Für Drakon verging die Zeit im Schneckentempo, während die Sturmtruppen minimale Korrekturen an ihren Positionen vornahmen. Dabei musste jede Bewegung mit großer Sorgfalt ausgeführt werden, da es unverzichtbar war, dass man diese Vorgänge vom ISD-Hauptquartier aus nicht erkennen konnte. Drakon hielt den Blick auf den ISD-Komplex gerichtet, konnte aber in allen passiven visuellen Spektren und auch auf den Komm-Frequenzen nichts Außergewöhnliches entdecken. Allerdings war es jetzt auch das Gewöhnliche, das für ihn etwas Bedrohliches angenommen hatte.
»Sturmeinheit Drei ist bereit«, meldete Morgan.
»Gut. Achten Sie auf diese Vipern, wenn wir reingehen, Roh. Die sind zäh.«
»Wir sind zäher. Und jeder Soldat in unseren Reihen hasst die Vipern. Wer kennt schließlich nicht jemanden, der von denen in ein Arbeitslager verschleppt oder einem noch schlimmeren Schicksal überlassen worden ist?«
Drakon nickte stumm und dachte an die Ängste und Sorgen, die ihn über Jahrzehnte hinweg ständig begleitet hatten, während er sich Tag für Tag gefragt hatte, wo er wohl gerade sein würde, wenn die Tür eingetreten wurde. Wenn ein Trupp Vipern in den Raum stürmen würde, um den Befehl der Inneren Sicherheit auszuführen, ihn zum Verhör zu bringen, damit man ihn zu irgendwelchen Verbrechen befragte, die er vielleicht, vielleicht aber auch nicht in Erwägung gezogen hatte, die er aber nach genügend körperlichen und geistigen Strapazen so oder so gestehen würde. Er fragte sich, ob es irgendwen innerhalb der Syndikatwelten gab, der sich diese Gedanken nicht hatte machen müssen. Schlangen. Der übliche Spitzname für das ISD-Personal ließ keinen Zweifel an der Einstellung der Leute zu den Angehörigen dieser Einrichtung, und doch war der ISD energisch und effizient genug gewesen, um jedes Aufbegehren im Keim zu ersticken.
Bis jetzt jedenfalls.
Wieder meldete sich Morgan zu Wort, diesmal klang sie verärgert. »Die Führer der Einheiten wollen wissen, wie es sich mit Gefangennahmen verhält. Brauchen wir einzelne Vipern lebend?«
Das war eine einfache Frage. »Die wissen nichts Nennenswertes. Da ist nichts, was wir aus ihnen herausholen könnten, vorausgesetzt, sie begehen nicht sowieso Selbstmord, um sich einer Gefangenschaft zu entziehen. Es ist auch nicht weiter wichtig. Oder glauben Sie, auch nur einer von denen wird sich ergeben wollen? Jeder von denen weiß doch, was die Soldaten für ihn und seinesgleichen empfinden?«
Morgan lachte und klang ehrlich erfreut. »Nein, sie werden bis zum Tod kämpfen, weil sie wissen, was sie erwartet, wenn sie uns lebend in die Hände fallen. Ich hoffe, wir bekommen wenigstens ein paar von ihnen zu fassen.«
Gut eine Minute später meldete Malin: »Sturmeinheit Zwei ist bereit.«
»Welchen Eindruck machen Ihre Leute?«, wollte Drakon wissen. »Irgendwelche wackligen Kandidaten?«
»Nein, Sir. Das sind die Besten unserer Streitkräfte. Sie haben diesen Tag herbeigesehnt. Außerdem sind Sie nicht ein beliebiger CEO, sondern der einzige CEO, dem das Wohl seines Personals je am Herzen gelegen hat. Diese Leute stehen loyal zu Ihnen. Sie ziehen mit diesen Leuten ins Gefecht – von wie vielen CEOs kann man das schon sagen? Es könnte eine Weile dauern, bis Sie auch den Rest der planetaren Truppen für sich gewonnen haben, aber auch bei denen genießen Sie schon einen guten Ruf.«
Einen guten Ruf auf der Grundlage von Aktionen, die dazu geführt hatten, dass er hierher nach Midway ins Exil geschickt worden war; zusammen mit Morgan und Malin, die sich dazu entschieden hatten, ihm zu folgen. »In der Vergangenheit hat mir das bei Beförderungen nicht allzu sehr geholfen, aber vielleicht ändert sich daran ja bald etwas.« Vorausgesetzt, er siegte und überlebte das Ganze, würde er von einem ziemlich weit unten angesiedelten, militärisch spezialisierten CEO in der weitverzweigten Bürokratie der Syndikatwelten zum dienstältesten militärischen Befehlshaber eines unabhängigen Sternensystems aufsteigen.
Drakon war vom langen Warten angespannt, dabei verblieben immer noch sechs Minuten, bis der neue Zeitplan in Kraft trat. Daher suchte er nach irgendetwas, womit er seinen Verstand wenigstens teilweise ablenken konnte. Dabei kam ihm in den Sinn, was Iceni darüber gesagt hatte, bei den mobilen Streitkräften zum Begriff »Kriegsschiffe« zurückzukehren. Vielleicht waren andere Begriffe es auch wert, dass man über eine Umbenennung nachdachte. »Was halten Sie beide davon, wenn wir zu der alten Struktur der Dienstgrade zurückkehren würden? Also nicht länger CEOs und eine zivile Hierarchie, dafür eine Rückkehr zu militärischen Begriffen?«
»Wir halten es jetzt schon seit gut hundertfünfzig Jahren so«, sagte Malin. »Das sind die Truppe und alle anderen Leute so gewöhnt.«
Es erstaunte ihn nicht, dass sich Morgan auf die andere Seite schlug. »Ich halte diese Rückkehr zu den alten Titeln für eine gute Idee, General Drakon.«
Das hörte sich gut an. General Drakon. Dazu eine Uniform für hochrangige militärische Führer anstelle von Anzügen. Mehr als nur ein Executive-Spezialisierungs- und Zuordnungscode, der etwas darüber aussagte, wer er war. Nicht nur was er war, sondern wer er war. »Wir müssen mit der Vergangenheit brechen, und das erledigen wir womöglich am besten, indem wir in eine noch fernere Vergangenheit zurückblicken.« Einfach entscheiden und die Entscheidung umsetzen. Nicht erst durch Hunderte bürokratische Ebenen kämpfen und dann Jahre darauf warten, dass ein Bescheid ergeht, der das Ansinnen letztlich abschlägt und dabei noch die Frage aufwirft, was einem denn bitteschön eingefallen sei, sich eigene Gedanken zu machen, anstatt einfach das zu tun, was einem gesagt worden war. Ob es in der Allianz genauso schlimm war? Die Allianz war einhundert Jahre lang nicht in der Lage gewesen, die Syndikatwelten zu besiegen. Das hatte sich erst geändert, als Black Jack zurückgekehrt war, was bedeuten mochte, dass in der Allianz wohl auch nicht alles perfekt war.
