Es dämmerte, als er sich der Rückseite der Burg näherte. Waichs sah mehr denn je aus wie ein Schatten, dem es gelungen war, Substanz zu gewinnen. Obwohl aus der Burg mannigfaltige Geräusche herüberwehten, hatte Andrej das Gefühl, von einer unheimlichen, lastenden Stille umgeben zu sein, die alles, was er hörte, auf sonderbare Weise unwirklich werden ließ, so dünn und zerbrechlich, als hätte es plötzlich einen Teil seiner Bedeutung verloren. Gleichzeitig schienen sich seine Sinne jedoch deutlich geschärft zu haben: Er hörte Stimmfetzen und raues Gelächter aus der Burg, das Prasseln von Feuer und etwas wie eine Melodie, die jemand ziemlich schlecht auf einer Laute spielte, die noch dazu verstimmt war. Aber er hörte auch die vielfältigen Geräusche des Waldes: das Flüstern des Windes in den Baumwipfeln, das Knacken der Zweige, das Rascheln der Tiere, die sich im Laub bewegten, irgendwo das Rufen eines Nachtvogels ... Er war sicher, das er selbst das Rascheln der Ameisen und die leisen Grabgeräusche der Würmer unter der Erde gehört hätte, hätte er sich nur ausreichend darauf konzentriert. Es war unheimlich. Mehr noch: Es machte ihm Angst.
Diese unheimliche Sinnesschärfe hatte begonnen, als die Sonne untergegangen war, und sie nahm weiter zu, je dunkler es wurde. Etwas von dieser Dunkelheit schien nun auch in ihm zu sein. Er war zu einem Geschöpf der Nacht geworden. Andrej schüttelte den Gedanken mit einiger Mühe ab und sah wieder zur Burg. Er hatte sich Waichs von der Rückseite her genähert und befand sich nun unweit der Stelle, zu der Tepesch sie vor zwei Tagen geführt hatte. Ganz kurz hatte er sogar daran gedacht, den verborgenen Einstieg zu suchen und Waichs auch diesmal durch den unterirdischen Gang zu betreten, sich dann aber dagegen entschieden. Er glaubte nicht daran, das Tepesch den Gang in eine Todesfalle verwandelt hatte, wie Abu Dun es anzunehmen schien. Für einen Mann wie Vlad Dracul war dieser Fluchttunnel viel zu wertvoll. Tepesch mußte nur die einfache Bewegung ausführen, die notwendig war, um einen Riegel vorzulegen. Die Tür war massiv genug, um den Raum am Ende des Geheimganges in eine unentrinnbare Falle zu verwandeln. Es gab nur zwei Wege in die Burg hinein: Durch das Tor oder über die Mauer. Andrej hatte sich für den Weg über die Mauer entschieden; schon, weil es der eindeutig schwerere Weg war und niemand erwartete, das jemand auf diese Weise in die Festung eindrang. Die Mauern waren annähernd acht Meter hoch und vollkommen senkrecht. Früher einmal waren sie glatt verputzt gewesen, aber Waichs war alt; mehrere Generationen lang hatten der Wechsel der Jahreszeiten und das räuberische Wetter Zeit gehabt, an ihren Mauern zu nagen.
Andrej war ein guter Kletterer. Er war sicher, das es ihm gelingen würde, die Mauer unbemerkt zu ersteigen. Hinter den zerfallenen Zinnen patrouillierten Wachen, die ihn nicht schrecken konnten. Andrej wußte, wie Männer auf einer Nachtwache dachten und handelten. Solange er kein verräterisches Geräusch machte, würde niemand stehen bleiben und sich über eine mehr als anderthalb Meter dicke Mauer beugen, um senkrecht in die Tiefe zu sehen. Es war zu unbequem. Der einzig wirklich gefährliche Moment war der, in dem er den Streifen deckungsloses Gelände zwischen dem Waldrand und der Burg überqueren mußte. Er wartete, bis der Posten auf der ihm zugewandten Seite am Ende seines Weges angelangt war, eine kurze Pause einlegte und kehrtmachte, dann huschte er geduckt los und rannte zur Burgmauer. Seine dunkle Kleidung schützte ihn; er bewegte sich so gut wie lautlos. Kein Alarmruf gellte durch die Nacht, es wurden keine Fackeln geschwenkt; das große Tor blieb geschlossen. Andrej presste sich mit dem Rücken gegen den rauen Stein, lauschte in sich hinein und wartete, bis sich sein hämmernder Pulsschlag beruhigt hatte. Dann drehte er sich herum, tastete mit Finger- und Zehenspitzen nach Halt und begann zu klettern. Andrej war selbst ein wenig erstaunt, wie leicht es ihm fiel. Er war im Klettern geübt gewesen, aber nun erklomm er die Wand beinahe ohne Mühe. Seine Einschätzung war richtig gewesen: Der Mauerverputz existierte nur noch in zerbröckelnden Resten, sodass seine Finger und Zehen überall Halt fanden. So schnell, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan, kroch er die acht Meter hohe Wand hinauf und hielt dicht unterhalb der Zinnenkrone inne. Er konnte die Schritte des Wachtpostens über sich deutlich hören, ja, er konnte fast genau sagen, wo er sich befand und in welchem Tempo er sich näherte. Sogar den Atem des Mannes hörte er. Diese neu gewonnenen Fähigkeiten erstaunten ihn. Es war mehr von dem Vampyr in ihm, als er bisher gewusst hatte, und er fragte sich fast ängstlich -, was geschehen mochte, wenn er diese Kräfte wirklich entfesselte. Er würde es erleben.
