Vierzehn

»Hier spricht Executive Zweiter Ebene Fon, diensttuender Befehlshabender Offizier an Bord der CL-187, für Präsidentin Iceni.«

Iceni stützte den Kopf auf einer Hand auf, während sie sich die Mitteilung ansah. Der Leichte Kreuzer CL-187 war gut viereinhalb Lichtstunden entfernt und näherte sich dem zweiten Planeten, womit diese Nachricht nicht gerade als aktuell bezeichnet werden konnte. Andererseits war das immer noch die jüngste Information aus diesem Teil des Kane-Sternensystems. Ihre eigene Flotte kroch in Begleitung des Schlachtschiffs auf den Sprungpunkt nach Midway zu, war aber immer noch fast dreißig Lichtminuten davon entfernt, was bei der gegenwärtigen Geschwindigkeit einer Reisezeit von rund sechzehn Stunden entsprach.

»Wir werden zusammen mit dem Frachter, der die Evakuierten von der Einrichtung der mobilen Streitkräfte an Bord genommen hat, in drei Stunden den zweiten Planeten erreichen«, fuhr Executive Fon fort. »Es war mir ein Vergnügen, Ihren Wünschen, Präsidentin Iceni, nachzukommen und Ihnen bei der Rettung des Personals behilflich sein zu können.«

Executive Fon schmeichelte ihr, wie es nur ein echter Executive konnte, überlegte Iceni. Eine Schlange, die sich als Executive zu tarnen versuchte, hätte dagegen Schwierigkeiten, diesen unterwürfigen Tonfall und das entsprechende Gehabe zu imitieren.

»Wir haben mit unseren Leuten auf dem zweiten Planeten gesprochen«, erklärte Fon. »Sie haben uns davon berichtet, dass ausgelassen gefeiert wird, dass es aber auch Demonstrationen gegen die neue Regierungsform gibt. Kämpfe scheinen jedoch nicht stattzufinden. Wir erwarten keine Schwierigkeiten, wenn wir unsere Leute vom Planeten holen, damit wir Kurs auf Cadez nehmen können.«

Das waren gute Neuigkeiten. Sie hatte genug davon, zusehen zu müssen, wie Menschen sich gegenseitig umbrachten, nur weil die eiserne Disziplin des Syndikat-Systems auf einmal nicht mehr existierte. Eine wenigstens kurze Unterbrechung der Gewalttaten wäre eine willkommene Wohltat und könnte vielleicht dazu beitragen, die radikaler gesinnten Arbeiter davon abzuhalten, die Kontrolle an sich reißen zu wollen.

»Sobald wir unsere Eskortmission abgeschlossen und unsere Leute an Bord geholt haben, wird sich die CL-187 auf den Weg nach Cadez begeben. Die Benutzung des Hypernet-Portals bei Midway würde diese Reise schneller, unkomplizierter und vor allem ungefährlicher gestalten. Wir hoffen, dass Sie mit Blick auf unseren geleisteten Dienst die Erlaubnis erteilen werden, nach unserer Ankunft in Midway das Hypernet-Portal benutzen zu dürfen.«

Aber natürlich. Sie hatten etwas von ihr gewollt. Kein Wunder, dass Fon und sein Leichter Kreuzer auf Icenis Anliegen so schnell eingegangen waren. Der Zusammenbruch der Syndikatwelten hatte nichts daran geändert, wie die Leute in Situationen wie diesen miteinander umgingen.

»Wenn wir Midway erreichen, werden wir Ihnen natürlich auch die neuesten Informationen zukommen lassen, die es aus Kane zu berichten gibt«, fügte Fon dann noch hinzu. »Für das Volk. Fon, Ende.«

Sehr geschickt. Er war schlau genug, ihr als Zeichen seines guten Willens auch noch neue Informationen in Aussicht zu stellen. Es würde den Leichten Kreuzer nichts kosten, Iceni wertvolle aktuelle Daten zu überlassen, aber der Hintergedanke war selbstverständlich der, dass sie auf Icenis Dankbarkeit hofften. Es sollte sie noch in dem Gefühl der Verpflichtung bestärken, sie das Hypernet-Portal benutzen zu lassen.

Iceni setzte sich gerader hin, überprüfte eben ihr Erscheinungsbild, dann betätigte sie die Antworttaste. »Executive Fon, Sie und Ihre Einheit sind im Midway-Sternensystem willkommen. Ich freue mich schon darauf, von Ihnen die neuesten Informationen über die aktuellen Entwicklungen im Kane-Sternensystem zu erhalten. Ich sehe kein Problem darin, Ihnen den Zugang zum Hypernet-Portal bei Midway zu gewähren, immerhin haben Sie uns und den Bürgern von Kane einen wichtigen Dienst erwiesen. Für das Volk. Iceni, Ende.«

Noch fast fünf Stunden, ehe die CL-187 diese Nachricht erhielt, und sechzehn verdammte Stunden, bis diese Flotte den Sprung nach Midway beginnen konnte. Dann würden sechs Tage im grauen Fegefeuer des Sprungraums folgen. Allerdings konnte man diese Fortbewegung im Schneckentempo durch den Normalraum bis zum Sprungpunkt mit Fug und Recht ebenfalls als Reise durchs Fegefeuer bezeichnen.

Doch zumindest diese Art von Fegefeuer nahm nach einer gewissen Zeit ein Ende. Seit einer Stunde saß Iceni auf ihrem Platz auf der Brücke, während ihre Flotte wieder zusammengeführt wurde und sich dem Sprungpunkt näherte. Sie kehrte mit einem Schlachtschiff, drei Schweren Kreuzern, sechs Leichten Kreuzern und neun Jägern nach Midway zurück. Zwar war das immer noch eine kleine Flotte, wenn man sie mit den Standards für Flotten während des verlorenen Kriegs verglich, doch hatte sie jetzt eine Größe erreicht, die man nicht mehr einfach so ignorieren konnte.

Jedenfalls dann nicht mehr, wenn das Schlachtschiff erst voll einsatzfähig war. »Sie können mit der Flotte nach Midway springen, sobald Sie bereit sind, Kommodor Marphissa.«

Gleich darauf verschwanden abermals die Sterne.

Vor drei Tagen hatte ihre Reise sie in den Sprungraum geführt, jetzt lagen noch immer drei Tage vor ihnen. Am Ende dieser letzten drei Tage würde die Fremdartigkeit des Sprungraums allen wie immer sehr zu schaffen gemacht haben. Iceni konnte sich nur zu gut an das damit verbundene Gefühl erinnern, an diesen Zustand, der einen glauben ließ, dass die eigene Haut einem Fremden gehörte. Ein Eindruck, der davon ausgelöst wurde, dass man in eine für Menschen nicht bestimmte Region vorgedrungen war. Wenn dieser Moment gekommen war, wollte Iceni keine Sekunde länger als unbedingt nötig im Sprungraum bleiben.

Der Summer zu Icenis Quartier wurde betätigt; ein Blick auf die Überwachungs- und Sicherheitssysteme bestätigte, dass lediglich Marphissa vor der Luke stand und dass sie unbewaffnet war. »Kommen Sie rein, Kommodor.«

Marphissa betrat das Quartier und blieb gleich hinter der Luke stehen, als sei sie sich nicht sicher, ob sie tatsächlich hier sein sollte. »Madam Präsidentin, ich wollte Ihnen etwas sagen.«

»Sie sind dankbar dafür, dass Sie das Kommando über das Schlachtschiff erhalten.« Iceni winkte ab. »Das ist verständlich, aber ich glaube, Sie kommen damit zurecht.«

»Nein, Madam Präsidentin, es geht nicht um mich. Ich wollte Ihnen für das danken, was Sie bei Kane getan haben. Sie haben dafür gesorgt, dass die Bürger aus dieser Einrichtung der mobilen Streitkräfte gerettet wurden.«

Iceni lehnte sich nach hinten und betrachtete Marphissa neugierig. »Kannten Sie dort jemanden?«

»Nein, Madam Präsidentin.«

»Und Ihnen ist klar, was für eine Gefahr deren Denkweise für uns beide persönlich und für die Stabilität unserer Heimat bedeutet hat?«

»Ja, Madam Präsidentin.«

»Und Sie wussten, dass diese Leute jeden töteten, der sich an Bord dieses Jägers befand, um sich in Sicherheit zu bringen? Darunter auch Personal der mobilen Streitkräfte, die das Pech hatten, in dem Moment zur Besatzung des Jägers zu gehören? Wieso ist Ihnen das Schicksal dieser Leute so wichtig?«

