14

Der Raum war klein und hatte nur ein einzelnes, schmales Fenster, das nicht einmal ausreichte, um eine geballte Faust hindurchzuschieben. Die Tür war massiv genug, um einen Kanonenschuss auszuhalten, und verfügte über eine knapp handgroße Luke in Augenhöhe. Es gab einen Stuhl, ein Bett und einen halb mit Wasser gefüllten Eimer, der als Abort diente. Ein eiserner Ring in der Wand ließ über den Zweck dieses Raumes keinen Zweifel mehr aufkommen. Andrej wurde jedoch nicht angekettet. Tepesch selbst und ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Soldaten hatten ihn hierher gebracht. Er wurde nur grob durch die Tür gestoßen und dann allein gelassen. Nach einer Weile wurde die Klappe in der Tür geöffnet und ein misstrauisch zusammengepresstes Augenpaar sah zu ihm herein. Zwei Männer betraten seine Zelle und hielten ihn mit den Spitzen ihrer langen Speere in Schach, während ein anderer eine reichhaltige Mahlzeit und einen halben Krug Wein brachte. Andrej hatte das Gefühl, das es sich nicht um eine Großzügigkeit Tepeschs handelte, sondern um eine Henkersmahlzeit. Seine Aussichten, diese Burg lebend zu verlassen, waren nicht gut. Es war nicht das erste Mal, das er sich in einer scheinbar ausweglosen Situation befand, aber bisher hatte er sich stets befreien können. Diesmal war es anders. Seine Gegner wussten, wer er war. Vor allem aber wussten sie, was er war und was zu leisten er imstande war. Tepesch würde ihn nicht entkommen lassen. Er wunderte sich, das er überhaupt noch lebte. Körber hatte ihn besiegt. Er war besser als er gewesen - und er hätte ihn zweifellos getötet, hätte Vlad - Tepesch! - nicht im letzten Moment in den Kampf eingegriffen. Als er schwere Schritte draußen auf dem Gang hörte, stand er auf und wich auf die andere Seite seiner Zelle zurück, um den Soldaten die Mühe zu ersparen, ihn mit ihren Speeren vor sich her zu treiben. Doch es waren nicht seine Kerkermeister. Stattdessen betrat Maria die Zelle. Andrej konnte nichts anderes tun als einfach dazustehen und sie anzustarren. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Es war ihm bisher trotz allem gelungen, das Wissen um ihre Nähe zu verdrängen, weil dieser Gedanke zu schmerzhaft gewesen wäre. Nun aber war sie da. Sie stand vor ihm, nur noch zwei oder drei Schritte entfernt, so wunderschön, wie er sie in Erinnerung hatte, aber viel zerbrechlicher. Etwas wie eine stille Trauer schien von ihr auszugehen. Nachdem er sie einige Zeit betrachtet hatte, wurde ihm klar, das sie sich auch körperlich verändert hatte. Ihr Gesicht war schmaler geworden. Er sah eine Andeutung derselben dunklen Linien darin, die er auch in dem ihres Bruders Domenicus entdeckt hatte. Sie hatten körperliche Strapazen hinter sich. Der Weg hierher war nicht leicht gewesen. Und wahrscheinlich war sie ihn nicht freiwillig gegangen.

»Maria ...«, begann er.

»Nein!« Ihre Stimme war leise, brüchig, aber sie klang gleichzeitig so scharf, das er verstummte.

»Sag nichts. Domenicus weiß nicht, das ich hier bin, und er darf es auch nicht erfahren. Ich habe nicht viel Zeit.« Da war etwas in ihrer Stimme, das ihn erschreckte. Und etwas in ihrem Blick. Er blieb stehen, aber es fiel ihm schwer, sie nicht in die Arme zu schließen, ihre süßen Lippen zu schmecken. Alles, was zwischen Constäntä und jetzt geschehen war, schien nicht mehr da zu sein, als hätte jemand die Zeit dazwischen einfach ausgelöscht.

»Ist es wahr?«, fragte Maria. Vielleicht waren es Tränen, die er in ihren Augen schimmern sah. Vielleicht auch nicht.