Als die Schritte des Mannes sich wieder entfernten, zog er sich in die Höhe und mit einer kraftvollen Bewegung über die Mauerkrone. So lautlos dies vonstatten gegangen war, er mußte doch ein verräterisches Geräusch gemacht haben, denn die Wache hielt mitten im Schritt inne und fuhr erschrocken herum. Andrej zögerte nicht. Mit einer blitzschnellen Bewegung war er bei ihm, presste ihm eine Hand über Mund und Nase und tastete mit der anderen nach der empfindlichen Stelle an seinem Hals. Seine Fingerspitzen fanden einen bestimmten Nervenknoten und drückten zu. Der Mann erschlaffte in seinen Armen und brach zusammen wie eine Marionette, deren Fäden man durchschnitten hatte. Andrej fing ihn instinktiv auf, ließ ihn fast sanft zu Boden sinken und tastete nach seinem Puls. Der Mann lebte, befand sich aber in tiefer Bewusstlosigkeit. Vollkommen verblüfft starrte Andrej abwechselnd den Bewusstlosen und seine eigenen Hände an. Er hatte nicht gewusst, was er tat, er hatte es einfach getan, so selbstverständlich, wie er einen Fuß vor den anderen setzte oder ein- und ausatmete. Er horchte in sich hinein. Wozu war er noch fähig? Obwohl Andrej sicher war, das der Mann eine ganze Weile lang bewußtlos bleiben würde, fesselte er ihn sorgfältig und verpasste ihm noch einen sicheren Knebel. Erst dann huschte er geduckt zum Ende des Wehrganges und warf einen langen, prüfenden Blick in den Burghof hinab. Er erkannte jetzt Einzelheiten und Details, die ihm bei seinem letzten Aufenthalt noch nicht aufgefallen wären. Hätte ihn der Gedanke nicht zu sehr erschreckt, wäre er zu dem Schluss gekommen, das er nachts besser sehen konnte als am Tage. Der Burghof unter ihm war fast leer. Der Stapel mit Beutegut war noch einmal gewachsen, und neben dem Tor lehnte ein einsamer Wächter an der Wand und kämpfte darum, nicht einzuschlafen. Zwei weitere Männer patrouillierten auf den Wehrgängen, waren aber viel zu weit entfernt, um ihn bei der herrschenden Dunkelheit zu erkennen. Sicher gab es auch Posten hinter den Turmfenstern, doch auch sie stellten keine Gefahr dar.
Aus dem Hauptgebäude drangen gedämpfte Stimmen, und zwei Fenster waren schwach erleuchtet, aber im Großen und Ganzen schien Waichs bereits zu schlafen. Ganz weit entfernt, selbst für seine überscharfen Sinne kaum noch wahrnehmbar, glaubte er Schreie zu hören. Dann sah er etwas, das seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Der Käfig, in den sie Vater Domenicus gesteckt hatten, hing an einer Kette unweit des Tores zwei Meter über dem Boden, und er war nicht leer. Vater Domenicus lag gekrümmt auf den rostigen Gitterstäben. Andrej konnte nicht sagen, ob er noch lebte. Er empfand nicht eine Spur von Mitleid, aber sein Gesicht verdüsterte sich noch weiter. Hatte er wirklich geglaubt, dass Tepesch sein Wort hielt? Maria. Tepesch hatte versprochen, auch Maria kein Haar zu krümmen. Andrej überlegte in den Hof hinunterzugehen und die Wache am Tor zu überwältigen, entschied sich aber dagegen. Mit jedem ausgeschalteten Soldaten stieg auch die Gefahr, entdeckt zu werden. Ein unaufmerksamer Posten war besser als einer, der plötzlich verschwunden war und dessen Fehlen bemerkt werden konnte. Stattdessen wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung und huschte zum anderen Ende des Wehrganges, wobei er geschickt jeden Schatten als Deckung ausnutzte und sich vollkommen lautlos bewegte. Die Tür, vor der der Wehrgang endete, führte in den großen Hauptturm der Festung und war von innen verschlossen, wie Andrej erwartet hatte, doch vier oder fünf Meter über ihm gab es zwei Fenster; schmal, aber nicht so schmal, dass er sich nicht hindurchzwängen konnte. Nach einem letzten sichernden Blick in den Burghof kletterte er hinauf, zwängte sich mit einiger Mühe durch die schmale Öffnung und fand sich in einer kleinen, unbeleuchteten Kammer wieder. Er hatte abermals Glück.
