»Wer da?« rief eine Männerstimme vom Deck der Tina. »Sprich, oder es wird geschossen!«
»Jason!« rief ich aus dem kalten, dunklen Wasser. »Jason aus Victoria. Helft mir an Bord!«
»Es ist Jason«, sagte Callimachus’ Stimme, die ich sofort erkannte. »Holt ihn an Bord!«
Ich zerrte das Mädchen am Haar hinter mir her; sie schwamm auf dem Rücken. An ihrem Kragen war der Balken mit dem Paket befestigt, der im Wasser mitgezogen wurde.
Hände streckten sich mir entgegen. Zwei Männer klammerten sich an die Ruderpforten und beugten sich weit hinaus. »Was haben wir denn da?« fragte einer.
»Eine Sklavin«, antwortete ich. »Und etwas anderes, das sehr wertvoll ist.«
Das Mädchen wurde an den gefesselten Armen an Bord gezerrt, wobei Brett und Paket an die Bordwand schlugen.
Ich stieg hinter ihr hinauf. Kurze Zeit später stand ich erschauernd auf dem Deck der Tina.
Callimachus umfaßte meine Arme. »Wir glaubten dich schon verloren«, sagte er.
»Wir müssen den Rückzug vorbereiten«, sagte ich. »Den Angriff morgen früh überstehen wir nicht mehr.«
»Wir haben auf dich gewartet«, sagte Callimachus.
Ich bückte mich neben dem Mädchen und löste Brett und Paket von ihrem Kragen. »Bring dies in die Kabine des Kapitäns!« befahl ich einem der Umstehenden.
»Jawohl, Jason«, sagte er.
»Was ist das?« wollte Callimachus wissen.
»Das werde ich dir später erklären.«
»An Deck der Tamira scheint Verwirrung zu herrschen; Lichter bewegen sich hin und her«, meldete ein Seemann, und wir schauten zu dem etwa dreihundert Meter entfernten Schiff hinüber.
Ich lächelte. Ich nahm nicht an, daß es Reginald eilig hatte, den Verlust seinem Flottenchef anzuzeigen.
»Was haben wir denn hier?« fragte ein Mann, hob die Laterne und deutete auf das Mädchen, das neben uns an Deck kniete.
Ich zog ihr die Augenbinde vom Kopf.
»Ein hübsches Ding«, sagte der Mann.
»Ja«, antwortete ein zweiter.
Erschrocken sah sich das Mädchen um, den Feinden ihres früheren Herrn hilflos ausgeliefert.
»Die Tamira wendet«, meldete ein Mann. »Ich glaube, sie will angreifen.«
»Man scheint begierig zu sein, deine Beute zurückzuholen«, sagte Callimachus.
Erstaunt hob das Mädchen den Kopf.
»Nicht du, hübsche Sklavin!« sagte ich zu ihr. »Er meint das Päckchen, das allein von Wert ist.«
Zornig blickte sie mich an.
»Fesselt sie und bringt sie unter Deck«, befahl ich einem Mann.
»Ruderer auf die Bänke!« befahl Callimachus. »Alle Mann auf Posten!«
»Der Kapitän der Tamira muß den Verstand verloren habe, gegen drei Schiffe vorzurücken«, bemerkte ein Offizier.
»Er ist verzweifelt«, antwortete ein Mann.
»Reginald ist vielleicht bereit, sein Schiff zu verlieren«, sagte ich. »Dann ließe sich nämlich der Verlust der Papiere verschleiern, auf diese Weise erscheint es unvermeidlich, als eine Folge des Kampfes.«
»Sicher hat er keinen Befehl erhalten, die Formation zu verlassen«, sagte Callimachus.
»Nein«, antwortete ich grinsend. Im gleichen Moment wurde mir ein Mantel um die Schultern gelegt, der die Kälte des Wassers vertreiben sollte.
