9

Vlad kam tatsächlich nach einiger Zeit zurück und brachte ihnen Wasser und ein kleines Stück Brot. Doch ansonsten blieben sie für den Rest der Nacht allein. Andrej schlief ein paar Mal ein, wachte aber immer wieder durch die Schmerzen auf, die durch die Art seiner Fesselung verursacht wurden. Seine Handgelenke schmerzten unvorstellbar. Jeder Muskel von seinen Schultern aufwärts war verkrampft und gefühllos. Was Abu Dun erleiden mochte, wagte er sich nicht einmal vorzustellen. Der Pirat hatte die ganze Nacht über hohes Fieber und fantasierte laut in seiner Muttersprache, aber als sich in dem kleinen Fenster über ihnen das erste Morgenlicht zeigte, erwachte er aus seinem Fiebertraum. Seine Augen waren dunkel vor Schmerz und sein Gesicht sah nun viel mehr grau als schwarz aus; aber zumindest schien er das Fieber überwunden zu haben.

»Hexenmeister«, murmelte er.

»Ich wollte, ich könnte sagen, das ich mich freue, dich zu sehen. Aber das wäre eine Lüge.« Er sprach so undeutlich, das Andrej Mühe hatte, ihn zu verstehen, denn seine Lippen waren unförmig geschwollen. Seine Zähne waren rot von seinem eigenen, eingetrockneten Blut.

»Und ich freue mich, das du noch lebst«, antwortete Andrej.

»Wahrscheinlich fragst du dich, warum«, nuschelte Abu Dun.

»Wenn du die Antwort gefunden hast, verrate sie mir. Ich habe noch nie gehört, das Tepesch einen Muslim am Leben gelassen hätte. Und wenn, hat sich dieser vermutlich gewünscht, er hätte es nicht getan.« Er versuchte sich aufzurichten und stieß einen keuchenden Schmerzenslaut aus, als die eisernen Fesseln in seine wundgescheuerten Handgelenke schnitten.

»Du wusstest also, wer er ist«, sagte Andrej.

»Ich habe von ihm gehört«, brachte Abu Dun stöhnend hervor.

»Der Schwarze Engel ist der schlimmste der Drachenritter. Aber ich wußte nicht, das er es ist. Es heißt, das nicht viele Menschen sein Gesicht bisher gesehen haben.«

»Woher weist du dann ...«

»Weil ich nicht taub bin«, unterbrach ihn Abu Dun.

»Ihr habt laut genug geredet.«

»Du hast den Bewusstlosen gespielt?«

»Das erschien mir angeraten«, antwortete Abu Dun.

»Es macht keinen Spaß, einen Mann zu quälen, der den Schmerz nicht spürt. Ich bin kein sehr tapferer Mann, habe ich dir das schon erzählt?«

»Du bist ein Lügner.« Abu Dun versuchte noch einmal, in eine andere Position zu gelangen, und diesmal schaffte er es.

»Ich hoffe, du überlegst dir deinen Standpunkt noch einmal. Ich bin nicht versessen darauf, Draculs Erfindungsreichtum kennen zu lernen.«

»Glaubst du etwa, er würde dich am Leben lassen?«, fragte Andrej. »Oder auch nur sein Wort halten?«

»Nein«, gestand Abu Dun nach kurzem Überlegen. Er rang sich ein gequältes Grinsen ab.

»Wenn du wirklich ein Hexenmeister bist, wäre jetzt vielleicht der Moment, ein paar deiner Zaubertricks vorzuführen.«

»Wenn ich zaubern könnte, wären wir nicht hier«, antwortete Andrej.

»Ja, auch das habe ich befürchtet«, seufzte Abu Dun. »Und was tun wir jetzt?«

»Abwarten«, antwortete Andrej. »Es sei denn, du hast eine bessere Idee.«

»Nein«, sagte Abu Dun. »Was habe ich nur getan, das Allah mich so bestraft?«

»Ich könnte es dir erklären«, antwortete Andrej. »Doch ich fürchte, dazu reicht unsere Zeit nicht.« Er bewegte vorsichtig die Hände. Es tat sehr weh, aber entgegen seiner eigenen Erwartung konnte er es. Prüfend zerrte er an der Kette, begriff aber sofort, wie sinnlos es war. Sie war stark genug, einen Ochsen zu halten.