Erneut zögerte Marphissa. »Zu töten ist sehr leicht, Madam Präsidentin. Viel zu leicht. Ein Leben zu retten, ist viel schwieriger und wird von niemandem erwartet. Sie sollen wissen, dass ich Ihnen dafür dankbar bin, dass Sie diesen Frachter dazu gebracht haben, diese Bürger zu retten, auch wenn Sie mit allem recht haben, was Sie soeben aufgezählt haben.«

»Verstehe.« Was sollte sie sonst noch dazu sagen. »Ich hatte meine Gründe. Aber Sie sollen auch wissen: Wenn diese Bürger unsere Leute getötet und einen von meinen Jägern zerstört hätten, dann hätte ich keinen Finger gerührt, um sie zu retten.«

»Das wäre verständlich gewesen«, stimmte Marphissa ihr zu, »wenn auch nicht gerecht.«

»Wie bitte?« Sie setzte sich gerader hin. »Nicht gerecht?«

»Was ich damit sagen will, Madam Präsidentin«, erwiderte die Kommodor, »ist Folgendes: Wenn diese Bürger so etwas getan hätten, wären nicht alle von ihnen auch dafür verantwortlich gewesen. Die Anführer hätten den Befehl erteilt, ein paar von ihnen hätten den Befehl ausgeführt, aber einige andere wären womöglich zu der Ansicht gelangt, dass dieser Befehl verkehrt ist, und sie hätten sich nicht an der Zerstörung des Jägers beteiligt.«

»Und womit hat das jetzt etwas zu tun?« Worauf will Marphissa hinaus?

»Die ganze Gruppe wäre bestraft worden, Madam Präsidentin, und zwar ohne Rücksicht auf das Verhalten des Einzelnen.«

»Und was hätte ich Ihrer Meinung nach tun sollen, wenn das der Fall gewesen wäre?«, fragte Iceni. Sie konnte ihre Stimme mühelos wie eine Peitsche einsetzen, um Missfallen und Missbilligung zu vermitteln, aber das tat sie jetzt nicht. Erst wollte sie herausfinden, was Marphissa ihr da zu sagen versuchte.

»Ein Prozess, Madam Präsidentin«, antwortete Marphissa.

»Ein Prozess?« Ging das schon wieder los? »Um eine Schuld festzustellen, die bereits feststeht? Welchen Sinn sollte so etwas haben? Sie hören sich an wie diese Bürger, von denen ich vor unserer Abreise erfahren hatte. Die, die glauben, dass unser Rechtssystem überarbeitet werden muss.«

Nach einer kurzen Pause fragte Marphissa: »Finden Sie, dass das Rechtssystem, das wir von den Syndikatwelten geerbt haben, überarbeitet werden sollte, Madam Präsidentin?«

»Auf den ersten Blick nicht«, erwiderte Iceni. »Es sorgt für eine schnelle und deutliche Bestrafung. Die Schuldigen entgehen ihrer Strafe nicht. Was sollte ich daran ändern wollen?«

»Der Zweck eines Rechtssystems besteht nicht darin, die Schuldigen zu bestrafen, Madam Präsidentin. Strafen lassen sich leicht austeilen. Der Sinn eines Rechtssystems ist der, die Unschuldigen zu beschützen.«

Iceni sah Marphissa verblüfft an. »Wo haben Sie denn das gelernt?«

»Die Syndikatwelten haben versucht, jedes Dokument und jedes Buch zu vernichten, das nicht ihren Vorstellungen entsprach, aber es ist nicht so einfach, jeden Gedanken zu eliminieren, den Menschen irgendwann einmal niedergeschrieben haben.«

»Die Untergrundbibliothek?« Offiziell wusste niemand von deren Existenz, aber inoffiziell hatte jeder schon mal davon gehört, und viele kannten einen Weg, wie man darauf zugreifen konnte. Es handelte sich nicht um ein einzelnes Gebäude, in dem alles untergebracht war, der ISD verglich die Untergrundbibliothek vielmehr mit einem Befall durch elektronisches Ungeziefer, das in jedem Sternensystem auftauchte, sich durch jeden Zugangsweg zwängte und sofort eine Umleitung fand, sobald ein Weg versperrt wurde. »Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie lesen. Die Bestrafung der Schuldigen ist für jedes System überlebenswichtig, damit die Menschen sich sicher fühlen können. Das muss unsere Priorität sein.«

»Die Schuldigen?«, wiederholte Marphissa und atmete auf einmal angestrengter. »Und wenn stattdessen eine unschuldige Person bestraft wird?«

Iceni schüttelte den Kopf. »Es gibt keine unschuldigen Personen. Wir sind alle in irgendeiner Weise schuldig, es ist nur eine Frage der Schwere dieser Schuld und der Schwere des Verbrechens.«

»Das wurde uns immer wieder gesagt, Madam Präsidentin. Aber was ist, wenn es eine andere Wahrheit gibt?«

»Wie können wir Abstriche bei der Sicherheit machen und gleichzeitig behaupten, wir würden das Volk beschützen?«, konterte Iceni.

»Das Volk beschützen? Madam Präsidentin, das Rechtssystem der Syndikatwelten beschützt die Mächtigen und die Wohlhabenden, und es bestraft nur die, die zu schwach sind, um sich selbst zu retten! Wenn das Ziel darin besteht, das Volk zu beschützen, warum werden dann niemals die Verbrechen bestraft, die von denen begangen werden, die uns regieren?« Marphissa stand wie erstarrt da, in ihren Augen spiegelten sich Trotz und auch eine Spur Angst wider.

Ganz gleich, wie viele so dachten, niemand sollte so etwas jemals laut aussprechen. Schon gar nicht, wenn man einen Vorgesetzten vor sich hatte. Das war eine der obersten Regeln, die jeder in den Syndikatwelten lernte, wenn er nicht seiner eigenen Gedankenlosigkeit zum Opfer fallen wollte. »Sie mutmaßen viel auf der Grundlage unserer erst kurzen dienstlichen Beziehung«, sagte Iceni in ihrem frostigsten Tonfall.

»Ich mutmaße viel auf der Grundlage dessen, was ich glaube, wer Sie sind«, erwiderte Marphissa. »Madam Präsidentin, ganz gleich, welche Motive Sie haben und wie Sie sich verhalten – was ist mit den anderen, die hochrangige Posten bekleiden? Sie mögen uns vor Ungerechtigkeit bewahren und nur die bestrafen, die es auch verdient haben. Aber was ist mit den anderen, die unser Schicksal in der Hand haben? Wer oder was bestimmt deren Handeln?«

Iceni saß da und blickte Marphissa eine Weile schweigend an, da ihr keine passende Antwort einfallen wollte. Die traditionelle Reaktion eines CEO hätte darin bestanden, Marphissa zu verhaften und dann den Schlangen zu übergeben. Falls Marphissa etwas über Iceni wusste, was die Schlangen nicht erfahren sollten, wäre die Gefangene bedauerlicherweise bei einem Unfall ums Leben gekommen, ehe die Schlangen sich ihrer bemächtigen konnten. Die Schlangen gab es nicht mehr, aber es würde sich mühelos ein Nachfolger finden lassen, der deren Rolle übernahm – wenn Iceni auf die althergebrachte Weise vorgehen wollte, und jemandem, der ihr gut gedient und sich nur von seiner loyalen Seite präsentiert hatte, so zu behandeln gedachte. Es missfiel Iceni, dass Marphissa sie treffsicher so eingeschätzt hatte, zu wissen, dass sie nicht zu derartigen Maßnahmen greifen würde. »Kommodor, Sie sollten sich wieder Ihrem Dienst widmen«, sagte sie schließlich.

»Ja, Madam Präsidentin.«

»Kommodor?«

Marphissa blieb an der Luke stehen, drehte sich zu Iceni um und nahm die Habtachtstellung ein. Es fehlte nur die Augenbinde, dann hätte sie wie jemand gewirkt, der seinem Erschießungskommando gegenüberstand.

Bis zu dem Moment, da sie zu reden begann, hatte Iceni nicht genau gewusst, was sie Marphissa hatte sagen wollen. »Ich ziehe jeden vor, der mir gegenüber seine Gedanken offen ausspricht, anstatt es hinter meinem Rücken zu tun. Ich werde über das nachdenken, was Sie gesagt haben.«

Da sie klug genug war, sich nicht weiter zu äußern, salutierte Marphissa nur und verließ das Quartier.

