3

Als er erwachte, lag er auf einer weichen, angenehm warmen Unterlage, und schon beim ersten Räkeln wurde ihm bewusst, das seine Arme und Beine ungefesselt waren. Andrej öffnete die Augen, blinzelte verständnislos und benötigte einen kurzen Moment, um zu begreifen, das er sich in Abu Duns Kabine befand. Er lag auf der gleichen seidenbezogenen Liege, auf der er den Piraten vorhin aufgespürt hatte. Außerdem war er nicht allein. Frederic saß auf dem Schemel neben dem Bett, wach und unversehrt.

»Wie ...?«, begann Andrej und wurde sofort von Frederic unterbrochen.

»Der Pirat hat dich hergebracht«, sagte Frederic.

»Du warst nur einen kurzen Moment besinnungslos. Draußen vor der Tür steht eine Wache.« Das hatte Andrej gar nicht fragen wollen. Er setzte sich auf, stützte die Unterarme auf die Knie und ließ die Schultern nach vorne sinken. Seine Lippe blutete. Er hob die Hand und wischte das Blut weg, ehe er den Kopf wieder hob und Frederic mit einem zweiten, sehr viel längeren Blick maß. Der Junge erwiderte ihn mit einer Mischung aus Trotz und Schuldbewusstsein. Er war vollkommen durchnässt und seine Kleider hingen in Fetzen an ihm herab.

»Was ist passiert?«, fragte Andrej ruhig.

»Ich wollte dir helfen«, antwortete Frederic. Er sprach schnell, laut und in aggressivem Ton. Andrej verstand nicht genau, was Frederic überhaupt meinte.

»Helfen?«

»Es hätte auch geklappt, wenn du nicht dafür gesorgt hättest, das die Piraten alle wach und an Deck waren«, sagte Frederic. »Niemand hätte mich bemerkt.« Andrej riss die Augen auf.

»Du bist ...«

»... dir nachgeschwommen«, fiel ihm Frederic ins Wort.

»Und? Niemand hätte mich bemerkt!«

»Und was hattest du vor?«, wollte Andrej wissen.

»Warum hast du dem Piraten nicht einfach die Kehle durchgeschnitten?«, fragte Frederic. Seine Augen blitzten. »Wir hätten sie alle töten können! Sie haben geschlafen! Und jetzt erzähl mir nicht, das du nicht in der Lage gewesen wärst, die Wache an Deck zu überwältigen! Ich weiß, wie schnell du bist!« Andrej blickte den Jungen betroffen an.

»Du sprichst von zwanzig Männern, Frederic«, sagte er.

»Zwanzig Piraten«, erwiderte Frederic gereizt. »Hast du Skrupel? Auf diesem Schiff sind hundert von unseren Leuten! Ist ihr Leben vielleicht weniger wert? Ich glaube nicht, das Abu Dun Probleme hätte, sie zu töten.«

»Und genau das ist der Unterschied zwischen ihm und uns«, sagte Andrej leise. Er war nicht zornig, sondern nur betroffen. Er hatte Frederic eingeschärft, an Land zurückzubleiben und sich nicht von der Stelle zu rühren, ganz egal, was geschah. Aber er war nicht einmal besonders überrascht, das Frederic nicht gehorcht hatte. Er war ein Kind. Und er hatte in bester Absicht gehandelt. Er hatte ihm helfen wollen. Und sie damit beide zum Tode verurteilt.

»Es tut mir Leid«, sagte Frederic niedergeschlagen. »Ich wollte dir nur helfen.«

»Schon gut«, sagte Andrej.

»Es hätte sowieso nicht geklappt.« Dir Tür ging auf und Abu Dun kam herein. Andrej spannte sich instinktiv, ließ sich aber fast in der gleichen Bewegung wieder zurücksinken. Selbst wenn er Abu Dun überwältigen würde, was hätte er gewonnen? Der Pirat schloss die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und verschränkte die Arme vor der Brust. Einige Augenblicke lang sah er Andrej nur an, dann fragte er:

»Was macht dein Gesicht, Hexenmeister? Tut es weh?«

»Andrej«, bekam er zur Antwort. »Mein Name ist Andrej Deläny. Und die Antwort auf deine Frage ist nein, Sklavenhändler.« Abu Dun lachte.

