»Wer und wo?«, wollte Drakon wissen.
»Colonel Dun.«
Unwillkürlich sah Drakon nach oben, obwohl er sich in einem Gebäude befand und er die Orbitaleinrichtung nicht einmal am Himmel hätte sehen können, wenn es Nacht gewesen wäre. »Was soll denn das? In ihrem letzten Bericht hieß es, dass alle Schlangen neutralisiert worden sind, dass sie die Kontrolle über alles hat und meine Autorität anerkennt.«
»Ich fürchte, diese Kontrolle über alles dürfte jetzt das Problem sein. Ich hatte einige Ihrer vorangegangenen Anweisungen an sie weitergeleitet, und jetzt ist ihre Antwort eingegangen. Anstatt mitzuteilen, dass sie diese Befehle ausführen wird, lässt Colonel Dun jetzt auf einmal ausrichten: ›Ich werde meine Optionen abwägen.‹«
»Ihre Optionen?« Sie war keine der Untergebenen, die Drakon nach Midway gebracht hatte, sie war von woanders hierhergekommen. Die Gründe dafür waren ihm nicht bekannt. »Sagen Sie mir doch noch mal, wieso Dun während unserer Aktion immer noch das Kommando über die Einrichtung hatte, und nicht jemand, dem wir vertrauen konnten.«
Morgan zuckte mit den Schultern. »Sie hatte Verbindungen zu den Schlangen. Sie gab Meldungen an sie weiter, wenn auch angeblich nur auf Druck der Schlangen. Darum war sie nie Teil unserer Planungen. Außerdem wäre es nicht möglich gewesen, Colonel Dun das Kommando abzunehmen, ohne sehr viel Aufmerksamkeit zu erregen und den ISD hellhörig werden zu lassen. Natürlich hätte sie einem Anschlag zum Opfer fallen können, um Platz für jemanden zu machen, der auf dem Posten besser aufgehoben gewesen wäre, aber niemand sonst war für diese Lösung zu begeistern.«
»Vielleicht hätte ich Sie das machen lassen sollen.« Drakon betrat sein Büro, Morgan und Malin folgten ihm. Die beiden konnten nichts dafür. Der ISD besaß mehr als genug Erfahrung mit übertrieben ehrgeizigen CEOs, die versuchten, zu viele ihrer Gefolgsleute in entscheidende Positionen zu manövrieren. Gegen Dun vorzugehen wäre einfach zu offensichtlich gewesen.
Gleich hinter der Tür blieb Morgan stehen, verschränkte die Arme und lehnte sich gegen die Wand. »Dun ist klug genug, zu wissen, welche Macht ihr die Kontrolle über diese Station verleiht. Sie kann damit drohen, den Planeten mit schweren Objekten zu bombardieren, und damit vollenden, was die Schlangen nicht mehr geschafft haben. Und sie ist dumm genug, um zu versuchen, Sie zu erpressen.«
»Ich teile Colonel Morgans Einschätzung, was Colonel Duns Intelligenz und Dummheit angeht«, sagte Malin.
Unterdessen rief Drakon die verfügbaren Daten über die von Dun kontrollierte Einrichtung auf und fand die unerfreulichen Fakten bestätigt, die er in Erinnerung hatte. Die Orbitaleinrichtung umfasste etliche große Fabrikanlagen, die mit Erz von den Asteroiden des Systems betrieben wurden. Diese Berge an Erz konnte man als simple, unaufhaltsame und unglaublich zerstörerische Bomben verwenden, und dabei musste man einfach nur alles vom Orbit aus auf den Planeten abwerfen. Die Soldaten unter Duns Kommando waren dort oben, um sicherzustellen, dass nicht irgendein Wahnsinniger auf eine solche Idee kam. Aber jetzt hatte sich Dun selbst als die Wahnsinnige entpuppt. Er versuchte, sich nicht auszumalen, was Tonnen von Erz anrichten würden, die vom Himmel auf den Planeten herabregneten. Wie Morgan bereits gesagt hatte, würden die Zerstörungen in etwa genauso weitreichend sein, als hätten die Schlangen ihre Atombomben gezündet. »Optionen? Kommen wir an ihre Soldaten heran, um sie gegen sie zu wenden?«
»Dann müssten sie das alle gleichzeitig mitmachen«, erwiderte Morgan. »Wenn nur die Hälfte mitmacht, dann bleibt immer noch irgendwem genug Zeit, um Steine auf uns abzuwerfen. Ich glaube, diese Option hat nur geringe Erfolgsaussichten.«
»Ich schlage vor, wir reden mit ihr«, sagte Malin. »Sie wird Forderungen stellen. Lassen Sie sie reden, gestehen Sie ihr die eine oder andere Kleinigkeit zu, während wir eine Operation planen und ausführen, um sie auszuschalten.«
Morgan grinste. »Sogar Idioten kapieren es manchmal.«
»Also glaubt keiner von Ihnen, dass wir Dun zum Kooperieren bewegen und zu einer loyalen Untergebenen machen können?«, fragte Drakon.
Malin schüttelte den Kopf.
»Dun wird erst loyal sein, wenn sie tot ist«, meinte Morgan lachend.
»Gut, dann werde ich mit ihr reden und sie glauben lassen, dass ich bereit bin, auf ihre Forderungen einzugehen. Sie beide kümmern sich um einen Plan, um die Station einzunehmen. Ich brauche einen guten Plan, und ich brauche ihn sofort. Erste Priorität: Stellen Sie sicher, dass von da oben nichts auf den Planeten abgeworfen wird. Zweite Priorität: Räumen Sie Colonel Dun dauerhaft aus dem Weg. Ach ja, noch etwas: Durchsuchen Sie die Dateien, die wir von den Schlangen erbeutet haben, und versuchen Sie herauszufinden, wieso Dun nach hierher strafversetzt wurde.«
»Warum ist das wichtig?«, wollte Morgan wissen.
»Ob es wichtig ist, kann ich erst sagen, wenn ich den Grund kenne. Versuchen Sie ihn herauszufinden, und halten Sie sich an diesen Plan.«
Malin wirkte resigniert, während Morgan die Augen verdrehte, dennoch gingen sie gemeinsam weg. Die zwei konnten gut zusammenarbeiten, wenn es um die Ausarbeitung von Plänen ging. Warum das so war, das begriff Drakon bis heute nicht. Er fragte sich, ob es etwas mit einer bizarren Hassliebe zwischen ihnen zu tun hatte, aber allein der Gedanke, die beiden könnten ein Verhältnis beginnen, erschien ihm nicht nur völlig unmöglich, sondern auch irgendwie anstößig.