Aber bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er Kontakt mit den militärischen Führern der Allianz aufgenommen hatte, war er auch nie auf die Idee gekommen, sich als CEO Drakon vorzustellen. Die waren alle Generäle und Admiräle – war er das etwa nicht? »Verdammt noch mal, ich bin ein Soldat.«
»Jawohl, Sir«, stimmte Malin ihm zu. »Vielleicht könnten diese neuen Titel dazu beitragen, dass die Truppen von einem neuen Lebensgeist erfüllt werden.«
Ein trügerisch sanft klingender Alarm ertönte, Drakon warf einen Blick auf die eingehende Nachricht. »Zwischen einem Kreuzer der mobilen Streitkräfte und dem ISD-Hauptquartier ist eine Unterhaltung auf CEO-Ebene festgestellt worden.«
Morgan fluchte wüst. »Das Miststück will uns ans Messer liefern! Sie weiß, dass wir keinen Rückzieher mehr machen können.«
»Wir wissen, dass Hardrad in den Besitz der zurückgehaltenen Befehle gelangt ist«, konterte Malin. »Vermutlich befragt er Iceni jetzt ebenfalls.«
»Es ist egal, wer von Ihnen recht hat. Wir haben jetzt keine andere Wahl mehr, als vorzurücken.« Keine andere Wahl mehr, als womöglich mitten in den eigenen Untergang zu marschieren. Der ISD hatte Nuklearwaffen unter den wichtigsten Bevölkerungszentren des Planeten platziert, aber deren Sprengung erforderte Codes, die Iceni besaß. Zwar konnten die Schlangen diese Bomben letzten Endes auch ohne Icenis Kooperation zünden, aber das würde viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Wenn sie mit den Schlangen gemeinsame Sache machte, dann konnte der Angriff der Bodentruppen nicht mit einem Sieg enden, sondern nur mit der Verwandlung dieser Stadt in einen glühenden Krater. Allerdings hatten sie inzwischen einen Punkt erreicht, an dem sie die Attacke nur noch abbrechen konnten, wenn sie sich den Schlangen ergaben. »Wir gehen rein.«
Der Timer auf seinem Display näherte sich unaufhaltsam einer Reihe von Nullen, was für ihn hieß, sich jetzt ganz auf den Angriff zu konzentrieren und sich durch nichts ablenken zu lassen. »Alle Sturmeinheiten in Bereitschaft halten. Beginn bei Minute null.« Als der grüne »Go«-Alarm aufblitzte, schickte Drakon einen Befehl ab, der augenblicklich an Transmitter weitergeleitet wurde, die die Mitteilung aus der Atmosphäre des Planeten hinausschickten, damit sie von jeder Orbitalstation und jeder Basis auf allen Monden empfangen wurde, auf denen Bodentruppen und Schlangen anwesend waren. Der Befehl konnte maximal mit Lichtgeschwindigkeit gesendet werden, sodass es mehrere Minuten bis hin zu Stunden dauern konnte, ehe er auch die entlegensten Einrichtungen erreicht hatte. Allerdings trafen Meldungen über die Angriffe auf dem Planeten zwangsläufig auch nicht schneller ein, sodass seine Leute den Befehl zur Attacke mindestens einige Sekunden früher erhielten, bevor die Schlangen an ihren Standorten davon erfuhren, was sich auf dem Planeten abspielte.
Mit der nächsten Bewegung wechselte er das Komm-Band auf die Frequenz, die ihn mit jenem Teil der Angriffsstreitmacht zusammenschloss, der von ihm persönlich angeführt wurde. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung spürte er, wie sein Adrenalinspiegel zu steigen begann. Während er im Begriff war, diesen Angriff zu starten, zuckten vor seinem geistigen Auge die Bilder von hundert früheren Kämpfen und Schlachten vorbei, die er alle überlebt hatte. »Sturmeinheit Eins, feuern und vorrücken!«
Ein hundert Meter breiter Streifen aus Marmor, Rasen und Stein, frei von jeglichen Hindernissen und jeglicher Deckung, trennte den ISD-Komplex von den umgebenden Gebäuden. Um zivile Aufrührer gezielt unter Beschuss zu nehmen, genügte dieser Abschnitt, und selbst ein kleinerer Trupp Soldaten hätte bei einem Angriff auf den Komplex keine Chancen gehabt. Doch kein Gebäude ließ sich so konstruieren, dass es einem Massenansturm von Soldaten etwas entgegensetzen konnte, die sich so dicht an ihrem Ziel befanden und so schwer bewaffnet waren.
Drakon hörte auf seinem Komm-Band einen aus Zorn und Trotz geborenen Aufschrei, als seine Soldaten das Feuer auf die verhassten Schlangen eröffneten. Die Sprengteams feuerten Salven in den zweilagigen Zaun rund um den Komplex, die große Löcher in das Hindernis rissen und die Minen zwischen den beiden Zäunen zur Detonation brachten, sodass die Sensoren zerstört wurden. Andere Teams schossen mit panzerbrechender Munition auf die in regelmäßigen Abständen um das Gebäude herum angeordneten Wachtürme, die zum Teil vollautomatisiert, zum Teil aber auch mit Schlangen des ISD besetzt waren. Doch die waren bereits tot, bevor sie herausfinden konnten, wer sie da eigentlich gerade angriff.
Während die äußeren Verteidigungsringe von allen Seiten gleichzeitig komplett in die Luft gejagt wurden, feuerten andere Waffenteams Ausspäh-Salven in der Nähe der Außenmauern des ISD-Gebäudes selbst ab. Dichte Rauchwolken bildeten sich gleich darauf, in denen Infrarot-Köder und radarablenkende Düppel umherschwebten.
Egal bei welchem Angriff er selbst mitgemacht hatte, er konnte sich nie daran erinnern, wie er sich in Bewegung gesetzt hatte. Wie sonst auch hatte er eben noch in der Deckung gekauert, und auf einmal stürmte er bereits über den breiten ungeschützten Streifen, hin zu dem Bauwerk. Er lief mit flachen, schnellen Sätzen, die durch die Assistenzsysteme seiner Gefechtsrüstung unterstützt und spürbar erleichtert wurden. Seine Leute folgten ihm; er nahm sie zu beiden Seiten als dunkle Schemen wahr. Malins Beteuerungen zum Trotz hatte er sich bis zum letzten Moment immer wieder gefragt, ob seine Soldaten tatsächlich die Befehle ausführen würden, wenn dieser Moment gekommen war. Aber das Display seines Helms zeigte Drakon, dass tatsächlich jeder einzelne Soldat sich an diesem Angriff beteiligte.
Feuer zuckte an ihm vorbei, da die Verteidigungssysteme des Gebäudes in der Hoffnung, irgendeinen Treffer zu verbuchen, blindlings zu schießen begonnen hatten. Elektromagnetische Impulssprengladungen gingen ringsum hoch, doch die Impulse, die elektronische Schaltkreise in ziviler Ausrüstung und in standardmäßigen Schutzanzügen durchschmoren ließen, konnten der abgeschirmten Elektronik in der Gefechtsrüstung nichts anhaben. Drakons Soldaten blieben kurz stehen, um das Feuer zu erwidern. Die Gefechtssysteme der Rüstungen markierten dabei die jeweilige Position des Störbeschusses. Dann liefen sie weiter und hielten auf die äußeren Verteidigungseinrichtungen des Gebäudes zu, die unter der lawinenartigen Angriffswelle in rascher Folge verstummten.
