdest. Mehmed weiß, was er Selic und seinen Männern angetan hat.« Andrej wusste, dass er Recht hatte. Der Sultan hatte ihnen nicht aus Barmherzigkeit befohlen, ihnen Vlad Tepesch lebendig zu übergeben. Wenn er Rache wollte, dann bestand seine furchtbare Aufgabe darin, Dracul an die Türken auszuliefern. Die Grausamkeit der Muselmanen war bekannt. Und trotzdem kostete es ihn seine gesamte Kraft, sich nicht auf Tepesch zu stürzen und ihm das Herz aus dem Leib zu reißen.

»Fessele ihn«, sagte er.

»Und stopf ihm das Maul, damit ich sein Gewimmer nicht hören muss.« Abu Dun machte sich die Sache einfacher: Er schlug Tepesch die geballte Faust in den Nacken. Der brach bewusstlos in seinen Armen zusammen.

»Bring ihn raus«, sagte Andrej.

»Ich kann ihn nicht mehr sehen!« Frederic erwachte kurze Zeit später. Seine Wunden hatten sich geschlossen und sein Gesicht hatte nicht mehr dieses schreckliche Totenweiß. Als er die Augen öffnete, wirkte sein Blick verloren; dann kehrte die Erinnerung in seine Augen zurück - und damit der Schmerz.

»Was ...?«, begann er.

»Bleib einfach liegen«, unterbrach ihn Andrej. Er versuchte aufmunternd zu lächeln, spürte aber selbst, dass es ihm nicht überzeugend gelang.

»Du wirst noch eine Weile brauchen, um dich zu erholen.«

»Es hat wehgetan«, flüsterte Frederic. »So ... entsetzlich weh.«

»Ich weiß«, antwortete Andrej. »Aber nun ist es vorbei.«

»Du hast ihn getötet«, vermutete Frederic. Andrej zögerte einen winzigen Moment.

»Nein«, sagte er dann. »Aber er wird dir nichts mehr tun. Abu Dun hat ihn weggebracht.«

»Wohin?«

»Der Sultan will ihn haben«, antwortete Andrej. »Lebend. Ich könnte mir vorstellen, was er mit ihm anstellen wird, aber ich glaube, ich will es lieber nicht.« Frederic versuchte sich aufzurichten. Er brauchte drei Ansätze dazu, aber Andrej unterdrückte den Impuls, ihm zu helfen. Frederic war durch die Hölle gegangen und tat es vermutlich noch, aber das war ein Weg, den er allein gehen musste.

»Er hat gesagt, dass ... dass er mein Geheimnis ergründen will«, sagte er. Sein Blick war ins Leere gerichtet, aber es musste eine von Pein und unvorstellbarem Leid erfüllte Leere sein.

»Indem er dich foltert?«

»Es war meine Schuld«, flüsterte Frederic. »Ich habe es ihm verraten.«

»Was?«

»Unser Geheimnis.« Frederics Stimme zitterte leicht. »Dass man sterben muss, um ewig zu leben. Er sagt, dass ... dass der Schmerz der Bruder des Todes ist. Er wollte so werden wie ich. Er ... er hat gesagt, dass ... dass er das Geheimnis ergründen wird, wenn ... wenn ...« Seine Stimme versagte.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte Andrej.

»Hat er Recht?«, fragte Frederic.

»Er ist vollkommen wahnsinnig«, sagte Andrej. »Keine Angst. Er wird nie wieder jemandem Leid zufügen.« Er machte eine aufmunternde Kopfbewegung. »Kannst du aufstehen?«

Statt zu antworten, versuchte Frederic es. Es bereitete ihm Mühe, und er stand im ersten Moment ein wenig wackelig auf den Beinen, aber er stand.

»Was ist mit Maria?«

»Sie ist in Sicherheit«, antwortete Andrej knapp.