Nachdem sich Iceni davon überzeugt hatte, dass die Luke fest verschlossen und alle Schutzvorkehrungen aktiviert waren, lehnte sie sich auf ihrem Platz nach hinten und schloss die Augen. Glaubt diese Frau tatsächlich, ich hätte nie unter dem sogenannten Rechtssystem der Syndikatwelten gelitten? Ich kenne dessen Fehler so gut wie jeder andere.

Sie hatte nie ihren Körper verkaufen wollen, aber zweimal war sie gezwungen gewesen, sich Männern zu unterwerfen, die in der Hierarchie so weit oben standen, dass sie vor jeglicher Strafverfolgung sicher waren. Auch wenn sie noch so jung und unerfahren gewesen war, hatte sie doch genau gewusst, dass man ihr bei einer Anzeige gegen diese Männer unterstellt hätte, grundlos angesehene Offiziere des Syndikats zu diffamieren. Stattdessen hatte sie ihr Verlangen nach Vergeltung in einen zielstrebigen Aufstieg zur Macht umgewandelt, damit sie auf einen Posten gelangen konnte, der es ihr erlaubte, sich schließlich doch noch an ihnen zu rächen. Aber beide Männer waren bereits tot, bevor sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnte. Einer war bei einem Industrieunfall ums Leben gekommen, der andere bei einem Gefecht gegen die Allianz gefallen.

Wie viele noch hatten das Gleiche durchmachen müssen wie sie? Doch sie hatte kein Opfer sein wollen, sondern nach einem Weg gesucht, sich zu rächen – nur dass ihr diese Rache versagt worden war.

Marphissa hatte den Tod ihres Bruders rächen können. Ein Tod, der durch die Behauptung eines Fehlverhaltens herbeigeführt worden war. Sollten nur die Stärksten einen Anspruch auf Gerechtigkeit haben? Und dabei war diese Form der Gerechtigkeit nicht einmal mehr als Vergeltung gewesen. Nichts von dem, was Marphissa getan hatte, hätte ihren Bruder zum Leben wiedererwecken können, nachdem er für ein Verbrechen hingerichtet worden war, das allein aufgrund der Anschuldigungen einer Person verfolgt worden war, die von diesen Anschuldigungen auch noch profitiert hatte.

Diente Bestrafung tatsächlich einem Zweck, wenn alle wussten, dass sie eine unkontrollierte Waffe war? Ein Instrument, das Kleinkriminelle ebenso henkte wie jeden, der bloß das Pech hatte, unter einen Verdacht zu geraten, oder der etwas besaß, das ein Mächtigerer um jeden Preis an sich reißen wollte?

Das ist doch die eigentliche Frage, nicht wahr? Wir reden davon, dass wir Schutz und Sicherheit brauchen, aber wie viele Bürger der Syndikatwelten können nachts ruhig schlafen, weil sie sich beschützt und sicher fühlen? Nein, wir verbringen jeden Tag und jede Nacht mit der Frage, wann jemand an unsere Tür anklopft oder diese Tür einfach eintritt, um einen von uns mitzunehmen, damit man ihn für irgendwelche Verbrechen zur Rechenschaft zieht, ohne Rücksicht darauf, ob er diese Verbrechen überhaupt begangen hat. Ich bin die mächtigste Person im Midway-Sternensystem, und ich verstecke mich hinter verriegelten und gesicherten Türen, obwohl mir Leibwächter zur Seite stehen. Von wegen Schutz und Sicherheit!

Iceni seufzte leise. Wie kann ich das ändern und trotzdem dafür sorgen, dass wir alle weiterhin in Sicherheit leben? Das Schlachtschiff zu erbeuten, war möglicherweise eine der leichtesten Übungen, wenn ich mir all die anderen Dinge vorstelle, mit denen ich mich noch werde befassen müssen.

Ich hoffe, General Drakon hat es nicht so schwer. Ich sollte mir eigentlich Gedanken darüber machen, womit er gerade beschäftigt ist, aber aus einem unerklärlichen Grund fühle ich mich sicherer, wenn ich weiß, dass er über Midway wacht. Hoffentlich kommt er mit allem klar, bis ich zurück bin.

»Eine Flotte ist am Sprungpunkt von Lono kommend aufgetaucht«, meldete Malin mit lauter Stimme, die den Lärm der Alarmsirenen übertönen musste.

Drakon war nur einen Augenblick später im Kommandozentrum, obwohl jegliche Eile eigentlich völlig absurd war, wenn der Feind eben erst in einer Entfernung von sechs Lichtstunden und fünfzehn Lichtminuten im System erschienen war. Dennoch hatte er das Gefühl, es sei unabdinglich, sich beeilen zu müssen. Die menschlichen Reflexe verlangten seit Urzeiten, dass jeglicher Feind in Sichtweite als unmittelbare Bedrohung wahrgenommen wurde, und darauf reagierten Hirn und Körper immer noch. »Verdammt noch mal«, murmelte er, als er die Informationen verarbeitete.

Zwei Schwere Kreuzer, drei Leichte Kreuzer und vier Jäger. Und er konnte dem genau einen Schweren Kreuzer entgegensetzen. Man musste kein Experte für mobile Streitkräfte sein, um zu wissen, wie schlecht ihre Chancen damit standen. »Colonel Malin, informieren Sie die Befehlshaberin der C-818 darüber, dass Präsidentin Iceni eine große Sprengladung in ihrer Einheit deponiert hat, deren Auslösung ich befehlen werde, wenn die C-818 auf die Idee kommen sollte, sich vor der Verteidigung dieses Sternensystems zu drücken.«

Malin zögerte. »Ein Schwerer Kreuzer ist nicht groß genug, um eine Sprengladung so zu verstecken, dass sie nicht relativ schnell gefunden werden kann, General.«

»Mir geht es nur darum, dass sie im Orbit bleiben, während sie nach der Sprengladung suchen. Wir brauchen hier etwas, das nach Verteidigung aussieht.«

Morgan war ebenfalls eingetroffen und schüttelte den Kopf. »Und ich habe einen Moment lang tatsächlich geglaubt, dass unsere Präsidentin wenigstens einmal etwas Vernünftiges gemacht hat.«

»Falls ja«, gab Drakon zurück, »ist es mir nicht bekannt. Haben wir noch nichts von dieser Flotte gehört?«

»Nein, Sir«, sagte Morgan. »Als sie hier eingetroffen sind, haben sie keine Nachricht gesendet.«

»Eigenartig. Ich hatte mit einer sofortigen Aufforderung zur Kapitulation gerechnet.«

»Ihr Ziel ist … das Hypernet-Portal«, meldete Malin. »Gleich nach Verlassen des Sprungpunkts sind sie auf diesen Vektor eingeschwenkt.«

Mit finsterer Miene betrachtete Drakon das Display. »Keine Flotte des Syndikats würde vorsätzlich das Portal zerstören. Die wissen so gut wie wir, dass bei einem Zusammenbruch des Portals nicht mehr das gesamte System ausgelöscht wird. Warum sollten sie den Hauptgrund für eine Rückeroberung dieses Systems vernichten?«

Plötzlich begann Morgan zu lachen. »Ach, verdammt. Die sind nicht hier, um uns anzugreifen. Die fliegen nur durchs System und verschwinden durch das Hypernet-Portal wieder.«

»Wie viel Zeit werden wir dadurch gewinnen?«

»Nicht viel, General. Momentan empfangen sie jede Menge Nachrichten, die da draußen herumtreiben. Sie werden viel über General Drakon und Präsidentin Iceni und über das unabhängige Sternensystem Midway erfahren. Und dann wird ihnen auffallen, dass auf den ISD-Kanälen Schweigen herrscht. Vielleicht fangen sie sogar die eine oder andere Bemerkung auf, dass die Schlangen hier alle tot sind.« Morgan deutete auf das Display. »Jetzt überlegen sie, was das zu bedeuten hat, und gleich werden sie entscheiden, was sie tun sollen. Angenommen, Sie wären der Befehlshaber einer Flotte und plötzlich bietet sich Ihnen die Gelegenheit, ein Sternensystem zurückzuerobern, das den Syndikatwelten den Rücken zugekehrt hat. Und die Rebellen verfügen über nichts weiter als einen einzelnen Schweren Kreuzer. Was würden Sie tun, General?«

Drakon nickte bedächtig. »Vermutlich überlegen die sich in der nächsten halben Stunde die Forderung, dass wir uns ihnen ergeben sollen. Ich bin für alle Vorschläge offen.«

»Reden Sie mit ihnen«, sagte Malin. »Halten Sie sie hin, solange es irgendwie geht. Präsidentin Iceni könnte jeden Moment eintreffen.«

»Sagen Sie ihnen, wenn sie angreifen, werden Sie das Hypernet-Portal kollabieren lassen«, warf Morgan ein.