»Was?«

»Was Domenicus mir erzählt hat«, antwortete sie mühsam.

»Das du ... ein Hexer bist?«

»Das hat er gesagt?«

»Nicht dieses Wort«, antwortete Maria.

»Aber er hat mir gesagt, das du mit dem Teufel im Bunde bist. Das du schwarze Magie praktizierst und ... und das man dich nicht töten kann.«

»Das glaubst du?« Andrejs Gedanken drehten sich wild im Kreis. Er weigerte sich zu glauben, was er hörte, und er weigerte sich noch viel mehr zu glauben, was er in Marias Augen las. Es war unmöglich. Es durfte nicht sein! Nicht das.

»Ich weiß nicht mehr, was ich noch glauben soll«, antwortete Maria. »Ich weiß, was ich gesehen habe.«

»Und was ... hast du gesehen?«, fragte Andrej stockend. Er machte einen halben Schritt auf sie zu und blieb sofort wieder stehen, als er sah, das sie instinktiv vor ihm zurückwich. Wenn es etwas gab, das noch schlimmer war als der Ausdruck in ihrem Blick, dann die Vorstellung, das sie Angst vor ihm haben könnte.

»Der junge. Frederic. Biehler hat ihn mit einem Messer geschnitten. Die Wunde hat sich wieder geschlossen. Vor meinen Augen. Es war Zauberei. Hexenwerk.«

»Das hat nichts mit Zauberei zu tun«, sagte Andrej, aber Maria hörte ihn gar nicht.

»Du bist genauso wie er, nicht wahr?« Marias Augen färbten sich noch dunkler. Etwas in Andrej schien zu zerbrechen, als er begriff, das sie tatsächlich Angst vor ihm hatte. Das war das Schlimmste. Er hätte mit dem Gedanken leben können, sie niemals wieder zu sehen. Er hätte vielleicht sogar noch damit leben können, zu wissen, das sie seine Liebe nicht erwiderte. Aber die Vorstellung, das sie ihn fürchten könnte, war unerträglich.

»Ja«, sagte er.

»Aber ich bin nicht ...«

»Also ist es wahr. Ihr seid mit dem Teufel im Bunde.«

»Ich weiß nicht, ob es einen Teufel gibt«, antwortete Andrej.

»Aber selbst wenn, haben Frederic und ich nichts mit ihm zu schaffen. Ich könnte dir erklären, was wir sind. Ich hätte es längst tun sollen, aber ich ... ich hatte Angst.«.

»Angst?«

»Das genau das passiert, was jetzt passiert ist«, sagte Andrej.

»Das du es nicht verstehen würdest.« Er hob hilflos die Hände.

»Was wir sind, ist so schwer zu erklären. Ich verstehe es ja selbst nicht genau und ...« Er brach ab. Er fühlte sich nicht nur hilflos, er klang auch so.

»Maria, bitte«, sagte er verzweifelt.

»Wir haben so wenig Zeit, und ich muss dir so viel sagen.«

»Nein«, antwortete Maria. Das Wort traf ihn wie ein Fausthieb und schlimmer noch war vielleicht das, was sie nicht sagte.

»Ich will nichts mehr hören. Ich habe es gesehen, und Domenicus ...«

»Dein Bruder«, unterbrach sie Andrej, »ist hundertmal schlimmer als Frederic und ich es jemals sein könnten.« Etwas warnte ihn, weiterzureden. Er spürte ganz deutlich, das es ein Fehler war, aber zugleich war es ihm vollkommen unmöglich, nicht fortzufahren. Es war, als hätten sich die Worte, einmal aus ihrem Gefängnis befreit, nun vollkommen selbstständig gemacht.

»Er hat Frederics ganze Familie ausgelöscht. Meine gesamte Familie. Das ganze Dorf. Alle. Frederic und ich sind die Einzigen, die übrig sind.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Maria. Sie klang eher traurig als erschrocken; als hätte sie etwas gehört, wo mit sie zwar gerechnet, aber fast flehentlich darauf gehofft hatte, es nicht zu hören.