Der erste Blick auf Colonel Dun, als sein Ruf zu ihr durchgestellt wurde, löste bei Drakon keinen Zweifel aus, er könnte die falsche Entscheidung getroffen haben.
Sie saß ganz gelassen da und lächelte so zufrieden wie eine Katze, die soeben sämtliche Fische aus einem Aquarium geangelt hatte. »Meinen Glückwunsch, Artur«, begrüßte sie ihn.
Dass sie ihn mit dem Vornamen ansprach, sollte andeuten, dass es sich um eine Unterhaltung zwischen ebenbürtigen Gesprächspartnern handelte. Da er nichts in der Hand hatte, um ihr eine verbale Ohrfeige zu geben, die sie auf den Boden der Tatsachen hätte zurückholen können, würde er fürs Erste ihre arrogante Haltung hinnehmen müssen. »Was muss ich da hören? Sie machen Colonel Malin das Leben schwer, … Sira?«
Dun grinste noch etwas breiter. »Ich sehe keine Notwendigkeit, mich innerhalb dieser neuen Konstellation mit einer niederen Position zufriedenzugeben. Bestimmt nicht, wenn ich buchstäblich auf Sie herabsehen kann.«
»Sie können aber nicht auf die von Präsidentin Iceni kontrollierten mobilen Streitkräfte herabsehen.«
»Präsidentin Iceni? Interessant. Ja, Sie haben recht. Aber wenn diese mobilen Streitkräfte irgendetwas unternehmen, sehe ich das früh genug und kann immer noch den Planeten in den Untergang bombardieren. Das Gleiche werde ich übrigens auch machen, wenn ich irgendetwas anderes Verdächtiges beobachte. Ich nehme an, das würden Sie gern vermeiden.«
»Was wollen Sie?«, fragte Drakon geradeheraus.
»Es sieht ganz danach aus, dass Sie und Iceni zu zweit das Sagen haben wollen. Ich will, dass daraus ein Triumvirat wird.«
Damit hast du gerade einen großen Fehler begangen, der mir die perfekte Ausrede gibt, um Zeit zu schinden. Vielleicht sogar einen tödlichen Fehler. Nach außen hin reagierte er mit einem nichtssagenden Achselzucken. »Das kann ich nicht allein entscheiden, da muss ich erst mit Iceni reden.«
»Tun Sie das. Ich hab’s nicht eilig, und ich gehe auch nirgendwohin. Geosynchroner Orbit, Sie wissen schon.« Dann lachte sie von Herzen. »Wir reden später wieder.«
Drakon schlug mit der Faust nach der Stelle, an der sich eben noch das virtuelle Fenster befunden hatte, dann nahm er mit Iceni Kontakt auf. Jetzt und hier konnte er seinen Plan nicht mit ihr besprechen, da er nicht wusste, ob Dun irgendwie in der Lage war, ihre Unterhaltung zu belauschen. Allerdings konnte er bestimmte, unter CEOs bekannte Formulierungen benutzen, um sie wissen zu lassen, dass sie ihre Antwort so lange wie möglich hinauszögern sollte.
Zwei Stunden später kehrten Malin und Morgan zurück. Sie betraten gemeinsam den Raum, gingen dann aber in verschiedene Richtungen weiter. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Orbitalstation. »Wir haben den Plan auf der Tatsache aufgebaut, dass Colonel Dun den größten Teil ihrer Zeit in Industrieanlagen verbracht hat. Das war auch die Begründung, warum man ihr das Kommando über die Station gegeben hat. Ihre Militärzeit hat sie mit strategischen Systemen verbracht.«
»Nuklearwaffen?«, wollte Drakon wissen.
»Ja, zum größten Teil. Planung und Design.«
Morgan lächelte lässig. »Sie wird nach einem großangelegten Angriff Ausschau halten. Raketen, große Sturmschiffe, etwas in diesen Dimensionen. Colonel Dun besitzt keine Erfahrung mit Einsätzen von Bodentruppen oder Spezialeinheiten.«
»Wie viele Tarnanzüge stehen uns nach dem Angriff auf den ISD noch zur Verfügung?«, erkundigte sich Drakon.
»Genügend.« Morgan grinste noch breiter. »Die haben wir schon in den Plan einbezogen.«
Drakon rief den Plan auf. Eine Begabung, an deren Beherrschung er intensiv gearbeitet hatte, war die Fähigkeit, die wesentlichen Punkte eines Einsatzplans schnell zu erfassen. Die Konzentration auf irgendwelche Details konnte einen Befehlshaber daran hindern, das Gesamtbild wahrzunehmen und zu erkennen, ob der Plan insgesamt überhaupt sinnvoll war.
Dieser spezielle Plan war sinnvoll, aber daran hatte er auch nie gezweifelt. »Zwei Sturmeinheiten.«
Malin nickte. »Eine, die alle Truppen aufspürt, die loyal zu Dun stehen, und die Dun mit allen Mitteln ausschaltet. Die andere sorgt dafür, dass von der Einrichtung nichts abgeworfen wird, indem sie alle Geräte sichert und deaktiviert, mit denen so etwas möglich wäre. Wir glauben, dass Colonel Kai …«
»Kai wird das nicht machen, und Gaiene und Rogero ebenfalls nicht. Dun mag vor Selbstbewusstsein strotzen, aber wir können sie nicht für so gedankenlos halten, dass sie nicht überwachen lässt, wo sich meine ranghöchsten Befehlshaber aufhalten und wo ich bin. Wenn einer von uns vieren sich auf den Weg in den Orbit macht oder nur schon hier auf dem Planeten bei ungewöhnlichen Aktivitäten beobachtet wird, dann wird Dun davon erfahren.«
Verdutzt zog Morgan die Brauen hoch. »Bleiben dann nur noch diejenigen übrig, an die ich gerade denke?«
»Richtig. Sie beide. Malin wird eine Sturmeinheit befehligen, Sie die andere.«
»Dun könnte uns auch beobachten«, wandte Malin ein.