Das klang womöglich nützlich.

»Was würden Sie tun, wenn ich diese Drohung aussprechen würde, Colonel Morgan?«, fragte Malin.

Nach einer kurzen Pause zuckte sie mit den Schultern. »Ich würde Ihren Bluff durchschauen.«

»Weil es nur ein Bluff sein kann, eine Drohung, die wir nicht wahrmachen würden. Wenn das Portal kollabiert, schrumpft der Wert der Infrastruktur in diesem Sternensystem auf praktisch Null zusammen. Es würde sie nicht länger interessieren, wie wir für das Bombardement Vergeltung üben wollten.«

Morgan nickte missmutig. »Das ist richtig.«

»Also dann«, schloss Drakon, »sechs Stunden und fünfundzwanzig Minuten, um die Lage zu bewerten und eine Entscheidung zu treffen. Dann werden wir ja hören, was sie uns zu sagen haben.«

Die Frau, die die Nachricht gesprochen hatte, war ihm nicht bekannt. Sie sah etwas älter aus, ihr erster Eindruck ließ verhaltene Skepsis erkennen. Aber ein erster Eindruck konnte sich später leicht als schwerer Fehler entpuppen, also konzentrierte sich Drakon ganz darauf, was sie sagte und wie sie es sagte.

»Hier spricht CEO Gathos, an die Rebellen im Midway-Sternensystem. Sie werden sich sofort ergeben und die Autorität der Syndikatwelten anerkennen. Ferner werden Sie mir Ihre Anführer General Drakon und Präsidentin Iceni sowie deren Seniorstab ausliefern. Wenn Sie nicht eine halbe Stunde nach Erhalt dieser Aufforderung Ihre Kapitulation übermitteln, werde ich damit beginnen, die sekundäre Infrastruktur zu bombardieren. Für das Volk. Gathos, Ende.«

»Kennen Sie sie?«, fragte Morgan.

»Nein«, entgegnete Drakon. Die Syndikatwelten verfügten über unzählige CEOs. Vielleicht kannte Iceni diese Frau, aber wenn sie hier wäre, um ihm diese Frage zu beantworten, dann wäre auch ihre Flotte hier. »Einschätzung?«

»Sie meint es ernst«, sagte Morgan.

»Sehe ich auch so«, stimmte Malin zu.

»Eine halbe Stunde, sonst schmeißt sie uns Steine auf den Kopf. Das heißt, ich kann sie nicht in eine Unterhaltung verwickeln, um Zeit zu schinden.« Sein Blick kehrte zum Display zurück, wo zu sehen war, dass die Flotte ihren Kurs geändert hatte und sich näherte. Eine halbe Stunde, um zu antworten. Gathos und ihre Leute würden diese Antwort erst sechs Stunden später empfangen, aber es änderte nichts daran, dass er seine Nachricht innerhalb der Halbstundenfrist auf den Weg schicken musste.

»Täuschen Sie eine Kapitulation vor«, schlug Morgan vor. »Das Schiff, mit dem Sie an diese Flotte überstellt werden, ist mit Kommandosoldaten besetzt. Damit nehmen wir denen einen ihrer Kreuzer ab. Damit haben wir dann plötzlich zwei Schwere Kreuzer und die nur noch einen. Schlimmstenfalls wird das Schiff beim Entern zerstört; auch dann haben die nur noch einen übrig, wir aber auch.«

So etwas als einen verzweifelten Plan zu bezeichnen, wäre eine massive Untertreibung. »Malin?«

Der schüttelte den Kopf. »Colonel Morgans Plan ist eine schwache Grundlage, um davon unser Überleben abhängig zu machen. Allerdings sehe ich keine Alternativen, die uns bessere Chancen einräumen würden. Das Einzige, was ich noch bieten könnte, wäre zu beten.«

»Beten?« Aller Anspannung zum Trotz entlockte das Drakon ein Lächeln. »Wen sollte ich anbeten, Colonel Malin? Und wer sollte einen Grund haben, auf mein Gebet zu hören?«

»Diese Fragen kann niemand außer Ihnen selbst beantworten, General.«

»Wenn Ihnen danach ist, dann können Sie ruhig anbeten, wen immer Sie wollen, solange er uns heil aus dieser Sache hier rausbringt. Aber setzen Sie auch Morgans Plan in die Tat um.« Ihm war bewusst, dass dieses Vorhaben eigentlich keine Chance hatte. In dem Moment, in dem er kapitulierte, würde die Bevölkerung in Unruhe versetzt werden und dagegen protestieren, sich wieder der Kontrolle durch das Syndikat zu unterwerfen. Sie würden seine Truppen bestürmen. Die Befehlshaberin der C-818 würde unterdessen feststellen, dass sich gar keine Sprengladung an Bord befand, und hatte dann genügend Spielraum, entweder Kurs auf ein fernes Sternensystem zu nehmen oder ihren Schweren Kreuzer Gathos’ Flotte zu überlassen.

Aber eine winzige Chance war immer noch besser als gar keine. Drakon hielt seine Hand dicht über der Antworttaste.

»General!«, rief eine verdutzt klingende Morgan. »Sie haben kehrtgemacht!«

»Was?« Er schaute auf sein Display, und tatsächlich hatte CEO Gathos’ Flotte vor sechs Stunden abermals Kurs auf das Hypernet-Portal genommen. »Was soll denn das?«

»Vielleicht hat sie die Nerven verloren?«

»Aber wieso? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie einen Blick in meine Dienstakte geworfen hat.«

Sie verfolgten weiter die Bewegungen auf dem Display, aber die Syndikat-Flotte blieb auf dem Vektor, auf den sie soeben eingeschwenkt war. Drakon sah auf die Zeit. Das dreißigminütige Limit war fast abgelaufen. »Vielleicht will Gathos uns an der Nase herumführen, damit wir nicht kapitulieren und sie einen Vorwand hat, das System in Schutt und Asche zu legen.«

Morgan hatte die Flugbewegungen der Flotte mit zusammengekniffenen Augen verfolgt, jetzt schüttelte sie den Kopf. »Nein, sie ergreift die Flucht. Darauf würde ich mein Leben verwetten.«

»Das tun Sie gerade.«

»Ja, stimmt«, meinte sie grinsend. »Aber vielleicht bekomme ich Gathos ja noch zu fassen, bevor ich sterbe.«

In dem Moment, in dem ein weiterer Alarm ertönte, begann Malin schallend zu lachen, und er zeigte auf das Display. »Jetzt wissen wir, warum CEO Gathos es sich mit der Eroberung dieses Sternensystems noch einmal anders überlegt hat.«

Am Sprungpunkt nach Kane war eine andere Flotte aufgetaucht. Schwere Kreuzer, Leichte Kreuzer und Jäger, die sich um die unverkennbaren Konturen eines Schlachtschiffs geschart hatten. »Präsidentin Icenis Einheiten sind dem Sprungpunkt nach Lono näher als uns, darum hat das Licht ihrer Ankunft die Flotte von CEO Gathos zuerst erreicht. Sie wird sofort diese andere Flotte gesehen und der CEO eine Drohung geschickt haben, die sie in dem Moment erreicht haben muss, als sie auch das Eintreffen von Präsidentin Icenis Flotte bemerkte.«

Auch Drakon begann zu lachen. Vom Planeten aus betrachtet ließ das Schlachtschiff nicht erkennen, dass es so gut wie gar nicht einsatzbereit war, vielmehr schien der gewaltige, hässlich und wunderschön zugleich schimmernde Rumpf des Schiffs etwas Boshaftes auszustrahlen. »Präsidentin Iceni, hier spricht General Drakon. Ich bin wirklich sehr froh darüber, Sie zu sehen. Willkommen daheim. Für das Volk. Drakon, Ende.«

»Knapper hätte es nicht sein können«, murmelte Morgan.