Die Tür war nicht verschlossen, und auch der schmale Gang dahinter war leer. Der Position des Fensters nach zu schließen, durch das er eingestiegen war, mussten sich Tepeschs Privatgemächer direkt über ihm befinden. Er konnte nur hoffen, dass sich Maria und Frederic noch dort oben aufhielten. Die Zeit, die gesamte Burg zu durchsuchen, hatte er nicht. Andrej schlich bis zum Ende des Ganges, blieb einen Moment stehen und lauschte. Vor ihm lag eine Treppe. Alles schien vollkommen still zu sein. Dann hörte er die regelmäßigen Atemzüge eines Mannes, der offensichtlich dort oben Wache hielt; nicht allzu weit entfernt, aber eindeutig zu weit, um ihn überraschen zu können, ohne dass er Gelegenheit fand, einen Schrei auszustoßen. Andrej sammelte sich kurz, dann betrat er mit einer gelassen wirkenden Bewegung, aber leicht gesenktem Blick, damit man sein Gesicht nicht sah, die Treppe. Er hatte sich getäuscht. Diesmal hatten ihn seine neu erworbenen Sinne im Stich gelassen. Die Treppe endete nach etwa fünfzehn Stufen vor einer geschlossenen Tür und davor standen nicht ein, sondern zwei Männer. Er legte fast ein Drittel der Entfernung zurück, ehe einer der beiden ihn ansprach.
»Heda! Wer bist du? Was willst du hier? Der Fürst ist nicht da.«
»Ich weiß«, antwortete Andrej, ohne den Kopf zu heben. Er ging schnell, aber ohne sichtbare Hast weiter und versuchte, die Männer aus den Augenwinkeln zu begutachten, ohne sie direkt anzusehen. Er war sicher, dass jeder Mann hier auf der Burg sein Gesicht kannte. Die beiden wirkten überrascht und leicht angespannt, aber nicht beunruhigt.
»Tepesch hat mich geschickt. Ich soll das Mädchen holen.«
»Welches Mädchen? Wie ...« Andrej war nahe genug. Mit einer vollkommen geschmeidigen Bewegung schnellte er vor und war plötzlich zwischen den Männern. Er sah, wie sich die Augen des einen vor Entsetzen weiteten, als er ihn erkannte, während der andere nach seiner Waffe griff. Ihre Bewegungen erschienen ihm langsam. Andrej schlug dem einen die Handkante vor den Adamsapfel. Noch während der Mann würgend und nach Luft ringend zusammenbrach, packte er das Handgelenk des zweiten und verdrehte es mit einem Ruck. Andrej tastete mit der anderen Hand nach seinem Hals ... Und zog die Finger im letzten Moment wieder zurück.
»Das Mädchen!«, fragte er scharf.
»Die Schwester des Inquisitors! Wo ist sie?« Der Mann wimmerte vor Schmerz, antwortete aber nicht, sondern sah ihn nur aus entsetzten Augen an. Andrej verstärkte den Druck auf seine Hand noch und der Soldat ächzte.
»Sprich!«
»Das darf ich nicht«, wimmerte der Posten.
»Tepesch wird mich töten!«
»Töten?« Andrej lachte.
»Das ist nichts. Du weißt, wer ich bin?« Er hob die rechte Hand, krümmte die Finger zu einer Kralle und tat so, als wolle er sie dem Mann in die Augen schlagen.
»Dann weißt du auch, wozu ich fähig bin!«
»Nein«, wimmerte der Soldat.
»Bitte nicht! Sie ist in Tepeschs Gemach. Die Tür am Ende des Ganges.«
»Wie viele Wachen? Rede!«
»Keine«, wimmerte der Mann.