»Diese Menschen wurden fortgebracht, das ist wahr. Aber nur, um über sie zu richten. Um ihren Seelen die Gelegenheit zu geben, sich wieder Gott zuzuwenden.«

»Sie sind tot«, sagte Andrej, so ruhig er konnte.

»Sie sind auf Abu Duns Schiff verbrannt, als dein Bruder es anzünden ließ.« Maria schwieg. Sie starrte ihn an, aber es war Andrej nicht möglich, in ihren Augen zu lesen. Endlich schüttelte sie den Kopf. »Das ist nicht wahr«, sagte sie.

»Vielleicht hat es dir der Mohr so erzählt, aber so war es nicht. Mein Bruder ließ das Schiff angreifen, weil er ein Mörder und Dieb ist, der den Tod verdient hat.«

»Tepesch hat sein Schiff verbrannt«, beharrte Andrej.

»Auf Befehl deines Bruders, Maria. Verbrennt die Hexen! Das war es, was er gerufen hat!«

»Ein Schiff voller Piraten!«

»Dessen Bauch voller Sklaven war«, fügte Andrej hinzu.

»Alle, die aus Constäntä weggebracht wurden. Ich weiß es, Maria. Ich war dabei. Frederic und ich haben es überlebt.« Marias Blick flackerte. Andrej konnte sehen, das ein anderer Ausdruck in ihren Augen lag.

»Nein«, sagte sie.

»Ich glaube dir nicht. Du lügst. Bruder Biehler hat mich gewarnt. Er hat mir gesagt, das du versuchen würdest, Zweifel in mein Herz zu säen.«

»Bruder Biehler«, wiederholte Andrej - in einem Ton, für den er sich selbst hasste.

»Du weißt, wer er ist?«

»Ein tapferer Mann«, antwortete Maria.

»So tapfer wie Körber und Malthus, die du erschlagen hast.«

»In Constäntä hast du noch ein wenig anders über sie gesprochen«, erinnerte Andrej.

»Da wußte ich noch nicht, wer du bist«, antwortete Maria.

»Ich bin ...«

»Hör auf!« Maria schlug beide Hände vor die Ohren.

»Ich will nichts mehr hören! Schweig!«

»Weil dir nicht gefällt, was du hörst«, sagte Andrej sanft. Er war nicht zornig. Er konnte nicht von Maria erwarten, das sie ihm glaubte. Nicht jetzt und nicht in dieser Umgebung.

»Weil du lügst!« Maria schrie fast.

»Domenicus hat Recht! Du bist ein Hexer. Du hast mich verzaubert, schon in Constäntä!«.

»Du weißt genau, das das nicht stimmt«, sagte Andrej leise. Plötzlich mußte auch er gegen die Tränen ankämpfen.

»Sprich mit Frederic, wenn du mir nicht glaubst.«

»Oder du fragst mich, schönes Kind.« Maria fuhr erschrocken herum und starrte Vlad an. Er war hereingekommen, ohne das sie oder Andrej es gemerkt hatten, und Andrej nahm an, das er auch schon eine Weile draußen auf dem Flur gestanden und ihnen zugehört hatte. Vielleicht von Anfang an.

»Was ...?«, begann Maria. Tepesch unterbrach sie, indem er mit der Hand auf Andrej wies.

»Er sagt die Wahrheit. Euer Bruder wußte, das sich all diese Menschen auf Abu Duns Schiff befanden. Er wollte ihren Tod.«

»Und du hast seinem Wunsch Folge geleistet?«, fragte Andrej. Tepesch hob die Schultern.

»Warum nicht? Ein Schiff voller Hexen und schwarzer Magier? Wer würde am Wort eines Kirchenmannes zweifeln? Noch dazu eines Inquisitors?«

»Das ... das ist nicht wahr«, flüsterte Maria. Dann schrie sie:

»Du lügst! Das ist nicht wahr!« Tepeschs Augen verdunkelten sich vor Zorn. Für einen Moment war Andrej fast sicher, das er sie schlagen würde. Aber er kam nicht dazu, denn Maria fuhr herum und rannte aus dem Raum. Dracul sah ihr kopfschüttelnd nach. Als er sich wieder zu Andrej herumdrehte, lächelte er.