An Malin gewandt fragte Drakon: »Haben Sie gebetet, Colonel?« Der Mann nickte. »Was immer Sie gewünscht haben, jemand hat anscheinend zugehört.«

Malin lächelte flüchtig. »Ich habe dafür gebetet, dass Sie das bekommen, was Sie verdienen, General.«

Erstaunt hielt Drakon inne, dann musste er abermals lachen. »Tja, dann hat Ihnen wohl doch niemand zugehört. In dem Fall wäre ich nämlich bei der Erstürmung von Gathos’ Flaggschiff umgekommen. Sie beide können jetzt übrigens aufhören, dieses Selbstmordkommando zu planen. Begeben Sie sich lieber an die Vorbereitungen für die Operation Taroa.«

Präsidentin Iceni saß ihm gegenüber am Tisch und musterte ihn verhalten. Sie sah erschöpft aus, nachdem sie mit einem Schweren Kreuzer zum Planeten vorausgeflogen war, während der Rest der Flotte beim Schlachtschiff geblieben war. Aber in ihren Augen funkelte auch Erleichterung auf. »Neutrales Gebiet. Absolut sicher. Keine Assistenten, keine Adjutanten. Worüber wollen Sie mit mir reden? Mir ist bereits zu Ohren gekommen, dass es Ihnen nicht gefällt, dass ich eine Hinrichtung angeordnet habe.«

Drakon nickte. »Ja, die Hinrichtung ist ein weiterer Punkt, und ich möchte nicht, dass er unter den Tisch fällt. Es hat mir nicht gefallen, aus heiterem Himmel erfahren zu müssen, dass jemand auf Ihren Befehl hin erschossen wurde.«

»Vorrecht eines CEOs«, gab Iceni zurück.

»Sie haben hier nicht als Einzige das Sagen. Bei solchen Dingen will ich ein Mitspracherecht haben. Ich will wissen, was der Todeskandidat getan hat, und ich will die Gelegenheit haben, die jeweiligen Umstände zu beurteilen.«

Sie legte den Kopf ein wenig schräg, während sie ihn ansah. Dabei tippte sie mit einem Fingernagel auf die Tischplatte. »Glauben Sie, ich habe jemanden zum Schweigen gebracht?«

»Möglich wäre es. Sie kennen doch den Spruch, dass tote Anwälte keine Anekdoten erzählen können.«

»Anwälte hatten mit dieser Sache nichts zu tun.« Schweigend betrachtete sie ihn abermals. »Aber Sie glauben, es könnte sich um so etwas gedreht haben.«

»Woher weiß ich, dass es nicht so war?«

»Eine berechtigte Frage.« Iceni lächelte ihn an, aber es war ein gefühlloses Lächeln. »Ich werde mich einverstanden erklären, Sie künftig im Voraus von Hinrichtungen in Kenntnis zu setzen, solange das eine beiderseitige Abmachung ist. Sie werden ebenfalls niemanden hinrichten lassen, ohne mir vorher Bescheid zu geben.«

Er hatte ein solches Angebot von ihr erwartet, ein Angebot, das nach mehr klang, als es tatsächlich darstellte. Es gab nämlich ein riesiges Schlupfloch, da sie nur von Hinrichtungen gesprochen hatte. Attentate oder Neutralisationen dienten dem gleichen Zweck, bestimmte Personen aus dem Weg zu räumen, aber per Definition waren das nun einmal keine Hinrichtungen. Keiner von ihnen würde sich damit einverstanden erklären, auf außergesetzliche Methoden zu verzichten, um jemanden zu eliminieren. Aber das ging so schon in Ordnung. Sie kannte seine Bedenken, und sie wusste, er würde sehr genau hinsehen, ob sie Leute zum Schweigen bringen wollte, die die verkehrten Dinge wussten. »Gut.«

Iceni zeigte ihm nicht länger ihr falsches Lächeln. »Ich will offen mit Ihnen reden, General. Ich habe über einige Dinge nachgedacht, was Strafen und andere rechtliche Angelegenheiten betrifft.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich möchte sicherstellen, dass bei Gerichtsverfahren tatsächlich versucht wird, Schuld und Unschuld gleichermaßen zu ergründen, damit nur diejenigen bestraft werden, die tatsächlich schuldig sind.«

»Machen Sie Witze?« Drakon suchte nach Hinweisen auf irgendeinen verdrehten Humor, womöglich sogar Wahnsinn.

»Nein, das ist mein voller Ernst. Ich muss wohl nicht ausdrücklich erwähnen, dass ich natürlich nichts tun werde, was Sie oder mich in Gefahr bringen oder was für Unruhe unter der Bevölkerung sorgen könnte.«

»Gut«, sagte er. »Ich habe nichts dagegen einzuwenden, mich mit solchen Dingen zu beschäftigen, solange wir uns einig sind, wie wir vorgehen werden. Also gut, so viel zum zweitrangigen Thema. Reden wir über den Grund, warum ich mich mit Ihnen treffen wollte: Taroa.«

»Taroa? Hat eine der Gruppierungen sich durchsetzen können?«

»Bislang nicht.« Drakon rief ein großes Display auf und zeigte auf die Darstellung des Taroa-Sternensystems. »Aber wir haben alles zusammengeworfen, was wir wissen oder als relativ sicher annehmen können, und durch eine Reihe unterschiedlichster Simulationen laufen lassen. Jede dieser Simulationen lief darauf hinaus, dass die Loyalisten des Syndikats am Ende siegen werden. Der einzige Unterschied besteht darin, wie lange es dauern wird.«

Iceni betrachtete argwöhnisch das Display. »Simulationen zeigen nicht die Realität. Sie sind mitunter extrem fehleranfällig.«

»Ganz meine Meinung. Aber ich habe mir die Daten persönlich angesehen, und mein Gefühl sagt mir, dass die Ergebnisse in diesem Fall zutreffen. Die Loyalisten verfügen über zu viele Ressourcen, und sie haben die Kontrolle über die wichtigen Orbitaldocks.«

Iceni betätigte ein paar Kontrollen, um die primäre bewohnte Welt bei Taroa zu vergrößern. »Was ist aus dem Leichten Kreuzer geworden, der sich dort aufgehalten hat?«

»Nach unseren letzten Informationen hat er das System verlassen.«

»Um nach Prime zu fliegen und der Zentralregierung Bericht zu erstatten?«

»Nein, um heimzukehren.« Drakon machte eine vage Geste. »Ins Lindanen-Sternensystem.«

»Das liegt nicht in der Nähe, aber sie müssen auch nicht das gesamte Territorium der Syndikatwelten durchqueren.« Sie sah wieder zum Display. »Haben Sie mal darüber nachgedacht, wie das im Moment sein muss, General? All diese Sternensysteme, in denen die Herrschaft des Syndikats beendet worden ist? Und die, wo sie so sehr auf der Kippe steht, dass alle mobilen Streitkräfte sich fragen, ob sie noch bleiben oder lieber heimkehren sollen? Das gilt schließlich auch für die Bodenstreitkräfte, denn die haben im Zweifelsfall auch die Mittel, um jemanden dazu zu zwingen, sie dorthin zu schicken, wo sie hingehen wollen. Überall da draußen machen sich die in Trümmern liegenden Überreste des Militärs der Syndikatwelten auf den Weg, um irgendwo einen Ort zu finden, von dem sie hoffen, dass sie dort sicher sind und überleben können.«

»Oder sich da niederzulassen, wo sie gerade sind. Eine eigenartige Vorstellung«, pflichtete er ihr bei. »Und besorgniserregend. Diese Überreste des Syndikat-Militärs könnten jemanden in die Hände fallen, der womöglich mit ihrer Hilfe ein neues Imperium erschaffen will.«

»Jemand wie wir?«, fragte sie.

»Könnte sein. Aber ich denke, dass es nicht das ist, was Sie vorhaben.«

»Wir sind gar nicht stark genug, um ein Imperium aufzubauen«, hielt Iceni dagegen. »Allein die Verteidigung dieses einen Sternensystems ist ja schon eine Vollzeitbeschäftigung.«

»Auch jetzt, wo wir ein Schlachtschiff haben?«, fragte Drakon, da er wissen wollte, ob sie ihm die Wahrheit über diese Einheit sagen würde.

Nach einer kurzen Pause, während der sie ihn aufmerksam beobachtete, antwortete sie: »Sicher haben Sie schon mitbekommen, in welchem Zustand sich dieses Schiff noch befindet. Es ist potenziell ein großer Gewinn für uns, aber die meisten Systeme sind noch gar nicht einsatzbereit, und selbst wenn alles so funktionieren würde, wie es einmal der Fall sein soll, hätten wir gar nicht genug Leute für eine vollständige Besatzung.«

Und damit hatte sie ihm die Wahrheit gesagt. Es war beruhigend, auch wenn ihre Ehrlichkeit zumindest zu einem Teil in dem Wissen begründet war, dass er durch seine Quellen früher oder später ohnehin herausfinden würde, was es mit dem Schlachtschiff auf sich hatte. »Wie lange wird es dauern, bis alle Systeme arbeiten?«

»Mit dem, was wir hier bei Midway zur Verfügung haben? Fünf bis sechs Monate. Und so viel Zeit wird auch nötig sein, um eine Crew zusammenzustellen. Midway ist nicht gerade besonders dicht besiedelt.« Auf einmal legte sie den Kopf schräg und lächelte. »Taroa«, sagte sie, da sie verstanden hatte.