»Das ist die Wahrheit! Der Fürst duldet keine Männer mit Waffen in seiner Nähe, wenn er sich zurückzieht.« Andrej griff nun doch nach seinem Hals und drückte kurz und hart auf den Nervenknoten. Der Mann brach wie vom Blitz getroffen zusammen. Andrej verzichtete darauf, ihn zu fesseln, ging jedoch noch einmal zu dem zweiten Wachtposten zurück, um ihn auf den Rücken zu drehen. Der Mann war tot. Es war nicht Andrejs Schlag gewesen, der ihn getötet hatte. Er war etliche Stufen weit die Treppe hinuntergestürzt und hatte sich den Schädel eingeschlagen. Andrejs Hände begannen zu zittern. Das Gesicht des Toten war rot von Blut, das aus einer tiefen Wunde an seiner Stirn quoll. Der Anblick brachte ihn fast um den Verstand. Die Gier war wieder da. Für einen Moment wollte er nichts mehr, als die Lippen auf diesen pulsierenden Storm zu pressen, die bittere Süße aufzusaugen und das Blut und die erlöschende Lebenskraft des Mannes aus ihm herauszureißen. Was machte es schon? Der Mann starb sowieso und es war nicht schlimm, wenn er seine Lebenskraft nahm, die ohnehin verloren war und verblassen würde. Es gelang ihm nur mit größter Mühe, die Schultern des Toten loszulassen und sich aufzurichten. Er widerstand der brodelnden Gier, aber nur mit allerletzter Kraft. Andrej ging wieder nach oben, öffnete die Tür und fand sich in dem schwach erhellten Gang wieder, in dem er bei seinem ersten Aufenthalt gewesen war. Es gab keine weiteren Wachen, aber er hörte ein leises Schluchzen, das durch die geschlossene Tür am anderen Ende des Ganges drang. Andrej bewegte sich im Laufschritt weiter, riss vergeblich an der Tür und stellte erst dann fest, dass der Riegel von außen vorgelegt war. Mit einer ungeduldigen Bewegung schleuderte er ihn zur Seite und stieß die Tür auf. Diesmal entrang sich seiner Kehle tatsächlich ein Schrei. Der große Raum wurde von mindestens fünfzig Kerzen erleuchtet, deren Licht in Andrejs empfindlich gewordenen Augen schmerzte. Im Kamin brannte ein gewaltiges Feuer, das die Luft im Raum unangenehm warm und fast schon stickig werden ließ. Zuerst glaubte er, der Posten hätte gelogen und Tepesch selbst stünde hinter der Tür und warte auf ihn. Dann erkannte er, dass es nur seine leere Rüstung auf einem aus Holz gezimmerten Ständer war. Außer ihm befand sich nur noch Maria im Zimmer. Sie lag auf Draculs übergroßem Bett und war beinahe nackt. Als sie das Geräusch der Tür hörte, fuhr sie erschrocken hoch und raffte die Decken zusammen, um ihre Blöße zu bedecken. Sie weinte. Ihr Haar war aufgelöst. Die rechte Seite ihres Gesichts war gerötet und begann bereits anzuschwellen. Unter ihrer Nase und auf der Oberlippe klebte ein wenig getrocknetes Blut. Andrej war mit wenigen schnellen Schritten bei ihr. Maria schien ihn jedoch gar nicht zu erkennen, denn sie prallte entsetzt vor ihm zurück, zog die Knie an den Leib und krallte beide Hände in das Bettlaken, das sie bis ans Kinn hochgezogen hatte. In ihren Augen flackerte eine Furcht, die die Grenzen zum Wahnsinn vielleicht schon überschritten hatte.
»Maria!« Andrej streckte die Hand nach ihr aus, aber sie schrak nur noch heftiger zusammen. Aus ihrem Weinen war ein krampfhaftes, gequältes Schluchzen geworden.
»Maria, bitte!« Andrej ließ sich behutsam auf die Bettkante sinken und zog den Arm weiter zurück. Er ließ die Hand halb ausgestreckt, in einer helfenden Geste, die es ihr überließ, danach zu greifen. Maria hörte auf zu schluchzen, aber sie zitterte so heftig, dass das gesamte Bettgestell zu beben begann. Ihr Blick flackerte. Für die Dauer eines Atemzuges wusste Andrej, dass sie ihn nicht erkannte. Dann schrie sie plötzlich auf und warf sich mit solcher Wucht gegen ihn, dass er um ein Haar von seinem Platz auf der Bettkante gestürzt wäre. Sie begann wieder zu weinen, lauter und heftiger als zuvor, aber nun war es nicht mehr dieses krampfhafte, schmerzerfüllte Schluchzen, das sie schüttelte. Es waren andere Tränen; Tränen der Erleichterung, die den Schmerz nicht wegspülten, es aber ein wenig leichter machten, ihn zu ertragen. Andrej hielt sie fest, bis sie ganz allmählich aufhörte zu zittern und ihre Tränen versiegten. Es dauerte lang. Andrej wusste nicht, wie lange, aber es verging viel Zeit. Endlich, nach einer Ewigkeit, löste sich Maria wieder aus seiner Umarmung und rutschte ein Stück von ihm weg.
»Tepesch?«, fragte er leise. Natürlich Tepesch. Wer sonst?
»Ich habe versucht, mich zu wehren«, sagte Maria.
»Aber er ist stark. Ich konnte nichts tun.«
»Dafür werde ich ihn töten«, sagte Andrej. Er meinte es ernst.
»Er hat mich hier raufgeschafft«, fuhr Maria fort, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört.
»Er hat gesagt, ich bräuchte keine Angst zu haben. Dann kam er zurück. Seine Hände waren voller Blut. Ich habe mich gewehrt, aber er war einfach zu stark.« Was sollte er sagen? Ganz gleich, welche Worte er gewählt hätte, sie hätten in ihren Ohren nur wie bitterer Hohn geklungen. So sah er sie nur an und wartete darauf, dass sie von sich aus weitersprach, aber Maria erwiderte lediglich stumm seinen Blick. Schließlich erhob sie sich und ging um das Bett herum zum Fenster. Es lag eine Art stumme Resignation darin, die ihren Schmerz vielleicht deutlicher zum Ausdruck brachte, als alle Tränen und jedes Wort gekonnt hätten. Tepesch hatte ihr alles genommen. Es gab nichts mehr, was sie noch hätte verteidigen können. Noch einmal, und diesmal mit einer kalten Entschlossenheit, nahm er sich vor, Tepesch zu töten. Maria starrte weiter aus dem Fenster auf den Hof hinab. Der Gitterkäfig mit Domenicus hing fast in gerader Linie unter dem Fenster, auf der anderen Seite des Hofes. Andrej bezweifelte, dass ihr Sehvermögen ausreichte, um jetzt mehr als Dunkelheit und Schatten dort unten zu erkennen, aber sie hatte den ganzen Tag über Zeit gehabt, aus diesem Fenster zu sehen. Aus keinem anderen Grund hatte Tepesch sie hier oben eingesperrt, statt in irgendeinem anderen Zimmer der Burg.