»Mach dir nichts daraus, Deläny«, sagte er.

»Sie wird sich beruhigen. Sie ist nur ein Weib ... und ein verdammt hübsches dazu. Du hast einen guten Geschmack.«

»Nicht, was die Auswahl meiner Freunde angeht«, sagte Andrej. Tepesch lachte. Er schüttelte den Kopf, drehte sich herum und schloss die Tür. Er wollte nicht, das jemand sie belauschte.

»Habt Ihr keine Angst, das ich Euch das Herz herausreißen und vor Euren Augen verspeisen könnte, Fürst?«, fragte Andrej.

»Ehrlich gesagt: nein«, antwortete Dracul.

»Ich weiß noch immer nicht genau, was du bist, Andrej, aber eines bist du mit Sicherheit: ein Mann von Ehre.«

»Sei dir da nicht zu sicher«, grollte Andrej.

»Außerdem schuldest du mir ein Leben«, erinnerte Vlad.

»Aber ich glaube, daran muss ich dich nicht erinnern.« Andrej schwieg. Vlad wartete nun bestimmt darauf, das er ihn fragte, warum er ihm im Kampf gegen den Vampyr beigestanden hatte, aber er sah ihn nur einige Augenblicke lang durchdringend an, dann fragte er:

»Was willst du?«

»Warum fragst du nicht zuerst, was ich zu bieten habe?«, gab Vlad zurück.

»Und was sollte das sein?«

»Alles«, antwortete Tepesch. Er machte eine Kopfbewegung zu der Tür hinter sich.

»Das Mädchen.« Er hob rasch die Hand, als Andrej etwas erwidern wollte.

»Du willst sie. Sie ist ein verdammt hübsches Ding ein wenig jung für meinen Geschmack, aber verdammt hübsch - und du wärst kein Mann, wenn du sie nicht begehren würdest.«

»Sprich nicht so über sie!«, sagte Andrej zornig. Tepesch lächelte. »Du willst sie haben. Ich kann sie dir geben.«

»Spar dir deinen Atem, Tepesch«, sagte Andrej wütend. Er mußte sich beherrschen, um sich nicht auf diesen gottverdammten Fürsten zu stürzen und ihn totzuprügeln..

»Der Junge«, fuhr Tepesch ungerührt fort.

»Biehler. Oder wie wäre es mit Vater Domenicus’ Kopf, auf einem Silbertablett?« Andrej wußte nicht, was ihn mehr erschütterte: Der amüsierte Klang von Tepeschs Stimme oder die Gewissheit, das Dracul ihm diesen Wunsch erfüllen würde, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, sollte er ihn wirklich äußern. Er schwieg. Tepesch seufzte.

»Du bist ein anspruchsvoller Gast, Andrej Deläny«, sagte er.

»Es ist wirklich nicht leicht, dich zufrieden zu stellen. Aber vielleicht hätte ich doch noch etwas, das ich bieten könnte. Dein Freund, dieser Mohr ...« Er tat so, als hätte er Mühe, sich des Namens zu erinnern.

»Abu Dun?«

»Was ist mit ihm?«, entfuhr es Andrej. Tepesch lächelte flüchtig. Er schien zu spüren, das Andrej diese Frage fast gegen seinen Willen entschlüpft war.

»Ich fürchte, er ist uns entkommen«, sagte er.

»Zusammen mit einigen anderen Gefangenen. Nicht vielen. Vielleicht zwanzig oder dreißig. Wir werden sie wieder einfangen, das steht außer Zweifel. Ich kann die Jagd auf ihn natürlich auch einstellen lassen. Das liegt ganz bei dir.«

»Was stört mich dieser Heide?«, fragte Andrej. Tepeschs Blick nach zu urteilen log er nicht überzeugend.