»Komm.« Frederic sah ihn kurz und verwirrt an. Vielleicht war ihm der sonderbare Ton aufgefallen, in dem Andrej geantwortet hatte, aber wahrscheinlich wusste er, was geschehen war. Sie verließen den Keller. Frederic konnte sich nur langsam bewegen. Auf der Treppe musste Andrej ihm schließlich doch helfen, obwohl Frederic es weiter hartnäckig ablehnte. Er erholte sich nur langsam. Was Tepesch ihm angetan hatte, musste fast zu viel gewesen sein. Aus einem entfernten Teil der Burg wehte noch immer Kampflärm heran, aber Waichs war bereits gefallen. Gut die Hälfte von Mehmeds Kriegern hatte sich bereits wieder im Hof versammelt. Etliche von ihnen waren verletzt, aber soweit Andrej es beurteilen konnte, schienen sie keine Verluste zu beklagen. Abu Dun und sein Gefangener befanden sich unweit des Tores, umgeben von vier oder fünf türkischen Kriegern. Tepeschs Schulter blutete noch immer, wenn auch nicht mehr so heftig wie zuvor. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, ihn zu verbinden, aber seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Seine Nase blutete. Andrej war ziemlich sicher, dass es nicht von dem Schlag kam, den Abu Dun ihm versetzt hatte.

»Vielleicht sollten wir ihn in eine seiner eigenen Zellen sperren«, sagte er.

»Wenigstens so lange, bis Mehmed hier ist.« Bevor Abu Dun antworten konnte, drehte sich einer der Krieger zu ihm herum; der gleiche Mann, der schon vorhin mit ihm gesprochen hatte.

»Unser Herr hat befohlen, ihn sofort zu ihm zu bringen«, sagte er. »Und euch auch.«

»Uns?« Abu Dun zog die Augenbrauen zusammen.

»Wir haben vereinbart, dass wir ihm Tepesch übergeben!«, protestierte Andrej.

»Lebend! Das haben wir getan oder etwa nicht?«

»Davon weiß ich nichts«, antwortete der Kriegerungerührt.

»Ich habe meine Befehle. Wir reiten sofort.«

»Das war nicht vereinbart!«, begehrte Abu Dun auf.

»Willst du das Wort deines Herrn brechen, du Hund?« Mehmeds Krieger wirkte für einen Moment unschlüssig. Dann drehte er sich mit einem Ruck herum und wechselte einige Worte in seiner Muttersprache und sehr harschem Ton mit einem seiner Begleiter. Der Mann fuhr herum und lief aus dem Tor.

»Also gut«, sagte der Türke.

»Ich habe einen Mann losgeschickt, um neue Befehle zu holen. Aber es wird eine Weile dauern, bis er zurück ist.« Er starrte Tepesch hasserfüllt an.

»Wir müssen ihn einsperren, schon zu seiner Sicherheit. Ich weiß nicht, wie lange ich ihn vor dem Zorn meiner Männer schützen kann.« Seine Miene verdüsterte sich.

»Oder ob ich es überhaupt tun sollte.«

»Sperrt ihn in den Käfig«, schlug Frederic vor.

»Soll er von seiner eigenen Mahlzeit kosten. Oder gebt mir ein Messer und lasst mich mit ihm allein.«

»Steckt ihn in den Käfig«, sagte Andrej.

»Dort ist er zumindest in Sicherheit.« Er ließ absichtlich offen, vor wem. Die Krieger sahen unschlüssig aus, aber dann nickte der Mann, der mit Andrej gesprochen hatte. Zwei osmanische Soldaten packten Tepesch und zerrten ihn zu dem Gitterkäfig, um ihn grob hineinzustoßen. Tepesch keuchte vor Schmerz, als er sich an den spitzen Metalldornen verletzte. Die Männer warfen die Tür hinter ihm zu, und der Käfig wurde an seiner Kette in die Höhe gezogen. »Wo habt ihr Maria hingebracht?«, fragte Andrej, an Abu Dun gewandt.

»In den Wald, unweit der Stelle, an der wir auf dich gewartet haben«, antwortete Abu Dun.

»Ich muss zu ihr. Kümmere dich um Frederic.« Andrej wartete Abu Duns Antwort nicht ab, sondern ging unverzüglich los, aber er kam nur wenige Schritte weit. Einer der türkischen Soldaten vertrat ihm den Weg und zwei weitere schoben sich unauffällig in seine Richtung.