»Könnte. Aber sie hat nicht unendlich große Ressourcen, um jeden hier unten zu überwachen. Außerdem wird sie wahrscheinlich davon ausgehen, dass Sie beide sich immer da aufhalten, wo ich bin.«
»Wie nett.« Morgan bewegte die Finger einer Hand, als mache sie sich darauf gefasst, schon in den nächsten Minuten in Aktion zu treten. »Ich will die Einheit, die Jagd auf Dun macht.«
»Von mir aus«, gab Malin beiläufig zurück. »General, Sie haben nach dem Grund gefragt, wieso Dun in dieses Sternensystem versetzt wurde.«
»Ja, was haben Sie herausgefunden?«
»Wir sind auf ihre ISD-Akte gestoßen, aber da findet sich kein Hinweis auf den Grund für ihre Abkommandierung.«
Drakon sah ihn verdutzt an. »Gar nichts?«
»Nein, Sir. Ich weiß, das ist sehr ungewöhnlich. Allmählich frage ich mich, ob Dun nicht vielleicht selbst eine Schlange ist, die streng verdeckt arbeitet.«
»Ihr Profil passt aber nicht zu jemandem von diesem Verein«, ergänzte Morgan. »Trotzdem können wir es nicht ausschließen, und falls es zutrifft, dann könnte Dun viel gefährlicher sein, als wir bislang gedacht haben. Es gibt in ihrer Karriere zu viele Details zu überprüfen, die das in Zweifel ziehen könnten. Wir wissen zwar über ihre Erfahrung Bescheid, aber sie könnte derzeit auf Befehl der Schlangen handeln.«
»Wie lange brauchen Sie, ehe sie keine Gefahr mehr darstellt?«
»Wir können die Truppenbewegungen mit den Routineflügen zur Einrichtung selbst und zu anderen orbitalen Positionen tarnen, aber das dauert seine Zeit. Vierundzwanzig Stunden. Ich wollte die Zeit eigentlich verkürzen, aber dann haben wir die Lücken in Duns ISD-Unterlagen entdeckt. Jetzt will ich in erster Linie sicherstellen, dass sie nicht auf uns aufmerksam wird.«
Wenn Morgan zur Vorsicht riet, dann war das so untypisch, dass es umso wichtiger war, sich ihre Meinung genau anzuhören. »Also gut, vierundzwanzig Stunden. Präsidentin Iceni und ich werden Diskussionen mit Dun beginnen, damit sie möglichst abgelenkt ist. Von Ihnen beiden will ich erst wieder hören, wenn die Einrichtung Ihrer Kontrolle untersteht.«
»Ich kann Sie in eine eng gebündelte Verbindung für die Datenströme der Sturmeinheiten einbeziehen«, schlug Malin ihm vor. »Zwar ein wenig zeitverzögert, weil das über diverse Relais läuft, damit Duns Leute nicht darauf aufmerksam werden. Aber wir müssen das ohnehin machen, um die Teams zu koordinieren, und die Verbindung sollte vor einer Entdeckung sicher sein.«
Das klang verlockend, vor allem weil er ansonsten einfach hier herumsitzen würde, während seine beiden Colonels ihr Leben riskierten. »Danke, richten Sie das so ein«, sagte er und nickte zustimmend.
Iceni hatte sich als geschickt darin erwiesen, Colonel Dun immer wieder mit Versprechungen zu ködern, die sie ihr zwar vor die Nase hielt, die dabei aber immer ein klein wenig außerhalb ihrer Reichweite blieben. Drakon musste einräumen, dass er dieses Geschick zunehmend bewunderte, was aber natürlich nicht hieß, dass er ihr deswegen auch vertraute. Vielmehr war es so, dass er sich zu fragen begann, ob sie mit ihm etwa das gleiche Spiel trieb, ohne dass er selbst das durchschaute. Oder ob sie damit bei ihm anfangen würde, wenn sie es auf einmal für notwendig hielt.
Er war nicht in der Lage gewesen, die Streitkräfte zu überwachen, die im Rahmen normaler Schiffsladungen an Bord von Shuttles oder Transportern nach oben gebracht wurden. Falls Dun irgendetwas beobachtete, musste das das Gleiche sein, das Drakon auch sehen konnte.
Allerdings handelte es sich auch nicht um einen massiven militärischen Schlag. Bei Colonel Dun befanden sich rund vierzig Soldaten, die alle aus diesem System stammten, sodass ihre Erfahrung ebenso begrenzt war wie ihre Ausbildung. Gegen sie waren die Leute der beiden je fünfzehn Mann starken Eingreiftruppen unter der Führung von Malin und Morgan bestens ausgebildete Veteranen. Wäre da nicht das Risiko eines verheerenden Bombardements gewesen, hätte sich Drakon keine Gedanken über den Ausgang dieses Einsatzes gemacht. Aber leider bestand genau dieses Risiko.
Ein Alarmsignal auf seinem Tisch begann zu blinken. Er atmete tief durch, dann nahm er das eingehende Signal an, und ein großes Fenster mit zahlreichen Unterfenstern öffnete sich vor ihm. Zu sehen waren Bilder der Sturmeinheiten.
Er konzentrierte sich, verdrängte alle Gedanken und richtete seine ganze Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Bilder vor ihm, die das wiedergaben, was von den Tarnanzügen der Kommandosoldaten aufgezeichnet wurde. Zwölf Unterfenster, zwei davon für Malin und Morgan, der Rest für die Sektionsführer, die je von zwei weiteren Kommandosoldaten begleitet wurden.
Gut die Hälfte dieser Sektionen befand sich bereits auf der Einrichtung, einige von ihnen öffneten speziell entwickelte Kisten, aus deren Inneren sie in Lagerräumen zum Vorschein kamen. Andere dagegen hielten sich in der eisigen Leere des Alls auf, während der Rest mit großen Sätzen von benachbarten Orbitalanlagen zu ihnen herüberkam. Ihre Tarnanzüge machten sie dabei so unsichtbar, wie es der menschliche Erfindergeist hinbekommen konnte. Malin drehte den Kopf zur Seite, sein Blick wanderte über eine Reihe von Armaturen, die sich über einen Abschnitt an der Außenhülle erstreckten. Auch wenn die Anzüge die Männer für andere unsichtbar erscheinen ließen, konnte Malin sie durch die Verbindung untereinander sehr wohl als geisterhafte Abbilder »sehen«.