»Schade«, sagte er.

»Obwohl ich es mir eigentlich hätte denken können. Aber diesen Schlag war ich dir einfach schuldig.« Er hob die Hand und berührte mit den Fingerspitzen die beiden dünn verschorften Linien an seinem Hals, dann lachte er, griff unter den Mantel und zog Andrejs Schwert hervor. Immer noch leise lachend, hielt er ihm die Klinge mit dem Griff voran hin. Andrej starrte verständnislos auf das schlanke Sarazenenschwert.

»Nimm es«, sagte Abu Dun.

»Es gehört dir.« Zögernd griff Andrej nach der kostbaren Waffe, immer noch sicher, das Abu Dun sich nur einen grausamen Scherz mit ihm erlaubte. Aber der Pirat ließ das Schwert los und sah schweigend zu, wie Andrej es einen Moment in der Hand drehte und dann in den Gürtel schob.

»Du ... gibst mir meine Waffe zurück?«, fragte er ungläubig.

»Wir haben eine Abmachung, oder?«, gab Abu Dun zurück.

»Nun, da wir Partner sind, geziemt es sich nicht, das du waffenlos vor mir stehst.« Er lachte leise.

»Du hast gedacht, ich verrate dich.«

»Ja«, gab Andrej ehrlich zu.

»Genau das solltest du«, erwiderte Abu Dun grinsend.

»Nach dem, was du mir angetan hast, tut dir ein kleiner Schrecken ganz gut, meine ich. Aber ich stehe zu meinem Wort.«

»Vor allem, wenn es dir einen hübschen Profit einbringt«, vermutete Frederic. Abu Dun würdigte ihn keines Blickes.

»Womit wir beim Thema wären«, sagte er.

»Unsere Vereinbarung. Bevor ich meinen Leuten Anweisung gebe, die Gefangenen loszuketten, würde mich eines interessieren, Deläny: Wie gedenkst du für ihre Überfahrt zu bezahlen? Du hast jedenfalls kein Geld bei dir, davon konnte ich mich überzeugen.«

»Wir haben genug Geld in unserem Dorf«, sagte Frederic.

»Ihr werdet großzügig entlohnt.«

»Frederic, sei bitte still«, sagte Andrej. Ihr Dorf war arm, wie die meisten Dörfer und Städte in diesen Kriegszeiten. Das wenige von Wert, was sie besessen hatten, hatten Vater Domenicus’ Männer geplündert und mitgenommen. Andrej war ziemlich sicher, das Abu Dun das wußte.

»Wir besitzen nichts. Weder meine Leute noch ich.«

»Es ist gut, das du nicht versucht hast mich zu belügen«, sagte Abu Dun.

»Du hast also kein Geld, aber du bietest mir trotzdem einen Handel an.«

»Genau genommen hast du ihn mir angeboten«, antwortete Andrej. »Ich nehme an, du hast vergessen, das ich dein Leben in die Waagschale geworfen habe.«

»So viel ist das nicht wert«, sagte Abu Dun. Dann machte er eine Kopfbewegung zur Tür.

»Geh nach hinten zu deinen Leuten, Junge. Einige von ihnen sind krank. Vielleicht kannst du ihnen helfen. Kranke Sklaven will niemand haben. Sie sind nur Ballast, den wir über Bord werfen.« Frederic funkelte ihn an.

»Ich denke nicht daran ...«

»Geh«, sagte Andrej leise. Frederics Zorn drohte sich nun auf ihn zu konzentrieren, aber dann stand er doch auf und stürmte aus der Kabine. Abu Dun wartete, bis er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, dann wandte er sich mit einem fragenden Blick an Andrej. »Du feilschst mit mir und hast nichts zu bieten, Deläny?« Er schüttelte den Kopf.

»Du enttäuschst mich.«

»Das hast du gewusst, als du mir diesen Vorschlag gemacht hast«, sagte Andrej.

»Vielleicht«, sagte Abu Dun. Seine Augen wurden schmal. Er musterte Andrej auf eine Art, die diesem nicht gefiel.

»Also, was willst du?«, fragte Andrej. »Ich habe nichts.«

»Du hast etwas«, behauptete Abu Dun. »Dich.«

»Mich?« Andrej blinzelte.

»Du verlangst mich? Als Sklaven?«.