»Kein Zweifel«, sagte ein Offizier. »Die Tamira will angreifen.«
»Meine Hoffnungen erfüllen sich«, sagte ich zu Callimachus. »Mit diesem Manöver reißt sie eine Lücke in die eigenen Reihen.« Ich hatte nicht erwartet, daß Reginald den Verlust so schnell bemerken würde. Ich hatte gehofft, mehr Zeit zu haben, mein Vorhaben mit Callimachus abzustimmen.
»Ich lasse Hornsignale geben«, sagte ein Offizier.
»Nein, nein!« widersprach ich.
»Keine Signale!« wandte sich Callimachus an den Offizier. »Es ist noch nicht angebracht, die Piraten zu alarmieren und in Verwirrung zu stürzen.«
»Genau«, sagte ich. Da wir in unmittelbarer Nähe der Olivia und der Tais lagen, ließen sich Befehle auch auf kurzem Wege übermitteln.
»Willst du die Öffnung in der gegnerischen Formation ausnutzen?« fragte Callimachus. »Sie wird nicht lange bestehen. Man wird sich schnell auf das Manöver der Tamira einstellen.«
»Nicht direkt«, sagte ich. »Das wäre als Kaissa-Taktik zu durchsichtig, wie man sagt. Allerdings wird der Gegner erwarten, daß wir auf die Lücke zuhalten.«
»Dementsprechend wird er die Deckung verlagern, um diese Entwicklung abzusichern«, meinte Callimachus.
»Was zahlreiche Verlegungen von Schiffen zur Folge hat – und vielleicht Verwirrung stiftet«, ergänzte ich.
»Womöglich gerät die ganze Armada durcheinander«, sagte Callimachus, »und öffnet sich an einem Dutzend Stellen.«
»Man wird nicht begreifen, warum die Tamira ihre Position verlassen hat«, fuhr ich fort. »So mögen viele Schiffe annehmen, daß der Angriff auf einem Befehl beruht.«
»Die Tamira nähert sich«, meldete ein Offizier. »Gehen wir auf den Kampf ein?«
»Nein!« rief Callimachus. »Rudergänger, hart Steuerbord! Rudermeister! Volles Tempo!«
»Volles Tempo!« brüllte der Rudermeister sofort.
»Backbordruder einziehen!« befahl Callimachus.
»Backbordruder einziehen!« kam sofort das Echo.
Die Tamira, deren Backbord-Scherblatt wie eine stählerne Mondsichel an unserer Backbordseite entlangglitt, schwang an uns vorbei, zwischen uns und der Olivia.
»Auf anderen Piratenschiffen werden Lichter gesetzt!« rief ein Offizier. Hier und dort sahen wir Laternen über dem Wasser. Hörner bliesen zum Kampf.
»Geh längsseits zur Olivia, Callimachus!« bat ich. »Es müssen schleunigst Befehle gegeben und ohne Zögern ausgeführt werden.«
»Gedenkst du zu fliehen?« fragte Callimachus.
»Ich gedenke nicht zu fliehen, sondern zu siegen«, antwortete ich.
Über das Wasser gellte Jubelgeschrei, als hätten Piraten einen Sieg errungen.
Immer wieder glitt ich mit den Füßen auf der Sandbank aus, doch unermüdlich stemmte ich die Schulter gegen den Schiffsrumpf der Tuka, die bei dem ersten großen Angriff gegen uns vor drei Tagen den Formationskeil angeführt hatte. Das Schiff war gerammt und beschädigt in der Nähe der Kette auf eine Sandbank gelaufen und von seiner Besatzung verlassen worden. Es war ein sehr bekanntes Schiff Ragnar Voskjards. Neben mir bemühten sich andere Männer mit den Schultern oder mit Rudern als Hebeln, den tief in den Sand gesunkenen Schiffsrumpf in Bewegung zu bringen. Zu beiden Seiten der Sandbank hatten die Tina und die Tais den Havaristen mit dicken Trossen in Schlepp genommen und zerrten, was das Zeug hielt.
Das Gebrüll war deutlich über das Wasser zu hören. Im Osten machte sich rötlicher Feuerschein bemerkbar.