»Was soll das?«, fragte Andrej scharf. Seine Hand senkte sich auf den Schwertknauf, ohne dass er sich der Bewegung auch nur bewusst gewesen wäre. Die Männer antworteten nicht, aber sie gaben auch den Weg nicht frei. Andrej zog die Hand mit einer sichtbaren Anstrengung wieder zurück und entspannte sich. Er hatte kein Recht, zornig zu sein. Dass diese Männer mit ihm hergekommen waren und gegen seine Feinde kämpften, bedeutete nicht automatisch, dass sie seine Freunde waren. Abu Dun, Frederic und er waren ebenso Gefangene wie Tepesch, mit dem Unterschied vielleicht, dass auf sie nicht der sichere Tod wartete. Jedenfalls hoffte er das. Der Himmel hatte sich wieder zugezogen. Seinem Gefühl nach musste einige Zeit verstrichen sein, bis er Hufschläge hörte. Es war kein einzelnes Pferd, das zurückkam, sondern ein ganzer Trupp Reiter, die in scharfem Galopp herangesprengt kamen. Andrej hörte sie schon eine geraume Weile, bevor die anderen das Hämmern der näher kommenden Pferdehufe wahrnahmen, ein dumpfes Grollen, das an den Donner eines entfernten Gewitters erinnerte und beinahe mehr zu spüren als zu hören war. Es war eine große Abteilung, mindestens fünfzig Reiter, schätzte Andrej, wenn nicht mehr, und er war nicht überrascht, als er Sultan Mehmed selbst an der Spitze des kleinen Heeres auf den Hof sprengen sah. Mehmed glitt aus dem Sattel, noch bevor sein Pferd ganz zum Stehen gekommen war, wechselte einige Worte mit dem Soldaten, der ihm entgegeneilte, und ging dann mit schnellen Schritten auf den Käfig mit Tepesch zu. Auf eine knappe Geste hin ließen seine Männer den Käfig herunter, machten aber keine Anstalten, die Tür zu öffnen, und auch Mehmed selbst stand einfach nur da und starrte Tepesch an. Andrej wollte zu ihm gehen, aber Abu Dun legte ihm rasch die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf. Er sagte nichts. Der Osmane blieb lange so stehen, dann drehte er sich herum und kam mit langsamen Schritten auf sie zu..

»Das ist also der berüchtigte Vlad Tepesch, der Pfähler«, sagte er kopfschüttelnd.

»Seltsam - ich hätte erwartet, dass er drei Meter groß ist und Hörner und einen Schweif hat. Aber er sieht aus wie ein ganz normaler, kleiner Mann.«

»Der erste Eindruck täuscht manchmal«, sagte Andrej kühl. Er merkte sofort, dass dieser Ton bei Mehmed nicht verfing. Der Sultan sah ihn eine ganze Weile nachdenklich und mit undeutbarem Ausdruck an, dann sagte er:

»Ja. Das scheint mir auch so.«

»Wir haben getan, was wir versprochen haben«, sagte Abu Dun.

»Tepesch ist Euer Gefangener. Und Burg Waichs gehört Euch. Das war zwar nicht abgesprochen, aber nehmt es als zusätzliche Gabe.«

»Wie ungemein großzügig«, sagte Mehmed spöttisch.

»Trotzdem: Ich fürchte, ich muss euer Geschenk ablehnen. Die Burg interessiert mich nicht. Sie hat keinen strategischen Wert für uns und der Aufwand, sie niederzureißen, wäre zu groß.«

»Und die Stadt?«, fragte Andrej.

»Petershausen?«

»Es ist, wie du sagtest«, antwortete Mehmed.

»Sie ist bedeutungslos. Viele meiner Männer würden sterben, wenn wir diese Stadt erobern, von der nie jemand etwas gehört hat. Mein Heer hat bereits angehalten. Sobald wir wieder zu ihm gestoßen sind, setzen wir unseren ursprünglichen Weg fort. Wir wollten den Pfähler, wir haben ihn.«

»Durch uns, ja«, sagte Andrej.