»Das wäre ziemlich töricht«, antwortete Abu Dun. Er klang jetzt ein bisschen unruhig.

»Wer würde schon einen Sklaven halten, der fähig ist, Dinge zu tun, wie du sie tun kannst; und dich zu verkaufen wäre nicht sehr klug. Tote Kunden sind keine sehr zufriedenen Kunden.«

»Was willst du dann?«, fragte Andrej. Er hatte ein ungutes Gefühl. »Ich will so werden wie du«, sagte Abu Dun gerade heraus. Es dauerte einen Moment, bevor Andrej antwortete. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig.

»Damit ich dich richtig verstehe, Abu Dun«, begann er. »Du hältst mich für einen Dämonen, aber du willst trotzdem, das ...«

»Du bist so wenig ein Dämon wie ich«, unterbrach ihn Abu Dun. »Ich glaube nicht an all diesen Unfug von Dämonen und Geistern, und ich glaube auch nicht, das ich mein Seelenheil aufs Spiel setze, wenn ich mich mit dir einlasse. Wenn es so etwas wie den Teufel gibt, so gehört ihm meine Seele ohnehin schon. Ich habe also nichts zu verlieren. Aber eine Menge zu gewinnen. Ich will deine Geheimnisse kennen lernen, Deläny.«

»Selbst wenn ich es wollte, könnte ich sie dir nicht verraten«, sagte Andrej.

»Wieso nicht?«, fauchte Abu Dun.

»Weil ich sie nicht kenne«, erwiderte Andrej.

»Ich bin, was ich bin. Aber ich weiß nicht, wer mich dazu gemacht hat. Oder warum. Oder gar wie.«

»Und wenn du es wüsstest, würdest du es mir nicht verraten«, sagte Abu Dun nickend.

»Ich verstehe.« Er schüttelte ein paar Mal den Kopf.

»Ich habe von Männern wie dir gehört, Andrej Deläny. Männer, die sich unsichtbar machen können. Die durchs Feuer schreiten und sich schnell wie der Wind zu bewegen vermögen und die unsterblich und unverwundbar sind. Ich habe gedacht, es wäre nur ein Märchen, aber nun stehe ich einem von ihnen gegenüber.«

»Das meiste von dem, was du gehört hast, ist zweifellos übertrieben«, sagte Andrej vorsichtig.

»Du bist zu bescheiden, Deläny«, sagte Abu Dun.

»Ich weiß, was ich gesehen habe.« Er kam näher, streckte die Hand aus und machte dann eine blitzartige Bewegung, sodass einer der mit schweren Edelsteinen besetzten Ringe an seinen Fingern Andrejs Wange aufriss. Der Kratzer tat nicht besonders weh, aber er blutete. Andrej wollte die Hand an die Wange heben, aber Abu Dun ergriff blitzartig sein Gelenk und zwang den Arm herunter. In seinen Augen war nicht die geringste Regung zu erkennen, als er dabei zusah, wie sich der Schnitt in Andrejs Wange schloss.

»Und ich weiß, was ich sehe.« Andrej riss sich los.

»Du irrst dich, wenn du glaubst, das ich dir dazu verhelfen könnte«, sagte er.

»Ebenso gut könnte ich von dir erwarten, mich so schwarz zu machen, wie du es bist.«

»Das glaube ich dir sogar, Deläny«, sagte Abu Dun.

»Also, hier mein Vorschlag: Ich setzte deine Leute im nächsten Hafen ab, von dem aus sie sicher in ihr Heimatdorf zurückkehren können. Sie bleiben unter Deck, und sie bekommen zu essen und zu trinken. Ich lasse ihre Ketten lösen, wenn du es wünschst, aber ich will sie nicht an Deck sehen. Die Reise wird vier oder fünf Tage dauern, allerhöchstens sechs. Sie sind dort unten besser aufgehoben als oben an Deck.«

»Und was verlangst du dafür?«, fragte Andrej misstrauisch.

»Ich hatte erhebliche Unkosten«, sagte Abu Dun.

