Zehn

»Sub-Executive Kontos, hier spricht Präsidentin Iceni. Wir sind auf dem Weg zu Ihnen, um Ihnen beizustehen. Halten Sie durch, solange Sie können. Wir haben die Schlangen bei Midway ausgelöscht, und wir werden hier das Gleiche tun. Wenn es Ihnen gelingt, Ihr Komm-System wiederherzustellen, dann halten Sie uns über Ihren aktuellen Status auf dem Laufenden.« Es sprach einiges dagegen, dass Kontos diese Nachricht überhaupt empfangen würde, und mit einer Antwort darauf war auch kaum zu rechnen. Aber falls die überlebende Crew ihre Botschaft zu hören bekam, würde sie dadurch vielleicht so sehr motiviert, dass sie länger durchhielt.

Marphissa deutete mit einem Finger auf das Display. »Wie schalten wir diese andere Flotte schnell genug aus, um unsere Bodenstreitkräfte auf das Schlachtschiff bringen zu können? Wir verfügen nicht über genug Feuerkraft, um all diese Kriegsschiffe bei einem einzigen Vorbeiflug außer Gefecht zu setzen.«

»Das werden wir gar nicht erst versuchen«, sagte Iceni und lehnte sich zurück, wobei sie ein deutliches Gefühl von Selbstsicherheit verspürte. In den letzten Monaten hatte sie sich wieder und wieder die Aufzeichnungen der Gefechte angesehen, die Black Jacks Flotte ausgetragen hatte, bis ihr auf einmal das eine Verhaltensmuster auffiel, nach dem sie die ganze Zeit über gesucht hatte. Wenn die Situation es zuließ, vermied Black Jack das zu tun, was der Gegner von ihm erwartete. Es klang so simpel. Wenn der Feind einen unter diesen und jenen Umständen zum Angriff herausforderte, dann unternahm er, sofern das machbar war, etwas ganz anderes.

Das war nicht die Art von Kriegsführung, die man ihr eingetrichtert hatte. Eine halbe Ewigkeit war sie dazu angehalten worden, den Feind zu töten, seine Streitmacht zu zerschlagen und zu diesem Zweck so beharrlich aufeinander zuzurasen, dass schließlich eine Seite nachgab. So war gekämpft worden, seitdem im Verlauf der ersten Jahrzehnte des Kriegs gegen die Allianz diejenigen gestorben waren, die noch andere Gefechtsmethoden gekannt hatten, gefolgt von jenen, die noch einen Teil davon erlernt hatten, bis niemand mehr da war, der alte Taktiken kannte und vermitteln konnte. Black Jack dagegen stammte noch aus der Zeit, als der Krieg gerade erst ausgebrochen war, und er hatte nie das getan, wozu sein Gegner ihn verleiten wollte.

»Madam Präsidentin?« Kommodor Marphissa deutete abermals auf ihr Display. »Wir müssen diese Flotte zerstören.«

»Nein, das müssen wir nicht. Wir müssen sie nur schlagen. Was wollen die erreichen? Dass wir langsamer werden. Dass unsere Schiffe beschädigt werden. Dass wir lange genug aufgehalten werden, damit die Schlangen Zeit haben, die Kontrolle über das Schlachtschiff zu erlangen. Wir werden sie nicht eines dieser Ziele erreichen lassen.«

Marphissa nickte in der Art, wie man es machte, wenn man bestätigen wollte, dass man das Gesagte gehört, aber nicht zwangsläufig auch inhaltlich verstanden hatte. »Was unternehmen wir stattdessen?«

»Wir fliegen an dieser Flotte vorbei, ohne uns auf einen Kampf einzulassen. Dann bremsen wir so weit ab, dass wir die Shuttles mit den Bodenstreitkräften an Bord so nah wie möglich am Schlachtschiff absetzen können. Danach beschleunigen wir gleich wieder und schlagen erst dann gegen die andere Flotte zu. Die werden in der Zwischenzeit kehrtgemacht haben, um uns anzugreifen.«

Wieder verriet Marphissas Nicken nur ein teilweises Begreifen. »Wie werden wir das erreichen, Madam Präsidentin?«

Iceni lächelte. »Ich habe unsere Ziele und Absichten formuliert, Kommodor. Als Befehlshaberin der Flotte und als erfahrene Leiterin mobiler Streitkräfte überlasse ich es Ihnen, die beste Lösung für diese Vorgaben zu finden.«

»Ich … verstehe«, murmelte Marphissa und starrte eine Weile auf ihr Display. »Danke für diese Gelegenheit, mein Können unter Beweis zu stellen, Madam Präsidentin.« Bemerkenswert war dabei, dass in ihrer Stimme nicht einmal ein Hauch von Sarkasmus mitschwang.