»Sie werden bald merken, daß wir sie hereingelegt haben«, sagte ein Mann in meiner Nähe.
»Dann gib dir noch mehr Mühe«, riet ich ihm.
In der allgemeinen nächtlichen Verwirrung hatten wir die Olivia in Brand gesteckt und ließen sie nun mit gesetzten Segeln und festgebundenen Rudern nach Osten gleiten, die wahrscheinliche Fluchtroute zu Städten wie Port Cos, Tafa und Victoria. Wie meine majestätische Fackel würde sie mitten unter die Feinde segeln. Im Schutze dieser Ablenkung hatten sich die Tina und die Tais, die Aemilianus und die Besatzung der Olivia an Bord genommen hatten, mit Hilfe von eroberten Voskjard-Wimpeln und Fahnen getarnt und die anderen Schiffe wie Haie an sich vorbeigleiten lassen, hinter der leuchtenden Olivia her, deren Flammen sie für den Schauplatz des Kampfes hielten. Es konnte natürlich nicht lange dauern, wenn es nicht schon geschehen war, bis die Piraten entdeckten, daß sich niemand an Bord der Olivia befand.
»Strengt euch noch mehr an!« rief ich.
Ächzend stemmten wir uns gegen die gestrandete Tuka. Die dicken Taue knackten. Dicht neben mir brach ein Ruder unter dem Gewicht von vier Männern, die es als Hebel benutzten. Andere Männer schaufelten mit Speerspitzen den Sand unter dem Kiel fort.
»Ich fürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit!« rief Callimachus von der Reling der Tina.
»Hoffnungslos!« sagte ein Mann hinter mir.
Der mächtige Rumpf der Tuka, so düster, so schwer, so widerspenstig, so offenbar an diesem Ort festliegend, bewegte sich plötzlich ein wenig, mühselig, mit einem durchdringenden scharrenden Knirschen, wobei der Kiel wie die Kufe eines riesigen Schlittens wirkte und im Sand eine tiefe Furche hinterließ. Das Schiff rutschte ganze sechs Zoll rückwärts.
»Strengt euch an!« flüsterte ich. »Schiebt!«
Nun glitt die Tuka einen Fuß weiter. Dann noch einen Fuß. Die Männer begannen zu jubeln. »Still!« rief ich.
Ich verließ meinen Platz und hastete, bis zu den Knöcheln in Sand und Wasser, den Kopf unter den Trossen hinwegduckend, die zur Tina und Tuka führten, an der Bordwand entlang, bis ich den Fluß erreichte. Dort ließ ich mich ins Wasser gleiten, schwamm um das Heck herum und schloß mich den Männern auf der anderen Seite der Sandbank an, wo vor drei Tagen die Ramme der Tais ein riesiges Loch in die Plankenwand gerissen hatte. Das ungleichmäßige Loch war gut einen Meter breit und hoch. Die Beschädigung lag ein Stück oberhalb der Wasserlinie, auch wenn das Schiff aufrecht fuhr. Beim Hin und Her des Kampfes jedoch hatte der Schiffsrumpf genügend Wasser aufgenommen, um ihm Schlagseite zu geben. Die Tuka war schließlich von ihren Männern und dem Kapitän als kampfunfähig aufgegeben worden, zweifellos mit der Absicht, später zurückzukehren und das Schiff zu reparieren. Ich schaute in das Leck in der Bordwand. Wieder glitt die Tuka einen Meter weiter. Bald würde sie von der Sandbank herunter sein. Ich machte mir Gedanken, was man an Zeit und Material benötigte, um das Schiff wieder seetüchtig zu machen. Solche Reparaturen mußten natürlich auf dem Fluß und während der Flucht gemacht werden. Da die Tuka für meine Pläne wichtig war, wollte ich sie nicht lassen, wie sie war. Wie gesagt, sie war als Schiff Ragnar Voskjards bestens bekannt.
»Ein Schiff nähert sich!« ertönte eine laute Männerstimme.