»Das hat keinen Zweck«, sagte Abu Dun. »Dracul hat gesehen, wozu du fähig bist. Und der junge auch. Ich habe es übrigens ebenfalls gesehen.« Andrej schwieg, obwohl er die Botschaft durchaus verstand, die sich in dieser harmlos erscheinenden Bemerkung verbarg.

»Lass mich nicht dumm sterben, Hexenmeister«, sagte Abu Dun nach einer Weile. »Erzähle es mir. Das bist du mir schuldig.«

»Du wirst nicht sterben«, beharrte Andrej. »Und ich bin dir nichts schuldig.«

»Über eine dieser beiden Behauptungen können wir jetzt lange streiten«, sagte Abu Dun. »Also?«

»Ich kann es nicht«, sagte Andrej. »Glaub mir. Ich kenne das Geheimnis selbst nicht. Eines Tages bin ich aufgewacht und ... und es war einfach so.« Er zögerte einen Moment. »Malthus ... der goldene Ritter, den ich getötet habe, er hat mir einiges erzählt. Aber ich weiß nicht, ob es die Wahrheit ist.«

»Ich habe es gesehen«, sagte Abu Dun. »Der Junge hat Blut getrunken. Und nicht das erste Mal.« Andrej wußte, was er damit sagen wollte, überging es aber.

»Es ist nicht seine Schuld«, sagte er. »Ich wußte es nicht, aber er muss wohl gesehen haben, was bei Malthus’ Tod geschah. Er hat es falsch verstanden. Er mußte es falsch verstehen. Wenn überhaupt, dann trage ich die Schuld. Ich hätte es ihm erklären müssen.«

»Was? Das ihr Blut trinken müsst, um am Leben zu bleiben?«

»Aber so ist es nicht!« Andrej war selbst ein wenig über die Heftigkeit erschrocken, mit der er widersprach. »Nicht wirklich.«

»Dann habe ich mir nur eingebildet, es gesehen zu haben.«

»Nein. Aber es bringt uns keine Kraft, das Blut eines normalen Menschen zu trinken. Es muss einer der unseren sein. Jemand, der so ist wie wir. Ich wußte es selbst nicht, bevor ich Malthus’ Blut getrunken habe.« Selbst bei der Erinnerung an das schreckliche Erlebnis seiner ersten Transformation begann seine Stimme zu zittern. Es war grauenhaft gewesen, die entsetzlichste - und zugleich berauschendste - Erfahrung seines bisherigen Lebens. Er konnte Abu Dun unmöglich erklären, was er gespürt hatte, denn er verstand es selbst nicht genau. Aber er versuchte es.

»Ich habe lange Zeit geglaubt, ich wäre der Einzige«, sagte er.

»Ich wußte nicht, das es mehrere wie mich gibt. Und ich wußte nicht, das wir das Blut eines der unseren trinken müssen. Vielleicht ist das der Preis, den wir für das bezahlen, was wir sind.« Abu Dun kniff eines seiner zugeschwollenen Augen noch weiter zu.

»Ihr müsst euch gegenseitig töten, um am Leben zu bleiben? Das glaube ich nicht.«

»Es ist aber so«, beharrte Andrej.

»Ich glaube nicht einmal, das es das Blut ist. Es ist wohl nur eine Art ... Symbol, wenn du so willst. Es ist die Lebenskraft, die wir aufnehmen.«

»Das ist unmöglich«, beharrte Abu Dun. Obwohl es ihm Schmerzen bereiten mußte, schüttelte er heftig den Kopf.

»Wenn es so wäre, dürftest du gar nicht hier sein. Ihr hättet euch längst gegenseitig ausgerottet.«

»Vielleicht ist es der einzige Grund, aus dem wir euch noch nicht ausgerottet haben«, antwortete Andrej. Darüber mußte Abu Dun eine Weile nachdenken. Schließlich sagte er:

»Das ist ... unheimlich. Unnatürlich.«

»Du wolltest es wissen«, antwortete Andrej.

»Vielleicht will ich es nicht glauben«, gestand Abu Dun.