»Ich habe volles Vertrauen in Ihr Können, Kommodor.«

Minutenlang war Marphissas Blick auf ihr Display gerichtet. Sie sagte kein Wort, ihre Augen verrieten höchste Konzentration. Schließlich bewegte sie die Hände und umriss mögliche Vorgehensweisen, damit die Steuersysteme des Schiffs die mutmaßlichen Resultate anzeigen konnten.

»Kommodor?«

Marphissa wurde aus ihren Überlegungen gerissen, drehte sich um und warf dem Ablauf-Spezialisten einen verärgerten Blick zu. »Was ist denn?«

»Kommodor«, begann der Spezialist und schluckte nervös. »Ich denke, wenn der ISD die mobilen Streitkräfte der anderen Flotte kontrolliert und wenn sie die automatische Kontrolle aktiviert haben, da die Offiziere tot sind oder unter Arrest gestellt wurden, dann wird es sich um die gleichen automatischen Systeme handeln wie die, die unsere eigenen mobilen Streitkräfte benutzen.«

»Ja, und?«, herrschte Marphissa den Spezialisten an.

»Wenn wir eine Simulation durchspielen, bei der unsere automatischen Systeme die Aktionen der anderen Flotte kontrollieren, dann wird uns das zeigen, wie die Flotte tatsächlich auf uns reagieren wird. Wir können ihr Verhalten voraussagen.«

Der gereizte Ausdruck wich aus Marphissas Gesicht. »Das ist eine exzellente Beobachtung. Eine Simulation stößt immer dort an ihre Grenzen, wo man nicht sagen kann, wie die Gegenseite tatsächlich reagieren wird. Aber in diesem Fall werden wir das sogar ganz genau wissen. Beginnen Sie die Simulation.«

»Ja, Kommodor.«

Iceni beugte sich zu Marphissa rüber. »Warum ist er kein Sub-Executive? Ein Schiffsoffizier oder ein Leytenant?«

»Ich werde mich damit befassen«, erwiderte sie.

Als die Simulation auf einem Teil ihres Displays zu laufen begann, widmete sich Marphissa wieder ihrer Arbeit, wobei sie sich nach und nach sichtlich entspannte und schließlich einen zufriedenen Eindruck machte. »Es ist machbar, Madam Präsidentin. Ich muss die Befehle an die anderen Einheiten der Flotte übermitteln, damit das Timing auch genau richtig ist. Der schwierigste Moment wird das Bremsmanöver sein, um das Schlachtschiff zu erreichen. Das wird unsere Einheiten der größten Belastung aussetzen.«

»Aber es geht? Bewegt es sich im Rahmen der Fähigkeiten unserer Kriegsschiffe?«, wollte Iceni wissen.

»Jjjaaa.« Diese Bestätigung kam so gedehnt und zögerlich über Marphissas Lippen, dass sie Anlass zu Sorge gab.

»Lassen Sie mich sehen.« Iceni ließ den Plan auf ihrem Display durchlaufen und verfolgte mit, wie die Flotten sich im Zeitraffer einander näherten. Einige Manöver würden die Belastung für die Kriegsschiffe dicht an den roten Bereich führen, aber nicht in den Bereich hinein, bei dem die Gefahr bestand, dass ein Schiff buchstäblich in Stücke gerissen wurde. Jedenfalls theoretisch betrachtet. In der Praxis dagegen würden diese Manöver das Material auf eine Weise belasten, der zumindest einzelne Einheiten womöglich nicht gewachsen waren. »Wir werden die automatischen Sicherheitssperren aufheben müssen«, merkte Iceni an.