Drakon gelangte zu einer massiven Mauer, von der er wusste, dass sich hinter der obersten Schicht aus echten Steinen etliche Ebenen aus Totraum und synthetischer Panzerung verbargen. Die Baupläne für alles, was den ISD-Komplex betraf, unterlagen der höchsten Geheimhaltungsstufe, doch das hatte Malin nicht davon abhalten können, sich sehr fantasievoll in deren System zu hacken und Kopien dieser Unterlagen in seinen Besitz zu bringen. Mehr und mehr von Drakons Leuten erreichten diese Mauer, dann befestigten sie Sprengladungen, die genau so zusammengesetzt waren, dass sie diese spezielle Art der Panzerung aufzubrechen vermochten. »In Deckung!«
Die Sturmeinheiten in unmittelbarer Nähe der Mauer kauerten sich auf den Boden, als die Ladungen detonierten und eine Serie von Explosionen gegen das befestigte Äußere richteten, die Löcher von zwei Metern Durchmesser in das Hindernis rissen. Unmittelbar nach diesen Detonationen stürmten die Soldaten durch die entstandenen Öffnungen, wobei sie sich darauf verlassen konnten, dass jede Verteidigungsvorkehrung gleich hinter der Mauer ebenfalls ausgeschaltet worden war.
Drakon blieb bei seinen Truppen, wobei ihm bewusst war, dass er auf sich allein gestellt wohl kaum den Mut aufgebracht hätte, sich mit einem Satz mitten in die Abwehrmaßnahmen des Feindes zu begeben. Doch diese Angst konnte er jetzt und hier überwinden, da er in einer Gruppe mit anderen unterwegs war. Kaum war er durch das Loch in der Mauer gesprungen, warf er sich auch schon auf die Seite, denn eine Salve aus hochintensivem Feuer jagte durch den Korridor, in den sie eingedrungen waren. Das ist keine bloß automatisierte interne Verteidigungsanlage. Wir müssen in eine Hochburg der Vipern geraten sein. Die Angst war für den Augenblick vergessen, da jetzt von ihm verlangt wurde, dass er Entscheidungen traf. Also überprüfte er die IDs der Soldaten, die sich in seiner unmittelbaren Nähe aufhielten. Die Symbole, die seine Leute darstellten, leuchteten auf dem Display auf, das Informationen auf das Visier seiner Rüstung projizierte. Das Gefechtsbild zeigte ihm exakt, wo sich jeder Einzelne von ihnen auf dem Grundriss dieser Ebene des ISD-Komplexes aufhielt. »Zweiter Trupp, in Deckung gehen und Feuer erwidern, damit diese Vipern beschäftigt sind. Alle anderen gehen mit mir nach Norden.«
Ihm blieb jetzt keine Zeit zur Besorgnis. Seine Aufmerksamkeit galt einzig der Karte auf seinem Helmdisplay, zwischendurch warf er immer wieder einen Blick auf das eigentliche Gebäude, in dem sie sich aufhielten. Alles war von Rauch und Staub durch die Sprengladungen verhangen. Er und die Soldaten, mit denen er unterwegs war, hatten gerade erst den nächsten Durchgang erreicht, als sie auch hier mit einem Sperrfeuer konfrontiert wurden. Drakon warf sich zu Boden und kochte vor Wut über diesen neuerlichen Aufenthalt, dann widmete er sich wieder dem Grundriss auf seinem Display und befahl gleich darauf: »Feuern Sie Verschleierungssalven und EMP-Ladungen auf diese Verteidiger ab. Gefechtsingenieurteam Sigma, sprengen Sie gleich um die Ecke ein Loch in den Boden.«
Die Verschleierungssalven hüllten den Abschnitt zwischen Drakon und den Vipern in einen dichten Nebel, der von Sensoren nicht durchdrungen werden konnte. Im nächsten Moment erzitterte das Gebäude, als die Gefechtsingenieure die Sprengung vornahmen. Drakon und seine Leute krochen zurück um die Ecke, während die Vipern weiter den nunmehr menschenleeren Korridor unter heftigen Beschuss nahmen. Dann sprangen er und die anderen durch das Loch im Boden hinunter auf die nächsttiefere Ebene.
Diese Etage kam ihm seltsam ruhig vor, obwohl die Schießereien in den anderen Abschnitten das Gebäude ständig erzittern ließen. Die Doktrin verlangte von Drakon, nun eine Pause einzulegen und zunächst die komplette Positionierung seiner Streitkräfte zu berücksichtigen, ehe er koordinierte Angriffe anordnete. Allerdings hatte er seine Soldaten so geschult, dass sie auch ohne detaillierte Befehlsvorgaben seinerseits ihre Arbeit erledigen konnten, auch wenn sich die Syndikatshierarchie gegen eine solche Vorgehensweise aussprach, da sie aus gutem Grund eigenständiges Denken fürchtete wie die Pest. Aber Drakons Herangehensweise machte sich nun bezahlt, da individuelle Züge und Trupps der angreifenden Streitmacht sich eigenständig auf jeder freien Route durch das Gebäude bewegten, wie Wasser, das ein nicht ausreichend geschütztes Gebiet überspült.
Die Schlangen schienen nur schwerfällig zu reagieren, so als warteten sie jeweils erst Befehle ab, ehe sie ihre Position veränderten. Solche Verzögerungen erwiesen sich oft als fatal, da Drakons Soldaten entsprechende Stellungen der Verteidiger in der Zwischenzeit einkreisen und auslöschen konnten.
Drakons Helmdisplay zuckte und rauschte, da nicht nur das Gebäude selbst, sondern auch diverse Störsender den Empfang beeinträchtigten. Dennoch waren inzwischen so viele seiner Leute ins Innere vorgedrungen, dass Drakon durch die Signale, die die Gefechtsrüstungen an jede andere Rüstung in Reichweite weiterleiteten, ein halbwegs brauchbares Bild der Ereignisse ringsum empfing. »Hier lang«, befahl er den Soldaten, mit denen er unterwegs war, und ging in südliche Richtung durch einen kurzen Korridor, während der Gefechtslärm wieder lauter und intensiver wurde. Die Angst war nur noch ein weit entfernter Begleiter, verdrängt von der Notwendigkeit, sich auf die Geschehnisse konzentrieren und zügig vorrücken zu müssen.
Ein plötzlicher Alarm überlagerte den dröhnenden Kampflärm. Drakon hielt inne und betrachtete das Symbol, das ihm verriet, dass die Nachricht nur von zwei Personen in diesem System kommen konnte. Er befahl seinen Soldaten stehen zu bleiben, dann nahm er den Ruf an.