»Warum werden wir noch hier festgehalten? Wir haben unseren Teil der Abmachung eingehalten. Jetzt verlange ich, dass auch du deinen Teil einhältst.«

»Du verlangst?« Mehmed lächelte dünn.

»Ich wüsste nicht, was du zu verlangen hättest!«

»Das hat er auch nicht so gemeint«, sagte Abu Dun hastig.

»Verzeiht ihm, Herr, aber ich ...«

»Er hat es ganz genau so gemeint«, fiel ihm Mehmed ins Wort, leise und ohne Andrej aus den Augen zu lassen.

»Und er hat Recht. Was würde mich von einer Kreatur wie Tepesch unterscheiden, wenn ich mein Wort nicht hielte?«

»Niemand würde es merken«, sagte Andrej.

»Aber ich wüsste es.« Mehmed schüttelte den Kopf.

»Ihr dürft gehen. Es sei denn, ihr wollt bleiben, um Tepeschs Hinrichtung beizuwohnen.«

»Ich habe genug Blut gesehen.«

»Dann geht«, sagte Mehmed.

»Und nehmt noch einen letzten Rat von mir an. Geht nicht nach Westen. Wenn wir uns noch einmal gegenüberstehen sollten, dann als Feinde.« Er wandte sich mit erhobener Stimme an seine Männer. »Wir brechen auf! In die Sättel! Und bringt den Gefangenen!« Er sprach an Andrej gewandt weiter:

»Wartet, bis wir weg sind. Dann könnt ihr gehen, wohin ihr wollt.«

»Danke«, sagte Andrej.

»Ihr seid ein Mann von Ehre, Mehmed.«

»Und ein Mann, der zu seinem Wort steht«, fügte Mehmed hinzu. Da war etwas wie eine Drohung in seiner Stimme, die Andrej nicht mehr überhören konnte, so gerne er es auch gewollt hätte. Er drehte sich herum und ging zu seinem Pferd. Zwei seiner Männer hatten Tepesch aus dem Käfig gezerrt und stellten ihn grob auf die Füße, ein dritter ging, um ein Pferd zu holen, dass Mehmed offenbar schon für den Gefangenen mitgebracht hatte. Und plötzlich war eine kleine, schlanke Gestalt hinter ihnen. Abu Dun sog erschrocken die Luft zwischen den Zähnen ein und Andrej schrie verzweifelt:

»Frederic! Nein!«, aber es war zu spät. In Frederics Hand blitzte ein Messer, die grässliche, gezahnte Klinge, mit der Tepesch ihn im Keller gefoltert hatte. Andrej hatte es nicht einmal bemerkt, doch Frederic musste sie aufgehoben und unter seiner Kleidung versteckt haben, zweifellos, um sie genau in einem Moment wie diesem zu benutzen. Er tat es mit unglaublicher Präzision und Kaltblütigkeit. Einer der beiden Türken schrie auf, als Frederic die Klinge tief durch das Fleisch seiner Wade zog, der andere taumelte mit einer hässlichen Schnittwunde im Unterarm davon, noch bevor sein Kamerad ganz zu Boden gestürzt war. Dann warf sich Frederic mit einem Schrei auf Tepesch. Die Klinge sirrte mit einem Laut durch Luft und Fleisch, wie ihn vielleicht eine Feder verursachen mochte, die schnell durch ruhiges Wasser gezogen wurde. Tepesch fiel lautlos nach hinten. Sein Kopf war fast abgetrennt. Frederic ließ das Messer fallen. Seine Zähne gruben sich tief in Tepeschs Hals. Für die Dauer eines Herzschlages schien die Zeit einfach stillzustehen. Mehrere von Mehmeds Kriegern waren losgerannt, doch selbst diese abgehärteten Männer prallten entsetzt zurück, als sie sahen, was der junge tat. Einzig Andrej und Mehmed bewegten sich auf Frederic und Tepesch zu, so schnell sie konnten. Andrej war ihm deutlich näher, aber Mehmed saß bereits auf seinem Pferd und sprengte rücksichtslos durch die Reihe seiner eigenen Männer hindurch. Er erreichte Frederic und Dracul den Bruchteil eines Augenblicks vor Andrej. Sein Schwert fuhr in einem geraden, ungemein wuchtigen Stich nach unten und durchbohrte Frederic und Tepesch gemeinsam. Frederic hörte auf, sich zu bewegen, und lag plötzlich still. Tepesch bäumte sich noch einmal auf und öffnete den Mund zu einem Schrei, der lautlos verhallte. Im letzten Moment, bevor er starb, sah er Andrej noch einmal an, und in seinen Augen war ein Ausdruck, der Andrej einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Dann sank sein Kopf zurück und er war tot. Mehmed sprang mit einem Fluch aus dem Sattel. Andrej ließ sich neben Frederic auf die Knie fallen und wälzte ihn von Tepesch herunter auf den Rücken. Frederics Augen standen weit offen und waren ohne Leben. Die tiefe Wunde in seiner Brust blutete noch, aber Andrej sah, dass das Schwert sein Herz verfehlt hatte.