»Ich habe für deine Leute bezahlt, Deläny. Sie essen und trinken und ich werde nichts für sie bekommen. Meine Mannschaft verlangt den Anteil an einem Gewinn, den ich nicht haben werde, und der Schwarze Engel weiß, was uns auf dem Weg die Donau hinauf erwartet. Du hast es selbst gesagt: Dein Freund Domenicus wird nicht begeistert sein, wenn er erfährt, das ich deine Familie nach Hause gebracht habe, statt sie auf dem Sklavenmarkt zu verkaufen.«

»Anscheinend ist alles wahr, was man sich über arabische Markthändler erzählt«, stellte Andrej fest.

»Was willst du?«. Abu Dun lächelte.

»Dich«, sagte er. »Für ein Jahr. Du wirst bei mir bleiben, als mein Sklave und Leibwächter.«

»Ich bin kein Pirat«, sagte Andrej entschieden.

»Das bin ich auch nicht«, antwortete Abu Dun. »Jedenfalls nicht immer. Ich werde nicht von dir verlangen, das du gegen deine Landsleute kämpfst. Du wirst mein Leibwächter, mehr nicht. Ich werde dich ein Jahr lang beobachten und versuchen, hinter dein Geheimnis zu kommen. Nach einem Jahr kannst du gehen.«

»Und wenn ich ablehne?«, fragte Andrej.

»Dann machen wir weiter, wo wir gerade aufgehört haben«, antwortete Abu Dun ungerührt. »Wir werden kämpfen. Vielleicht wirst du mich töten, aber dann werden meine Männer dich töten, den Jungen und wahrscheinlich alle deine Leute. Vielleicht werde ich auch gewinnen und dann werden meine Krieger ausprobieren, wie unverwundbar du wirklich bist.« Er sprach ganz ruhig. In seiner Stimme war keinerlei Drohung. Aber er meinte die Worte auch ganz genau so, wie er sie sagte.

»Wenigstens bist du ehrlich«, sagte Andrej und stand auf. »Ein Jahr, nicht länger?«

»Von heute an gerechnet,« sagte Abu Dun.

»Dann haben wie einen Handel.« Der Himmel begann sich grau zu färben, als Frederic aus den Gefangenenquartieren zurückkehrte. Er war ungewöhnlich still und so weit Andrej das in dem blassen Licht erkennen konnte, hatte sich seine Gesichtsfarbe der des verhangenen Himmels über ihnen angepasst.

»Nun?«, fragte Andrej. Er hatte sich im Bug des Schiffes niedergelassen und die Beine an den Körper gezogen. Seine Kleider waren mittlerweile getrocknet und Abu Dun hatte ihm eine Decke gebracht, aber er zitterte trotzdem vor Kälte. Er würde nicht krank werden, das wußte er, aber seine Fähigkeit zu leiden war so groß wie die jedes anderen Menschen. In seiner Stimme war ein leises Zittern, von dem er sich einredete, das es hauptsächlich an der Kälte lag, die in Wellen von der Wasseroberfläche hochstieg. Frederic warf einen sehnsüchtigen Blick nach achtern, bevor er sich neben ihm niederließ. Keiner der Piraten hatte in dieser Nacht geschlafen. Die Männer hatten sich um ein Becken mit glühender Kohle geschart und Andrej konnte sich gut vorstellen, was j etzt in Frederic vorging. Auch er hätte eine Menge dafür gegeben, dort hinten in der Wärme zu sitzen. Die Vorstellung, das diese Männer für das nächste Jahr seine Kameraden sein würden, erschien ihm absurd. »Es ist schrecklich«, murmelte Frederic.

»Viele sind krank. Ich glaube, einige werden sterben.«

»Die Delänys sind zäh«, sagte Andrej.

»Du«, antwortete Frederic.

»Ich. Die meisten anderen nicht. Warum bist du nicht nach unten gekommen?« Vielleicht aus dem gleichen Grund, aus dem er so viele Jahre gezögert hatte, nach Hause zu gehen, dachte Andrej. Diese Leute waren seine Familie. Manche von ihnen waren mit ihm verwandt; hätte er sich die Mühe gemacht, die Geschichte des Dorfes weit genug zurückzuverfolgen, hätte er vermutlich festgestellt: alle. Sie waren die einzige Familie, die er hatte. Und doch hatte er fast Angst vor dem Moment, in dem er sie wiedersehen würde.

»Es gibt einen Grund, aus dem ich damals weggegangen bin«, sagte er nach einer Weile.

»Ich weiß.« Frederic setzte sich neben ihn.