Das Bild von CEO Hardrad war verschwommen und zerfiel in statische Pixel, ehe es teilweise wiederhergestellt wurde. »Drakon, brechen Sie sofort diesen Angriff ab, sonst zünde ich die nuklearen Sprengladungen unter jeder Großstadt auf diesem Planeten.«
»Sie haben die Codes nicht.«
»Doch, die habe ich.« Die Interferenzen machten es unmöglich, Hardrads Gesichtsausdruck zu deuten oder einen Eindruck von den Emotionen zu bekommen, die in der Stimme des anderen CEO mitschwangen. Allerdings ließ sich Hardrad auch sonst kaum Gefühlsregungen anmerken. »Iceni hat Sie im Austausch für begrenzte Immunität verraten. Ich habe die Codes, und ich werde eher diese Welt zerstören, bevor ich zulasse, dass Sie die rechtmäßige Autorität stürzen. Falls Sie jetzt noch Ihren Angriff abbrechen, können wir zu einer Einigung kommen. Iceni hat eine gewisse Immunität zugestanden bekommen, und das können Sie auch haben. Andernfalls werden Sie zusammen mit allen anderen sterben.«
Mitten in diesem Gefecht klang es einfach nur seltsam, Hardrad zu hören, wie der eine apokalyptische Drohung aussprach, als würde er lediglich auf ein nicht vollständig ausgefülltes Formular hinweisen. Es passte aber nur zu gut zu jener Kaltblütigkeit, für die der ISD berüchtigt war.
Hat er die Codes oder hat er sie nicht? Wurde ich von Iceni verraten, damit sie ihren eigenen Kopf retten konnte? Kann Hardrad seine Drohung sofort in die Tat umsetzen? Wie lange brauchen meine Truppen noch, um in das massiv befestigte Kommandozentrum vorzudringen und in Hardrads Büro zu gelangen?
Drakons Blick ruhte auf dem Display, das ihm anzeigte, wie seine Soldaten tiefer ins Gebäudeinnere vorrückten. Über das Komm-Band konnte er Befehle und die Jubelrufe der Soldaten hören, denen es endlich ermöglich wurde, gegen einen Feind vorzugehen, der noch verhasster war als die Allianz. Unwillkürlich fragte er sich, ob es ungeachtet der brutalen Disziplin innerhalb der Syndikat-Streitmächte überhaupt möglich war, seinen Truppen den Rückzug zu befehlen, oder ob sie den Angriff nicht in jedem Fall so lange fortsetzen würden, bis keine einzige Schlange mehr lebte.
Die andere Frage war, ob sie diesen Sieg lange würden genießen können oder ob eine nukleare Explosion sie jeden Augenblick mitsamt der ganzen Stadt in den Tod reißen würde.
Iceni stand wie erstarrt da, während sich ihre Gedanken überschlugen. Noch fünf Minuten, bis die Schlangen hier auf diesem Kreuzer vor ihr standen. Was, wenn sich bis dahin auf der Oberfläche noch immer nichts gerührt hatte? Konnte sie weiterhin darauf vertrauen, dass Drakon sich an den Plan hielt?
Sie rief Togo, wobei sich ihr Signal erst einmal seinen Weg um etliche Hindernisse herumbahnen musste, die im Komm-System installiert worden waren, sodass es minutenlang dauerte, ehe eine freie Bahn gefunden war. »Haben Sie etwas vom ISD gehört?«
Togo nickte. »Wir wurden angewiesen, alle Systeme zu stoppen und uns für eine Sicherheitsabtastung bereitzuhalten. Ich kann keine Mitteilungen mehr versenden.«
»Und die Lage in der Stadt?« Die Frage war zu direkt, zu offensichtlich, sodass die Schlangen mit der Nase darauf gestoßen wurden, dass sie irgendein Ereignis erwartet. Aber sie hatte keine Alternative.
»Alles ruhig.«
»Sie müssen für mich …« Iceni verstummte, als die Verbindung unterbrochen wurde. Der ISD musste auf die Unterhaltung aufmerksam geworden sein und hatte die Leitung gekappt, die von ihren eigenen Systemen ausfindig gemacht worden war.
»Drakon.« Akiri ließ den Namen wie einen Fluch klingen, seine Augen spiegelten wachsendes Unbehagen wider.
Dem Mann war die Unentschlossenheit anzumerken, er erinnerte an einen Satelliten, der auf seiner Flugbahn ins Trudeln geriet und womöglich jeden Moment ausbrach. »Bleiben Sie standhaft«, warnte sie ihn. »Sonst wird Ihr Name als Erstes fallen, wenn sie mich verhören.«
Akiri schaute zu dem einzelnen Leibwächter, der Iceni durch den Verbindungsschlauch gefolgt war und sich im Hintergrund hielt, aber seine Umgebung äußerst wachsam im Blick hatte. Akiri war intelligent genug, um einzusehen, dass er gegen den Mann keine Chancen hatte, und er besaß genug Erfahrung, um zu wissen, dass die Schlangen jeden auch nur halbwegs Verdächtigen einkassierten, wenn Iceni diesen Vorwurf aussprach. Also fuhr sich der Kreuzerkommandant nervös mit der Zunge über die Lippen, schließlich nickte er.
Vom anderen Ende des Gangs näherten sich vier Schlangen, die ihre lässige Arroganz genauso offensichtlich zur Schau trugen wie ihre ISD-Anzüge. Weitere fünf Minuten waren vergangen, womit es insgesamt zehn Minuten her war, seit Drakon auf der Oberfläche seinen Angriff hätte beginnen sollen.
Sie hatte eine Quelle ganz in der Nähe von Drakon, doch von dieser Quelle war bislang keine Meldung gekommen. War Drakon dahintergekommen, dass diese Person Informationen an Iceni weiterleitete, und hatte er das nun unterbunden? Oder hörte sie nichts, weil sämtlicher Komm-Verkehr unterbrochen worden war und ihre Kontaktperson sich nicht melden konnte? Nicht einmal Togo wusste von dieser Quelle, also war es auch nicht möglich, dass er eine Nachricht empfangen und ihr verschwiegen hatte.
Den Schlangen folgten Executive Marphissa und einige andere Crewmitglieder, die allem Anschein nach zu Akiri wollten. Iceni merkte ein paar von ihnen die Nervosität auf den ersten Blick an, aber zum Glück war die Aufmerksamkeit der Schlangen ganz auf sie gerichtet. Trotz allem, was sich in den letzten Monaten in anderen Sternensystemen ereignet hatte, war den Vipern noch immer nicht bewusst, dass sich eine offene Revolte überall ereignen konnte. Offenbar waren sie schon seit so langer Zeit die gefürchteten Hüter der Ordnung, dass sie in der Gruppe keine Bedenken hatten, Bürger in ihrem Rücken zu wissen, obwohl etwas mehr Vorsicht nur vernünftig gewesen wäre.
Marphissa und Akiri sahen Iceni fragend an, die Executive strahlte Ruhe aus, der Sub-CEO war sichtlich nervös.