»Ja, Madam Präsidentin. Die Sperren würden uns solche Manöver nicht fliegen lassen.«

Sollten sie auf Nummer sicher gehen und verlieren, oder sollten sie auf Risiko spielen und so die Chance auf einen Sieg bekommen? Wieso war sie überhaupt hergekommen, wenn sie nicht bereit war, ein Risiko einzugehen? »Gut gemacht, Kommodor. Ich genehmige Ihren Plan. Wann beabsichtigen Sie, ihn an den Rest der Flotte zu senden?«

»Elf Minuten vor dem Kontakt. Wir sind alle eine Lichtsekunde voneinander entfernt, damit bleibt für jedes Schiffssystem genug Zeit, um den Plan entgegenzunehmen und zehn Minuten vor dem Kontakt bereit zu sein, ihn auszuführen.«

»Damit bleibt den Befehlshabern dieser Kriegsschiffe nicht mehr viel Zeit, um zu verstehen, was genau sie da eigentlich tun werden.« Iceni sah sich wieder den Plan an. »Das dürfte eine gute Sache sein, denn wenn sie erst noch Zeit haben, sich damit eingehender zu befassen, fangen sie womöglich an zu denken, und dann gelangen sie unter Umständen zu der Ansicht, sie hätten irgendwelche Fehler entdeckt.«

»Nicht mal das System der Syndikatwelten hat es geschafft, uns das Denken vollständig auszutreiben«, gab Marphissa zurück.

»Manche Leute haben noch nie eigens dazu aufgefordert werden müssen, das Denken einzustellen, Kommodor, während andere erst gar nicht mit dem Denken begonnen haben. Schicken Sie das sofort an Colonel Rogero, damit er seine Soldaten an Bord gehen lassen kann. Wir werden erheblichen g-Kräften ausgesetzt sein, während seine Leute sich in die Shuttles begeben, und die werden ihnen auch ohne Gefechtsrüstung genug Schwierigkeiten bereiten.«

Drei Lichtminuten trennten die sich jeweils mit 0,1 Licht dem Gegner nähernden beiden Flotten noch voneinander, deren kombinierte Annäherungsgeschwindigkeit bei 0,2 Licht lag. Das wiederum bedeutete, dass die beiden Streitkräfte sich in fünfzehn Minuten für sehr kurze Zeit in unmittelbarer Nähe zueinander befinden würden.

Es würde wirklich nur für sehr kurze Zeit sein, doch die genügte ihren Waffen, dem jeweils anderen beträchtlichen Schaden zuzufügen.

Iceni warf zum sicherlich hundertsten Mal innerhalb der letzten paar Minuten einen Blick auf die Bereitschaftsanzeigen der Flotte. Jede Einheit wies den Bereitschaftsstatus Eins auf, alle Waffen waren feuerbereit, alle Zielerfassungssysteme hatten sich auf die gegnerische Flotte ausgerichtet. Ihre eigene Flotte war nach wie vor in Kastenformation unterwegs, da sie der Ansicht war, dass sie schon genug Veränderungen vorgenommen hatte, und zudem fürchtete, die Einheiten könnten mit einer Neuausrichtung der Formation überfordert sein. Nur weil du glaubst, du hast einen Aspekt von Black Jack durchschaut, heißt das nicht, dass du das Gleiche leisten kannst wie er.

»Und da gehen die automatischen Befehle raus«, meldete Marphissa, als sie ihre Kontrolle betätigte. »Den Countdown zur Aktivierung beginnen.«

Dreißig Sekunden später meldete sich der befehlshabende Offizier der C-413. »Was für ein Plan ist denn das?«

»Ein Plan, den Präsidentin Iceni angeordnet hat«, erwiderte Marphissa. »Aktivierung in fünfundzwanzig Sekunden. Ein Nichtaktivieren werden Sie ihr erklären müssen.«

»Ich … wir reden später darüber!«

»Zehn Sekunden bis zur Aktivierung.« Plötzlich sah Marphissa Iceni besorgt an. »Neigen Sie zu Kinetose?«

»Ich will’s nicht hoffen.«

»Aktivierung!«, rief der Steuer-Spezialist.

