Die Galeere, etwa achtzig goreanische Fuß lang, raste auf die Kette zu. Ihr Bug ragte unnatürlich hoch aus dem Wasser und berührte nicht einmal die Wellenkronen.
»Hervorragend!« lobte Callimachus den Gegner.
»Was ist?« rief ich zum Bugkastell empor.
»Sie haben den Ballast verlagert!« rief Callimachus zurück. »Großartig!«
Das Schiff setzte die Anfahrt fort. Das Dröhnen des Hammers tönte bis zur Tina herüber. Eine solche Geschwindigkeit ließ sich nur kurze Zeit durchhalten. Der mächtige Schiffsleib hob sich vorn noch ein wenig mehr aus dem Wasser.
»Sind die verrückt geworden?« rief ich.
»Sie wollen über die Kette rutschen«, sagte Callimachus.
Ich umklammerte staunend die Reling. In den unteren Laderäumen mußte jedes Sandkorn zum Heck verlagert worden sein, ebenso wie Gerätschaften und Katapultsteine und sogar die Mannschaft – mit Ausnahme der Ruderer.
Und schon war der konkave Bug über die Kette gerutscht. Knirschend fuhr die Kette am Kiel entlang. Im nächsten Moment saß die Galeere halb auf der Kette fest und bewegte sich torkelnd wie ein Schiff auf einer Sandbank, von Wogen bestürmt, von gegensätzlichen Strömungen gepackt.
»Ruder aus!« rief Callimachus. »Fertig!«
Aus westlicher Richtung sahen wir eine zweite Galeere herbeirasen, den Bug hoch aus dem Wasser erhoben.
Die erste Galeere ließ die Ruder wirbeln und rutschte in Schräglage weiter vorwärts.
»Sie wird über die Kette kommen!« rief ich.
»Zwei Strich Backbord!« rief Callimachus. »Fahrt aufnehmen!« Mit Handsignalen gab sein Offizier diesen Befehl an die Steuerleute und den Rudermeister am Heck weiter.
Die Tina bewegte sich in schneller Fahrt auf den Eindringling zu. Ich warf mich an Deck. Wir trafen die Steuerbordseite des Bugs, als der Pirat eben knirschend und splitternd von der Kette glitt.
»Ruder rückwärts!« befahl Callimachus.
Der Aufprall hatte mich fast drei Meter weit über das Deck gleiten lassen.
Bis zum Kiel erbebend, begleitet von lauten Splittergeräuschen, zog die Tina ihre Ramme wieder frei. Das Vorderdeck des Gegners lag bereits unter Wasser. Männer standen dort bis zu den Knien im Wasser und klammerten sich verzweifelt fest. Das Katapult auf dem hohen Achterdeck des Gegners hatte sich von seinem mächtigen Drehgestell gelöst. Die Spannseile wirbelten im Wind. Eine Gestalt stürzte vom Heck ins Wasser.
»Seht!« rief ein Mann bedrückt und deutete nach Steuerbord. Die feindliche Galeere war über die Kette gerutscht.
»Das erste Schiff Ragnar Voskjards hat die Kette überquert!« rief ein anderer Kämpfer.
Weitere Galeeren näherten sich der Kette.
»Und noch eine ist herüber!« rief ein Mann und deutete auf ein Schiff, das die Kette mit einem Rammanöver zu durchbrechen versuchte. Unterdessen eilte die Mira herbei, um die Galeere anzugreifen, die über die Kette gerutscht war. Der Stoß fand sein Ziel, und unsere Männer jubelten. Das Steuerbordruder der feindlichen Galeere war beim Überqueren der Kette abgerissen worden. Voskjards Galeeren verfügten wie die meisten goreanischen Schiffe über zwei Steuerruder.
»Hart Steuerbord!« rief Callimachus. »Ruder einziehen!«
Die Ramme des Gegners ging ins Leere. Sein Steuerbord-Scherblatt schabte an unserer Außenwandung entlang.
»Ruder ausfahren!« befahl Callimachus. »Wenden!«
»Zwei weitere Schiffe sind über die Kette!« rief Callimachus’ Offizier und deutete nach Backbord.