»Er wird dafür bezahlen«, sagte er leise.
»Aber zuerst bringe ich dich hier raus. Draußen vor dem Tor wartet ein Freund, der dich wegbringt.« Sie starrte noch eine endlose Weile aus dem Fenster, dann drehte sie sich wiederum, ging zum Bett zurück und griff nach ihren Kleidern.
»Weißt du, wo Frederic ist?«, fragte er, wieder zum Fenster gewandt.
»Nein. Er hat mich gleich hier raufgebracht, nachdem du gegangen warst. Aber kurz darauf hat er Männer losgeschickt, die dich suchen und töten sollten. Ich bin froh, dass sie dich nicht gefunden haben.«
»Weißt du, wie viele Männer in der Burg sind?«
»Er hat es mir nicht gesagt. Aber als er vorhin zu mir kam, da schäumte er vor Wut. Ich glaube, es ist ein weiteres osmanisches Heer im Anmarsch. Die meisten Soldaten sind fort, um die Verteidigung der Stadt zu organisieren oder Verstärkung zu holen. Ich glaube nicht, dass noch sehr viele hier sind.« Das würde die geringe Anzahl der Wachen erklären, dachte Andrej. Aber es erklärte nicht die Tatsache, dass Tepesch auf Waichs geblieben war, statt selbst an der Spitze des Heeres zu reiten und sich dem neuen Gegner entgegenzuwerfen. Tepesch war vieles, aber eines gewiss nicht: Ein Feigling.
»Ich bin so weit«, sagte Maria.
»Gut.« Andrej drehte sich um und ging zur Tür, ohne auch nur in ihre Richtung zu sehen.
»Bleib immer dicht hinter mir und sei leise.« Sie verließen den Raum und auch den Flur, ohne jemanden zu treffen. Der Wächter draußen auf der Treppe war noch immer bewusstlos. Auch den Toten hatte noch niemand gefunden. Andrej lauschte, während sie sich rasch nach unten bewegten. Es herrschte fast vollkommene Stille. Einmal glaubte er, ganz weit entfernt einen Schrei zu hören, aber er war auch diesmal nicht sicher. Dann hatten sie das Ende der Treppe und damit die Tür zum Hof erreicht, und Andrej gab Maria ein Zeichen, ein Stück zurückzubleiben und sich still zu verhalten. Er musste länger oben im Turm gewesen sein, als es ihm vorgekommen war, denn in der Burg war es mittlerweile vollkommen still geworden. Das Lachen und die Stimmen waren verstummt. Nur hinter einem einzigen Fenster brannte noch Licht. Trotzdem gestikulierte Andrej noch einmal in Marias Richtung, um ihr zu bedeuten, sie solle stehen bleiben, dann straffte er die Schultern und ging mit selbstbewussten Schritten quer über den Hof. Der Posten bemerkte ihn, noch bevor er die halbe Strecke zurückgelegt hatte, aber wie seine beiden Kameraden vorhin im Turm schöpfte er keinen Verdacht. Warum auch? Er sprach Andrej an, als er noch fünf oder sechs Schritte von ihm entfernt war.
»Was willst du? Schickt dich Fürst Tepesch?«
»Ja«, antwortete Andrej - nachdem er zwei weitere Schritte zurückgelegt hatte.
»Ich soll nach dem Pfaffen sehen. Lebt er noch?«
»Vorhin hat er jedenfalls noch gelebt«, antwortete der Wächter.
»Aber für Tepeschs Folterkammer taugt er nicht mehr. Er würde es nicht einmal ...« Andrej hatte ihn erreicht, trat mit einer fast gelassenen Bewegung neben ihn, dann mit einem blitzartigen Schritt hinter ihn und schlang ihm den linken Arm um den Hals. Mit der anderen Hand hielt er ihm Mund und Nase zu und zerrte ihn gleichzeitig zurück in den schwarzen Schlagschatten des Tores. Der Mann ließ seinen Speer fallen, der klappernd auf das harte Kopfsteinpflaster des Hofes fiel, und begann verzweifelt in Andrejs Griff zu zappeln; aber nur für einen Moment, bis Andrej den Druck verstärkte und er nun endgültig keine Luft mehr bekam.
»Dimitri?« Die Stimme drang von der Höhe des Wehrganges herab. »Ist alles in Ordnung?«
»Wenn du schreist, breche ich dir das Genick«, zischte Andrej.