»Obwohl es wohl wahr sein muss. Allahs Wege sind wahrlich rätselhaft. Leider hilft uns das im Moment nicht weiter.«

»Vielleicht kann ich euch weiterhelfen.« Vlad trat gebückt durch die niedrige Tür und kam näher. Er sah sehr müde aus. Anscheinend hatte er die ganze Nacht kein Auge zugetan. Andrej fragte sich voller Unbehagen, wie lange er schon dort stand und wie viel er gehört hatte.

»Ich kann nicht lange bleiben«, fuhr Vlad fort, während er näher kam.

»Aber ich habe etwas über den jungen in Erfahrung gebracht.«

»Frederic? Lebt er?« Bei dem Wort Leben hob Vlad kurz die linke Augenbraue, aber er sagte nichts, sondern kam näher und setzte einen Becher mit brackig schmeckendem Wasser an Andrejs Lippen. Er wartete, bis er ihn mit gierigen, tiefen Zügen zur Hälfte geleert hatte, dann nahm er ihn fort und ging zu Abu Dun, um auch dessen schlimmsten Durst zu stillen. Erst dann beantwortete er Andrej s Frage.

»Er ist bei Tepesch«, sagte er.

»Ich habe gehört, das er ihn nach Petershausen bringen lässt und von dort aus vielleicht zur Burg Waichs. Die Türken sind im Anmarsch. Wir werden Rettenbach noch heute verlassen und uns ebenfalls nach Petershausen zurückziehen. Dort ist es sicherer. Die Stadt ist befestigt. Nicht sehr gut, aber sie ist befestigt. Vielleicht scheint sie den Türken nicht lohnend genug, um sie zu belagern und zu stürmen.«.

»Und Dracul selbst?« Vlad hob die Schultern.

»Es heißt, er käme im Laufe des Tages zurück, um noch einmal mit dir zu reden. Aber ich weiß es nicht. Er teilt mir seine Pläne nicht mit.« Er wandte sich wieder zur Tür.

»Ich komme später noch einmal und bringe euch Wasser. Mehr kann ich nicht für euch tun.« Aber vielleicht war das schon mehr, als sie verlangen konnten. Vlad kam noch zweimal an diesem Tag, einmal um das versprochene Wasser und einmal, um ein wenig Brot zu bringen, mit dem er sie zu gleichen Teilen fütterte. Abu Dun weigerte sich am Anfang zu essen, aber Andrej überredete ihn schließlich dazu. Es war entwürdigend, wie ein hilfloser Säugling gefüttert zu werden. Die Situation war Andrej ebenso peinlich wie ihm. Aber allein der Umstand, das sie angekettet waren und sich nicht von der Stelle rühren konnten, brachte einige noch viel peinlichere Dinge mit sich. Abu Dun beugte sich schließlich seinem Argument, das sie womöglich jedes bisschen Energie brauchen würden, das sie bekommen konnten. Beim dritten Mal - es war schon später Nachmittag - war es nicht Vlad, der die Treppe herunterpolterte, sondern Vladimir Tepesch. Dracul. Er trug auch jetzt seine bizarre blutfarbene Rüstung, obwohl es eine schiere Qual sein mußte, sich den ganzen Tag über darin zu bewegen. Er kam nicht allein, sondern in Begleitung Vlads und drei weiterer Männer.

»Ich sehe, ihr habt die Nacht in meinem bescheidenen Gästehaus genossen«, begann er spöttisch.

»Hattest du Zeit, über meinen Vorschlag nachzudenken?«

»Das hatte ich«, antwortete Andrej.

»Und?«

»Fahr zur Hölle.« Tepesch lachte.

»Nein, ich fürchte, diese Gnade wird Gott mir nicht erweisen«, sagte er.

»Dort würde ich mich vermutlich wohl fühlen. Also fürchte ich, das ich in den Himmel komme, um dort für alle Ewigkeiten Höllenqualen zu erleiden.«

»Du langweilst mich«, sagte Andrej. Er starrte an Dracul vorbei ins Leere. Tepesch lachte.

»Oh, mir würden da schon ein paar Dinge einfallen, um unsere Unterhaltung etwas kurzweiliger zu gestalten«, sagte er.

»Ich fürchte nur, das leider unsere Zeit dazu nicht reicht.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Abu Dun.

»Seine Brüder sind auf dem Weg hierher. Sie sind noch eine gute Strecke entfernt. Wir müssen uns an einen sichereren Ort zurückziehen. Aber grämt Euch nicht, lieber Freund. Wir werden unterwegs viel Zeit haben, um zu reden.«

»Was hast du mit Frederic gemacht?«, fragte Andrej.