Auch Morgans Gruppe hatte die Einrichtung erreicht und sich über andere Abschnitte der Einrichtung verteilt. Sie waren wie Phantome, die sich behutsam ihren Zielen näherten. Einer der Sektionsführer bewegte sich an einer Sicherheitskamera vorbei, die auf diesen Teil der Außenhülle gerichtet war. Die Linse vollzog ihren Schwenk weiter; sie hatte den Unsichtbaren einfach nicht wahrgenommen.
Die Sektionsführer hatten Zugänge erreicht, durch die sie sich an verschiedenen Stellen der Einrichtung Zutritt verschaffen konnten. In einigen Fällen handelte es sich um Luftschleusen, die von Wartungstechnikern benutzt wurden, wenn es etwas zu reparieren gab, andere waren Schächte und Tunnel, die nie mit der Absicht gebaut worden waren, dass sich Menschen durch sie hindurchbewegten. Zum Teil wurden diese Zugänge von den an Bord befindlichen Leuten von innen für ihre Kameraden geöffnet, zum Teil kamen aber auch kleine, komplexe Apparate zum Einsatz, die immer noch die Bezeichnung »Generalschlüssel« trugen, abgeleitet von einem alten Objekt, einem Schlüssel, mit dem man alle möglichen Türen in einem Gebäude aufschließen konnte. Hier sorgten sie dafür, dass Zugangscodes geknackt und Sicherungsbolzen in Bewegung gesetzt wurden, bis sich scheinbar unüberwindliche Barrieren einfach öffneten.
Die Männer rückten vor, einer gab dem anderen mit feuerbereiten Waffen Deckung, während sie ins Innere vordrangen. Einige gelangten dabei in hell erleuchtete Korridore, andere in düstere Räume, in denen sich Kanister und Kisten stapelten und in denen hin und wieder ein Robotdiener unterwegs war, der keine Notiz von ihnen nahm, da er nur eine bestimmte Aufgabe verfolgte.
Bislang war alles so lautlos verlaufen, dass es fast schon surreal wirkte, wenn die Phantomgestalten, die auf den Helmdisplays ihrer Kameraden kaum auszumachen waren, wortlos Schritt für Schritt den Plan befolgten, den sie auswendig gelernt und in die taktischen Systeme ihrer Anzüge überspielt hatten. Aber die Männer in den Korridoren konnten nun die Geräuschkulisse menschlicher Aktivitäten hören, wohingegen diejenigen, die sich in den Wartungs- und Lagerbereichen aufhielten, nur dumpfes Stampfen und Schlagen wahrnahmen, das sich in der Struktur der Einrichtung ausbreitete.
Eine Supervisorin, die in ihre persönliche Nachrichteneinheit vertieft war, kam um eine Ecke und passierte eine Gruppe in Tarnanzügen, die ihr schnell Platz machte. Nachdem sie ein paar Meter weitergegangen war, blieb sie stehen, hob ein wenig irritiert den Kopf, konzentrierte sich dann aber wieder auf das Pad in ihrer Hand und ging weiter.
Drakon, der diesen Vorgang beobachtet hatte, wurde dabei an jene sonderbare Erregung erinnert, die damit einherging, wenn man einen Tarnanzug trug, und die man gut unter Kontrolle halten musste, weil man sonst übermütig wurde und etwas machte, wodurch man sich verriet. Man musste nur jemanden anrempeln oder angerempelt werden. Oder ein falscher Schritt verursachte ein zu lautes Geräusch oder auch nur starke Schwingungen. Es genügte sogar der Lufthauch, den man beim Gehen erzeugte, um die uralten Instinkte anderer Menschen in Alarmbereitschaft zu versetzen. Das defensive Training für Wachposten legte ganz besonderen Wert auf solche fast unterbewussten Wahrnehmungen. Wenn man einen Luftzug spürt, wo es keinen Luftzug geben durfte, dann war das möglicherweise das Letzte, was man spürte. Und wenn Wachposten oder andere Personen in einer Einrichtung wie dieser erst einmal aufmerksam geworden waren, konnten sehr schnell Abwehrmaßnahmen eingeleitet werden, bei denen Nebelschwaden in Gänge und Räume gepumpt wurden, damit man die Umrisse selbst jener Personen aufspüren konnte, die den leistungsfähigsten Tarnanzug trugen.
Aber diese Männer besaßen Erfahrung und gingen behutsam vor, wobei die Leute, denen sie begegneten, nicht den Eindruck erweckten, sich über einen bevorstehenden Angriff zu sorgen. Hatte Colonel Dun ihnen überhaupt gesagt, was sie vorhatte? Vermutlich nicht. Viele Sub-CEOs und CEOs folgten gern der Philosophie, dass es für alle einfacher war, wenn sie ihren Untergebenen keine Details nannten. Wenn man erst mal anfängt, etwas zu erklären, hatte einer von ihnen einmal mahnend zu Drakon gesagt, nachdem der bei einer Einsatzbesprechung mit seinen Leuten erwischt worden war, dann erwarten sie für alles andere, was sie tun sollen, ebenfalls Erklärungen, anstatt es einfach zu tun.
Sein Blick zuckte von einem virtuellen Fenster zum nächsten. Er sah, wie seine Leute in einem Dutzend verschiedener Bereiche der Einrichtung weiter vorrückten. Eine Gruppe hatte bereits das primäre Frachtkontrollzentrum erreicht und schwärmte aus, um die Positionen einzunehmen, von denen aus sie sofort jedes Transportsystem abschalten konnten. Ein anderer Trupp hielt sich in einem Raum mit Reservekontrollen und -schaltkreisen auf, die komplett automatisiert waren und es damit erlaubten, dass dort Software eingespeist werden konnte, die alle möglichen Funktionen blockierte, ohne dabei die Softwarewachposten zu alarmieren.
Als Morgan langsam um eine Ecke ging, zeigte das Bild ihres Anzugs einen kurzen Gang, in dem ein sichtlich gelangweilter Wachposten vor einer Zugangsklappe stand. An einem Arm trug der Mann eine metabolische Schelle, die so eingerichtet war, dass automatisch ein Alarm einsetzte, wenn die Schelle ohne die entsprechenden Codes entfernt wurde oder wenn der Metabolismus des Wachmanns deutliche Anzeichen für Stress erkennen ließ. Drakon hatte nie den Wachposten in seiner Einheit vergessen, der sich für die Nachtschicht mit einer Frau verabredet hatte, ohne daran zu denken, dass der durch Sex in Schwung geratende Metabolismus den Alarm auslösen würde. Der Mann hatte den Vorfall ganz sicher auch nicht vergessen, zumal er froh sein konnte, dass man ihn nicht am nächsten Tag hingerichtet hatte.