Der Schwere Kreuzer C-448 und jedes andere Kriegsschiff in Icenis Flotte gingen im gleichen Moment auf maximale Beschleunigung. Die Trägheitsdämpfer heulten gequält auf.

Iceni hielt die Augen auf ihr Display gerichtet, während sie trotz des immensen Drucks auf ihrer Brust langsam und tief durchzuatmen versuchte. Nur noch ein paar Sekunden, dann würde der Gegner sehen, dass ihre Flotte beschleunigt hatte. Da jede kombinierte Geschwindigkeit von mehr als 0,2 Licht eine Zielerfassungslösung komplizierter werden ließ und somit die Chancen auf Treffer drastisch sanken, würden die automatischen Systeme der anderen Flotte in der Form reagieren, dass die Einheiten allesamt eine halbe Drehung vollzogen und den Hauptantrieb aktivierten, um abzubremsen.

Die auf Iceni einwirkenden Kräfte ließen abrupt nach, als die Einheiten ihrer Flotte den Antrieb abschalteten. Neue Kräfte wirkten im nächsten Moment auf sie ein, als die Steuerdüsen gezündet wurden, um die Flugrichtung der Schiffe zu ändern. Dann schalteten sich die Hauptantriebe wieder ein und sorgten für maximale Beschleunigung.

Innerhalb von Sekunden sah die gegnerische Flotte diese Flugbewegungen. Die Schiffe schalteten den Antrieb ab, drehten sich in eine andere Position und beschleunigten wieder, um die Folgen der Manöver von Icenis Flotte auszugleichen.

»Drei Minuten bis zum Kontakt«, meldete der Steuer-Spezialist mit erstickter Stimme, als in diesem Augenblick Icenis Kriegsschiffe den Hauptantrieb abermals abschalteten. Wieder drehten die Steuerdüsen die Schiffe in eine andere Flugrichtung. Die Hauptantriebe sprangen dabei erneut an, noch bevor die Kriegsschiffe ihre endgültige Ausrichtung erreicht hatten.

»Die da drüben werden uns für das hassen, was wir hier anstellen«, brachte Marphissa mit einem angestrengten Lachen heraus. Erfahrene menschliche Besatzungen hätten die wenige bis zum Kontakt verbleibende Zeit registriert und gewusst, dass sie die automatisierten Systeme abschalten mussten, damit die nicht länger versuchten, sich immer wieder an die Manöver von Icenis Flotte anzupassen.

Aber die Schlangen, die jetzt die Kontrolle über diese Flotte hatten, besaßen keine solche Erfahrung, und inzwischen war ihnen wahrscheinlich schon sehr schwindlig.

Die anderen Kriegsschiffe stoppten den Beschleunigungsvorgang und begannen wieder, sich zu drehen; diesmal nach unten, und das genau in dem Moment, da es zum Kontakt zwischen beiden Streitkräften kam. Die gegnerischen Schiffe drehten damit ausgerechnet den am massivsten gepanzerten und mit den meisten Waffen bestückten Bug von Icenis Kriegsschiffen weg. Sie konnte sich lebhaft die wüsten Flüche der Befehlshaber vorstellen, die mitansehen mussten, wie ihnen die Möglichkeit, auf Icenis Schiffe zu feuern, gerade in dem Moment abhanden kam, da sich beide Flotten am nächsten waren.

Icenis Schiffe waren im Gegensatz zum Gegner besser, wenn auch wegen des ständigen Manövrierens längst nicht perfekt ausgerichtet, um das Feuer zu eröffnen. Sie spürte, wie ein leichtes Zittern durch den Kreuzer fuhr, als Höllenspeere und Kartätschen auf die anderen Schiffe gerichtet wurden. Dabei nahmen ihre Sinne das eigentlich erst richtig wahr, als die beiden Flotten längst aneinander vorbeigeflogen waren und sich mit einer kombinierten Geschwindigkeit von rund 0,2 Licht wieder voneinander entfernten. Icenis Schiffe richteten ihre Vektoren auf den näher kommenden Gasriesen aus, während die gegnerische Flotte alle Hände voll zu tun hatte, sich neu zu ordnen.