»Nein!« rief ich ärgerlich. »Nein!«
»Es ist ein Wrack«, sagte ein anderer Mann. »Kein Licht an Bord. Die Ruder hängen nur im Wasser!«
Es handelte sich also um ein unbemanntes Schiff, das von der Strömung vom Kriegsschauplatz fortgetrieben wurde. Selbst wenn es sich um eine Finte handelte, hatten wir es hier nur mit einem Angreifer zu tun. Wir hatten zwar nur zwei Schiffe und die Tuka zur Verfügung, doch mit den Soldaten aus Ar verfügten wir über genügend Leute, um mindestens fünf Schiffe zu bemannen.
Die Tuka gab dem Zug der Trossen um einen weiteren Meter nach. Mich mit beiden Händen abstützend, schob ich mich durch das Leck ins Innere der Tuka. Dort zog ich sofort mein Schwert. Nach der Eroberung waren kurz die Kämpfer der Tais an Bord gewesen. Damals war schon keine Mannschaft mehr an Bord. Ich bezweifelte nicht, daß das Schiff leer war. Aber ich wußte es nicht genau. Mein Schwert war blank gezogen. Die Tuka ist eine große Galeere, und ich vermochte im ersten Laderaum aufrecht zu stehen. Ich spürte, wie sich der Schiffskörper, von Seilen und Männern gedrängt, erneut unter mir zum Fluß hin bewegte. Es war dunkel im Laderaum. Etwa sechs Zoll hoch umspülte mir das Wasser die Füße und lief durch das Leck ab. Ich spürte das nasse Holz unter den nackten Füßen. Unter dem ersten Laderaum liegt der Kielraum, kaum mehr als ein feuchter Kriechgang, der das Bilgewasser und den auf goreanischen Schiffen normalerweise als Ballast dienenden Sand enthielt. Ich entfernte mich von dem Leck. Ich war unruhig.
Ich lauschte. Es war dunkel im Laderaum. Zu hören war nichts. Ich mußte mich getäuscht haben.
Ich stand absolut still. Unruhe erfüllte mich.
Plötzlich stürzte sich aus der Dunkelheit eine Gestalt auf mich. Ich trat zur Seite. Stahl zuckte herab. Ich hörte die Klinge links vor mir ins Holz krachen, während ich noch herumfuhr und meinerseits nach dem Angreifer hieb. Dann kniete ich neben dem Mann nieder, dem ich eine tödliche Nacken wunde beigebracht hatte.
Ich stand auf. Stumm verharrte ich in der Schwärze, das Schwert kampfbereit erhoben.
Im nächsten Moment spürte ich weiche Lippen an meinen Füßen. »Bitte töte mich nicht, Herr!« flehte eine Frau.
Ich senkte das Schwert, bis die Spitze auf ihren Rücken gerichtet war.
Mit den Händen umfaßte ich ihre schlanken Handgelenke und zog sie in eine kniende Position hoch. So ertastete ich, daß sie nackt war und einen Sklavenkragen trug.
»Wer hat mich da eben angegriffen?« fragte ich.
»Alfred«, antwortete sie, »ein Gefolgsmann Alcibrons, des Kapitäns der Tuka.«
»Was hatte er hier zu suchen?«
»Er wurde zurückgelassen, um alle Nichtpiraten zu töten, die hier im Schiff Unterschlupf suchen wollten«, sagte sie. »Er tötete fünf«, fügte sie hinzu.
»Und was machtest du hier?«
»Ich wurde bei ihm gelassen, um ihn zu erfreuen«, antwortete sie, »damit er an seinen Pflichten mehr Spaß hatte.«
»Bist du schön?« fragte ich.
»Es gibt Männer, die mich nicht unangenehm gefunden haben«, sagte sie.
»Wer ist dein Herr?« wollte ich wissen.