Die Gruppe, von der Morgan begleitet wurde, folgte ihr, als sie sich mit schnellen Schritten dem Wachposten näherte. Dem blieb gerade noch Zeit, sich verwundert umzusehen, dann rammte ihm einer der Kommandosoldaten auch schon einen Blocker in den Arm. Der Körper des Mannes begann zu zucken, die bewusste Muskelkontrolle wurde ihm jäh entrissen, nur autonome Körperfunktionen wie die Atmung und der Herzschlag blieben davon unberührt. Die Schelle löste keinen Alarm aus, als man den Wachmann vorsichtig auf den Boden legte. Damit waren die Kommandosoldaten auch schon in den gesicherten Bereich vorgedrungen, in dem sich die Kommandozentrale und Colonel Duns Büro befanden.
Der größte Teil von Malins Einheiten war in Position, und den Rest führte er in aller Eile zum rückwärtigen Abschnitt des gesicherten Bereichs, um zu verhindern, dass irgendwem die Flucht gelang. Morgans Soldaten verteilten sich zügig überall in diesem Bereich, dabei gingen immer wieder Wachleute zu Boden, ehe die überhaupt begriffen, dass ihnen Gefahr drohte. Die Glücklichen unter ihnen waren die, die metabolische Schellen trugen, da sie hilflos, aber lebend zurückgelassen wurden. Die Übrigen starben einen schnellen und lautlosen Tod.
Drakon warf einen Blick auf die Stressanzeigen, die ihn erkennen ließen, wie sehr den Kommandosoldaten die Anstrengungen der schnellen Bewegungen, die langwierige Annäherung und die unnatürlich gleitende Gangart zu schaffen machten, die notwendig war, um in getarntem Zustand möglichst geräuschlose Schritte zu machen. Das alles war für jeden sehr kräftezehrend, selbst für jemanden, der so durchtrainiert und ausdauernd war wie diese Kommandosoldaten.
Aber alles verlief genau nach Plan.
Bis zu dem Augenblick, als einer der Tarnanzüge versagte.
Für die Arbeiter, die im Transportkontrollzentrum die Anzeigen der Geräte beobachteten, sah es so aus, als würde ein Soldat in leichter Gefechtsausrüstung aus dem Nichts mitten zwischen ihnen auftauchen. Der Anblick ließ die Intelligenteren in der Gruppe auf der Stelle so sehr erstarren, dass man ihnen nicht mal ansehen konnte, ob sie überhaupt noch atmeten. Es war ein Urinstinkt, der ihnen sagte, dass völlige Reglosigkeit die einzige Lösung war, um dem Angriff dieses Jägers zu entgehen.
Eine Frau aus der Gruppe der Arbeiter war aber entweder besonders mutig, oder aber in Panik geraten, auf jeden Fall schlug sie mit ihrer Hand auf die Notfall-Taste, noch bevor einer der Kommandosoldaten sie daran hindern konnte. Im nächsten Moment wurde ihr Kopf brutal herumgeschleudert, da sie mit dem Griff einer Waffe geschlagen wurde, woraufhin sie ohnmächtig zu Boden sank. Dass sie noch lebte, verdankte sie einzig Drakon, der befohlen hatte, die Arbeiter nur dann zu töten, wenn es wirklich unvermeidbar war.
Rote Lampen begannen zu blinken, Alarmsirenen dröhnten los und ließen jeden in der Orbitaleinrichtung wissen, dass etwas nicht stimmte. »Los! Los!«, brüllte Morgan ihre Kommandosoldaten an, die sofort zu rennen begannen und ihren schleichenden Schritt aufgaben.
Malins Sektion sprengte den rückwärtigen Ausgang auf und eröffnete sofort das Feuer auf einen Wachmann, der ihnen entgegengelaufen kam. Die zahlreichen Treffer rissen ihn hin und her, bis er gegen die Wand geworfen wurde und langsam zu Boden sank.
Aus einem der Kasernenräume kamen Soldaten gestürmt, aber auch die gerieten in das mörderische Sperrfeuer von Malins Leuten. Mindestens einer von ihnen versuchte durch den Notausgang zu entkommen, machte dort aber die fatale Bekanntschaft mit einer Sprengladung, die Drakons Eindringlinge da platziert hatten.
Irgendwer hatte begriffen, dass Tarnanzüge zum Einsatz gekommen waren, und im nächsten Augenblick wurde ein feiner Nebel in die Räume und Korridore aller wichtigen Bereiche gesprüht. Aber die Kommandosoldaten hatten bereits alle maßgeblichen Stellen auf der zivilen Seite der Einrichtung unter ihre Kontrolle gebracht, und bevor sich der Nebel so weit hatte verbreiten können, dass er Wirkung zu zeigte, waren Morgans Einheiten längst in das militärische Kommandozentrum vorgedrungen und hatten alle dort Dienst tuenden Soldaten getötet.
Morgan ging mit unerbittlicher Geschwindigkeit vor, wobei sie zwei Soldaten nahe dem Eingang zu Duns Quartier so schnell tötete, dass beide noch nicht zu Boden gesunken waren, als sie bereits die Tür erreicht hatte. Ein Kommandosoldat brachte eine Sprengladung an, dann gingen sie alle zu beiden Seiten in Deckung. Die Ladung explodierte, riss die Tür aus ihren Angeln und zerstörte zugleich alle Verteidigungsmechanismen, die möglicherweise im Türrahmen untergebracht gewesen waren.
Drakon sah mit an, wie Malin sich beeilte, um Morgans Position zu erreichen, während die mit ihren Leuten in Duns Quartier vorrückte. Malin hatte es ebenfalls eilig. Aber wieso? Wollte er Duns Tod? Oder wollte er sie retten, um sie verhören zu können, ehe Morgan bei ihr war und sie tötete?
Auch die innere Tür wurde mit einer Sprengladung aus dem Weg geräumt, dann hatte Morgan das letzte Hindernis überwunden und ließ ihre Waffe nach Zielen suchen.