»Deinem jungen Freund? Nichts. Es war nicht notwendig. Der junge ist viel einsichtiger als du. Ich glaube, das wir Freunde werden könnten.« Genau das war die größte Angst, die Andrej hatte. Er machte sich schwere Vorwürfe, nicht schon längst und ganz offen mit Frederic gesprochen zu haben. Das Schicksal hatte dem jungen einen grausamen Streich gespielt, ihm seine Unverwundbarkeit so früh zu schenken. Er hatte noch nicht einmal Zeit genug gehabt, herauszufinden, wer er war. Wie sollte er da begreifen, was er war. Nicht einmal Andrej wußte es genau. Wenn Frederic unter den Einfluss eines Ungeheuers wie Tepesch geriet ... Andrej wagte sich nicht einmal vorzustellen, was dann aus ihm werden konnte.

»Nun, ich erwarte jetzt keine Antwort von dir«, fuhr Tepesch fort, als Andrej beharrlich schwieg.

»Wir brechen gleich auf. Bis dahin müssen wir allerdings dafür sorgen, das ihr wieder einigermaßen menschlich ausseht. Und riecht.« Er gab Vlad einen Wink.

»Wascht sie und gebt ihnen saubere Kleider. Ich erwarte euch unten am Fluss.« Er ging. Vlad und die drei anderen Männer blieben zurück und ketteten erst Abu Dun und dann Andrej los, waren aber dabei sehr vorsichtig, sodass Andrej nicht die geringste Chance gehabt hätte, einen Ausbruchsversuch zu wagen, selbst wenn er die nötige Kraft dazu besessen hätte. Sie wurden unsanft aus dem Keller nach oben befördert, wo erst Abu Dun und dann ihm die Kleider von Leib gerissen wurden. Dann tauchte man sie in einen bereitstehenden Zuber mit eiskaltem Wasser, bis sie einigermaßen sauber waren; allerdings auch halb erstickt. Sie bekamen neue Kleider und Vlad nutzte die Gelegenheit gleich, um Abu Duns schlimmste Wunden zu verbinden, was den Piraten mit einigem Erstaunen zu erfüllen schien. Anschließend wurden ihre Hände auf den Rücken gebunden und Andrej zusätzlich noch eine Fußfessel angelegt.

»Habe ich dein Wort?«, fragte Vlad, als sie sich daran machten, das Haus zu verlassen.

»Mein Wort worauf?«

»Das du nicht zu fliehen versuchst«, antwortete Vlad ernst.

»Oder mich verhext.«

»Wohin sollte ich schon gehen?«, fragte Andrej spöttisch.

»Und wie? Außerdem ist Frederic bei deinem Herrn. Ich würde mich selbst dann zu Dracul begeben, wenn ich die freie Wahl hätte.« Vlad sah ihn einen Moment lang prüfend an, dann drehte er sich um und wandte sich an die drei Bewaffneten in seiner Begleitung.

»Bringt den Mohren zu Fürst Tepesch«, sagte er.

»Und behandelt ihn gut. Wir brauchen ihn vielleicht noch. Falls wir auf die Türken stoßen, kann er uns als Geisel von Nutzen sein.« Andrej hatte mit Widerspruch gerechnet, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Die drei Männer und ihr Gefangener verschwanden so schnell, das es fast einer Flucht gleichkam, und es dauerte auch nur einen Moment, bis er begriff, das es genau das war: Die drei Soldaten waren froh, aus seiner Nähe verschwinden zu können.

»Warum tust du das?«, fragte er, als sie allein waren.

»Was?«

»Du weißt genau, was ich meine«, antwortete Andrej.

»Dein Herr wird nicht glücklich sein, wenn er hört, das du mich gut behandelst.«

»Dracul ist nicht mein Herr«, sagte Vlad. Für einen Moment schwang fast so etwas wie Hass in seiner Stimme mit. Dann fand er seine Beherrschung wieder und zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht hat er mich ja angewiesen, genau das zu tun, um mich in dein Vertrauen zu schleichen.«

»Unsinn«, sagte Andrej.