»Hast du das verstanden?« Der Mann nickte schwach und Andrej nahm langsam die Hand von seinem Gesicht, bereit, jederzeit wieder zuzupacken und seine Drohung wahr zu machen, sollte er auch nur einen verräterischen Laut von sich geben. Er rang jedoch nur keuchend nach Luft.
»Dimitri! Antworte!«
»Tu es«, flüsterte Andrej drohend.
»Beruhige ihn! Mach keinen Fehler!«
»Es ist alles in Ordnung!«, rief der Mann. Seine Stimme klang ein wenig atemlos, aber Andrej hoffte, dass es seinem Kameraden oben auf dem Wehrgang nicht auffiel.
»Mir ist der Speer aus der Hand gefallen. Ich wäre fast eingeschlafen.« Die Antwort bestand aus einem kurzen Lachen.
»Lass dich nicht dabei erwischen.« Dann setzte der Wächter seinen Rundgang fort.
»Du willst also leben«, sagte Andrej.
»Gut. Du scheinst ein vernünftiger Mann zu sein. Ich werde dich jetzt loslassen, aber mein Dolch ist auf dein Herz gerichtet. Wenn du um Hilfe rufst, stirbst du auf jeden Fall.« Er zog das Messer aus dem Gürtel, nahm vorsichtig den Arm vom Hals des Mannes und trat dann hastig einen Schritt zurück. Der Soldat blieb noch einen Augenblick wie erstarrt stehen und drehte sich dann langsam um. Andrej konnte seine Angst riechen.
»Du weißt, wer ich bin?«, fragte Andrej. Dimitri nickte. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren. Er war fast verrückt vor Angst.
»Dann weißt du auch, dass ich dich töten und deine Seele verdammen kann, nur mit einem einzigen Blick.« Dimitri nickte erneut.
»Jetzt bück dich nach deinem Speer«, befahl Andrej.
»Bevor deine Freunde auf der Mauer noch Verdacht schöpfen.« Der Soldat gehorchte, wenn auch langsam und ohne Andrej aus den Augen zu lassen. Wahrscheinlich verstand er nicht, warum er überhaupt noch lebte.
»Wie viele Wächter sind noch da?«, fragte Andrej.
»Drei«, antwortete Dimitri.
»Außer mir. Zwei auf den Mauern und einer oben im Turm.« Das entsprach der Wahrheit, Andrej spürte es. Der Mann hatte viel zu viel Angst, um zu lügen. Einen der Posten oben auf der Mauer hatte er ausgeschaltet, aber gegen die Ausguckwache im Turm konnte er nichts unternehmen. Er vermutete jedoch, dass der Mann seine Aufmerksamkeit auf die weitere Umgebung der Burg konzentrieren würde. In dem fast vollkommen dunklen Hof konnte er ohnehin nichts erkennen.
»Also gut«, sagte er.
»Ruf ihn herunter.«
»Wen?«
»Deinen Kameraden, oben auf der Mauer«, antwortete Andrej.
»Der, mit dem du gerade gesprochen hast. Sag ihm, dass du seine Hilfe brauchst.« Der Mann zögerte einen Moment, drehte sich dann aber hastig herum und rief gehorsam nach seinem Kameraden, als Andrej eine drohende Bewegung mit dem Messer machte.
»Savo! Komm herunter! Ich brauche deine Hilfe!« Er bekam keine Antwort, aber schon bald hörten sie Schritte die hölzernen Stufen hinunterpoltern. Der Mann drehte sich hektisch zu Andrej um.
»Wenn ... wenn du mich tötest, wirst du meine See le dann mit dir in die Hölle nehmen?«, fragte er stockend. Hätten die Worte Andrej nicht bis ins Innerste erschreckt, dann hätte er darüber lachen können. So aber ließen sie ihn schaudern. Es war nicht das Messer in seiner Hand, das den Soldaten zu Tode erschreckt hatte. Er war es. »Du wirst noch lange leben, wenn du vernünftig bist«, antwortete er.
»Du interessierst mich nicht. Mach keinen Fehler, und du wirst leben.« Schritte näherten sich. Eine groß gewachsene Gestalt, selbst für Andrejs scharfe Augen nur als Schatten erkennbar, kam quer über den Hof auf sie zu. Andrej zog rasch das Schwert aus Dimitris Gürtel, wich wieder in den Schatten zurück und wartete, bis der zweite Wachtposten zu ihnen gestoßen war. Es war beinahe zu leicht. Andrej trat aus dem Schatten heraus und hob das Schwert. Der Mann erstarrte mitten in der Bewegung.
»Gut«, sagte Andrej.
»Ich sehe, dass Tepesch nur vernünftige Männer in seiner Umgebung duldet. Wenn ihr vernünftig seid, geschieht euch nichts. Gibt es außer dem Hauptweg durch das Tor noch einen Weg aus der Burg?« Dimitri schüttelte stumm den Kopf, doch Savo tat etwas ziemlich Unüberlegtes: Er stürzte sich auf Andrej. Der machte einen Schritt zur Seite, schlug ihm die flache Seite des Schwertes gegen den Schädel und Savo fiel bewusstlos zu Boden, noch bevor er sein Schwert auch nur halb aus der Scheide gezogen hatte.