»Schiffe aus Port Cos im Anmarsch!« meldete ein anderer Mann. Unsere Besatzung begann zu jubeln. Zehn solcher Schiffe waren zur Kette verlegt worden. Zwanzig weitere bewachten unter Callisthenes’ Kommando die Gewässer an der südlichen Kettenwachstation. Diese Schiffe, die Einheiten aus Port Cos, waren unsere große Hoffnung. Nur sie, so befürchteten wir, mochten in der Lage sein, sich Voskjards Streitkräften im offenen Kampf zu stellen. Die Schiffe aus Ar-Station konnten das Bild zwar zahlenmäßig etwas verbessern, doch fanden wir sie nicht so kampfstark wie etwa die Schiffe Voskjards oder die Einheiten aus Port Cos. Cos verfügt über eine langjährige Marinetradition, und viele Offiziere aus Port Cos waren geborene Cosianer, Söldner oder Veteranen der cosianischen Marine, in die Kolonie abkommandiert, um die Interessen der Heimatinsel auf dem Fluß zu verteidigen.
»Dort – ein Schiff aus Ar-Station!« rief der Offizier vom Bugkastell.
Wir hatten gewendet, doch schon hatte die Galeere, die uns beinahe aufgespießt hätte, den Bug in unsere Richtung gedreht.
»Sie ist schnell«, sagte jemand.
»Warum hat sie noch nicht angegriffen?«
»Sie wartet auf Unterstützung«, mutmaßte jemand.
»Nein«, sagte ein Mann. »Wenn wir zur Kette vorrücken, kann sie uns mittschiffs rammen.«
»Sie verteidigt ihre Schwesterschiffe«, meinte jemand.
»Wir können die Kette nicht mehr verteidigen!« rief eine Stimme.
Aber dann sahen wir die Galeere nach Steuerbord schwingen. Ein anderes Schiff, das die Wimpel von Port Cos gehißt hatte, hielt darauf zu.
»Zurück an die Kette!« rief Callimachus in das Jubeln unserer Seeleute.
»Wieder ein Schiff rüber!« rief ein Mann zornig und deutete zur Seite. Die Galeere hatte die Kette bereits überwunden und war für uns nicht mehr erreichbar. Sie glitt hinter uns vorbei auf die schlammige Weite des Vosk.
»Wie viele sind schon über die Kette?« fragte ein Mann bedrückt.
»Wer weiß?« gab ein anderer zurück.
Immer wieder rammten Galeeren die riesigen Kettenglieder, wichen zurück und erneuerten geduldig den Angriff.
»Sicher haben sie sich Stellen aufs Korn genommen, von denen sie wissen, daß sie während der Nacht schon geschwächt worden sind«, sagte ein Mann in meiner Nähe. Er war gestern in dem kleinen Boot mit mir auf Patrouille gewesen.
»Ja«, sagte ich. »Schau, dort!«
Ich wies auf einen der Kettenpfähle, die aus dem Wasser ragten. Er war mit gelber Farbe bespritzt worden.
»Katapult!« rief Callimachus.
Zwei Steine segelten in die Luft und näherten sich in anmutigem Bogen einem Piratenschiff. Die Geschosse stürzten in den Fluß und ließen riesige Wassersäulen emporsteigen.
»Bogenschützen!« befahl Callimachus.
Wir näherten uns der ersten der Galeeren und schossen Pfeile auf sie ab. Der Gegner wich zurück.
»Es gibt andere Angreifer«, sagte ein Mann.
Wir bewegten uns an der Kette entlang und erreichten das verlassene Wrack eines Piratenschiffes. Bei dem Versuch, über die Kette zu fahren, war es in zwei Teile zerbrochen.
»Achteraus, etwa eine Pasang entfernt, liegt eine Piratengaleere und scheint in Schwierigkeiten zu sein.«
»Wir bleiben an der Kette«, sagte Callimachus.
»Aber sie hat Schlagseite!« rief der Mann. »Ich glaube, das Schiff ist angeschlagen!«
»Wir verlassen die Kette nicht.«
Ich lächelte. Callimachus war ein guter Kapitän. Er ließ sich aus seiner Stellung nicht weglocken. Durch Umverteilung des Ballasts über dem Kiel ließ sich mühelos eine Schräglage vortäuschen. Außerdem hätte die Galeere nicht beidrehen müssen, wenn sie wirklich angeschlagen wäre. Geruderte Galeeren sind selten völlig hilflos. Sollte der Gegner aber wirklich nichts unternehmen können, stellte er keine unmittelbare Gefahr dar. Und war er doch einsatzbereit, brauchte man ihn nur im Auge zu behalten.
»Seht!« rief der Offizier vom Bugkastell und deutete einen Strich backbord voraus.
Callimachus nahm dem Offizier das Glas der Häuserbauer ab. »Die Sita aus Kap Alfred«, sagte er, »und die Tais aus Port Cos.«
»Beide haben am Bug Notsignale aufgezogen«, sagte der Offizier.