»Alcibron, der Kapitän der Tuka, war mein Herr«, sagte sie. »Aber jetzt bist du mein Herr.«
»Deine Stimme klingt vertraut. Kenne ich dich?«
»Ich komme ursprünglich aus Port Cos«, sagte sie, »und war frei geboren. Aber schon früh erkannte ich in meinem Herzen, daß ich Sklavin bin. Ich floh aus Port Cos, um einer unerwünschten Gefährtenschaft zu entgehen. Der Mann, der mich begehrte, respektierte mich zu sehr, und obwohl ich ihn auch sehr liebte, wußte ich, daß er meine Sklavinnenbedürfnisse nicht würde erfüllen können. Er wollte mich als seine Gefährtin, während ich nur seine Sklavin zu sein wünschte. Er wollte mich in Schleier und Seidenstoffe hüllen und mir dienen. Ich wollte mehr.
Ich gestand ihm mein Verlangen, und er war schockiert, was mich meinerseits beschämte und bestürzte. In großem Zorn gingen wir auseinander.
Ich faßte daraufhin den Entschluß, ohne Männer auszukommen. Sie sollten leiden, weil sie mich als Frau ablehnten. Wenn sie mich nicht verstehen wollten oder konnten, wollte ich mich rächen und ihnen das Leben schwermachen.
Wie gesagt, ich verließ Port Cos und dachte damals, es ginge mir darum, mein Glück zu machen. Doch die Wahrheit, das verstehe ich jetzt, wünschte ich mir die Versklavung. Und dazu sollte es schnell kommen. Im Anfang versuchte ich meinem Vorsatz treu zu bleiben und die Rebellin zu spielen; mir wurde aber schnell klargemacht, daß das unpraktisch war, daß ich als Sklavin zu gehorchen hatte. Die Goreaner lassen ihren Frauen in dieser Beziehung wenig Spielraum. Es gefiel mir zutiefst, daß ich gar keine andere Wahl hatte, daß meine Sklaverei, wie Brandzeichen und Kragen, mir aufgezwungen wurde. Ich mußte sein, was ich im tiefsten Herzen war. So habe ich nun schon viele Herren gehabt, gute und schlechte. Die längste Zeit bei einem Herrn verbrachte ich in Vonda, im Haus des Sklavenhändlers Andronicus.«
»Dann weiß ich, wer du bist«, sagte ich.
»Herr?« fragte sie. »Oh! Deine Hände pressen kräftig zu!«
»Unter welchem Namen warst du allgemein bekannt, Sklavin?« fragte ich.
»Lola, Herr!« antwortete sie erschrocken. »Lola!«
Ich ließ ihre Hände los und steckte das Schwert ein. »Du kannst mir deinen Gehorsam erweisen, Lola«, sagte ich.
Sie gehorchte.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Mein Herr, mein Herr!« sagte sie.
»Steh auf, Mädchen! Ich bin Jason aus Victoria.«
»Herr!« rief sie, und Tränen liefen ihr über das Gesicht. Schluchzend umfaßte sie meine Arme und preßte sich an mich. Ich legte ihr die Arme um die Schultern, erlaubte mir diese Geste der Zärtlichkeit, obwohl sie nur eine gebrandmarkte Sklavin war. »Sie verkaufte mich!« schluchzte sie. »Sie verkaufte mich! Sie brachte mich zum Hafen, während du bei der Arbeit warst! Sie verkaufte mich!«
»Dazu hatte sie kein Recht«, stellte ich fest.
Schluchzend schmiegte sich das Mädchen an mich. Ich spürte ihre Tränen auf meiner Brust. »Ich wurde an einen Kaufmann aus Tetrapoli verkauft«, sagte sie. »In Tetrapoli verkaufte man mich an einen Zwischenhändler weiter, der im Auftrag Alcibrons unterwegs war, eines der Oberkapitäne Ragnar Voskjards.«
»Und der holte dich zu seinem Vergnügen an Bord der Tuka.«
»Ja, Herr.«
Ich ergriff ihren Arm und hielt sie von mir fort. »Ich habe im Moment wenig Zeit für dich«, sagte ich.