Plötzliches Gelächter auf der Brücke ließ Iceni hochschrecken. »Könnt ihr euch deren Gesichter vorstellen?«, sagte einer der Spezialisten zu einem Kollegen.

»Ruhe auf der Brücke«, forderte Marphissa, jedoch nicht in einem harschen Tonfall, da sie selbst auch grinsen musste. »Zu schade, dass wir selbst nicht allzu viele Treffer landen konnten.«

»Ein wenig haben wir ihnen schon wehgetan«, stellte Iceni fest, die auf ihrem Display mitverfolgte, wie die aktuellen Daten der Flottensensoren eintrafen und eine Schadensanalyse der anderen Schiffe erstellt wurde. »Aber vor allem haben wir es geschafft, unversehrt an ihnen vorbeizukommen.« Die wenigen Treffer waren lediglich Streifschüsse gewesen, die selbst von den schwachen Schilden der Jäger abgelenkt worden waren.

Bei Gefechten sollten eigentlich dem Gegner möglichst schwere Schäden zugefügt werden, aber Icenis Befehl und Marphissas Plan hatten dieses Prinzip auf den Kopf gestellt und es bei diesem Gefecht darauf ankommen lassen, Schäden zu vermeiden. Da die andere Flotte damit nicht gerechnet hatte und sie zudem von Schlangen mit viel zu wenig Erfahrung als Befehlshaber der mobilen Streitkräfte befehligt wurde, war alles genau nach Plan verlaufen. Als sich dann die Kommandeure der anderen Schiffe meldeten und ungehalten und verständnislos auf den Verlauf des Gefechts reagierten, antwortete Iceni persönlich, anstatt das Marphissa zu überlassen. »Unser Ziel war es, schnell an diesen Kriegsschiffen vorbeizukommen und dabei möglichst geringe Verluste zu erleiden. Das ist uns gelungen. Sehen Sie sich den restlichen Plan an. Sobald wir die Shuttles mit den Bodenstreitkräften an Bord am Schlachtschiff abgesetzt haben, werden wir zurückkehren und dem Gegner richtig wehtun, denn dann werden diese Schiffe versuchen, an uns vorbeizukommen. Hat irgendjemand ein Problem mit meinen Entscheidungen?«

Es überraschte nicht, dass es daraufhin keine Wortmeldungen gab. Auch hörten alle damit auf, sich bei Marphissa zu beschweren. Dennoch schaute die unzufrieden drein. »Meine Entscheidungen sollten sie genauso akzeptieren.«

»Das werden sie auch. Sonst entferne ich sie von ihren Posten und suche nach Befehlshabern, die dazu fähig sind.« Iceni war sich sicher, dass auf informellen Wegen jeder in der Flotte von dieser Aussage erfahren würde.

Der Gasriese hing größer als je zuvor dicht vor der Flotte. Zu einer Seite war die ausladende Einrichtung der mobilen Streitkräfte zu sehen, die nur geringfügig kleiner ausfiel als die bei Midway. Sie befand sich in einem geostationären Orbit, durch den sichergestellt wurde, dass sie sich immer im Blickfeld des zweiten Planeten aufhielt, ausgenommen während eines einmal jährlich auftretenden kurzen Fensters, wenn der Stern die Sicht blockierte, da der zweite Planet Kane umkreiste. Um diese Einrichtung herum flog das Handelsschiff, dessen Flugbahn sie die ganze Zeit über im Auge behalten hatten. Schwerfällig bremste es ab, während es hinter dem Gasriesen allmählich verschwand. Im Gegensatz zu den Kriegsschiffen konnte dieses Schiff seine Geschwindigkeit nur allmählich reduzieren.

»Wir können einen Jäger oder einen Leichten Kreuzer aus unserer Formation lösen, damit dieses Handelsschiff abgefangen und gestoppt wird«, überlegte Marphissa plötzlich.