»Richtig. Ein Sternensystem mit besseren Werften als unseren. Und mit viel mehr ausgebildeten Arbeitern, die man dazu bewegen könnte, Teil der Crew zu werden. Wir wissen beide, dass wir es uns nicht leisten können, fünf oder sechs Monate lang zu warten, bis das Schlachtschiff endlich gefechtsbereit ist. Wir müssen das schneller bewerkstelligen, und die Mittel dazu finden wir bei Taroa.«

»Streben Sie nach einem Imperium, General Drakon?«

»Nein.« Er zeigte auf die Darstellung von Taroa. »Dort kämpfen drei Gruppen um die Vorherrschaft über das Sternensystem. Erstens die Loyalisten des Syndikats einschließlich der Schlangen; zweitens eine Gruppe, die in etwa den gleichen Eindruck macht wie dieses Arbeiterkomitee, auf das Sie bei Kane gestoßen sind; drittens eine Gruppierung mit dem Namen Freies Demokratisches Sternensystem Taroa. Keine dieser Gruppen ist sonderlich stark, weil es im System kein Hypernet-Portal gibt. Schätzungsweise ein Drittel der Syndikat-Soldaten hat sich den Freien Taroanern angeschlossen, aber der größere Rest und natürlich alle Schlangen gehören zum Loyalistenlager. Die aus der Region stammenden Soldaten stehen zum größten Teil hinter den Freien Taroanern. Ein paar sind auch zu den Arbeitern übergewechselt. Unsere jüngsten Informationen sind allerdings auch schon wieder zwei Wochen alt. Danach sieht es so aus, dass das Arbeiterkomitee schwächelt. Es gibt einen unbestätigten Bericht, wonach die Loyalisten versucht haben sollen, sich mit den Rebellen der Freien Taroaner zusammenzuschließen, um gemeinsam gegen die Arbeiter vorzugehen. Aber die Rebellen haben zum Glück schnell genug durchschaut, dass sie anschließend das nächste Ziel der Loyalisten wären. Das unvermeidbare Resultat wird damit aber auch nur ein wenig hinausgezögert. Selbst wenn für die Loyalisten keine Verstärkung eintreffen sollte – und das ist die einzige Gruppierung, die mit Verstärkungen rechnen kann –, werden sie spätestens siegen, wenn den Arbeitern und den Freien Taroanern die Munition ausgeht.«

»Womit eines der nächstgelegenen Sternensysteme wieder von der Syndikat-Regierung kontrolliert würde«, folgerte Iceni. »Das wäre nicht zu unserem Vorteil.«

»Allerdings nicht«, bestätigte Drakon. »Und die Arbeiter würden zumindest aus unserem Blickwinkel keine viel bessere Alternative darstellen, auch wenn die so gut wie keine Chance auf einen Sieg haben. Damit bleiben dann nur noch die Freien Taroaner.«

»Ja. Aber die hören sich so an, als wollten sie, dass jedes Amt per Wahl besetzt wird. Mit solchen Leuten Tür an Tür zu leben, könnte ebenfalls sehr schwierig sein. Und das könnte auch für eine Zusammenarbeit mit ihnen gelten.«

»Mag sein. Allerdings hätten wir beide auf diese Weise sozusagen eine Testbevölkerung, bei der wir beobachten können, was passiert, wenn die Bürger sich selbst regieren. Ich glaube, der Punkt, auf den wir uns konzentrieren sollten, ist die Tatsache, dass die Freien Taroaner immer noch besser als die beiden Alternativen sind.«

»Stimmt«, räumte Iceni ein. »Trotzdem … Wahlen auf diesen Ebenen …«

Lächelnd lehnte sich Drakon nach hinten. »Wahlen? Wir sind doch alte Hasen, was Wahlen angeht, nicht wahr, Madam Präsidentin? Sie wissen, wie Wahlen verlaufen können. Betrug, Bestechung, manipulierte Ergebnisse …«

Sie erwiderte sein Lächeln. »Allerdings, damit kennen wir uns aus.«

»Wenn meine Einschätzung zutrifft, dann halten es die Freien Taroaner für unmöglich, dass so etwas bei dem Wahlsystem passieren könnte, das sie ausarbeiten.«

»Mit anderen Worten: Wir werden erheblichen Einfluss auf die Freien Taroaner ausüben?«

»Ganz genauso«, bestätigte Drakon. »Auf die gute alte Syndikatsmethode.«

»So sehr ich viele Dinge auch verabscheue, die mit dieser Methode zusammenhängen, könnten sie uns in diesem speziellen Fall von großem Nutzen sein. Dann also keine Eroberung?«

»Definitiv keine Eroberung. Eine Intervention. Wir spielen nur das Zünglein an der Waage, aber eine Eroberung wird es nicht sein. Wenn wir mit dem, was wir haben, versuchen, Taroa unseren Willen aufzuzwingen, dann wird das sich in einen Sumpf verwandeln, der dieses Sternensystem im Handumdrehen aussaugt. Wir wären eine leichte Beute, wenn auf einmal die Syndikatwelten durch das Hypernet-Portal hereingeschneit kommen und fordern, wieder die Kontrolle über das System zu übernehmen. Aus persönlichen Gründen wäre es mir lieber, wenn es nicht dazu kommt.«

»Mir würde so etwas auch nicht gefallen.« Iceni kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ich glaube, ich habe bei Kane hier und da eine Saat gestreut, aus der formale Beziehungen zwischen unseren Sternensystemen heranwachsen könnten. Wenn so etwas Ähnliches bei Taroa möglich wäre, wenn es uns also gelingt, die Grundlagen für eine Art Allianz zu schaffen, dann könnten wir auf lange Sicht ganz erheblich davon profitieren. Handel und Verteidigung – sozusagen eine Blase der Stabilität und Ordnung inmitten der zusammenbrechenden Syndikatwelten. Drei Sternensysteme mögen nicht viel sein, aber es wäre auf jeden Fall schon mal ein Anfang, und es ist eindeutig viel mehr als nur ein einzelnes Sternensystem.«

Drakon nickte. »Die Menschheit hat einst mit nur einem einzigen Sternensystem angefangen, und da ist schon etwas Beachtliches bei herausgekommen.«

»Nach einem so großen Erfolg strebe ich gar nicht. Aber eine Intervention bei Taroa wird einen beachtlichen Einsatz an Bodenstreitkräften und mobilen Streitkräften bedeuten, und auf beide können wir derzeit vor unserer eigenen Haustür schlecht verzichten.«

»Richtig. Aber die Truppen haben wir auch hier benötigt, als wir von diesem Schlachtschiff bei Kane erfahren hatten. Trotzdem war es sinnvoller, fast all unsere Kriegsschiffe nach Kane zu schicken. Und jetzt ist es sinnvoller, ein paar von diesen Einheiten nach Taroa zu entsenden.« Er merkte Iceni an, dass sie zwar im Prinzip überzeugt, aber immer noch nicht bereit war, die notwendigen Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Also spielte Drakon seinen letzten Trumpf aus. »Es gibt noch etwas in Verbindung mit den Schiffswerften von Taroa. Die letzten Schiffe, die das System durchflogen haben, berichteten davon, dass das Hauptdock vollständig geschlossen ist. Sie befinden sich in einer Phase, in der Komponenten von irgendetwas in einen Rumpf eingebaut werden.«

»Von irgendetwas?«, wiederholte Iceni. »Dieses Irgendetwas muss aber sehr groß sein, wenn sie dafür das Hauptdock brauchen.«

»Irgendetwas Großes«, stimmte er ihr zu. »Und ich glaube, dass wir dieses Irgendetwas dringender gebrauchen können als der Irgendjemand, für den es zusammengebaut wird. Das dürfte nämlich die Syndikat-Regierung auf Prime sein. Wenn wir das Dock einnehmen, gehört uns auch dieses große Irgendetwas.«

»Das Dock einzunehmen, dürfte extrem nützlich sein.« Iceni nickte und sah Drakon forschend an. »Was würden Sie benötigen, um die Kontrolle über die Docks zu erlangen und den Sieg der Freien Taroaner sicherzustellen?«