Die Senior-Schlange blieb vor Iceni stehen und lächelte ansatzweise. Iceni wurde bewusst, dass sie inoffiziell unter Arrest gestellt worden war, auch wenn die Schlangen so tun würden, als sollten sie sie lediglich zu einem Treffen eskortieren, bei dem die weitere Vorgehensweise gegen Drakon besprochen werden sollte. Bis sie die Türen zum ISD-Komplex durchschritten hatten, würden diese Männer, die von Icenis Leibwächter keine Notiz nahmen, sie höflich und respektvoll behandeln. Die Senior-Schlange deutete mit einer Handbewegung auf den Zugangsschlauch zum Shuttle. »CEO Iceni, wenn Sie bitte vorgehen würden?«
Iceni erwiderte das Lächeln und beschloss, noch ein paar Minuten herauszuholen. Wenn Drakon noch immer nichts unternommen hat, sobald die mich zum Shuttle schicken, werde ich handeln müssen. »Der Shuttle-Pilot ist noch nicht von meiner Abreise in Kenntnis gesetzt worden. Ich sollte eigentlich viel länger an Bord bleiben.«
Die Senior-Schlange wandte sich einem Untergebenen zu. »Rufen Sie den Shuttle-Piloten.« Nicht mal eine Minute später kam eine Rückmeldung. »Das Shuttle ist jetzt zum Ablegen bereit. Geehrte CEO, wenn ich dann bitten darf.«
Iceni nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle. »Sub-CEO Akiri, meine Inspektion werde ich an einem anderen Tag fortsetzen müssen. Da ich derzeit Probleme mit der Kommunikation habe, übernehmen Sie es bitte, CEO Kolani von meiner Abreise zu informieren.«
»Wird gemacht«, erwiderte Akiri.
»Und noch etwas, Sub-CEO Akiri. Stellen Sie sicher, dass …«
»Geehrte CEO«, unterbrach die Senior-Schlange sie. Er hatte nun eine sichtlich verärgerte Miene aufgesetzt. »Es ist dringend erforderlich, dass wir uns jetzt auf den Weg machen.«
»CEO Hardrad hat mir gegenüber mit keinem Wort verlauten lassen, dass Eile geboten ist«, erwiderte Iceni und spielte eine Karte aus, die ihr vielleicht noch etwas Luft verschaffte.
»Möglicherweise liegt ein Missverständnis vor, CEO Iceni. Unser Befehl umfasste den Hinweis, dass Ihre Sicherheit gefährdet ist, wenn wir Sie nicht so schnell wie möglich in einen sicheren Bereich bringen.«
Ihre Sicherheit wäre gefährdet? Diese Aussage ließ sich sehr großzügig auslegen. Iceni schaute drein, als hätte sie die letzte Bemerkung nicht ganz mitbekommen, was ihr noch ein paar Sekunden mehr einbrachte, dann drehte sie sich zu ihrem Leibwächter um. Allein gegen vier Schlangen hatte er nicht mal den Hauch einer Chance.
»Zum Teufel mit Ihnen, Hardrad!«
Zum ersten Mal überhaupt erlebte Drakon, dass Hardrad die Fassung verlor, als er brüllte: »Sie werden derjenige sein, der hier stirbt, wenn ich diese rebellische Stadt auslösche! Sie und alle anderen!«
»Dann werde ich Ihnen persönlich einen Tritt verpassen, wenn wir vor dem Tor zur Hölle stehen«, gab Drakon laut lachend zurück. »Seit wann versuchen Sie, mit anderen Leuten zu verhandeln? Sie verhandeln nie, Sie handeln. Wenn Sie mir eine Einigung anbieten, dann heißt das, dass Sie die Codes gar nicht haben.«
»Ich habe sie, und ich werde sie benutzen.«
»CEO Hardrad, wenn Sie die Codes hätten, würden Sie sie einfach benutzen. Keine Drohungen, keine Abmachungen. Sie würden einfach alle mit in den Tod reißen, weil der Tod für Sie nicht so wichtig ist. Hauptsache, niemand außer Ihnen steht am Ende als Sieger da. Sie haben mir viel zu viele Gelegenheiten gegeben, Sie bei der Arbeit zu beobachten. Ich weiß, wie Sie vorgehen. Aber ich vermute, Sie haben nicht annähernd so viel Zeit damit verbracht, mir bei der Arbeit zuzusehen.« Womöglich hatte er Hardrad falsch eingeschätzt, dass der lieber sterben als verlieren würde, doch Drakon wusste mit unwiderlegbarer Gewissheit, dass er Hardrad nicht vertrauen konnte, ganz gleich, zu welcher Art von Vereinbarung er sich bereit erklären würde. Für Drakon und Iceni zumindest ging es nur um zwei Dinge: Sieg oder Tod.
Drakon unterbrach die Verbindung, damit er sich wieder auf den Kampf konzentrieren konnte. Wenn er noch einmal mit Hardrad reden sollte, bevor einer von ihnen starb, dann würde es von Angesicht zu Angesicht in der Kommandozentrale der Schlange geschehen.
Womöglich war die kurzzeitige Ablenkung von Nutzen gewesen. Nachdem er eine Zeit lang nicht auf sein Display gesehen hatte, konnte er nun eine Öffnung erkennen, die sich bei den Bewegungen und Kämpfen zwischen Soldaten und Schlangen nutzen ließ. Drakon ließ die Soldaten wieder vorrücken, die mit ihm unterwegs waren. Sie bewegten sich durch einen Flur, durchschritten eine Tür, auf die ein weiterer Flur folgte, bis sie an einer Ecke angekommen waren.
Er stellte fest, dass sie hinter zwei Vipern standen, die die aus der anderen Richtung kommenden Angreifer unter Beschuss nahmen. Drakon richtete seine eigene Waffe auf die beiden, während seine Soldaten das Feuer eröffneten. Die Zielerfassungsanzeige signalisierte ihm, dass er einen guten Treffer landen würde. Er drückte den Abzug durch, die Waffe zuckte in seiner Hand, als der Energieimpuls herausschoss. Die Viper, die sich eben hatte umdrehen wollen, wurde gegen die Wand geschleudert, zwei weitere Treffer aus anderen Waffen rissen den Körper in zwei Teile.
Wie nicht anders zu erwarten, kämpfte die zweite Viper unverdrossen weiter und richtete schließlich die Waffe gegen sich selbst, um zu verhindern, dass sie von denjenigen lebend gefasst wurde, die von ihr unterdrückt und gequält worden waren.
»Dort entlang!«, befahl Drakon dem anderen Zug, dann rückte er mit seiner eigenen Gruppe tiefer in den Komplex vor und folgte den Anweisungen auf dem Helmdisplay, die ihn zur ISD-Kommandozentrale führten.
»… ebene frei!«, hörte er Morgan rufen, dann brach die Verbindung ab.
»Morgan! Falls Sie mich hören können, schicken Sie ein paar Züge rauf, damit die in den oberen Ebenen aufräumen. Der Rest soll zu uns nach unten kommen!« Laut der zusammengetragenen Informationen sollten die oberen Etagen kaum verteidigt sein, da sie für Angriffe und Bombardements als zu verwundbar galten. Demnach hielten sich dort oben auch die wenigsten höherrangigen Angehörigen des ISD auf, und die würde man immer noch bequem einsammeln können, wenn die unteren Ebenen erst eingenommen worden waren.