»Warum hat er das getan?«, brüllte Mehmed. Er war außer sich vor Zorn.

»Hast du es ihm gesagt? War es dein Befehl?« Andrej hob Frederics leblosen Körper auf die Arme und stand auf.

»Tepesch hat ihn gefoltert«, sagte er leise.

»Unten, in seinem Keller. Ich wusste, dass es schlimm war, aber ich wusste nicht, dass ... dass er ihn so sehr hasst. Er war noch ein Kind.« Mehmeds Blick tastete über Tepeschs aufgerissene Kehle, dann über Frederics blutverschmierte Lippen und dann wieder hinab zu Tepeschs Gesicht.

»Ein Kind«, murmelte er.

»Ja, vielleicht. Aber vielleicht ist es gut, dass aus diesem Kind niemals ein Mann wird.«

»Gewährt Ihr mir noch eine letzte Bitte?«, fragte Andrej. Mehmed sah ihn fragend an.

»Ich möchte ihn begraben«, sagte Andrej.

»Drüben im Wald, nicht auf diesem blutgetränkten Boden. Er hat getötet, aber er war noch ein Kind. Vielleicht hat Gott ein Einsehen mit seiner Seele und lässt Gnade vor Recht ergehen.« Mehmed verzog angewidert die Lippen.

»Tu, was du willst«, sagte er. Er steckte sein Schwert ein, sprang in den Sattel und zwang das Pferd mit einer so brutalen Bewegung heran, dass das Tier ein erschrockenes Wiehern ausstieß und auszubrechen versuchte.

»Wir brechen auf!«, rief er.

»Bringt Tepeschs Kopf mit! Ich will ihn morgen auf meiner Zeltstange haben, wenn wir unser Lager aufschlagen!« Seine Männer schwangen sich rasch in die Sättel. Einer der Krieger trennte mit einem Hieb Tepeschs Kopf ab und stieg dann ebenfalls auf sein Pferd, wobei er Tepeschs abgeschlagenes Haupt wie eine Trophäe an den Haaren schwenkte, zwei andere gossen Öl über Tepeschs kopflosem Leib aus und steckten ihn in Brand. Die Flammen brannten so hoch und heiß, dass Andrej einige Schritte zurückweichen musste. Der Gestank von brennendem Fleisch stieg ihm in die Nase und weckte Übelkeit in ihm. Trotzdem blieb er reglos stehen, während sich die Männer vor ihm zu langen Reihen formierten und dann in scharfem Tempo aus dem Tor ritten. Als die letzten Hufschläge verklangen, öffnete Frederic die Augen und sagte:

»Du kannst mich jetzt runterlassen.« Andrej setzte ihn behutsam zu Boden und trat einen Schritt zurück. Er versuchte, in Frederics Augen zu lesen, aber es gelang ihm nicht.

»Du Wahnsinniger!«, keuchte Abu Dun.

»Warum hast du das getan? Du hättest uns alle umbringen können, ist dir das klar?«

»Habe ich aber nicht, oder?«, Frederic drehte sich mit einem Achselzucken um und sah in die Flammen, die Tepeschs Körper verzehrten. Rotes Licht spiegelte sich auf seinem Gesicht und verlieh ihm das Aussehen eines Gehäuteten.