»Was verdammt noch mal willst du von mir?«

»Dich«, antwortete Dracul.

»Dein Geheimnis, Vampyr. Ich will so werden wie du.«

»Das ist unmöglich«, antwortete Andrej. Er war nicht wirklich überrascht. Jeder, der sein Geheimnis erfuhr, stellte früher oder später diese Forderung.

»Und selbst wenn es nicht so wäre ...«

»... würdest du lieber sterben, ehe du mich ebenfalls zu einem Unsterblichen machen würdest, ja, ja, ich weiß.« Tepesch klang gelangweilt.

»Wir haben dieses Gespräch schon einmal geführt ... oder sagen wir: Du hast es geführt, mit Vlad.«

»Vlad?«

»Mein treuer Diener, der dann und wann in meine Rolle schlüpft. Er heißt tatsächlich so. Das ist einer der Gründe, aus denen ich ihn ausgewählt habe. Menschen hängen an ihren Namen. Manchmal kann ein Zögern von der Dauer eines Lidzuckens über die Glaubhaftigkeit einer Lüge entscheiden.«

»Du bist ein Lügner«, beharrte Andrej.

»Warum sollte ich dir trauen?«

»Weil du gar keine andere Wahl hast«, antwortete Tepesch.

»Und weil ich dir das Leben gerettet habe.« Wieder wartete er einen Moment vergeblich auf eine Antwort. Er ging zur Tür, sah durch die vergitterte Klappe hinaus und bewegte sich schließlich zum Fenster, alles auf eine Art, die Andrej klarmachte, wie sehr er darauf wartete, das Andrej von sich aus eine Frage stellte. Andrej dachte nicht daran. Er bedauerte es bereits, überhaupt mit ihm gesprochen zu haben. Was für Draculs Doppelgänger galt, das galt für den wirklichen Vlad Tepesch umso mehr: Er war ein Mann, dessen Redegewandtheit seiner Grausamkeit kaum nachstand. Es war gefährlich, sich mit diesem Mann auf eine Diskussion einzulassen. Dracul hatte die unheimliche Fähigkeit, einen vergessen zu lassen, was für ein Ungeheuer er war. Nach einer Ewigkeit fuhr Tepesch in vollkommen verändertem Ton, leise, fast wie an sich selbst gewandt, fort:

»Wie lange kennen wir uns, Andrej Deläny? Du glaubst, wenige Tage, habe ich Recht? Aber das stimmt nicht.« Er drehte sich um, schüttelte den Kopf und lehnte sich neben dem Fenster gegen die Wand.

»Ich kenne dich erst seit wenigen Tagen, aber ich weiß seit langer Zeit, das es Menschen wie dich gibt.« War es Zufall, dachte Andrej verwirrt, das er den Begriff Menschen benutzte - oder auch jetzt wieder nur Berechnung?

»Und seit ich von euch weiß, bin ich auf der Suche nach euch. Du hast mich als Vlad, den Zigeuner, kennen gelernt, und es ist mehr von ihm in mir, als du vielleicht ahnst. Ich bin ein Herrscher. Ein Krieger wie du, Andrej. Ich beherrsche dieses Land und ich bin der Herr über Leben und Tod all seiner Bewohner. Aber eigentlich gehöre ich nicht hierher. Mein Leben lang war ich auf der Suche, Deläny. Auf der Suche nach meiner wahren Bestimmung und nach meinem Volk. Jetzt habe ich es gefunden.«.

»Bist du deshalb zu einem solchen Ungeheuer geworden?«, fragte Andrej.

»Du hältst mich für ein Ungeheuer?« Tepesch wirkte nachdenklich. »Ja, ich glaube, viele halten mich dafür. Vlad, den Pfähler - so nennen sie mich, glaube ich.«

»Das habe ich auch gehört«, sagte Andrej spöttisch.

»Obwohl ich mir gar nicht vorstellen kann, wieso.«

»Hast du dich nie gefragt, warum ich das tue?«, fragte Tepesch.

»Weil du krank bist?«, schlug Andrej vor.