»Das war nicht sehr vernünftig«, sagte Andrej, zu Dimitri gewandt. »Ich werde alles tun, was Ihr verlangt, Herr«, sagte Dimitri hastig. »Gut«, antwortete Andrej.
»Wie viele Soldaten sind auf der Burg?«
»Nicht viele«, antwortete Dimitri.
»Fünfundzwanzig, höchstens dreißig. Die meisten schlafen bereits«, fügte er noch ungefragt hinzu.
»Tepesch?«
»Ich weiß nicht, wo er sich aufhält«, behauptete Dimitri. Er würde ihn schon finden. Was im Augenblick zählte, war allein, Maria hier herauszubringen. Er scheuchte Dimitri ein Stück zurück und rief dann mit gedämpfter Stimme Marias Namen. Er musste ihn drei- oder viermal wiederholen, bevor sie reagierte, dann aber kam sie mit schnellen Schritten über den Hof gelaufen. Sie beachtete weder den Bewusstlosen am Boden, noch Andrej oder seinen Gefangenen, sondern starrte den Gitterkäfig an, der in zwei Metern Höhe aufgehängt war.
»Lasst ihn herunter!« Andrej war über diesen Wunsch nicht glücklich, aber er machte trotzdem eine Kopfbewegung in Richtung des Wachmannes. Der trat an eine hölzerne Konstruktion, die unweit des Tors an der Burgmauer befestigt war, und begann an einer Kurbel zu drehen. Es dauerte nicht lang, bis sich der Käfig zu Boden gesenkt hatte.
»Aufmachen«, befahl Andrej. Der Wächter nestelte einen Schlüssel von seinem Gürtel, ließ sich vor dem Käfig auf die Knie fallen und mühte sich mit dem Schloss ab, das schließlich mit einem schweren Klacken aufsprang. Plötzlich stieß Maria einen spitzen Schrei aus, war mit einem Sprung bei ihm und schleuderte ihn zu Boden. Mit bebenden Händen riss sie die Käfigtür auf, beugte sich hinein und versuchte, nach der gekrümmten Gestalt darin zu greifen. Andrej hörte sie scharf einatmen, als sie sich an einem der spitzen Metalldornen verletzte. Als er näher trat, um ihr zu helfen, stieg ihm ein süßlicher Blutgeruch in die Nase. Tief in ihm begann sich etwas zu rühren, ein Hunger, der zu unwiderstehlicher Gier anwachsen würde, wenn er ihm nachgab. Andrej kämpfte das Gefühl mit Mühe nieder, schob Maria mit sanfter Gewalt zur Seite und hob Domenicus’ verkrümmten Körper aus dem Käfig. Er schien fast überhaupt nichts zu wiegen. Noch einmal wurde der Blutgestank so übermächtig, dass er die lodernde Gier in sich nur noch mit letzter Kraft unterdrücken konnte. Mit einem drohenden Blick schleuderte er Dimitri zur Seite, trug Domenicus zwei Schritte weit und legte ihn dann behutsam zu Boden. Der Inquisitor lebte noch. Die spitzen Metalldornen hatten ihm zahlreiche Wunden zugefügt, die sich zum Teil bereits entzündet hatten. Die glühende Sonne hatte seinen Körper ausgezehrt und seine Haut verbrannt. Es kam Andrej fast wie ein Wunder vor, dass er nicht bereits verdurstet war.
»Domenicus«, murmelte Maria entsetzt.
»Oh, mein Gott. Was ... was haben sie dir angetan?«
»Was ihm zusteht«, murmelte Andrej. Maria warf ihm einen zornigen Blick zu, beugte sich aber sofort wieder über ihren Bruder. Andrej bereute plötzlich überhaupt etwas gesagt zu haben. Er empfand keinerlei Rachegelüste mehr beim Anblick des zerschlagenen, wimmernden Bündels, das sterbend in Marias Armen lag. Domenicus hatte den Tod und jede Sekunde Schmerz, die er litt, verdient, aber Andrej empfand bei diesem Gedanken nicht einmal Genugtuung.
»Er stirbt«, schluchzte Maria.
»Andrej, er stirbt! Bitte, tu etwas! Du musst ihm helfen!«
»Das kann ich nicht«, sagte Andrej.
»Ich weiß, was er dir angetan hat«, sagte Maria. Tränen liefen über ihr Gesicht.
»Ich weiß, dass du ihn hassen musst. Aber ich flehe dich an, hilf ihm!«
»Das kann ich nicht, Maria«, sagte Andrej noch einmal.
»Bitte glaub mir. Es hat nichts damit zu tun, was er ist und was er getan hat. Ich hasse ihn nicht. Nicht mehr.« Er schüttelte traurig den Kopf.
»Ich kann es nicht.« Maria hatte seine Worte gar nicht gehört.