»Der Einfall mit dem Begraben war nicht schlecht«, sagte er spöttisch.

»Einen Moment lang hatte ich wirklich Angst, dass sie mich auch verbrennen würden - oder ob er nicht noch Platz für einen zweiten Kopf auf seiner Zeltstange hätte. Aber ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, Deläny.« Andrej zog sein Schwert. Die Bewegung war sehr vorsichtig, aber sie verursachte trotzdem ein winziges Geräusch, das Frederics übermenschlich scharfe Sinne wahrnahmen, denn er drehte sich langsam zu ihm herum, betrachtete erst das Schwert und sah dann zu Andrej hoch. Er lächelte.

»Was willst du jetzt tun, Deläny?«, fragte er.

»Mich töten? Mir den Kopf abschlagen oder mir das Schwert ins Herz stoßen?« Andrej antwortete nicht. Er starrte Frederic nur an und das Schwert in seiner Hand begann zu zittern.

»Was ... was meint er damit?«, murmelte Abu Dun stockend.

»Was meint er damit, Andrej?«

»Du kannst mich töten«, fuhr Frederic (Frederic?!) fort.

»Ich weiß, dass ich unterliegen würde. Du kannst mich besiegen. Du kannst mich umbringen.«

»Verdammt, Hexenmeister, was bedeutet das?!«, herrschte ihn Abu Dun an.

»Aber dann würdest du auch Frederic töten«, fuhr Frederic fort.

»Er ist noch in mir, weißt du? Ich kann ihn spüren. Ich kann ihn hören. Er wimmert. Er hat Angst. So große Angst.«

»Hör auf«, flüsterte Andrej. Das Schwert in seiner Hand begann immer heftiger zu zittern. Es wäre leicht, so leicht. Eine winzige Bewegung. Ein blitzschneller Streich und alles wäre vorbei.

»Gräme dich nicht, Deläny«, sagte Frederic höhnisch.

»Seine Angst wird vergehen. Bald wird er genießen, was ich ihn lehren kann. Du musst dich entscheiden, Deläny. Was ist größer, dein Hass auf mich oder die Liebe zu Frederic?«

»Nein«, murmelte Abu Dun erschüttert.

»Das kann nicht sein. Sag, dass ich mir das nur einbilde!« Andrej antwortete auch jetzt nicht. Er sah den jungen an, aber er sah ihn nicht wirklich, sondern nur das lodernde böse Feuer in seinen Augen.

»Entscheide dich!«, verlangte Frederic noch einmal.

»Töte mich oder geh!«

»Das werde ich für dich tun«, sagte Abu Dun. Er wollte sein Schwert ziehen, aber Andrej hielt ihn mit einer raschen Bewegung ab und schüttelte den Kopf. Abu Dun sah ihn vollkommen verständnislos an, aber dann nahm er die Hand vom Schwert.

»Dann solltet ihr jetzt gehen«, sagte Frederic.

»Die Verstärkung, nach der geschickt wurde, muss bald hier sein. Und es sind keine muselmanischen Krieger mehr hier, um für euch zu kämpfen.« Andrej steckte sein Schwert ein. Seine Hände zitterten nicht mehr. Er empfand keine Wut, keinen Hass, nicht einmal Verzweiflung oder Trauer, sondern etwas vollkommen Neues, Schlimmes, für das er noch kein Wort gefunden hatte. Wortlos drehte er sich um und ging davon. Abu Dun blieb stehen, folgte ihm dann hastig und passte sich seiner Geschwindigkeit an, als sie durch das Tor traten und die Burg verließen. Auch er schwieg, bis sie die Burg halb umrundet hatten und sich der schwarzen Mauer näherten, zu der die Nacht den Waldrand gemacht hatte. Erst dann fragte er:

»Willst du es mir erklären?« Was sollte er erklären? Andrej hatte keine Antworten, sondern nur eine Frage. Was hatten sie erschaffen? Was hatten sie erschaffen?


ENDE DES ZWEITEN BUCHES.

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