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»Es ist ruhig«, sagte Kliomenes.

Er stand auf einer Pier in Victoria, links von der Klinge, auf der ich festgebunden war. Das Schiff wurde soeben vertäut.

»Wie erwartet«, sagte Policrates, der neben ihm erschien. Piraten verließen das Flaggschiff und strömten an den beiden vorbei. Ich hörte witzige Bemerkungen über die Frauen von Victoria, die den Piraten in dieser Nacht erliegen würden.

»Kein Alarmschlag ist zu hören, nicht einmal das«, sagte Reginald, der ehemalige Kapitän der Tamira.

Zahlreiche andere Schiffe näherten sich den Kaianlagen der Stadt und wurden festgemacht.

»Eigentlich müßten die Leute mit Geschenken und ihren bekränzten Töchtern singend zum Hafen kommen, um uns gnädig zu stimmen«, sagte Callisthenes.

»Aber selbst davor haben sie Angst«, sagte Policrates.

Ich begann mich auf der Scherklinge zu winden und spürte gleich darauf wieder frisches Blut am Rücken. Im nächsten Moment wurde mir eine Schwertspitze an die Flanke gehalten.

»Zappele nicht herum«, sagte Policrates. Ich hatte die Fäuste geballt. Die engen Fesseln an meinen Hand- und Flußgelenken fühlten sich ausgesprochen heiß an. Am blauen Himmel über mir zog eine Voskmöwe ihre Kreise. Ohnmächtig ballte ich die Fäuste.

»Das ist schon besser«, sagte Policrates und nahm die Klinge fort. »Leider sind wir nicht auf Widerstand gestoßen. Es wäre sicher hübsch gewesen, dich bei einem Kampf gegen andere Schiffe auf deinem Scherblatt zu beobachten. Heute abend darfst du vielleicht unseren frisch eroberten Sklavinnen Wein kredenzen. Und wenn wir morgen einige Marinemanöver durchführen, ist es dir vielleicht gestattet, an deinen Posten auf dem Scherblatt zurückzukehren.« Ich hörte, wie Policrates und einige andere sich abwandten.

»Es ist still«, sagte Kliomenes nervös.

»Ich hatte gehofft, daß es Widerstand gibt«, meinte Callisthenes.

»In Victoria sind wir noch nie auf Widerstand gestoßen«, sagte Kliomenes. »Allerdings ist es auch nie so still gewesen.«

»Und nie zuvor«, bemerkte Callisthenes, »hatten die Feiglinge Victorias soviel Grund für ihre Angst. Wenn die Stadt ausgeräubert ist, wird Policrates sie niederbrennen lassen.«

»Als heilsame Lektion für alle anderen Städte am Fluß«, bestätigte Kliomenes.

»Ja.«

»Schließen wir uns Policrates an!« sagte Kliomenes.

Ich hörte, wie die beiden die Reling des vertäuten Schiffes verließen und über die Pier zum Hafen gingen. Endlich war ich allein. Zornestränen stiegen mir in die Augen, und ich bäumte mich in den Fesseln auf. Blut lief mir über den Rücken. Ich vermochte einige Zoll weit an der Klinge abwärts zu rutschen, kam aber nicht frei. Von meinen Häschern beobachtet, hätte ich mich nie so heftig bewegen können, doch jetzt hoffte ich die Fesseln etwas lockern zu können. Sie bestanden nicht aus Bindefaser, vielmehr waren es einfache Seile, verknotet von Männern, die keine Erfahrung als Krieger oder Wächter hatten. Überdies war ich kräftig. Und das Metall hinten an der Klinge war zwar nicht messerscharf, aber schmal und rechteckig. Wenn ich genug Zeit hatte, konnte ich vielleicht freikommen. Aber nach kurzer Zeit mußte ich mein Bemühen verzweifelt aufgeben. Es war hoffnungslos. Ich war schweißbedeckt. Aus der Rückenwunde hatte ich schon viel Blut verloren und fürchtete zu verbluten.

Allerdings hing ich nun ein Stück tiefer an der Klinge. Wenn ich den Kopf hob und mühsam verdrehte, konnte ich bis zur Hafenstraße hinüberblicken. Dort, etwa hundert Meter vom Büro des Pierverwalters entfernt, hatten sich die Piraten versammelt, um ihren Angriff auf die Stadt zu beginnen. Die breite Fläche zwischen dem Hafenbecken und den ersten Häusern war leer. Der Hafen Victorias schien verlassen zu sein. Offenbar war die ganze Stadt verlassen worden, dem Zorn der rachedurstigen Flußpiraten ausgeliefert.

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