»Woher?«

»Weil ich ihnen gesagt habe, das du hier bist«, sagte Frederic.

»Sie sollen wissen, das du dein Leben riskiert hast, um sie zu retten. Obwohl sie dich damals davongejagt haben.«

»Sie wussten es nicht besser«, sagte Andrej.

»Vielleicht hätte ich nicht anders gehandelt, an ihrer Stelle.«.

»Sie sind Dummköpfe«, beharrte Frederic.

»Sie haben Angst vor uns, weil wir anders sind als sie.«

»Wir?«, fragte Andrej.

»Wir«, beharrte Frederic.

»Ich bin wie du, nicht wie diese undankbaren Narren. Ich habe ihnen gesagt was du getan hast, damit sie ihre Freiheit zurückbekommen. Man sollte meinen, das sie dankbar sind, aber ich habe nicht viel davon gespürt.«

»Menschen fürchten die Dinge, die sie nicht verstehen«, sagte Andrej.

»Das ist nun einmal so.«

»Abu Dun scheint das nicht so zu sehen.«

»Abu Dun ist Abu Dun«, sagte Andrej ausweichend.

»Er ist ... anders als die meisten Männer.«

»Und du bist ganz sicher, das du wirklich mit ihm gehen willst?«, erkundigte sich Frederic nachdem Andrej ihm von dem Handel erzählt hatte. Sicher? Nein, das war er ganz gewiss nicht. Ihm fielen auf Anhieb zahlreiche Dinge ein, die er lieber getan hätte. Trotzdem nickte er.

»Es ist am besten so. Du wirst sie nach Hause begleiten und ich werde nachkommen. Etwas später.«

»Nach einem Jahr!«

»Ein Jahr ist kurz«, sagte Andrej.

»Es bedeutet nicht viel. Für mich noch weniger als für die meisten anderen.«

»Du glaubst tatsächlich, das Abu Dun Wort hält«, sagte Frederic. »Er wird warten, bis er hat, was er von dir will, und dich dann töten.«

»Es ist nicht so leicht, mich zu töten.«

»Kann man dich ...« Frederic verbesserte sich.

»Kann man uns überhaupt töten?«

»Oh ja«, antwortete Andrej. Es war nicht das erste Mal, das Frederic versuchte, das Gespräch auf dieses Thema zu lenken. Bisher hatte Andrej es stets unterbunden. Frederic war viel zu jung. Er konnte einfach nicht mit allem fertig werden, was auf ihn einstürmte. Und da war noch etwas: Manchmal glaubte er, etwas Dunkles an dem Jungen zu spüren, das ihn erschreckte. Aber sie würden nicht mehr lange zusammen sein und es gab ein paar Dinge, die er Frederic sagen mußte.

»Es gibt viele Methoden, uns zu töten, Frederic. Wenn man dich enthauptet, bist du tot. Wenn man dir das Herz aus dem Leib reißt, bist du tot. Wenn man dich verbrennt, bist du tot ... Wir sind nicht unverwundbar, Frederic, und schon gar nicht unsterblich. Unsere Körper sind nur ...« Er suchte nach Worten.

»Erheblich widerstandsfähiger als die der meisten anderen. Unsere Wunden heilen schneller.«

»Wie bei einem Salamander, dem ein Schwanz oder ein Bein nachwächst, wenn man es ihm abschneidet«, sagte Frederic.

»Wenn man einem Salamander den Kopf abschneidet, ist er tot«, sagte Andrej ernst. Frederic wollte etwas erwidern, aber Andrej schüttelte den Kopf und fuhr fort:

»Du darfst deine Unverwundbarkeit niemals als Waffe einsetzen, hörst du? Niemand darf davon erfahren.«

»Das weiß ich längst«, sagte Frederic.

»Außerdem wissen schon viele um dieses Geheimnis. Vater Domenicus und ...«

»Er wird es niemandem erzählen«, unterbrach ihn Andrej, »selbst wenn er es tatsächlich überlebt haben sollte, das du ihm einen Dolch durch die Kehle gestoßen hast.«

»Ich wollte nur, ich wäre sichergegangen, das er wirklich tot ist«, sagte Frederic feindselig.