»Tun Sie das, und nehmen Sie einen Leichten Kreuzer. Ich will, dass die Schlangen auf dem Frachter in Angst und Schrecken versetzt werden, wenn sie sehen, wie ein Leichter Kreuzer auf sie zukommt.«

»Hier spricht Kommodor Marphissa für den Leichten Kreuzer CL-773. Lösen Sie sich aus der Formation, fangen Sie umgehend den von meinem Zielerfassungssystem gekennzeichneten Frachter ab, und zerstören Sie ihn.«

»Hier CL-773. Habe verstanden, dass wir die Formation verlassen und den Frachter zerstören sollen. Bestätigen Sie bitte, dass wir den Frachter nicht erst zur Kapitulation auffordern und ein Kapitulationsangebot nicht akzeptieren sollen.«

Marphissa vergewisserte sich mit einem Blick zu Iceni, die entschieden den Kopf schüttelte. »Ich bestätige, dass Sie kein Kapitulationsangebot akzeptieren sollen, CL-773.«

»Verstanden, Kommodor.«

»Wir können nicht darauf hoffen, dass sie sich auch tatsächlich ergeben werden«, merkte Iceni an, die sich in diesem Moment über sich selbst ärgerte, dass sie ihre Entscheidung vor ihrer Untergebenen zu rechtfertigen versuchte.

»Das würden sie nicht machen«, stimmte Marphissa ihr zu. »Es wäre nur ein Trick, um Zeit zu schinden, damit sie vielleicht doch noch das Schlachtschiff erreichen.«

Die Flotte war soeben in eine Kurve um den Gasriesen eingeschwenkt. Die Steuersysteme drehten die Kriegsschiffe erneut, damit sie für einen langen Zeitraum abgebremst wurden und im Bogen auf einen Vektor gelangten, der sie ein Stück weit einem Orbit um den Gasriesen folgen lassen würde. Zur gleichen Zeit scherte die C-773 in eine andere Richtung aus, ihr Vektor eine Kurve, um den mit aller Macht abbremsenden Frachter abzufangen.

»Da ist es!«, rief auf einmal Marphissa, als im niedrigen Orbit hinter der Krümmung des Gasriesen endlich ein Teil des Schlachtschiffs auftauchte. »Komm-Station, wir sind deutlich näher und in Sichtweite. Versuchen Sie, eine Nachricht an Sub-Executive Kontos zu schicken, damit er weiß, dass wir sie fast erreicht haben.«

Iceni atmete tief durch und verspürte Erleichterung. Wenn es den Schlangen bislang noch nicht gelungen war, bis zu Kontos vorzudringen, dann war der erfolgreiche Abschluss ihrer Mission zum Greifen nah. »Colonel Rogero, sind Ihre Streitkräfte einsatzbereit?«

»Ja, Madam Präsidentin.« So wie der Rest der Bodenstreitkräfte trug auch Rogero die komplette Gefechtspanzerung, hinter ihm im Korridor drängten sich seine Leute. Sie warteten darauf, durch die Zugangsröhren zu den Shuttles zu gelangen, die an der Hülle des Schweren Kreuzers angedockt hatten. Iceni sah nach den übrigen Schweren Kreuzern und stellte anhand der Statusmeldungen fest, dass auch deren Shuttles alle Vorbereitungen fürs Ablegen trafen.

Die Belastung für die Kriegsschiffe stieg an, je näher sie dem Gasriesen und dem Schlachtschiff kamen, da sie gleichzeitig ihre Geschwindigkeit weit genug zu reduzieren versuchten, damit die Shuttles sich von den Kreuzern lösen und Kurs auf das Schlachtschiff nehmen konnten. Normalerweise wurde ein solches Manöver, bei dem man dicht an einem Planeten oder einem Stern vorbeiflog, dazu genutzt, ein Schiff zu beschleunigen, indem man sich der Schwerkraft bediente. Doch ihre Flotte musste das genaue Gegenteil erreichen, und Iceni konnte deutlich das beunruhigende Ächzen und Knarren der Schiffshülle hören, die gegen die ungeheuren Kräfte protestierte, die auf sie einwirkten. Das Stöhnen der Trägheitsdämpfer steigerte sich zu einem Kreischen. Auf Icenis Display blinkten Warnungen rot auf, die hektisch um ihre Aufmerksamkeit rangen.

Sicherheitssperren für die Steuerung sofort wieder aktivieren.