In der Zwischenzeit hatten Malin und die ihn begleitenden Soldaten den hinteren Bereich des Quartiers erreicht und sprengten sich von dort kommend den Weg frei.
Morgan feuerte eine Salve auf Duns Bett ab, dann folgte je ein Schuss auf jede Schranktür, die sie gleich darauf von den Kommandosoldaten aufreißen ließ. »Niemand hier«, ertönte ein Ruf.
Das von Morgans Anzug übertragene Bild wackelte kräftig hin und her, als sie sich in Duns Schlafzimmer um die eigene Achse drehte und dann vor dem Teil einer Wandverkleidung anhielt, der neuer aussah als die Flächen links und rechts davon. »Dort!« Zwei Schüsse konnten das Hindernis nicht durchdringen, aber eine letzte Sprengladung riss ein Loch in die getarnte Panzertür.
Morgan, die ein Stück weit daneben gegen die Wand gedrückt dagestanden hatte, war noch im Begriff sich umzudrehen, als Dun auftauchte und ihre Waffe auf Morgan richtete. Drakon konnte die Szenen aus etlichen Blickwinkeln beobachten, aber nichts unternehmen. Für Sekunden schien es so, als würde die Zeit unendlich langsam vergehen, während Morgan versuchte, ihre Waffe hochzunehmen und zu zielen. Gleichzeitig begann Dun den Abzug durchzudrücken. Morgans Kommandosoldaten sahen sich mit dem Dilemma konfrontiert, dass Morgan selbst ihnen die Schusslinie versperrte.
Als Malin mit seinen Leuten in den Raum geplatzt kam, war dessen Waffe bereits auf Morgans Rücken gerichtet.
»Nein!«, schrie Drakon außer sich, als Malin abdrückte.
»Wieso?« Drakons Blick war auf Malin gerichtet, der in Habtachtstellung vor ihm stand.
»Dun musste gestoppt werden, bevor sie irgendeinen Mechanismus aktivieren konnte«, antwortete Malin, dessen Tonfall so ausdruckslos war wie sein Gesicht.
»Das war Morgans vorrangige Aufgabe, und das wussten Sie.«
»Meine Einschätzung dieser Situation war, dass sie Unterstützung benötigte.«
»Glauben Sie, diese Entschuldigung ist hieb- und stichfest?« Drakon brüllte ihn fast an.
»Sir, Sie haben uns selbst dazu aufgefordert, dass wir uns von unserer Einschätzung einer Situation leiten lassen sollen …«
»Verdammt, Malin, wäre der Schuss nur um den Bruchteil eines Millimeters versetzt gewesen, hätten Sie Morgan den Kopf weggeschossen, aber nicht Dun getroffen! Warum zum Teufel sind Sie ein solches Risiko eingegangen? Oder war das Absicht? Sie wussten, wenn Dun erst mal auf Morgan feuert, bleibt ihr keine Zeit für einen zweiten Schuss, weil sie dann bereits von den Kommandosoldaten durchsiebt wird. War das die perfekte Gelegenheit, um Ihren Streitigkeiten mit Morgan ein Ende zu setzen, indem Sie ihr ›versehentlich‹ bei einem Feuergefecht den Kopf wegblasen?« Drakon war jetzt noch lauter geworden. »Wenn Sie so sehr auf ihren Tod aus waren, warum haben Sie das nicht von Dun erledigen lassen? Oder hatten Sie Angst, sie könnte ihr Ziel verfehlen?«
Malin war bleich, aber er antwortete mit fester Stimme: »Ich … General Drakon …«
»Ja oder nein? Haben Sie versucht, Morgan zu töten?«
»Nein!« Seine Stimme wurde auf einmal brüchig. »Nein«, wiederholte er leiser. »Sie … ich wusste, dass Morgan Dun töten wollte. Ich dachte nur … sie … sie braucht Hilfe …«
Drakon kehrte zu seinem Platz zurück und setzte sich hin, während er Malin wütend ansah. »Verdammt, Bran. Sie waren besorgt, dass Morgan etwas zustoßen könnte? Das ist Ihr Argument?«
»Ja, Sir.«
»Würde ich Sie nicht kennen und hätte ich nicht schon tausendmal erlebt, wie professionell und zuverlässig Sie sind, dann würde ich Ihnen kein Wort glauben. Es fällt mir immer noch schwer, Ihnen zu glauben.« Er atmete wutschnaubend aus. »Ihr Schuss hätte sie mühelos töten können, aber wenn Sie nicht geschossen hätten, wäre Morgan jetzt wahrscheinlich tot. Ich hoffe, Sie erwarten von ihr keinen Dank dafür.«
»Colonel Morgan hat in dieser Hinsicht bereits deutlich zu verstehen gegeben, was sie denkt«, erwiderte Malin.