»Weil Schmerz der Schlüssel ist«, antwortete Tepesch.

»Vlad, der Zigeuner, hat die Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, alles über dein Volk zu wissen, was es zu wissen gibt, Deläny. Es ist der Tod, der einen Menschen zu dem macht, was ihr seid. Tod und Schmerz. Nur, wer die vollkommene Qual kennen gelernt und den Tod berührt hat, kann die Unsterblichkeit erringen.« Andrej starrte sein Gegenüber vollkommen fassungslos an.

»Das ist ...«

»... die Wahrheit!«, unterbrach ihn Tepesch.

»Und du weißt es! So wurdest du zu dem, was du bist, und der junge auch. Du wurdest krank und bist gestorben, und Frederic wurde schwer verbrannt, bevor er starb. Ihr beide wart dem Tode so nahe, wie es nur möglich ist. Das ist das Geheimnis! Deshalb erforsche ich den Schmerz! Wann ist ein Mensch dem Tode näher als im Augenblick der höchsten Qual, wenn er sich wünscht, zu sterben, um endlich erlöst zu werden - und sich zugleich noch immer an das Leben klammert, trotz aller Qual, trotz aller Furcht und Verzweiflung? Wann sind Leben und Tod enger beisammen als in diesem Moment?« Andrej war erschüttert. Aus Tepeschs Worten sprach nichts anderes als der blanke Wahnsinn, aber zugleich auch eine grässliche Wahrheit.

»Wie viele Menschen hast du deshalb zu Tode gequält, du Wahnsinniger?«, fragte er.

»Welche Rolle spielt das?«, fragte Tepesch.

»Wie viele Männer hast du getötet, Deläny?«

»Das ist etwas anderes«, sagte Andrej, aber Tepesch lachte nur. Wann hatte es je Sinn gehabt, mit einem Wahnsinnigen zu diskutieren?

»Ach?«, fragte Tepesch.

»War es das? Natürlich, es ist etwas anderes, es selbst zu tun, und Ausreden und Gründe sind schnell zu finden. Du bist nicht besser als ich, Deläny. Wir beide haben Menschen getötet und es spielt keine Rolle, warum wir es getan haben. Sie sind tot, das allein zählt.«

»Dann habe ich einen Vorschlag für dich«, sagte Andrej böse.

»Lass uns zusammen in deinen Folterkeller gehen, und wir finden heraus, ob du Recht hast.«

»Du glaubst, ich würde den Schmerz fürchten?« Tepesch lachte.

»Du Dummkopf! Wie könnte ich zu einem Meister der Pein werden, ohne sie zu kennen und zu lieben?« Er zog einen schmalen, doppelseitig geschliffenen Dolch aus dem Gürtel, schlug den linken Ärmel seines weißen Hemdes hoch und begann, einen doppelt fingerbreiten Streifen Haut von seiner Schulter bis zum Ellbogengelenk abzuschälen. Seine Mundwinkel zuckten vor Qual, aber über seine Lippen kam nicht der mindeste Schmerzenslaut.

»Du bist ja wahnsinnig«, flüsterte Andrej.

»Vielleicht«, sagte Tepesch. Hellrotes Blut lief an seinem Arm hinab und tropfte am Handgelenk hinunter zu Boden. Er lachte. Langsam steckte er das Messer ein und kam näher.

»Aber was ist schon Wahnsinn? Was ist ein Menschenleben wert, Deläny? Ist dein Leben mehr wert als meines, oder meines weniger als das deines Freundes?« Er schüttelte heftig den Kopf.