»Vielleicht habe ich auch euer Gespräch heute Morgen gehört«, fuhr Vlad fort, »und mir meine Gedanken dazu gemacht.«

»Vielleicht. Was soll das heißen?« Vlad hob zur Antwort nur die Schultern, ließ sich plötzlich in die Hocke sinken und durchtrennte mit einem schnellen Schnitt seine Fußfesseln.

»Geh.« Andrej versuchte nicht noch einmal, in Vlad zu dringen. Er traute ihm immer noch nicht völlig, aber ob er es nun ehrlich meinte oder nicht, im Augenblick hatte eindeutig er die bessere Position. Er folgte Vlads Aufforderung und verließ das Haus. Da er gesehen hatte, das sich Abu Dun und seine drei Begleiter nach links gewandt hatten, wollte er in die gleiche Richtung losmarschieren, aber Vlad schüttelte den Kopf und deutete in die entgegengesetzte Richtung. Andrej gehorchte. Zum ersten Mal sah er die Stadt, in der sie gefangen gehalten wurden - wobei er nicht ganz sicher war, ob Stadt tatsächlich die richtige Bezeichnung war. Rettenbach war ein winziges Nest, das nur aus einer Hand voll Häuser bestand, die sich rechts und links einer einzigen, morastigen Straße drängten. Die meisten waren klein und ärmlich, und er sah kaum einen Menschen auf der Straße. Wahrscheinlich waren viele bereits geflohen, um sich vor den heranrückenden Türken in Sicherheit zu bringen.

»Ich bin Roma«, begann Vlad, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinanderher gegangen waren.

»Weißt du, was das ist?« Andrej schüttelte den Kopf und Vlad schürzte die Lippen; verletzt, aber nicht so, als überrasche ihn diese Antwort.

»Dann sagt dir das Wort Zigeuner vielleicht mehr«, sagte er bitter. Nun wußte Andrej, wovon er sprach. Er nickte.

»Das wundert mich nicht«, sagte Vlad bitter.

»Weißt du, woher dieser Name kommt? Wir haben ihn nicht selbst gewählt. Er bedeutet: Ziehende Gauner. Das sind wir in euren Augen. Ziehende Gauner, nicht mehr. Aber es macht uns nichts aus. Wir sind es gewohnt, mit eurer Verachtung zu leben. Wir sind ein Volk ohne Land, das gewohnt ist, herumzuziehen und ein Nomadenleben zu führen. Wir wollen es nicht anders.« Andrej spürte, wie schwer es Vlad fiel, darüber zu sprechen. Er fragte sich, warum er es tat.

»Ich war einst Mitglied einer großen Sippe, Andrej«, fuhr Vlad fort. »Einer sehr mächtigen und sehr großen Sippe. Wir fühlten uns frei und wir fühlten uns stark. Zu stark. Und eines Tages begingen wir einen Fehler. Vielleicht war es Gottes Strafe für unseren Hochmut. Wir waren fast achthundert, weißt du? Heute gibt es nur noch wenige von uns. Vielleicht bin ich der Letzte.«

»Was war das für ein Fehler?«, fragte Andrej. Er spürte, das Vlad diese Frage von ihm erwartete.

»Wir kamen hierher«, antwortete. Vlad.

»Nicht in diese Stadt, aber in dieses verfluchte Land. Wir waren gewarnt worden, aber wir haben diese Warnung in den Wind geschlagen. Wir fühlten uns so stark. Aber wir rechneten nicht mit der Bosheit dieses ... Teufels.«

»Tepesch.«

»Dracul, ja.« Vlad spie den Namen regelrecht hervor.

»Wir wurden gefangen genommen. Alle. Männer, Frauen, Kinder, Alte, Kranke - alle ohne Ausnahme. Dracul ließ drei von uns bei lebendigem Leibe rösten. Sie wurden in Stücke geschnitten und wir mussten ihr Fleisch essen.« Andrej blieb stehen und starrte den Mann mit aufgerissenen Augen an.

»Was?« Vlad nickte.

»Wer sich weigerte, dem wurden die Augen ausgestochen und die Zunge herausgeschnitten«, sagte er.

»Die anderen hatten die Wahl, unter Tepeschs Fahne gegen die Türken zu kämpfen oder ebenfalls zu sterben. Die meisten entschieden sich für den Kampf.«

»Du hast ...?«

»Ich habe das Fleisch meines Bruders gegessen, ja«, unterbrach ihn Vlad. Seine Stimme bebte.