»Ich würde drei Brigaden einsetzen wollen«, erklärte er. »Dafür wäre es natürlich erforderlich, ein paar zivile Handelsschiffe zu rekrutieren, die sich derzeit im System aufhalten. Und es wäre eine angemessen große Flotte nötig, die mit allen leichten mobilen Streitkräften klarkommt, die dort auf uns warten könnten. Falls es bei Taroa gar keine mobilen Streitkräfte gibt, werden wir jegliche Opposition mit unserer Flotte vor Ehrfurcht erstarren lassen.«

»Wenn Sie sie vor Ehrfurcht erstarren lassen wollen, muss das Schlachtschiff zum Einsatz kommen. Nur ist das nicht einmal annähernd einsatzbereit.«

»Mit dem Schlachtschiff will ich da auch gar nicht auftauchen«, sagte Drakon. »Das ist zu groß und zu bedrohlich. Wenn wir damit ankommen, müssen wir gar kein Wort mehr sagen, weil man glauben wird, wir seien auf einem Eroberungsfeldzug. Ich möchte lieber Zeit genug haben, um zu verkünden, dass wir gekommen sind, um unseren Freunden beizustehen – den Freien Taroanern.«

Abermals nickte Iceni. »Und im Gegenzug erhalten wir die Kontrolle über die Docks und dieses Irgendetwas, das dort fertiggestellt wird. Also gut. Drei Brigaden. All Ihre Soldaten, womit mir die lokalen Truppen bleiben.«

»Die werden mit allem zurechtkommen, was sich ereignen könnte«, sagte Drakon und wählte seine Worte mit Bedacht. »Mit den drei Brigaden meinte ich zwei von meinen und eine lokale Brigade. Damit würde eine Brigade aus absolut zuverlässigen Soldaten hier verbleiben.«

»Absolut zuverlässig?«, wiederholte Iceni und lächelte flüchtig. »Sie meinen, für den Fall, dass jemand eine Dummheit versucht, wenn Sie nicht hier im System sind?«

So unverblümt hatte er das nicht ausdrücken wollen. »Wenn Sie diese Brigade als meine Versicherung gegen Sie ansehen wollen, steht Ihnen das frei. Sie haben diesen Schweren Kreuzer hier zurückgelassen, damit er mich im Auge behält, während Sie nicht da waren. Aber das ist bei weitem nicht der einzige Grund für mich, eine Brigade hierzulassen. Sie wissen so gut wie ich, dass wir uns auf unsere lokalen Brigaden nicht hundertprozentig verlassen können.«

»Und trotzdem wollen Sie eine von denen auf diese Mission mitnehmen?«

Machte sie sich über ihn lustig? Oder suchte sie ernsthaft nach seiner Rechtfertigung für diesen Schritt? Drakon hob die Hände an. »Meine eigenen Soldaten können die Lokalen in den Griff bekommen, falls das nötig werden sollte. Und die Lokalen sollten in der Lage sein, mit allem klarzukommen, was uns bei Taroa erwarten könnte.«

»Also fühlen wir uns beide sicherer, wenn eine Ihrer Brigaden hierbleibt?«

»Richtig.«

»Wie umsichtig von Ihnen, General.« Sie stützte ihr Kinn auf die Faust und musterte ihn wieder. »Welche Brigade? Welcher Colonel?«

»Colonel Rogeros Brigade.«

»Colonel Rogero? Schon wieder? Hat Colonel Rogero etwa einen Narren an mir gefressen?«

Drakon lachte kurz auf. »Ich weiß nicht, welche Gefühle er für Sie hegt, aber ich weiß, ich kann ihm das alles hier anvertrauen.« Gaiene mochte noch so fähig und loyal sein, doch wenn man ihn über einen längeren Zeitraum hinweg unbeaufsichtigt ließ, konnte es leicht passieren, dass er von einem aufgebrachten Ehemann oder einem vor Wut rasenden Vater erschossen wurde. Und Gaiene würde in dem Moment womöglich sogar sturzbetrunken sein, da er sich ja keine Sorgen machen musste, dass Drakon plötzlich nach dem Rechten sehen kam. Kai wiederum würde nicht jegliche Kontrolle über sich verlieren. Er schien von seiner Arbeit abgesehen überhaupt keine anderen Interessen zu haben, aber er war zu steif, zu unflexibel, um auf unerwartete Ereignisse zu reagieren. Und in diesem Fall wäre Drakon nicht in der Nähe, um ihm Anweisungen zu geben, wie er sich verhalten sollte. »Colonel Rogero hat die Streitmacht angeführt, die Sie nach Kane begleitet hat. Colonel Gaiene und Colonel Kai verdienen es, auch mal in Aktion zu treten.«

»Und welche lokale Brigade?«

»Die Eintausendfünfzehnte. Unter dem Kommando von Colonel Senski.«

»Colonel Senski. Hmm.« Das schien sie nicht zu überzeugen, aber schließlich machte sie eine zustimmende Geste. »Nehmen Sie auch Ihre beiden Adjutanten mit?«

»Malin und Morgan? Ja.«

»Dann bin ich einverstanden. Wie lange werden Sie brauchen, bis Sie aufbrechen können?«

»Normalerweise«, begann er, »dauert es eine Weile, eine solche Truppenbewegung auf die Beine zu stellen, aber …«

»… aber Sie haben mit den Vorbereitungen lange vor meiner Rückkehr begonnen, weil Sie davon ausgegangen sind, dass ich der Mission zustimmen würde«, führte sie seinen Satz zu Ende. Sie sagte es nicht auf eine Weise, als hätte sie das soeben erraten, sondern als wäre ihr das bereits vor diesem Treffen bekannt gewesen.

Entweder versuchte sie ihn aus der Ruhe zu bringen, indem sie vorgab, über gewisse Informationen zu verfügen, oder aber sie hatte tatsächlich eine gute Verbindung zu jemandem in seinen Reihen. Die beste Reaktion war wohl die, keine besondere Reaktion erkennen zu lassen. Er lächelte sie an, als sei ihre Bemerkung für ihn keine große Sache. »Das ist korrekt.«

Sie konterte mit einem ganz ähnlichen Lächeln. »Ich werde mit Kommodor Marphissa beratschlagen, wie groß die Flotte sein soll, die Sie begleiten wird. Wir müssen die Bestände der Kriegsschiffe erst noch aufstocken, das wird eine Weile dauern. Ich würde mindestens eine Woche einkalkulieren, um sie alle herzubringen und mit dem Notwendigen zu bestücken, damit sie wieder einsatzbereit sind. Ich will keinen Hehl aus meinen Absichten machen. Ich möchte genügend Kriegsschiffe hierbehalten, um dieses Sternensystem und mein Schlachtschiff zu beschützen, während das noch einsatzbereit gemacht wird. Aber ich bin mir sicher, dass ich Ihnen mindestens einen Schweren Kreuzer mitgeben kann.«

Drakon sah sie forschend an. »Ihr Schlachtschiff?«

»Habe ich das gesagt? Ich meinte natürlich unser Schlachtschiff.«

»Das jetzt auch einen Namen hat, wie mir zu Ohren gekommen ist.« Warum sollte er nicht auch ein wenig mit dem prahlen, was er an Informationen vorliegen hatte?

»Ja, die Midway

Er hatte eigentlich von ihr erwartet, dass sie dem Schiff ihren eigenen Namen geben würde, was ein deutliches Zeichen für Ehrgeiz und Ego gewesen wäre. Dass sie stattdessen diesen Namen ausgewählt hatte, beruhigte Drakon ungemein. »Werden Sie den anderen Kriegsschiffen auch Namen geben?«

»Ist bereits geschehen. Die Namensvergabe habe ich heute verschickt. Die Schweren Kreuzer werden die Namen Manticore, Gryphon und Basilisk sowie Kraken erhalten, die Leichten Kreuzer heißen ab jetzt Falcon, Osprey, Hawk, Harrier, Kite und Eagle. Die Jäger hören auf die Namen Sentry, Sentinel, Scout, Defender, Guardian, Pathfinder, Protector, Patrol, Guide, Vanguard, Picket und Watch

»Tatsächlich? Die sind ziemlich gut.«

»Es freut mich, dass ich Sie in dieser Hinsicht überraschen konnte, General. Es ist klar, dass ich Sie auf dieser Mission nicht begleiten kann, daher übertrage ich Kommodor Marphissa das Kommando über die mobilen Streitkräfte.«

»Ich habe gehört, dass sie gut ist.«

»Das ist sie tatsächlich. Und sie neigt bedauerlicherweise dazu, offen ihre Meinung zu sagen. Ich hoffe, damit können Sie zurechtkommen.«