»Du kannst von mir haben, was du willst«, sagte sie unter Tränen. »Bitte, Andrej, tu es für mich! Du ... du kannst mich haben. Ich gehöre dir, wenn du es willst, aber ... aber hilf ihm! Rette ihn!«
»Bitte, Maria«, murmelte Andrej. Ihre Worte stimmten ihn traurig, aber sie weckten auch noch etwas in ihm, das ihm nicht gefiel und das er hastig unterdrückte.
»Ich kann es nicht. Was immer dein Bruder dir über mich erzählt hat - ich bin kein Zauberer. Er stirbt.« Er zögerte einen Moment. Obwohl er wusste, dass es ein Fehler war, fuhr er fort:
»Alles, was ich noch für ihn tun kann, ist, sein Sterben zu erleichtern.« Etwas in Marias Blick zerbrach. Es war ein Fehler gewesen. »Du musst ihm helfen«, beharrte sie, nun aber in einem veränderten Ton, der ihm einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Andrej wandte sich an Dimitri. Hätte der Mann schnell genug reagiert, hätte er den Moment nutzen können, um zu fliehen, aber er stand noch immer reglos zwei Schritte entfernt und starrte Andrej und Maria aus geweiteten Augen an.
»Öffne das Tor«, befahl er.
»Das darf ich nicht«, stammelte der Wächter.
»Tepesch wird ...«
»Öffne das Tor und dann lauf, so schnell du kannst«, wiederholte Andrej, eine Spur schärfer.
»In kurzer Zeit lebt hier niemand mehr. Auch dein Herr nicht.« Dimitri starrte ihn noch einmal aus großen Augen an, dann fuhr er herum und stürzte zum Tor. Andrej wandte sich wieder zu Maria um.
»Du musst hier weg. Mehmeds Krieger werden bald hier sein. Ich werde dich nicht schützen können. Ich muss Frederic suchen.« Maria nickte. Sie stand auf und legte in der gleichen Bewegung Domenicus Arm um ihre Schulter, um ihn ebenfalls in die Höhe zu ziehen. Er wimmerte leise vor Schmerz, hatte aber kaum die Kraft dazu.
»Warte«, sagte Andrej.
»Ich helfe dir.« Er trat auf sie zu und wollte nach Domenicus greifen, aber der sterbende Inquisitor entzog sich seiner Hand und versuchte sogar nach ihm zu schlagen.
»Rühr mich nicht an, Hexer!«, würgte er hervor.
»Eher sterbe ich, ehe ich zulasse, dass mich deine gottlosen Hände besudeln.«
»Domenicus!«, sagte Maria.
»Rühr mich nicht an!«, wiederholte ihr Bruder.
»Lieber sterbe ich.« Maria machte einen einzelnen, wankenden Schritt. Sie taumelte unter Domenicus Gewicht, aber sie brachte es fertig, nicht darunter zusammenzubrechen. Noch nicht.
»Abu Dun wartet mit ein paar Männern im Wald hinter der Burg«, sagte Andrej.
»Aber es ist viel zu weit bis dorthin. Er ist zu schwer für dich.«.
»Er ist nicht schwer«, antwortete Maria.
»Er ist mein Bruder.«
»Ich kann ihr helfen, Herr.« Dimitri hatte den schweren Riegel zur Seite gewuchtet und kam zurück. Er atmete schwer. Im ersten Moment kam Andrej dieser Vorschlag vollkommen abwegig vor. Dann aber begriff er, dass der Mann um sein Leben redete. Er hatte gesagt, dass er ihm seine Seele stehlen würde, um ihn ein wenig zu erschrecken und gefügig zu machen, aber der Soldat nahm jedes Wort ernst.
»Du weißt, was geschieht, wenn du mich hintergehst?«, fragte er. »Ganz egal, wo du dich versteckst, ich würde dich finden!«
»Ich weiß, Herr«, stieß der Soldat hervor.
»Ich werde Euch nicht belügen.« Wenn Andrej jemals in die Augen eines Mannes geblickt hatte, der es ehrlich meinte, dann waren es die Dimitris. Er nickte.
»Gut, bring sie zu den Männern, die im Wald auf mich warten. Und dann lauf Weg.« Dimitri wiederholte sein hektisches Nicken, dann ging er rasch zu Maria, griff wortlos nach Vater Domenicus und lud ihn sich auf die Arme. Maria seufzte erleichtert und machte einen schwankenden Schritt zur Seite. Sie sah zu Andrej auf, und wieder war in ihren Augen dieser Ausdruck, der Andrej erschauern ließ. Da war nichts mehr. Wenn es zwischen ihnen jemals so etwas wie Liebe gegeben hatte, dann war sie erloschen, erstickt und für alle Zeiten ausgemerzt unter all dem Hass und der Bosheit, die Tepesch über sie gebracht hatte.
»Geh zu Abu Dun«, sagte er.
»Er wird dir helfen. Und auch deinem Bruder. Sag ihm, dass ich ihn darum bitte.« Er zog sein Schwert und drehte sich wiederum. Seine Hände waren voller Blut. Er wusste, wo er Vlad Dracul finden würde.