»Vielleicht ist er ja auch schon längst tot«, sagte Andrej leise, während ein ganz anderes Bild als das des grausamen Kirchenfürsten vor seinem inneren Auge aufstieg: das von Domenicus’ Schwester Maria, die er in Constäntä unter dubiosen Umständen kennen gelernt hatte. Zu behaupten, Maria hätte ihm den Kopf verdreht, wäre maßlos untertrieben gewesen. Doch Frederic hatte den verhassten Inquisitor Domenicus auf dem Markplatz von Constäntä niedergestochen: Mit dieser Tat hatte er seine von der Inquisition ermordeten oder verschleppten Verwandten rächen wollen, doch zwischen ihm und Maria war es deswegen zum Bruch gekommen. Im Grunde genommen hatten Andrej und die verwöhnte junge Frau von Anfang an zwei feindlichen Lagern angehört. Das allerdings änderte nichts daran, das er noch immer tiefe Gefühle für das schlanke, dunkelhaarige Mädchen hegte. Fast gewaltsam riss er sich von seinen Erinnerungen los.

»Und Abu Dun und seine Piraten? Du wirst sie töten, sobald wir in Sicherheit sind, habe ich Recht?«

»Nein, Frederic, das werde ich nicht tun«, sagte Andrej ernst. Da war sie wieder, diese Dunkelheit, die er manchmal in Frederic spürte und die ihn erschreckte. Der junge sprach in letzter Zeit ein bisschen zu viel vom Töten.

»Nur weil unsere Leben länger dauern als ihre und wir schwerer zu töten sind, sind wir nicht besser. Wir haben nicht das Recht, nach Belieben Menschen niederzumetzeln.«

»Piraten«, sagte Frederic verächtlich.

»Wir sind nicht ihre Richter«, sagte Andrej scharf.

»Willst du so werden wie die Männer in den goldenen Rüstungen?«

»Du bist doch auch ein Krieger, oder?«

»Ich bin ein Schwertkämpfer«, antwortete Andrej.

»Ich wehre mich, wenn ich angegriffen werde. Ich verteidige mich, wenn es um mein Leben geht. Ich töte, wenn ich es muss. Aber ich ermorde niemanden.«

»Und du glaubst, das wäre ein Unterschied?« Andrej seufzte.

»Du musst noch sehr viel lernen, Frederic«, sagte er.

»Zeit genug dazu habe ich ja«, sagte Frederic düster.

»Werde ich immer ein Kind bleiben?«

»Ich glaube nicht«, sagte Andrej.

»Ich bin gealtert, seit ... es geschah. Wir sind nicht unsterblich. Ich weiß nicht, wie alt wir werden, doch irgendwann werden auch wir sterben. Vielleicht in hundert Jahren, vielleicht in tausend ...« Er hob die Schultern.

»Hab keine Angst. Du wirst nicht für immer ein Kind bleiben.«

»Wer sagt, das mir das Angst macht?« Frederic grinste.

»Manchmal ist es ganz praktisch, für ein Kind gehalten zu werden. Die Menschen neigen dazu, Kinder zu unterschätzen.« Er wurde übergangslos wieder ernst.

»Werden sie mich auch davonjagen, wenn sie ... es bemerken?« Andrej hätte Frederic gerne belogen, schon um ihm den Schmerz zu ersparen, den auch er nur zu gut kannte. Aber er tat es nicht.

»Das weiß ich nicht,« sagte er ausweichend.

»Du hast es gerade selbst gesagt, erinnerst du dich? Sie fürchten alles, was sie nicht verstehen. Ich will dir nichts vormachen.« Er rang sich ein Lächeln ab.

»Aber du hast noch Zeit. Sicher einige Jahre, bis ...«

»Bis sie merken, das mit mir etwas nicht stimmt«, führte Frederic den Satz zu Ende. »Das ich mich nicht verletzen kann. Das ich niemals krank werde. Und das ich nicht altere.« Er sah Andrej durchdringend an.

»Was ist das, was mit uns geschieht, Andrej? Ein Segen oder ein Fluch?«

»Vielleicht bekommt man das eine nicht ohne das andere«, antwortete Andrej.

»Du siehst müde aus, Frederic. Du solltest ein wenig schlafen.«

»Du hast mir niemals gesagt, wie es dazu gekommen ist«, sagte Frederic, ohne auf seine Worte einzugehen.