»O ja. Sie können von verdammt viel Glück reden, dass ich mich zugeschaltet hatte und den Widerruf aktivieren konnte, um ihren Tarnanzug erstarren zu lassen. Ansonsten hätte sie Sie sofort getötet. Wieso, Bran?«
»Ich habe nicht versucht, Morgan zu töten, Sir. Sie können mich in einen Verhörraum setzen, der mit Lügendetektoren vollgestopft ist, und ich werde Ihnen die gleiche Antwort so oft geben, wie Sie sie hören wollen. Es ist die Wahrheit.«
Drakon sah dem Mann in die Augen. »Wenn ich Sie in so einen Raum setze und Sie frage, warum Sie sich so beeilt haben, Morgan einzuholen, was würden Sie denn dann antworten?«
Malin zögerte kurz. »Um … um zu verhindern, dass sie getötet wird, Sir.«
»Sie beide hassen sich.«
»Ja, Sir.«
»Und? Läuft da irgendwas Krankes zwischen Ihnen und Morgan?«
Wieder wurde Malin bleich und schüttelte fast angewidert den Kopf. »Zwischen mir und Morgan läuft nichts von dieser Art!«
Nach ein paar Sekunden beschrieb Drakon eine wütende Geste. »Ich werde Ihnen wohl glauben müssen. Ansonsten müsste ich Sie erschießen lassen. Aber in dem Fall bevorzuge ich es, Ihnen zu glauben. Die offizielle Version der Ereignisse besagt ab sofort, dass Sie geschossen haben, um Morgan das Leben zu retten, auch wenn das niemand glauben wird, der Sie beide kennt. Aber wenn so was noch mal vorkommt, dann ist es mir egal, ob Morgan getroffen wird oder nicht. Ist das klar? Dann sind Sie erledigt.«
Malin machte einen etwas verwunderten Eindruck. »Sie … lassen mich weiter in Ihrem Stab mitarbeiten?«
»Sie und Morgan, ganz richtig. Sie kommt damit klar. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, war sie beeindruckt davon, dass Sie persönlich versucht haben, sie bei der einen Gelegenheit abzuschießen, die es Ihnen erlaubt hätte, ungeschoren mit einem Mord davonzukommen. Das ist etwas, was Morgan bei anderen Menschen bewundern kann. Sie wird Ihnen trotzdem auch weiterhin nicht den Rücken zudrehen, allerdings scheint sie jetzt zu glauben, dass Sie es wert sind, getötet zu werden.«
Der Mann atmete tief durch, dann nickte er. »Ich schätze, ich sollte ab sofort sehr vorsichtig sein.«
»Ja, das wäre wohl das Beste, auch wenn ich Morgan gesagt habe, dass ich Sie beide brauche. Und das sage ich Ihnen jetzt auch. Wenn einer von Ihnen den anderen umbringt, wird sich der Überlebende noch wünschen, es hätte stattdessen ihn erwischt. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt, Colonel Malin?«
»Ja, Sir.«
Iceni saß in ihrem Büro und fragte sich eben, wieso sie noch nichts von Drakon gehört hatte, da meldete er sich bei ihr. Das virtuelle Bild ihres Mitherrschers tauchte in sitzender Haltung auf der anderen Seite ihres Schreibtischs auf. »Die Orbitaleinrichtung ist vollständig gesichert«, berichtete er. »Wir haben die Station bis auf die Ebene ihrer Quarks durchsucht und bis auf Colonel Duns Überraschungen nichts Außergewöhnliches finden können, was dort nicht hingehört, wenn man von der üblichen Schmuggelware, von Pornografie und Erholungsdrogen absieht. Die schlechte Nachricht ist die, dass sich Colonel Dun als Mitarbeiterin des ISD entpuppt hat.«
»Dun? Eine ISD-Agentin?«, wiederholte Iceni und täuschte Erstaunen vor. Drakon musste nicht wissen, dass sie das schon von ihrer Quelle in seiner unmittelbaren Nähe erfahren hatte.
»Es besteht kein Zweifel daran. Dun besaß ein kleines zweites Büro, das an ihr Schlafzimmer angrenzend versteckt war. Nur die Schlangen können so etwas dort eingerichtet haben, ohne dass jemand etwas davon mitbekommen hat.«
»Und trotzdem hat zuvor nichts darauf hingedeutet, dass Dun für den ISD tätig war?«
Drakon schüttelte den Kopf. »Nein. Die Schlangen haben uns sogar dahingehend getäuscht, dass sie uns Hinweise zuspielten, wonach sie hin und wieder als Informantin für sie arbeitete. Viele Leute waren solche Gelegenheitsinformanten, weil sich nur wenige Bürger gegen ein derartiges Ansinnen sträuben konnten, wenn sie von den Schlangen gefragt wurden. Dun steckte ganz tief mit drin. Sie muss schon vor Jahrzehnten rekrutiert worden sein, was mir ehrlich gesagt Sorgen bereitet. Wenn Dun nicht aufgefallen ist – wie viele Agenten ihrer Art tummeln sich dann immer noch in diesem Sternensystem?«
»Eine der wirkungsvollsten Waffen des ISD bestand darin, Misstrauen zu säen«, bemerkte Iceni. »Zugegeben, wir selbst haben das nicht viel anders gehandhabt. Also müssen wir auf unsere Liste der Unwägbarkeiten auch noch mögliche verbliebene Agenten des ISD setzen. Danke, General Drakon. Gibt es sonst noch etwas?«
»Nein, jedenfalls nicht im Augenblick.«
Nachdem Drakons Bild verschwunden war, drehte Iceni sich zu Togo um, der so weit seitlich von ihr gestanden hatte, dass er für den General nicht sichtbar war. »Was hat er mir nicht gesagt?«
Togo warf einen Blick auf seinen Reader. »Unmittelbar bevor General Drakons Leute in Colonel Duns Quartier eindrangen, schickte sie noch eine Impulsübertragung an die C-625. Der Kreuzer müsste die Nachricht eine halbe Stunde vor Erreichen des Hypernet-Portals empfangen haben.«
»Kennen wir den Inhalt dieser Nachricht?«
»Nein«, antwortete Togo. »Colonel Duns Ausrüstung löschte sich von selbst, ehe die Selbstzerstörung erfolgte. Ich konnte bislang nicht feststellen, ob General Drakons Leute irgendeinen Teil dieser Nachricht aufgefangen haben.«
»Verstehe. Sonst noch was?«
»Es kursieren Gerüchte, wonach General Drakons engster Adjutant Colonel Malin während des Angriffs auf die Einrichtung versucht haben soll, die zweite Adjutantin Colonel Morgan zu töten. Ich glaube, das hat sich tatsächlich zugetragen, zumindest aber etwas, das sich als ein Mordversuch an Morgan durch Malin auslegen lässt.«
»Sehr interessant.« Iceni war der Ansicht gewesen, Drakon hätte solche Dinge im Griff. »So wie ich die beiden erlebt habe, wäre ich eher davon ausgegangen, dass Morgan versuchen würde, Malin zu ermorden, nicht umgekehrt.« Sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und verzog nachdenklich das Gesicht. »Befassen Sie sich noch mal mit Colonel Morgan. Finden Sie alles heraus, was es über sie gibt. Immerhin können wir jetzt auf die Akten zugreifen, die die Schlangen angelegt hatten. Ich muss mehr über sie erfahren.«
»Soweit wir das sagen können, schläft sie nicht mit General Drakon.«
Dafür erhielt Drakon in Sachen gesunder Menschenverstand ein paar Pluspunkte … und wohl auch in Sachen Moral. In der Theorie war es von Vorgesetzten in den Syndikatwelten erwartet worden, keine intimen Beziehungen mit Untergebenen zu pflegen, weil es auf diese Weise viel zu leicht zu einem Machtmissbrauch kommen konnte. Aber in der Praxis war so etwas an der Tagesordnung, und so gut wie jeder CEO verschloss vor dem die Augen, was andere trieben, weil er niemandem einen Grund liefern wollte, dass irgendwer seine eigenen Regelverletzungen zu genau unter die Lupe nahm. »Einer der Gründe, wieso ich Drakon so sehr vertraut habe, dass ich mit ihm gemeinsame Sache machen konnte, war die Tatsache, dass er mit niemandem schläft, der für ihn arbeitet. Aber Morgan ist attraktiv genug, um sich einen CEO zu angeln, der mächtiger ist als Drakon, erst recht nachdem man ihn hierher ins Exil geschickt hatte. Sie hat beschlossen, mit ihm herzukommen. Mein Instinkt sagt mir, dass Morgan ein geschickteres Spiel verfolgt, anstatt sich einfach nur nach oben zu schlafen.«
»Viele glauben, dass früher einige ihrer Rivalen spurlos verschwunden sein sollen«, ergänzte Togo.