»Ja, Herr«, antwortete sie. »Oh!« rief sie, als ich sie rücklings auf die Planken des Laderaums drückte. Schnell ergriff ich von ihr Besitz, denn ich hatte es eilig. Erschaudernd klammerte sie sich an mich. Die Tuka war inzwischen von der Sandbank losgekommen. Auf dem Deck über unseren Köpfen hörte ich Schritte. Männer nahmen ihre Positionen auf den Ruderbänken ein. Die Trossen, mit denen die Tina und die Tais die Tuka geschleppt hatten, wurden losgeworfen. Aemilianus gab Befehle.
»Auf!« befahl ich. »Wir müssen zur Tina hinüberschwimmen.«
»Ja, Herr«, sagte sie und erhob sich ächzend.
Ich trat an das Leck in der Bordwand. Von dort vermochte ich die Tais und die dahinterliegende Flußkette zu sehen.
Die Leiche des Mannes, der mich in der Dunkelheit des Laderaums angegriffen hatte, warf ich ins Wasser.
»Kannst du schwimmen?« fragte ich das Mädchen, das mir gefolgt war.
»Nein.«
Ich ergriff sie, duckte mich und zog sie mit mir ins Wasser. »Dreh dich um«, sagte ich, »und entspann dich!«
»Ja, Herr!« sagte sie erschrocken.
Das Mädchen an den Haaren ziehend, schwamm ich langsam um den Bug der Tuka herum und näherte mich der Bordwand der Tina. Gleich darauf zogen uns hilfreiche Seeleute an Bord.
»Willkommen, Jason!« sagte Callimachus grinsend. »Während wir schwer geschuftet haben, scheinst du anderem Glück gefolgt zu sein.«
»Ich habe meinen Teil der Arbeit getan«, erwiderte ich lachend. »Das Mädchen lief mir eher zufällig über den Weg.«
Wir betrachteten das nasse, zitternde Mädchen, das eine vorzügliche Figur zur Schau stellte.
»Nett ist sie«, stellte Callimachus fest.
»Ja, ein hübsches Ding«, räumte ich ein. Lächelnd senkte das Mädchen den Kopf.
Ich ließ einen Mantel holen und das Mädchen unter Deck führen.
»Wir müssen bald aufbrechen«, sagte Callimachus.
»Ich suche mir einen Platz an den Rudern«, erwiderte ich.
»Herr«, meldete einer der Offiziere in diesem Augenblick, »auf dem Schiff an Steuerbord regt sich etwas.«
»Dann ist es also doch nicht verlassen«, sagte Callimachus. »Hatte ich’s mir doch gleich gedacht.«
Mir fiel das Schiff ein, von dem kurz vor meinem Betreten der Tuka die Rede gewesen war – angeblich verlassen flußabwärts treibend, fort von dem Durcheinander des Kampfes, erleuchtet von der Olivia, die wir zur Ablenkung in Brand gesteckt hatten.
Callimachus, der Offizier und ich gingen zur Steuerbordreling der Tina.
Drüben glitten Ruder außenbords. Das Schiff war nicht verlassen.
»Sie will doch nicht etwa drei Schiffe angreifen?« rief der Offizier.
»Warum ist sie nicht schon viel früher zur Tat geschritten?« wollte jemand wissen.
»Sicher hat sie auf die Unterstützung anderer Schiffe gewartet«, sagte ich.
»Warum sollte sie dann ausgerechnet jetzt losschlagen wollen?« fragte jemand. »Es sind keine anderen Schiffe in der Nähe.«
»Man hat dort drüben mitbekommen, daß die Tuka von der Sandbank herunter ist«, antwortete Callimachus. »Wenn man überhaupt angreifen will, dann jetzt.«
»Aber wir sind zu dritt!« sagte jemand.
»Zu zweit, wenn man die Tuka nicht mitrechnet«, antwortete eine Stimme.
»Aber auch so sind wir eindeutig im Vorteil«, sagte der erste Mann. Bei einem Ruderkampf kann sich ein einzelnes Schiff kaum gegen zwei Angreifer verteidigen. Eine Bordwand wäre auf jeden Fall ungeschützt.