Maximale Belastungsgrenzen werden überschritten.

Hüllenversagen möglich.

Trägheitsdämpfer überlastet.

Systemausfälle stehen unmittelbar bevor.

»Kom … mo … dor«, brachte Iceni trotz der auf sie einwirkenden g-Kräfte angestrengt heraus.

»Kräfte … haben … Maximum … jetzt … erreicht … und … sinken«, erwiderte Marphissa. Kaum hatte sie das ausgesprochen, stellte Iceni fest, dass der Druck auf ihren Körper allmählich nachließ. Auch das Heulen der Trägheitsdämpfer wurde nach und nach tiefer.

Das Schlachtschiff kam bedrohlich schnell näher, während die Kriegsschiffe so massiv abbremsten, wie es ihre Haupttriebwerke ermöglichten und die Schiffshüllen es zuließen.

»Los, Colonel«, sagte Iceni, aber Rogero hatte seine Leute bereits losgeschickt, die in ihren klobigen Rüstungen durch die Verbindungsröhre in Richtung Shuttle stapften und sich dort an den Sitzen festschnallten. Ohne die Servomotoren dieser gewaltigen Rüstungen hätten sich die Soldaten unter den gegebenen Umständen nicht einmal von der Stelle bewegen können.

»Vierzig Sekunden bis zum Start der Shuttles«, meldete der Ablauf-Spezialist.

Iceni sah zu, wie die letzten Soldaten sich an Bord des Shuttles begaben, während die Sekunden verstrichen. »Wir sind immer noch zu schnell«, sagte sie zu Marphissa.

»Wir werden uns innerhalb vertretbarer Parameter befinden, wenn wir die Shuttles starten«, versicherte die ihr, ohne den Blick von ihrem Display abzuwenden.

Die Geschwindigkeitsanzeige ging gleichmäßig zurück und näherte sich der Markierung, bei der ein Shuttle gefahrlos starten konnte, dennoch fragte sie sich, ob sie es noch schaffen würden. Das Schlachtschiff tauchte rechts über ihnen auf und wirkte so riesig, dass man es eher für einen Mond in Form eines schwangeren Hais halten konnte als für ein von Menschenhand geschaffenes Objekt.

»Zehn Sekunden bis zum Start.«

»Wir sind noch nicht so weit, Kommodor!«, warnte Iceni.

»Das werden wir aber sein.« Marphissa sah weiter auf ihr Display, während sie eine Hand dicht über der Befehlstaste hielt, mit der der Start des Shuttles ausgelöst wurde.

Auf der anderen Seite der Formation passierte der Leichte Kreuzer CL-773 das Handelsschiff, feuerte seine Höllenspeere ab und ließ das Kommandodeck des Schiffs von zwei Kartätschensalven zertrümmern. Der Frachter geriet in eine Rollbewegung und schwenkte auf einen Kurs ein, der ihn zum Gasriesen führte.

»Fünf Sekunden.«

Die Anzeigen näherten sich dem sicheren Bereich, und Marphissas Hand bewegte sich ruckartig nach unten. »Start!«

Iceni verfolgte mit, wie sich das Symbol des Shuttles von ihrem Schweren Kreuzer löste und innerhalb von Sekunden von den beiden übrigen Shuttles gefolgt Kurs auf das Schlachtschiff nahm, das mittlerweile das gesamte Display ausfüllte.

»Wir werden beschossen«, meldete der Gefechts-Spezialist aufgeregt. »Höllenspeere vom Schlachtschiff!«

»Wie viele?«, wollte Marphissa wissen.

»Ein Werfer … drei … vier Werfer insgesamt. Sie feuern keine Salven ab, sie müssen demnach lokal kontrolliert werden.«

»Die Schlangen«, sagte Marphissa. »Sub-Exec Kontos’ Leute haben immer noch die Feuerkontrolle in ihrer Gewalt, also bleiben den Schlangen nur so viele Werfer, wie sie manuell bedienen können, um mit Höllenspeeren auf uns zu zielen und zu feuern.«

»Vier Werfer sind aber immer noch zu viel, wenn wir nur drei Shuttles haben!«, gab Iceni zurück.