Er wusste nicht, ob der Befehl bei Morgan angekommen war, doch auf seinem Display sah er Gruppen von Sturmtruppen, die sich durch Korridore auf die nächsttiefere Ebene begaben, während die Symbole des Kontakts mit Ansammlungen von Verteidigern aufblinkten und dann wieder erloschen, weil die Soldaten eine andere Richtung einschlugen oder aber genau diesen Posten soeben überrannt hatten.
Etwas traf Drakon an der Schulter und warf ihn nach hinten, im nächsten Moment eröffneten die Soldaten um ihn herum das Feuer auf einen weiteren Verteidigungsposten der Vipern ein Stück voraus. Einer der Männer richtete ein gedrungenes Rohr auf die gegnerische Stellung und feuerte, dann folgte eine so gewaltige Erschütterung, dass die Soldaten rund um Drakon den Halt verloren und zu Boden gingen.
Er lag da und blinzelte einen Moment lang, während seine Rüstung mit Alarmtönen auf Schäden aufmerksam machte und einen Beinahebruch der Panzerung an der Stelle meldete, an der er von der Viper getroffen worden war. Sein Blick auf das aktuelle Geschehen war diesmal vollständig unterbrochen worden, und für den Augenblick konnte er außer Chaos nichts sehen und fühlen. Drakon versuchte, seine Nerven in den Griff zu bekommen und sich mit aller Macht zu konzentrieren, bis das Durcheinander auf seinem Display wieder einen Sinn ergab. Dann zwang er sich aufzustehen, während seine Soldaten um ihn herum schon wieder auf den Beinen waren und zum Ende des Korridors stürmten, wo benommene Vipern krampfhaft versuchten, wieder zur Besinnung zu kommen; aber noch lange bevor sie sich hätten aufrichten können, wurden sie von den Salven ihrer Angreifer niedergemetzelt. Als Drakon die Schlangen sterben sah, stellte er fest, dass das bei ihm keinerlei Gefühlsregung auslöste. Für den Augenblick hatte er auch Gefühle wie Erleichterung und Rachsucht erfolgreich aus seinem Verstand verdrängt.
Ein weiterer Soldat tauchte aus dem Rauch aus, er kam durch ein Loch in der Wand, das die Erschütterungsmunition verursacht hatte. »Alles in Ordnung, Sir?«, fragte Malin.
»Ja.« Drakons Display gab an, dass sie nicht mehr weit von der Kommandozentrale entfernt waren, die noch eine Ebene tiefer untergebracht war. »Mit wie vielen Leuten sind Sie hier?«
»Zwei Trupps.«
»Ich habe noch den größten Teil von drei Trupps. Gehen Sie in diese Richtung und versuchen Sie, über der Kommandozentrale ein Loch in den Boden zu sprengen. Das lässt die Schlangen womöglich glauben, dass wir nur versuchen, auf dem Weg zu ihnen vorzudringen. Ich gehe inzwischen mit meinen Leuten runter, dann schlagen wir von Osten kommend zu.«
»Ja, Sir.« Malin verschwand in dem als Gegenmaßnahme erzeugten Nebel, dann eilte Drakon mit seiner kleinen Streitmacht eine Treppe nach unten, die ungewöhnlich lang war dafür, dass sie nur das eine Stockwerk mit der Etage unmittelbar darunter verband. Aber diese Tatsache bestätigte Drakon nur, dass die gestohlenen Baupläne echt waren, hatten die doch eine massive Panzerung in der Decke über der Kommandozentrale erkennen lassen. Der vorderste Soldat der Gruppe erreichte endlich einen Treppenabsatz, wurde dann aber sofort seitlich zurückgeschleudert, als die Treppe von der Explosion einer Mine erschüttert wurde. Drakon überwand mit einem Satz das Loch im Boden und folgte seinen Soldaten, die bereits durch den nächsten Korridor hetzten.
Aus diesem Korridor begegnete ihnen weiterer Beschuss, sodass Drakon und seine Leute gezwungen waren, sich nahe der Wand hinzukauern und in Deckung zu gehen. Sein Atem ging schwer, das Gesicht war unter dem Helm seiner Rüstung nass geschwitzt, weshalb er wünschte, er könnte es sich mit einem Lappen trocken wischen. Und er wünschte, sie hätten noch eine Erschütterungsbombe griffbereit.
Der Anführer einer Subsektion warf sich neben Drakon zu Boden. »Wir halten das für automatisches Feuer, Sir. Eine letzte Verteidigungsmaßnahme vor dem Zugang zur Kommandozentrale und zur Zitadelle.«
»Verdammt massiver Beschuss für eine letzte Maßnahme«, grummelte Drakon und scrollte sich durch sein Display. Wenn die Anzeigen trotz der Interferenzen stimmten, dann war es Malin noch nicht gelungen, einen Weg durch die gepanzerte Decke der Zentrale freizusprengen, auch wenn das in erster Linie als Ablenkungsmanöver gedacht war, während weitere Einheiten von anderen Seiten versuchten, sich Zugang zur Zentrale zu verschaffen. Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis die Schlangen ihre Nuklearbombe zünden? Iceni hat mir zwar erklärt, dass es ohne die von der System-CEO unter Verschluss gehaltenen Codes einige Zeit dauern würde, um diese Sicherungsvorkehrungen zu umgehen, aber sie konnte mir nicht sagen, wie groß dieser Zeitraum ist.
Der gesamte Komplex wurde von einer langanhaltenden Detonation erschüttert, die so gewaltig war, dass Drakon bereits zu überlegen begann, ob das ganze Gebäude gleich über ihnen zusammenbrechen würde. Der Explosion folgte ein langes, undeutliches Zittern, als würden tatsächlich einige Teile einstürzen. Drakon verspürte einen eisigen Schauer, und es war fast so, als würde er vor Angst erstarren, dass Hardrad doch von Iceni die Codes erhalten haben könnte oder dass er es auch ohne ihre Hilfe geschafft hatte und nun seine Drohung in die Tat umsetzte und die Stadt zerstörte.
Aber sein Anzug hatte keine erhöhte Strahlung festgestellt, und die Schockwelle schien eher innerhalb des Gebäudes ihren Ursprung zu haben. Sie kam ihm nicht vor wie ein seismischer Stoß, wie ihn die Detonation einer unter der Planetenoberfläche versteckten Bombe hätte auslösen müssen.
Plötzlich fiel ihm auf, dass das Abwehrfeuer der oberen Ebenen ganz erheblich nachgelassen hatte. Sein Display zeigte ihm nur noch die Grundrisse des Gebäudes, erst ein paar Sekunden später erwachte das Bild wieder zum Leben, das Auskunft über die Truppenbewegungen gab – und das erkennen ließ, dass Sturmtruppen auf der gegenüberliegenden Seite in die Kommandozentrale strömten. Rote Symbole, die Schlangen und Vipern darstellten, entfernten sich in rascher Folge. Manche erloschen, als wären sie getötet worden, andere bewegten sich auf den Korridor zu, in dem Drakon sich aufhielt.