»Der Kapitän drüben ist verzweifelt«, sagte ich.
»Du kennst das Schiff?« fragte Callimachus.
»Es war das erste Schiff, das die Formation verließ, das erste Schiff, das gegen uns losschlug«, sagte ich. »Trotz des Durcheinanders, trotz der zahlreichen Manöver und unserer Ablenkung, trotz der Voskjard-Wimpel, die wir aufgezogen haben, ist die Galeere bei uns geblieben. Sie ist uns unauffällig gefolgt.«
»Ah«, seufzte Callimachus.
»Ja«, sagte ich, »es ist die Tamira.«
»Sie fährt an!« rief der Offizier.
»Ebenso aber die Tais!« gellte eine Stimme. Ich blickte zur Seite. Die Tais, dunkel angestrichen, tief im Wasser liegend, schnittig und vom Kampf gezeichnet, eines der gefährlichsten Kampfschiffe aus der Flotte von Port Cos, fuhr unter dem Kommando von Calliodorus um das Heck der Tuka herum und am Bug der Tina vorbei. Sie hatte die Tamira ebenfalls gesichtet.
»Sie darf nicht versenkt werden!« rief ich. »Gib ein Signal an Calliodorus!«
»Nein«, antwortete Callimachus ernst. »Die Hörner würden unsere Position verraten.«
Ich beobachtete das Vorrücken der Tamira. Sie war ein bewaffnetes Handelsschiff.
»Der Kapitän muß den Verstand verloren haben«, sagte jemand.
»Er führt sein Schiff in den Untergang«, antwortete ein Mann.
Ich wußte nicht einmal, ob Reginald, der die Tamira führte, die Tais überhaupt bemerkt hatte.
»Sie darf nicht versenkt werden!« rief ich. »Allenfalls können wir sie entern.«
Holz splitterte, ächzte, dröhnte. Geschrei tönte auf.
»Zu spät«, sagte Callimachus.
»Blut für Port Cos«, sagte ein Mann.
»Auf die Tamira!« flehte ich Callimachus an. »Bitte, Callimachus!«
»Dazu ist keine Zeit«, antwortete er.
»Andere Schiffe werden nach uns suchen«, sagte ein Offizier.
»Wir müssen verschwinden!« empfahl Callimachus.
Ich warf Gürtel und Schwert ab und stürzte mich von der Reling der Tina ins Wasser. »Komm zurück!« rief Callimachus.
Gleich darauf war ich an der Bordwand der Tamira. Der dunkle Schiffsrumpf rollte in meine Richtung und drückte mich unter Wasser. Ich ertastete den Kiel mit beiden Händen, stieß mich ab und kehrte an die Wasseroberfläche zurück. Dabei geriet ich mit dem Arm gegen ein ins Wasser hängendes unbemanntes Ruder. Ringsum schwammen andere Männer. In der Nacht machte ich eine dunkle Masse aus, die einige Meter entfernt war, die Tais. Ich schob einen Mann fort, der sich im Wasser an mich klammern wollte. Meine Hand stieß gegen ein Wrackteil.
»Sie kommt noch einmal!« hörte ich einen Mann aufschreien.