»Wie bist du ... unsterblich geworden?« Andrej registrierte das Zögern in seiner Stimme. Frederic hatte etwas anderes sagen wollen, war aber im letzten Moment vor dem Wort zurückgeschreckt.

»So wie du«, sagte er.

»Ich? Aber ich weiß nicht, wie!«

»Erinnerst du dich an die Nacht, in der ich dich aus dem brennenden Gasthaus gerettet habe? Du warst schwer verletzt. So schwer wie noch nie zuvor in deinem Leben.« Frederic schauderte. Natürlich erinnerte er sich. Es war erst wenige Wochen her..

»Du hast lange auf Leben und Tod gelegen«, fuhr Andrej fort.

»Bei mir war es genauso. Ein dummer Unfall. Ich war leichtsinnig und fiel vom Pferd und ich hatte das Pech, mit dem Schädel auf einen Stein zu schlagen. Drei Tage lag ich auf Leben und Tod. Ich hatte hohes Fieber und habe wild fantasiert. Aber ich überlebte es. Und von diesem Tag an ...« Er hob die Schultern.

»Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht hat mein Körper eine Grenze durchbrochen. Vielleicht muss man sterben, um zurückzukommen und unsterblich zu sein.«

»Sterben.« Frederics Augen blickten für einen Moment ins Nichts. Andrej konnte sehen, wie ein Schaudern durch seinen schmalen Körper lief.

»Ich ... erinnere mich. Ich war an ... an einem dunklen Ort. Einem schrecklichen Ort. Vielleicht ... haben wir etwas von dort mitgebracht.«

»Vielleicht ist es auch ganz anders«, sagte Andrej. Auch er fröstelte, aber diesmal war es ganz eindeutig nicht die äußere Kälte, die ihn schaudern ließ. Frederics Worte erfüllten ihn mit einer Furcht, gegen die er fast wehrlos war.

»Es ist nur eine Idee. Meine Idee, Frederic. Vielleicht ist es nur eine Laune der Natur.«

»Das glaube ich nicht«, antwortete Frederic.

»Ganz gleich, was es auch ist, wir müssen damit leben«, sagte Andrej leichthin.

»Und weißt du, wir werden sehr viel Zeit haben, darüber zu reden.« Er machte eine Kopfbewegung zum Heck des Schiffes hin.

»Die Männer wissen nicht, das du ... so bist wie ich. Das sollte auch so bleiben.«

»Und Abu Dun?« Andrej war nicht ganz sicher.

»Ich glaube, er ahnt es«, sagte er.

»Aber er weiß es nicht und ich finde, das ist auch gut so. Du musst sehr vorsichtig sein, solange du noch an Bord dieses Schiffes bist. Gib Acht, das du dich nicht verletzt. Schon ein kleiner Schnitt könnte fatale Folgen haben.« Frederic runzelte die Stirn.

»Du meinst, weil wir uns praktisch nicht verletzen können, müssen wir besonders darauf achten, uns nicht zu verletzen?«

»Ganz genau das meine ich.« Andrej nickte.

»Das mag merkwürdig klingen, aber es ist lebenswichtig.«

»Das ist nur zu wahr«, sagte Frederic.

»Es klingt komisch.« Aber er lachte und nach einem kurzen Moment stimmte Andrej in dieses Lachen ein. Er rutschte ein Stück zur Seite und hob die Decke, die Abu Dun ihm gebracht hatte.

»Komm näher, junger Unsterblicher«, sagte er.

»Du bist vor Messern gefeit, aber nicht vor der Kälte. Ich weiß das, glaub mir. Ich habe zusammengerechnet schon mehr Jahre gefroren, als du alt bist.« Frederic kroch zu ihm unter die Decke und nachdem Andrej sie um seine Schulter gelegt hatte, schmiegte er sich enger an ihn. Nach einer Weile hörte er auf zu zittern und nach einer weiteren Weile schloss er die Augen und seine Atemzüge wurden langsamer. Er war eingeschlafen. Und wenigstens für diesen kurzen Augenblick war er nicht mehr als ein verängstigtes, frierendes Kind, das sich im Schlaf an die Schulter eines Erwachsenen kuschelte. Vielleicht waren es die letzten Tage seines Lebens, in denen er noch Kind sein durfte.

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