»Gut. Suchen Sie in allen Akten, überprüfen Sie jede Quelle, finden Sie heraus, was Sie nur können. Ich muss wissen, wozu sie fähig sein könnte.«
»Und Colonel Malin?«
»Über ihn auch.« Sie hielt nachdenklich inne. »Mein Eindruck von Malin ist der, dass er behutsam und beherrscht vorgeht und dass er die Denkweise der Syndikatwelten hinter sich lassen will. Aber wenn er versucht hat, Colonel Morgan im Rahmen einer militärischen Aktion zu töten, dann dürfte das eine hastige, impulsive Handlung gewesen sein, die ganz der Art des Syndikats entspricht. Versuchen Sie herauszufinden, was sich hinter Malin wirklich verbirgt.«
Nachdem Togo gegangen war, betrachtete Iceni die Dokumente auf ihrem Bildschirm, ohne sie jedoch zu lesen. Warum hat Drakon nichts von der Nachricht gesagt, die Dun noch gesendet hat? Und was mag sie enthalten haben? Meine Quelle sagt mir, dass Drakons Leute nicht in der Lage waren, irgendwelche Informationen aus Duns Ausrüstung herauszuholen. Dass Drakon mir nichts von den internen Problemen mit seinem Stab gesagt hat, ist ein anderes Thema, und das kann ich auch gut verstehen. Kein CEO gibt so etwas jemals zu, selbst wenn der Konferenzraum mit toten Executives übersät ist und die Überlebenden in aller Eile versuchen, sich das Blut von den Händen zu waschen. Ich finde nur, dass das eine ziemlich nachlässige Art ist, Dinge zu erledigen. Niemand außer dem obersten Boss sollte entscheiden, wer die Axt in die Hand gedrückt bekommt.
Das war ein Witz. Zu schade, dass niemand sonst in diesem Sternensystem darüber lachen kann.
Eine weitere Nachricht ging ein, diesmal von Sub-CEO Akiri von der C-448. »Madam C- entschuldigen Sie, Madam Präsidentin, es hat eine unerwartete Entwicklung gegeben.« Akiri ließ eine Pause folgen und genoss es sichtlich, der Überbringer einer wichtigen Nachricht zu sein, während die Kunstpause Iceni schnell vor Wut kochen ließ. »Einer der Jäger, die mit der C-625 unterwegs waren, ist nicht mit den anderen mobilen Streitkräften ins Hypernet-Portal geflogen. Er ist im System geblieben, und eben haben wir eine Mitteilung von HuK-6336 erhalten, wonach man die ISD-Agenten und Anhänger der Syndikatwelten an Bord überwältigt hat und sich uns anschließen will. HuK-6336 meldet erhebliche Verluste bei der Überwältigung der Schlangen und der Loyalisten, aber sämtliche Ausrüstung soll funktionstüchtig sein.«
»Gut«, erwiderte Iceni. »Was ist mit unseren drei Jägern, die der C-625 gefolgt sind?«
»Die sind immer noch gut eine Lichtstunde vom Hypernet-Portal entfernt und warten auf neue Befehle.«
»Sagen Sie ihnen, sie sollen ihre Mission in die umliegenden Sternensysteme fortsetzen. Ich muss wissen, was in Lono, Taroa und Kahiki los ist. Weisen Sie die Befehlshaber dieser drei Jäger noch einmal ausdrücklich darauf hin, dass jeden, der weitere Kriegsschiffe für unser System rekrutiert, eine angemessene Belohnung erwartet.«
»Ja, Madam Präsidentin.« Akiri schaute ein wenig enttäuscht drein, wohl weil er keine Chance auf eine solche Belohnung hatte. Aber sie würde ganz sicher keinen ihrer Schweren Kreuzer in ein anderes System schicken, wenn sie jedes Schiff hier bei Midway brauchte.
Tja, diese Neuigkeiten waren alle nicht weltbewegend. Ein einzelner Jäger war nicht sonderlich nennenswert, was seine Kampftauglichkeit anging. Trotzdem war das eine erfreuliche Entwicklung, und sie würde den Jäger ganz sicher nicht wegschicken, schließlich brauchte sie jedes einzelne Kriegsschiff. Ich habe gut gespielt. Möchte wissen, ob Drakon eine Vorstellung davon hat, was ich ihm alles nicht gesagt habe; vor allem, was meine Sorge angeht, wie eine so kleine Flotte einen Versuch der Syndikatwelten abwehren soll, das Sternensystem wieder einzunehmen. Es heißt, die Sterne helfen denen, die sich selbst helfen, aber unsere Werften können wegen der Größe nur sehr bedingt maximal Schwere Kreuzer bauen, und davon auch nur dann zwei zur gleichen Zeit, wenn sie von mir die Anweisung bekommen, nichts anderes zu produzieren. Die Regierung auf Prime hätte früher oder später von der Revolte erfahren, aber die C-625 bringt diese Nachricht viel schneller zum Empfänger als erhofft. Dank Black Jack verfügt Prime nicht mehr über viel Material, allerdings ist auch gar nicht so viel nötig, um unsere kleine Flotte zu überrennen. Meine Jäger werden noch einige Zeit brauchen, ehe sie die Sprungpunkte erreicht haben, durch die sie zu den vorgegebenen Sternen gelangen. Zeit, die ich mir eigentlich nicht leisten kann.
Wenn wir nicht bald weitere Kriegsschiffe bekommen, könnte das eine sehr kurzlebige Revolution gewesen sein.