Ich machte kehrt im Wasser. Der dunkle Umriß der Tais schien mich überfahren zu wollen. Ich wich zur Seite aus. Unter Wasser fühlte ich mich von der Bugwelle des Schiffes empor und zur Seite gehoben, und im gleichen Moment erklang das Dröhnen des zweiten Aufpralls. Einen Augenblick lang konnte ich keinen zusammenhängenden Gedanken fassen. Die Welt bestand aus Dröhnen, Bewegung und Schmerz. Und wieder kam mein Kopf über Wasser, und ich vermochte zu atmen. Ich befand mich an der Bordwand der Tais. Überall waren Männer im Wasser und schrien durcheinander. Ich streckte die Hand aus. Ich spürte das Steuerbord-Scherblatt der Tais. Im gleichen Moment bewegte sich die Klinge zurück, und die Tais löste sich mit rückwärts wirbelnden Rudern ächzend und knackend aus dem Rumpf der angeschlagenen Tamira. Durch Holzstücke und Männer schwamm ich zu dem anderen Schiff hinüber. Das Loch in der Wandung war etwa zwei Fuß hoch. Je nachdem, wie sich das Schiff bewegte, würde Wasser an mir vorbei in das Innere rauschen. Ich stieg in den Laderaum hinein. Hier war es dunkel. Eine im schwappenden Wasser schwimmende Kiste stieß mir gegen die Beine. Die Tamira erbebte, und Wasser bewegte sich nach achtern, während sich das Deck unter meinen Füßen neigte. Draußen sah ich den dunklen Umriß der Tais nach Backbord abfallen und sich langsam entfernen. Die Tais hatte ihr Werk vollbracht.
Plötzlich neigte sich das Schiff zum Heck. Ich glitt aus und rutschte nach achtern, ehe ich mich im Wasser fangen konnte. Durch das Leck in der Außenwand konnte ich Sterne sehen; es lag ein Stück entfernt am Ende eines steilen Hangs aus Decksplanken. Mich an der Wand festhaltend, zog ich mich auf die Öffnung zu. Ich legte die Hände um den Rand und zerrte mich hindurch. Dann glitt ich hastig ins Wasser hinaus.
Als ich mich umdrehte, verschwand die Tamira bereits unter Wasser, das Heck voran. Ich kämpfte gegen den Sog des sinkenden Schiffes. Nach einiger Zeit beruhigte sich das Wasser wieder.
»Hilfe!« brüllte eine Stimme. »Hilfe!«
Mein Herz machte einen Sprung. Ich schwamm auf die Rufe zu und erreichte zwei Männer, die im Wasser zappelten.
»Ich kann ihn nicht halten!« rief eine Stimme.
»Ich helfe dir«, sagte ich.
Ich hob die Hand und packte den Eisenkragen, der um den Hals des Mannes lag. »Hör auf zu zappeln!« befahl ich. Die Hände, die mit Eisen gefesselt und durch eine Kette mit dem Sklavenkragen verbunden waren, wirbelten im Wasser herum.
»Strample nicht, Herr!« flehte der andere.
»Könnt ihr schwimmen?« fragte ich die beiden.
»Unsere Füße sind ebenfalls angekettet!« sagte der Mann, der zuvor gesprochen hatte.
»Halt deinen Gefährten fest«, sagte ich. »Ich stütze dich.«
Dann zog ich die beiden durch das Wasser zu einem schwimmenden Holzstück. Den ersten Mann hievte ich hinaus. Der zweite mühte sich, behindert von den Ketten, allein auf das notdürftige Floß.
»Ich hatte mir nicht vorgestellt, euch so wiederzusehen«, sagte ich. »Seltsam sind die Wege des Krieges.«
»Wir sind allein im Fluß«, sagte der erste Mann, den der zweite mit ›Herr‹ angeredet hatte. »Es ist Nacht. Wir sind unter Feinden.«
»Nicht jeder ist ein Feind«, beruhigte ich ihn.
»Welche Hoffnung gibt es denn noch?«
»Du darfst hoffen«, sagte ich zuversichtlich.
Ein Boot näherte sich, im Bug eine Laterne.
»Wir sind verloren«, sagte der erste Mann.
»Jason, bist du es?« fragte eine Stimme aus dem Bug des Bootes.
»Ja.«
»Komm an Bord!« sage Callimachus. »Wir haben nicht mehr viel Zeit. Wir müssen aufbrechen.«
Ich half den beiden Angeketteten beim Aufstehen, damit sie an Bord der Tina gehoben werden konnten.
»Wer sind deine Freunde?« fragte Callimachus.
»Krondar, der Kampfsklave«, antwortete ich, »und Miles aus Vonda.«