»Du brauchst mich dafür nicht zu hassen, Andrej. Das tue ich schon selbst, in jedem Augenblick, der seither vergangen ist. Aber ich wollte leben. Vielleicht bin ich der Einzige, der sein Ziel erreicht hat. Fast alle anderen fanden den Tod im Kampf oder wurden von Dracul umgebracht.«

»Dieses Ungeheuer«, murmelte Andrej erschüttert.

»Warum erzählst du mir das alles? Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich weiß, was es heißt, zu etwas gezwungen zu werden.« Vlad antwortete nicht. Er drehte sich mit einem Ruck um und ging weiter, und er achtete nicht einmal darauf, ob Andrej ihm folgte oder nicht. Andrej blieb auch tatsächlich einen Moment stehen, folgte ihm dann aber. Er war nicht nur schockiert von dem, was er gehört hatte, er war auch vollkommen verwirrt und fragte sich, warum Vlad ihm diese Geschichte erzählt hatte. Sicher nicht nur, um sein Gewissen zu erleichtern. Sie gingen noch eine ganze Weile weiter, dann hatten sie die Stadt hinter sich gelassen. Da wurden sie einer unheimlichen Szenerie gewahr. Andrej blieb mit einem Gefühl vollkommenen Entsetzens stehen. Er hatte geglaubt, das Vlads Geschichte das Schlimmste sei, was ein Mensch an Grausamkeiten ersinnen konnte, aber das stimmte nicht. Andrej weigerte sich zu glauben, was er sah. Vor ihnen waren drei gut vier Meter hohe, armdicke Pfähle aufgestellt worden, die lotrecht in den Himmel ragten. Auf jeden dieser Pfähle war ein nackter Mensch aufgespießt; zwei Männer und eine Frau.

»Großer Gott«, flüsterte Andrej. Vlad ergriff ihn am Arm und zerrte ihn so grob mit sich, das er ins Stolpern geriet. Andrejs Entsetzen wuchs mit jedem Moment. Sein Magen revoltierte und er verspürte ein unsägliches Grauen, das nicht nur Übelkeit, sondern ganz konkreten körperlichen Schmerz in ihm auslöste. Die bedauernswerten Opfer dieser Gräueltat waren nicht aufgespießt worden wie Schmetterlinge auf die Nadel eines Sammlers. Die armdicken Pfähle waren zwischen ihren Beinen in ihre Leiber gerammt worden, hatten ihren Weg hinauf durch ihre Körper gesucht und waren in der Halsbeuge wieder hervorgetreten, was ihre Köpfe in eine absurde Schräghaltung zwang. Noch während Andrej glaubte, nunmehr die absolute Grenze dessen erreicht zu haben, was ein Mensch an Grauen überhaupt ertragen konnte, sah er sich abermals getäuscht. Einer der Männer ... lebte noch! Seine Augen waren geöffnet. Pein, nichts anderes als unvorstellbare Pein, stand in sein Gesicht geschrieben.

»Drei Tage«, sagte Vlad leise.

»Sein Rekord liegt bisher bei drei Tagen, die ein Opfer überlebt hat.«

»Tepesch?«, murmelte Andrej. Vlad machte ein sonderbares Geräusch.

»Wusstest du nicht, das man ihn den Pfähler nennt?«

»Nein«, antwortete Andrej. Und hätte er es gewusst, so hätte er sich nichts darunter vorstellen können. Er hatte von Grausamkeiten gehört, die Menschen einander antaten. Er hatte mehr davon gesehen, als er je gewollt hatte, aber so etwas hätte er sich bis zu diesem Moment nicht einmal vorstellen können.

»Warum ... zeigst du mir das?«, würgte er mühsam hervor. Statt gleich zu antworten zog Vlad einen Dolch aus dem Gürtel, streckte den Arm in die Höhe und befreite die gepeinigte Kreatur mit einem schnellen Stoß von ihrer Qual. Er wischte die Klinge im Gras ab und steckte sie zurück, ehe er sich zu Andrej herumdrehte.

»Damit du weißt, mit wem du es zu tun hast«, sagte er.