»Hattest du ein größeres Recht zu leben als der Mann, vor dem ich dich gerettet habe?« Andrejs Hände begannen zu zittern. Er konnte sich kaum mehr zurückhalten, sich auf Tepesch zu stürzen, die Hände um seinen Hals zu legen und zuzudrücken. Nein. Mehr. Plötzlich erwachte eine düstere, furchtbare Gier ihn ihm. Er wollte ....... ihn packen. Ihn an sich reißen und die Zähne in seinen Hals schlagen. Seine Haut und sein Fleisch zerreißen und sein süßes Blut trinken, das verruchte Leben aus seinem Leib saugen, um ... Es kostete ihn unvorstellbare Mühe, einfach stehen zu bleiben. Dracul stand jetzt fast unmittelbar vor ihm. Der Geruch seines Blutes, süß, klebrig, düster und zugleich unvorstellbar verlockend, schien überall zu sein, trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er hob die Hände, unfähig, die Bewegung zu unterdrücken. Tepeschs Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Speichel sammelte sich unter seiner Zunge und lief in dünnen, klebrigen Fäden aus seinen Mundwinkeln und an seinem Kinn hinab. Er vernahm einen tiefen, dumpfen Laut, ein Geräusch wie das drohende Knurren eines Wolfes, und er begriff mit ungläubigem Entsetzen, das dieser Laut aus seiner eigenen Kehle kam. Tepeschs Augen leuchteten auf und Andrej packte ihn, riss ihn mit brutaler Kraft an sich, seine Zähne näherten sich seiner Kehle Und dann stieß er Tepesch mit solcher Gewalt von sich, das er quer durch den Raum geschleudert wurde und so wuchtig gegen die Wand neben der Tür prallte, das er mit einem Schmerzensschrei zu Boden ging. Auch Andrej taumelte rücklings gegen die Wand und sank zitternd in die Knie. In ihm tobte ein Kampf. Die Gier war noch immer da, schlimmer als je zuvor, ein tobendes Ungeheuer, das seinen Willen zu einem wimmernden Nichts degradierte und für nichts anderes Platz ließ als den Wunsch - den Befehl! - sich auf Tepesch zu stürzen und ihn zu zerreißen. Eine Gier, die ihn entsetzte und erschreckte und ihn vor Ekel aufschreien ließ. Er nahm seine Umgebung wie durch einen blutigen Nebel wahr. Von weit her sah er, wie die Tür aufgestoßen wurde und Männer hereingestürmt kamen, angelockt durch seinen eigenen und Tepeschs Schrei. Dracul rief etwas, was er nicht verstand, und die Männer blieben stehen, dann senkte sich der rote Nebel auch über diese Bilder und er trieb durch eine brodelnde Unendlichkeit, die aus nichts anderem als schierer Qual und unbefriedigter Gier zu bestehen schien. Schließlich obsiegten Erschöpfung und Schwäche. Er sank zurück und das brodelnde Feuer in seinem Inneren erlosch, weil es sich selbst verzehrt hatte. Die Anstrengung, den Kopf zu drehen und die Lider zu heben, überstieg den winzigen Rest von Kraft, der noch in ihm war. Tepesch lag neben ihm auf den Knien. Die große Wunde auf seinem Arm blutete noch immer; es konnte nicht viel Zeit vergangen sein. Sie waren wieder allein. Andrej sah aus den Augenwinkeln, das die Tür offen stand, aber die Wachen waren fort.

»Warum wehrst du dich?«, fragte Tepesch.

»Warum weigerst du dich, anzunehmen, was du bist?«

»Du ... Narr«, murmelte Andrej.

»Willst du ... sterben? Geh ... solange du es ... noch kannst.«

»Du brauchst keine Furcht zu haben«, sagte Tepesch.

»Dem Jungen wird nichts geschehen, und dir auch nicht. Ich habe meinen Männern befohlen, euch gehen zu lassen, sollte ich sterben.« Andrej antwortete nicht. Er konnte es nicht. Schwäche hüllte ihn ein wie etwas Schweres, Greifbares, etwas, das ihn in einen Abgrund reißen und verzehren wollte. Und in ihm, tief, unendlich tief in ihm, war noch immer diese fürchterliche Gier, etwas, vor dem er entsetzliche Angst und noch größeren Abscheu empfand und das doch zu ihm gehörte. Tepesch stand auf und entfernte sich ein paar Schritte. Andrej hörte ein Scharren, dann das Reißen von Stoff. Es verging eine geraume Weile, bis er sich aufsetzen und Tepesch ansehen konnte, ohne Gefahr zu laufen, sich sofort auf den Fürsten zu stürzen und ihm den Kehlkopf durchzureißen. Tepesch hatte sich auf einen Stuhl sinken lassen und ein paar Streifen aus seinem Hemd gerissen, um sich selbst einen notdürftigen Verband anzulegen. Obwohl die Wunde nicht sehr tief war, war sie doch großflächig und blutete stark, denn auch der Verband hatte sich bereits wieder dunkelrot gefärbt. Als er Andrejs Blick auf sich ruhen spürte, drehte er sich zu ihm herum und lächelte dünn.