»Drehen!« befahl Callimachus.
Hörnerklang wehte über das Wasser herbei. Ich wußte nicht, was die Signale bedeuten sollten.
»Was ist das?« rief ich zu Callimachus empor.
»Es mußte ja geschehen«, sagte er.
»Was denn?«
»Im Norden ist es passiert: Die Kette ist durchbrochen.«
Die Sita und die Tais waren inzwischen deutlich auszumachen.
»Wo sind die Talia, die Thenta, die Midice, die Ina und die Tia?« fragte der Offizier.
»Ich habe sie nicht gesehen«, antwortete Callimachus und gab dem Offizier das Fernglas zurück. »Siehst du sie?«
»Nein«, antwortete der Mann.
»Es waren sieben Schiffe«, sagte ich. Wir bewegten uns langsam in südlicher Richtung an der Kette entlang, und ich stand auf dem Heckkastell neben Callimachus.
»Vielleicht haben einige den Kampf überlebt«, meinte er.
»Ich sehe Schiffe«, sagte ich und deutete nach achtern. Am Horizont waren Punkte aufgetaucht, Punkte, die eine lange Reihe bildeten.
Callimachus reichte mir das Glas der Hausbauer. »Schiffe Voskjards«, sagte ich.
»Ja.«
»Offenbar besitzt Ragnar Voskjard mehr als fünfzig Einheiten«, stellte ich fest. Ich hatte bereits mindestens vierzig gezählt; außerdem wußte ich, daß hier und dort weitere an der Kette postiert waren.
»Callisthenes’ Informationen waren offenbar unzutreffend«, bemerkte Callimachus. »Das ist eine schmerzliche und unwillkommene Lücke in unseren Planungen.«
»Wie viele mögen es sein?« wollte ich wissen.
»Keine Ahnung … sechzig, hundert?«
»Gegen so viele Schiffe haben wir im offenen Kampf keine Chance.«
»Port Cos muß kämpfen, wie es nie zuvor gekämpft hat«, sagte Callimachus.
»Unsere Feinde haben keine Eile«, sagte ich. Ich hatte die Ruderschläge pro Ehn gezählt.
»Man will die Ruderer nicht ermüden. Port Cos ist die einzige Hoffnung des Vosk. Wir aus Ar-Station und von den unabhängigen Schiffen müssen Port Cos bei seinem Kampf unterstützen.«
»Die Chancen stehen überwältigend schlecht«, sagte ich. »Kann Port Cos überhaupt gewinnen?«
»Es muß!« rief er.
»Wenigstens besitzt Port Cos Kapitäne wie Callisthenes.«
»Seine zwanzig Schiffe, von der südlichen Wachstation herbeigerufen, bringen die Entscheidung«, sagte Callimachus.
»Wir werden jedes davon brauchen, wenn wir uns bemerkbar machen wollen«, äußerte ich. »Ohne sie wär’s das reinste Schlachtfest.«
»Mit ihnen ließe sich das Heft vielleicht in die Hand nehmen – obwohl die Aussichten nicht rosig sind«, bemerkte Callimachus.
»Du siehst beunruhigt aus.«
»Ich hoffe inbrünstig, daß die Kette nicht auch südlich von uns geöffnet wurde.«
»Wir haben sie so gut und so lange beschützt wie irgend möglich«, sagte ich.
»Wollen wir hoffen, daß die Zeit nutzbringend verwendet wurde, die uns diese Arbeit kostete.«
Ich erschauderte. »Hoffentlich«, sagte ich. Wenn sich unsere Flotte nicht formieren konnte oder unsere Flanken aufgerollt wurden, stand den Streitkräften am Vosk ein tragischer Tag bevor. Die Reste unserer Flotte mochten den Fluß bis Turmus übersäen.
»Hast du Befehle für mich?« fragte ich.
»Schärfe dein Schwert«, sagte er, »und ruh dich aus, so gut du kannst.«
»Ja, Kapitän«, sagte ich, wandte mich ab, stieg den Niedergang hinab und ging nach vorn zum Bug. Die Ruderer arbeiteten mit einem Viertel der normalen Schlagzahl. Ich setzte mich neben meinen Sachen nieder und schärfte eine Zeitlang die Klinge meiner Waffe mit einem Wetzstein. Als ich fertig war, bedeckte ich den Stahl mit einem dünnen Ölfilm, um das Metall vor Rost zu schützen. Schließlich legte ich mich nahe der Steuerbordreling auf das glatte Deck und schlief schnell ein.