»Nur falls du geglaubt haben solltest, das dieser Mann auch nur noch einen Funken Menschlichkeit in sich haben könnte.« Andrej machte sich von dem entsetzlichen Anblick los (warum übte das Grauen nur eine solche Faszination auf Menschen aus?), drehte sich weg und atmete ein paar Mal tief ein und aus, bis sich die Übelkeit allmählich zu legen begann.

»Und wozu er fähig ist.«

»Menschen sind prinzipiell zu allem fähig«, murmelte Andrej. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Das hätte ich mir nicht vorstellen können.«

»Jetzt kannst du es«, sagte Vlad bitter.

»Ich wollte, das du das siehst, bevor ich dir meine Frage stelle.« Obwohl Andrej eine ziemlich konkrete Vorstellung davon hatte, wie diese Frage lautete, fragte er:

»Welche?«

»Ich habe euer Gespräch heute Morgen belauscht«, sagte Vlad.

»Und ich habe gehört, was die Männer erzählt haben, die beim Kampf gegen die Türken dabei waren.«

»Und?«, fragte Andrej.

»Ich weiß, was du bist«, sagte Vlad..

»Dann weißt du mehr als ich.«

»Es gibt Legenden, die von Männern wie dir berichten«, fuhr Vlad fort.

»Männer, die nachts ihre Gestalt verändern und auf schwarzen Schwingen fliegen. Die unsterblich sind und Blut trinken.«

»Du hast es gerade selbst gesagt, Vlad«, antwortete Andrej.

»Legenden. Märchen, mit denen man Kinder erschreckt.«

»Du bist ein Vampyr«, sagte Vlad.

»Ich weiß es.«

»So nennt man uns?« Andrej wiederholte das Wort ein paar Mal und lauschte auf seinen Klang. Es hörte sich düster an, nach etwas Uraltem, Unheiligem. Es gefiel ihm nicht.

»Selbst wenn ich so ein ... Vampyr wäre«, sagte er, »was sollte ich schon für dich tun?«

»Nicht für mich«, antwortete Vlad.

»Es gibt nichts, was irgendein Mensch auf der Welt noch für mich tun könnte - es sei denn, mir einen gnädigen Tod zu gewähren. Aber ich kann nicht sterben, solange dieses Ungeheuer noch lebt.«

»Ich verstehe«, sagte Andrej.

»Du willst, das ich ihn töte.« Er lachte, sehr leise und sehr bitter. »Du hältst mich selbst für ein Ungeheuer und du willst, das ich ein anderes Ungeheuer für dich töte.«

»Nicht für mich«, widersprach Vlad.

»Für die Menschen hier. Für das Land. Für sie.« Er deutete auf die drei Gepfählten.

»Auch für deinen jungen Freund. Willst du, das er so wird wie er?«

»Was geht mich das Land an?«, fragte Andrej kalt.

»Du hast es selbst gesagt: Die Menschen halten uns für Ungeheuer. Glaubst du, sie würden auch nur einen Finger rühren, um mir zu helfen oder Frederic?«

»Ich verlange es nicht umsonst«, sagte Vlad.

»Nicht? Was könntest du mir schon bieten?«

»Ich weiß, was du bist«, antwortete Vlad.

»Vergiss nicht, was ich bin. Wir sind Roma. Wir haben kein Land, aber wir haben Geschichten. Wir kennen alle die alten Geschichten und Legenden. Ich könnte dir sagen, woher ihr kommt und warum ihr da seid.«

»Warum?«, fragte Andrej. Vlad schüttelte den Kopf.

»Nein. Ich habe zu wenig, um etwas davon verschenken zu können. Du musst dich nicht jetzt entscheiden. Dracul wird dir nichts tun und auch dem jungen nicht. Ihr seid viel zu kostbar für ihn. Denk über meinen Vorschlag nach. Ich könnte dir von Nutzen sein.«

»Das werde ich«, versprach Andrej. Doch er hatte sich längst entschieden. Er würde dieses Ungeheuer vom Antlitz der Erde tilgen, nicht für Vlad, nicht für die drei unglückseligen Opfer vor ihnen, nicht für das Land und seine Menschen, sondern einfach, weil er eine Bestie war, ein Tier, das den Namen Mensch nicht verdiente und kein Recht hatte, zu leben.

»Das werde ich«, sagte er noch einmal.

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