»Ich habe einige Erfahrung mit Untergebenen von dieser Sorte«, gab Drakon ironisch zurück und musste zwangsläufig an Malin und Morgan denken. »Das können die besten Untergebenen sein, wenn sie wissen, wovon sie reden und man selbst Glück hat.«

Iceni sah ihn erstaunt an. »Ja, General, da haben Sie völlig recht.« Nach einer längeren Pause fuhr sie dann fort: »Werden Sie mir etwas verraten?«

»Kommt drauf an, was Sie hören wollen.«

»Als Sie mit der Flotte unter dem Kommando von CEO Gathos konfrontiert wurden, warum haben Sie mich nicht hintergangen, um Ihre eigene Haut zu retten? Sie hätten doch behaupten können, dass Sie die ganze Zeit nur mitgespielt haben, damit ich meine Karten auf den Tisch lege. Das hätte Sie vielleicht nicht gerettet, aber immerhin wären Ihre Chancen dadurch verbessert worden.«

Eine Weile sah er sie einfach nur an, dann erwiderte er: »Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen und wenn Sie glauben wollen, dass es auch tatsächlich die Wahrheit ist – dieser Gedanke ist mir nie gekommen.« Auch Malin und Morgan hatten eine solche Möglichkeit gar nicht erst in Erwägung gezogen. Und falls doch, war keiner von ihnen darauf zu sprechen gekommen. Wieso eigentlich nicht? Malin hätte an diesen Ausweg denken müssen, und es war eigentlich die Art von Lösung, die Morgan als Erstes hätte in den Sinn kommen sollen. Warum hatte keiner von ihnen vorgeschlagen, Iceni die Schuld zu geben, damit sie Zeit schinden konnten?

»Der Gedanke ist Ihnen nicht gekommen?« Iceni musterte ihn. »Ich weiß einiges über Sie, General Drakon, aber ich muss feststellen, dass ich Sie kaum kenne. Es ist nicht einfach vorherzusagen, wie Sie als Nächstes reagieren werden.«

»Mit dem Problem habe ich manchmal selbst zu kämpfen«, sagte er.

»Tatsächlich? Ich weiß, was Sie auf der Grundlage dessen, was uns eingeimpft worden ist, in einer bestimmten Situation tun sollten, aber ich bin mir nicht immer sicher, dass Sie das auch tun werden

Er hob beiläufig die Schultern, war aber verwundert darüber, solche Dinge von ihr gesagt zu bekommen. »Es gibt etliche Situationen, in denen es von Vorteil sein kann, wenn man ein wenig unberechenbar ist.«

»Ja, richtig«, stimmte Iceni ihm zu. »Aber …« Erneut musterte sie ihn. »Machen Sie das absichtlich, weil es eine Taktik ist, oder liegt es Ihnen im Blut? Etwas, das Sie automatisch machen, selbst wenn Sie keinen Vorteil daraus ziehen können?«

Reflexartig schaltete er innerlich um auf Abwehr. Er wollte nicht zu viel von dem erkennen lassen, was er dachte. Also reagierte er erneut in Form eines Achselzuckens. »Warum sollte ein CEO etwas tun, wenn es ihm keinen Vorteil verschafft?«

»Eine gute Frage. Und trotzdem sitzen Sie jetzt da. Man hat Sie nach Midway ins Exil geschickt. Aber während ich hier gelandet bin, weil ich einfach nur großes Pech hatte, wurden Sie für ein Verhalten hierher verbannt, das Ihnen unmöglich irgendeinen persönlichen Vorteil hätte verschaffen können.«

Drakon sah ihr in die Augen. »Das kommt immer darauf an, was man unter einem solchen Vorteil versteht. Ich habe das getan, was ich für die … korrekte Vorgehensweise hielt.«

»Als Gegensatz dazu, das Richtige zu tun?«

»Das Richtige? Sie meinen das moralisch Richtige? Das macht niemand.«

»Es gibt nur niemand zu«, korrigierte sie ihn. »Wir wissen, wie die Syndikatwelten nach außen wirken und wie es im Inneren eigentlich abläuft. Und wir wissen, dass die Leute um uns herum nur das Äußere sehen, nicht aber das Innenleben, weil uns allen beigebracht wird, dass wir das verstecken sollen.«

»Ja.« Trotz seiner Skepsis konnte Drakon spüren, wie seine inneren Barrieren nachzugeben begannen. Was sie sagte, entsprach seiner Meinung. Das alles betraf Dinge, die man mit niemandem besprechen konnte, weil man nie wusste, wer diese Informationen später gegen einen verwenden würde. »Ich kenne Sie eigentlich auch nicht. Ich weiß nicht, wie es in Ihrem Inneren aussieht. Ich wusste auch nicht, wie Sie über dieses Thema denken.«

Iceni lächelte selbstironisch. »Ich habe gerade eine längere Reise hinter mir. Sie wissen ja, wie das ist. Sie könnten jedes beliebige Buch lesen und sich jeden Film ansehen, den Sie sehen wollen. Aber Sie haben auch sehr viel Zeit zum Nachdenken, wenn Sie sich damit die Zeit vertreiben möchten. Vor allem im Sprungraum, wo draußen absolut nichts passiert, da kann man lange nachdenken … sehr lange sogar.«

»Über was haben Sie denn sonst noch nachgedacht?«, fragte er und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass ihn die Antwort darauf ernsthaft interessierte.

»Haben Sie schon mal überlegt, wer Sie wohl wären, wenn Sie nicht in den Syndikatwelten aufgewachsen wären?«

»Sie meinen, wenn ich in der Allianz zur Welt gekommen wäre?«

»Beispielsweise«, sagte sie. »Oder vielleicht ganz woanders. Auf einem Planeten in einem weit entfernten Sternensystem, in dem man noch nie von der Allianz und von den Syndikatwelten oder dem Krieg zwischen den beiden gehört hat. Angenommen, Sie wären da aufgewachsen? Wer wären Sie heute?«

Er hätte die Frage mit einem Lacher abtun können, aber Drakon nahm sich die Zeit, um darüber nachzudenken. »Sie meinen, wer ich sein würde, wenn ich nicht ich selbst wäre?«

»Nicht so ganz.«

»Wer wären Sie denn?«, fragte er.

»Ich weiß nicht«, antwortete Iceni. »Und das stört mich. Wer würde ich sein? So wie Sie habe ich mein Leben damit verbracht, immer vorsichtig zu sein, immer Angst zu haben, immer auf der Hut zu sein, immer innerhalb des Systems mitzuspielen … mal das Opfer, mal die Überlegene. Als wir dann einmal nicht mitgespielt haben, sind wir sofort hier gelandet, was letztlich ein Glücksfall war, denn jetzt gehört uns dieses System. Wir können daraus machen, was wir wollen.«

»So wie diese Sache mit den Gerichtsverfahren?«

»Zum Beispiel das.«

Drakons Lächeln war in diesem Moment einmal nicht gekünstelt. »Ich schätze, es ist schön, über so was nachzudenken.«

»Zumindest dann, wenn unsere Adjutanten, Assistenten oder Bewacher nicht da sind, um uns im Zaum zu halten. Manchmal kommt es mir so vor, als stecke ich in einer Zwangsjacke. Sie nicht auch?«

»Allerdings«, bestätigte Drakon. »Manchmal ist die Freiheit ganz schön beängstigend. Aber wir haben die Freiheit nie gekannt, also wussten wir auch nicht, wie sie sich anfühlen würde.«

»Wenn Sie jetzt auf der Stelle genau das tun könnten, was Sie wollen, was würde es dann sein?«

»Ähm …« Eine ehrliche Antwort wollte er ihr nicht geben, denn er hatte schon immer die Frauen verdammt attraktiv gefunden, die eine solche Neugier und einen solchen Intellekt besaßen. Aber er bezweifelte, dass Iceni sich geschmeichelt fühlte, wenn er jetzt und hier über sein körperliches Verlangen redete, selbst wenn das Verlangen durch ihren Verstand ausgelöst wurde, nicht durch die offensichtlicheren Attribute ihres Körpers. »Ich weiß nicht. Vermutlich würde ich nackt durch den Wald laufen wollen.«

Iceni musste lachen. »Ehrlich? Was für eine interessante Idee. Wie kommen Sie darauf?«

»Das war das Verrückteste, was mir in den Sinn kommen wollte«, erwiderte Drakon.

»Klingt nach viel Spaß. Falls Sie das jemals in die Tat umsetzen wollen, geben Sie mir Bescheid.«

Wenn er nur gewusst hätte, ob er ihr vertrauen konnte.

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