»Position halten!«, rief er seinen Leuten zu. »Schlangen auf dem Weg hierher!«
Gepanzerte Gestalten tauchten vor ihnen auf, dazwischen ein paar Leute, die nur Schutzanzüge trugen. Alle waren sie auf der Flucht – und dabei liefen sie Drakons Männern genau in die Arme. Er und seine Soldaten eröffneten das Feuer und mähten die Fliehenden nieder, als die versuchten, aus der Falle zu entkommen, in die sich ihre eigene Kommandozentrale verwandelt hatte.
Die letzte der besiegten Schlangen blieb stehen und hielt kapitulierend die Hände ausgestreckt, gleich darauf wurde sie nach hinten gerissen, als ein Schuss sie mitten in die Brust traf. »Hoppla«, sagte ein Soldat ohne jede Gefühlsregung. »Da ist mir doch glatt der Finger abgerutscht.«
Drakon machte sich nicht die Mühe, den Soldaten nach seiner Identität zu fragen. Er hatte von Anfang an gewusst, dass die Schlangen nicht mit Nachsicht oder Gnade rechnen durften, hatten sie doch die Bevölkerung auch ohne jegliche Nachsicht und Gnade drangsaliert.
Einen Moment lang herrschte Ruhe. Drakon fluchte, da sein Display wieder zu flackern und zu rauschen begann. Grüne Symbole leuchteten am anderen Ende des Korridors auf, gleichzeitig verstummte die automatische Verteidigungsanlage. Augenblicke später funktionierte das Display wieder einwandfrei, da die letzten Störsender der Schlangen abgeschaltet worden waren und ordentliche Verbindungen zu den Soldaten wiederhergestellt wurden, die überall in den Überresten des ISD-Gebäudes unterwegs waren.
Er ging auf die Soldaten zu, die ihm entgegenkamen, und hörte ihren Jubel ebenso wie den ihrer Kameraden. Wie es schien, war die Komm-Disziplin völlig vergessen worden, da die Soldaten den Tod der gefürchteten Schlangen und damit den Beginn einer Freiheit feierten, wie sie sie nie zuvor erlebt hatten.
Diese Freiheit könnte später noch zu Schwierigkeiten führen, und vermutlich würde sie das auch, aber damit konnte er sich immer noch befassen, wenn jener Augenblick eintreten würde.
Drakon betrat die Kommandozentrale, in der immer noch Rauch- und künstliche Nebelschwaden umhertrieben. Die Konsolen und Arbeitsstationen waren aus nächster Nähe zerschossen oder von Sprengladungen zerrissen worden, tote Schlangen und auch ein paar gefallene Soldaten lagen auf dem Boden verstreut. In der gegenüberliegenden Wand klaffte ein gewaltiges Loch.
Morgan kam ihm durch den Rauch und Nebel entgegen, ihre Panzerung war von etlichen Treffern mit Narben überzogen worden, aber kein Geschoss war durchgedrungen. Sie tippte mit der rechten Faust gegen die linke Brust, um zu salutieren. »Sämtlicher Widerstand wurde neutralisiert, Sir.«
»Was um alles in der Welt hat denn dieses Loch in die Wand gerissen?«, wollte Drakon wissen.
Sehen konnte er Morgans Grinsen nicht, aber er hörte es aus ihrer Stimme heraus. »Die Ingenieure haben sechs Mauerbrecher zusammengeschlossen und so geschaltet, dass immer zwei gleichzeitig hochgegangen sind, Sir.«
»Sechs Stück? Woher wussten Sie, dass das nicht das ganze Gebäude zum Einsturz bringen würde?«
»Die Ingenieure meinten, das sei sicher, Sir. Oder besser gesagt, sie waren ziemlich zuversichtlich, dass das Bauwerk nicht zusammenbricht.«
Ziemlich zuversichtlich. Er wusste genau, wer den Ingenieuren den Befehl gegeben hatte, die sechs Mauerbrecher zusammenzuschließen. »Gute Arbeit, Morgan.«
Auch Malin kam zu ihm, seine Rüstung war weitestgehend unversehrt, doch die Waffe glühte noch von der Hitze, die sich infolge der extrem hohen Schussfrequenz gestaut hatte. »Ich konnte mit einem Gefangenen reden, bevor er starb. Sie haben versucht, die geheimen Nuklearsprengsätze zu zünden, von denen einer hier unter der Stadt liegt, aber sie waren immer noch drei Minuten von der letzten Feuerfreigabe entfernt gewesen.«
»Drei Minuten?« Dann hatte Hardrad gelogen … und Iceni hatte sie nicht verraten. »Wenn sie diese Codes in Besitz gehabt hätten, hätten wir es niemals bis hierher geschafft.«
»Richtig, Sir. Schon gut, dass CEO Iceni diese Aktivierungscodes tatsächlich für sich behalten hat.«
»Wo ist CEO Hardrad?«, wollte Drakon wissen, während er sich in der verwüsteten Kommandozentrale umsah.
»Tot, Sir«, erwiderte Morgan.
»Das ist das, was er ist. Aber wo ist er?«
»Was noch von ihm übrig ist, finden Sie in seinem Büro.« Morgan zeigte zu einer Seite. »Er war damit beschäftigt, die Sprengcodes herauszufinden, als sein Gehirn mit einem Mal zum Wandschmuck wurde.«
Drakon musste nicht erst überlegen, wer Hardrad wohl das Hirn weggeschossen hatte, aber er konnte Morgan nicht vorwerfen, übereilt gehandelt zu haben, wenn er gleichzeitig wusste, was der Mann vorgehabt hatte. Vielleicht war er ja auch nur Sekunden davon entfernt gewesen, die Bomben zu zünden. »Lassen Sie das Büro von einem Team auf den Kopf stellen und nachschauen, ob da noch Fallen lauern oder ob noch irgendwas in Betrieb ist, was nur den Anschein erweckt, als wäre es abgeschaltet.«
Malin leitete den Befehl weiter, dann lauschte er einen Moment lang, schließlich machte er mit einer ausholenden Geste auf sich aufmerksam. »Die Sturmeinheiten aus den anderen Städten haben sich gemeldet. Die Sub-CEOs Kai, Rogero und Gaiene teilen mit, dass die drei ISD-Subkomplexe eingenommen worden sind. Die übrigen ISD-Stationen sind alle gestürmt worden. Ohne Unterstützung durch die Subkomplexe und die Zentrale hier sind sie hilflos. Der Planet untersteht ihrer Kontrolle, Sir.«
Damit blieben immer noch die Orbitaleinrichtungen, aber sollten die Angriffe dort fehlschlagen, würde man im schlimmsten Fall hinfliegen und dort oben sauber machen müssen. Drakon lächelte, sein Atem beruhigte sich allmählich, und der ganze Körper ließ den aufgedrehten Gefechtsstatus hinter sich. Wieder sah er sich die rauchende Trümmerlandschaft an, die vor Kurzem noch die ISD-Kommandozentrale und damit eines der Autoritätszentren der Syndikatwelten in diesem System gewesen war. Diese Autorität war nun gebrochen. »Dann besteht meine erste Amtshandlung darin, bei den Bodenstreitkräften das alte System der militärischen Dienstgrade wiedereinzuführen. Ich bin ab sofort General Drakon, nicht CEO Drakon. Sagt Ihnen das zu, Colonel Morgan?«
»Ja, Sir!«, rief sie begeistert. »Ich nehme an, Major Malin stimmt dem auch zu.«
»Bran ist ebenfalls ein Colonel, Roh.«
Malin zeigte auf Morgan. »Ich dachte, sie wäre mehr daran interessiert, dass sie selbst über ihr eigenes Maß an Kompetenz hinaus befördert wird. Oh … Moment mal … das ist ja schon viel früher passiert.«
»Sie sind beide Colonels«, sagte Drakon. »Ende der Diskussion. Colonel Malin, teilen Sie den Sub-CEOs Kai, Rogero und Gaiene bitte mit, dass sie ab sofort auch Colonels sind. Colonel Morgan, lassen Sie bitte den gesamten Komplex durchsuchen. Ich möchte Gewissheit haben, dass uns keine Schlange entkommen ist oder sich hier noch irgendwo versteckt hält.« Er betrachtete die zerschmetterten Konsolen und Pulte und musste darüber nachdenken, wie lange dieser Planet, dieses ganze System von diesem Raum aus beherrscht worden war. »Jeder Widerstand von Loyalisten und allen anderen, die sich gegen uns erheben wollen, braucht seine Zeit, um sich zu organisieren. Unsere momentane Sorge betrifft allein die Kriegsschiffe da oben.«
»Kriegsschiffe? Werden wir etwa ganz und gar nostalgisch? Aber egal, wie wir sie nennen, wir haben keine Möglichkeit, ein orbitales Bombardement zu verhindern!«, stellte Morgan fest.