»Die C-555 wurde getroffen!«, berichtete der Ablauf-Spezialist. »Sie zielen auf die Schweren Kreuzer.«

Plötzlich begann Iceni erleichtert zu lachen. »Diese Idioten! Die haben die Shuttles noch gar nicht bemerkt!« Ihr Schwerer Kreuzer und die übrigen Schiffe drehten sich wieder, um weiter eine Kurve um den Gasriesen zu fliegen, wobei sie sich dankbar der Unterstützung durch die Schwerkraft des riesigen Planeten bedienten, um zu beschleunigen.

Das Schlachtschiff befand sich bereits hinter ihnen, was aber nichts an seiner erschreckenden Größe änderte. Die Shuttles hatten inzwischen fast seine Hülle erreicht. »Denken Sie daran, Relaisbojen abzusetzen«, befahl Iceni. »Ich will in der Lage sein, die Spezialstreitkräfte zu beobachten, wenn wir bereits außer Sichtweite sind. Konnten Sie Sub-Exec Kontos erreichen?«

»Nein, Madam Präsidentin. Wir setzen zwei Bojen aus, sobald wir den Sichtkontakt verlieren.«

»Shuttles sind angekommen«, warf der Ablauf-Spezialist ein. »Sie berichten, dass sie sicher auf der Hülle festgemacht haben.«

»Sie befinden sich innerhalb der den Höllenspeeren eigenen Feuerzone«, ergänzte der Waffen-Spezialist. »Damit sind die Shuttles vor allem Abwehrfeuer sicher.«

Auf ihrem Display betrachtete Iceni einen Moment lang das Bild des manövrierunfähig geschossenen Handelsschiffs, das unkontrolliert am Schlachtschiff vorbeitrudelte und unausweichlich auf den Gasriesen zuhielt, in dessen Atmosphäre es schließlich eintauchen würde. Falls noch jemand auf dem Schiff lebte, war dessen Ende unvermeidbar. Ändern kann ich daran auch nichts. Sie sind zu weit hinter uns, und keines meiner Schiffe könnte sie noch rechtzeitig erreichen … selbst wenn ich die Schlangen vor einem solchen Schicksal bewahren wollte.

Trotzdem ist das ein schrecklicher Tod.

»Geben Sie mir ein Display, das mit den Sturmteams der Bodenstreitkräfte verbunden ist«, befahl Iceni. Augenblicke später tauchte ein neues Display gleich neben ihr auf. Sie musste nur den Kopf ein wenig zur Seite drehen und kleine individuelle Schirme berühren, um miterleben zu können, wo sich die Teamführer aufhielten und was sie gerade machten. Die Schirme flackerten, dann stabilisierten sie sich wieder. »Was war denn das?«

»Etwas auf dem Schlachtschiff hat versucht, die Verbindung zu stören«, erklärte der Komm-Spezialist. »Wir haben aber die Verbindung stabilisieren können.«

»Geben Sie mir … Wo ist?« Schließlich hatte Iceni die richtige Taste gefunden und betätigte sie, daraufhin wurde das Bild vergrößert, das von Rogeros Rüstung übertragen wurde. Auch konnte sie dann seiner Komm-Leitung zuhören.

Der Blickwinkel war ungewohnt, da sie vom Vakuum aus auf eine leicht gebogene Wand sah, an der weitere Gefechtsrüstungen festzukleben schienen. »Öffnen Sie die Schleuse«, hörte sie Rogeros Befehl.

Einer der Soldaten platzierte mit großer Sorgfalt ein etwa handtellergroßes Objekt auf der Hülle, dann wartete er, während Informationen über die Anzeige des Geräts liefen. »Zugangscode geknackt«, meldete der Soldat. »Widerrufscode blockiert. Autoverschluss ausgeschaltet, lokaler Verschluss ausgeschaltet.«

Ein großer Teil der Wand sank ein Stück weit ein und glitt zur Seite. Beim Durchschreiten der Schleuse konnte Iceni an deren Rand sehen, wie dick allein die äußere Panzerung des Schlachtschiffs war.

»Rein«, befahl Rogero. »Volle Gefechtsbereitschaft, Feuern nach eigenem Ermessen.«

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