»Verzeiht meine Schwäche, Deläny«, sagte er spöttisch.

»Aber meine Wunden heilen nicht ganz so schnell wie Eure.« Andrej richtete sich mühsam auf, mußte sich aber sofort wieder gegen die Wand in seinem Rücken sinken lassen. Er fühlte sich matt und ausgelaugt, als hätte er den schwersten Kampf seines Lebens hinter sich. Vielleicht traf das ja auch zu..

»Warum?«, murmelte er schwach.

»Weil ich dich brauche, du Narr!«, antwortete Tepesch heftig.

»Und du mich!«

»Ich brauche dich nicht«, murmelte Andrej.

»Ich brauche nicht einmal dein Blut!« Tepesch lachte.

»Ich habe alles, was du willst«, sagte er.

»Den Jungen. Domenicus. Seine Schwester! Willst du Biehlers Kopf? Du kannst ihn haben.«

»So weit waren wir schon«, sagte Andrej müde.

»Und wir werden noch oft so weit sein, bis du begreifst, das wir einander brauchen!«, antwortete Tepesch.

»Ich habe alles, was du willst! Ich könnte dir drohen, aber das will ich nicht. Ich will, das du freiwillig zu mir kommst.«

»Warum? Um dich unsterblich zu machen? Damit du weitere hundert Jahre lang Menschen schinden kannst?«

»Das bräuchte ich nicht mehr, würde ich dein Geheimnis kennen«, antwortete Tepesch.

»Ist das alles, was du willst? Das der Pfähler aufhört zu pfählen? Du hast mein Wort. Reite an meiner Seite, Deläny, und es wird keine Pfähle mehr geben! Wozu brauche ich den Schmerz, wenn ich dich habe?«

»Und wozu?«

»Du hast es gesehen«, antwortete Tepesch.

»Du und ich, wir können dieses Land von der Geißel der türkischen Invasion befreien. Wir können die christlichen Heere gemeinsam anführen. Du hast mit eigenen Augen gesehen, wie wir die Heiden in die Fluch geschlagen haben.«

»Du kämpfst für das Christentum? Wer soll dir das glauben?«

»Es spielt keine Rolle, warum ich es tue«, sagte Tepesch zynisch.

»Und wenn ich weitere Menschen töte - was stört es dich? Wie viele kann ich töten, selbst in hundert f Jahren Fünftausend? Das ist nichts gegen die Opfer, die auch nur eine einzige Schlacht kostet.«

»Dann nimm die Verbündeten, die du schon hast«, sagte Andrej. »Ich will sie nicht!«, sagte Tepesch mit unerwartetem Nachdruck. »Du hältst mich für böse? Du kennst Domenicus nicht und dieses ... Ungeheuer, das an seiner Seite reitet. Selbst ich habe Angst vor ihnen.«

»Wie furchtbar«, sagte Andrej.

»Sie glauben mich zu brauchen«, fuhr Tepesch unbeeindruckt fort. »Wenn das nicht mehr so ist, werden sie mich töten. Oder ich sie.«

»Und was wäre anders, wenn ich an deiner Seite reiten würde?« Tepesch starrte ihn eine Weile wortlos an, dann stand er mit einem so plötzlichen Ruck auf, das Andrej zusammenschrak.

»Du willst einen Vertrauensbeweis?«, fragte er.

»Also gut. Du wirst ihn bekommen. Morgen früh, bei Sonnenaufgang.«

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