»CEO Iceni verfügt über einige Erfahrung mit Weltraumgefechten. Hoffen wir, dass das genügt.«
»Wir sollten vor allem hoffen, dass sie immer noch unsere Verbündete ist und nicht längst plant, alle Konkurrenten in diesem Sternensystem aus dem Weg zu räumen«, ergänzte Morgan im Wegdrehen. »Ansonsten erwartet uns in ein paar Stunden eine unangenehme Überraschung.«
An Bord des Schweren Kreuzers C-448 im Orbit um die Primärwelt im Midway-Sternensystem machte die Senior-Schlange soeben den Mund auf, um etwas zu Iceni zu sagen, hielt dann aber verdutzt inne, als ihre eigene Komm-Einheit einen gellenden Alarm ertönen ließ. In diesem Augenblick, in dem die Schlangen kostbare Sekunden vergeudeten, um zu begreifen, dass sich etwas Schwerwiegendes abspielte, gab Iceni Akiri und Marphissa ein knappes Zeichen.
Die Anzüge der Schlangen waren mit verschiedenen Verteidigungsmechanismen ausgestattet, die ihre Träger vor Angriffen schützten, lediglich die obere Hälfte des Halses blieb unbewehrt. Executive Marphissa zog ein Messer, glitt hinter die Senior-Schlange und schnitt dem Mann den Hals so tief auf, dass die Klinge einen Moment lang völlig im Fleisch verschwand. Nur eine der anderen Schlangen zeigte auf diesen unerwarteten Angriff überhaupt noch eine Reaktion, dann lagen sie auch schon alle auf dem Deck, und das Blut bildete rasch größer werdende Lachen um sie herum. Icenis Leibwächter hatte einen Schritt nach vorn gemacht, als er die Klinge hatte aufblitzen sehen, aber dann war er auf seinem Platz geblieben, um zuzusehen, wie die Schlangen getötet wurden.
Marphissa horchte auf eine Nachricht, die über ihre Komm-Einheit hereinkam, dann nickte sie Akiri zu. »Die letzte Schlange, die noch in deren Schnüfflerkabine steckte, ist auch tot.«
»Wie haben Sie jemanden in diesen Raum einschleusen können?«, wunderte sich Iceni, da sie wusste, wie gut die Schlangen ihre kleinen Zitadellen innerhalb der Schiffe bewachten.
»Die diensthabende Schlange hatte Gefallen an einer Offizierin gefunden«, erläuterte Marphissa. »Sie bot sich als Verbindungsoffizierin für die Zeit an, wenn die anderen Schlangen anderweitig beschäftigt sein würden. Aber der Höhepunkt fiel wohl etwas intensiver aus, als die Schlange erwartet hat.«
»Es geht doch nichts über die ältesten Tricks«, meinte Iceni ironisch. »Sub-CEO Akiri, meine Agenten auf denjenigen Schiffen, deren Befehlshaber mir ihre Loyalität zugesichert haben, müssen in Aktion getreten sein, als der Angriff auf der Oberfläche begann. Ich muss jetzt formal jedem Schiff und auch CEO Kolani mitteilen, dass ich mit sofortiger Wirkung das Kommando übernehme.«
»Wie viele Schiffe sind auf Ihrer Seite?«, wollte Akiri wissen.
»Auf unserer Seite, Sub-CEO Akiri. Wir sitzen jetzt alle im selben Boot.« Akiri schien von diesen Worten nicht so ganz überzeugt zu sein. »Der größte Teil der mobilen Streitkräfte, also der Kriegsschiffe, hat sich uns angeschlossen. Vielleicht sind es genug, um Kolani davon zu überzeugen, dass sich ein Kampf gegen uns für sie nicht mehr lohnt. Gehen wir auf Ihre Brücke.«
Iceni warf einen Blick auf die Leichen an Deck und machte einen Schritt zur Seite, um nicht in das blutrote Rinnsal zu treten, das sich ihr langsam näherte. Trotz ihrer Einstellung gegenüber den Schlangen und trotz aller Einsicht, dass der Schritt, den sie hier gerade getätigt hatten, notwendig gewesen war, verkrampfte sich ihr dennoch der Magen, als sie das Blut sah und roch. Aber jetzt war keine Zeit, um Wehleidigkeit oder Unschlüssigkeit erkennen zu lassen, erst recht nicht, wenn die Zivilisten in ihrer Nähe bereits das Blut eines ihrer toten Meister gerochen hatten. Während ihres schwierigen Aufstiegs in den Rang einer CEO hatte Iceni schnell gelernt, wie man nach außen hin den Eindruck erweckte, dass einem sein eigenes Handeln in keiner Weise etwas ausmachte. »Jemand soll das hier sauber machen.«
Gefolgt von ihrem Leibwächter und Marphissa ging Iceni mit Akiri zur Brücke des Kreuzers, wobei sie sich für jemanden, der gerade damit befasst war, eine Rebellion gegen die Syndikatwelten anzuführen, sonderbar niedergeschlagen vorkam. Doch die Chancen standen äußerst schlecht, dass Kolani ihre Autorität anerkennen würde, also war mit einem Kampf auch hier oben im All zu rechnen. Dabei hatte Iceni für heute schon genug Tote zu Gesicht bekommen.