7.

Gegen Mittag begann es wieder zu regnen. Es wurde kälter, und über dem Meer begannen sich schwere Regenwolken zu einer Front zu formieren, die spätestens am Abend mit Gewitter und Sturm über das Land herfallen würden. Titchs Männer hatten aus Planen und Decken ein notdürftiges Zelt für Kiina errichtet, unter das sich auch Skar und Anschi zurückgezogen hatten, als der Regen zunahm.

Sie hatten geredet; Stunden, wie es Skar vorkam, die in Wirklichkeit zum allergrößten Teil aus langen Zeiten tiefen, schockierten Schweigens bestanden hatten, in die hinein nur manchmal einer von ihnen ein Wort gesprochen hatte. Zumeist war es Skar gewesen, der Fragen gestellt hatte; Fragen, auf die er nur in den allerwenigsten Fällen eine Antwort bekam. Nach einer Weile hatte er eingesehen, daß die Errish wirklich nichts wußte; seine insgeheim gehegte Hoffnung, daß Yul ihn belogen hatte, erfüllte sich nicht. Anschi wußte nicht mehr, als daß die Errish vor etwa einem Monat aus Elay geflohen war und sich auf den Weg nach Norden gemacht hatte, allein, verfolgt von einem Dutzend ihrer ehemaligen Schwestern und einer kleinen Armee von Ultha. Skar war enttäuscht, gleichzeitig aber auch zufrieden. Seine Vermutung, daß die Lösung aller Rätsel im Norden zu suchen war, wurde zur Gewißheit. Schließlich kehrte Anschi zu ihren Schwestern zurück, die ein Lager eine halbe Meile weiter nach Norden aufgeschlagen hatten; höher in den Bergen, wo ihre bizarren Flugechsen ausreichende Startgelegenheiten finden würden. Titch blickte ihr schweigend hinterher, bis sie im Regen verschwunden war. Der Quorrl hatte kein Wort geredet, aber nicht nur Skar hatte genau gespürt, wie es hinter Titchs ausdruckslosem Gesicht arbeitete. Vielleicht hatte er die Wahrheit ja geahnt, aber es war eine Sache, etwas zu wissen, und eine ganz andere, dieses Wissen dann als Tatsache präsentiert zu bekommen. Skar nahm sich vor, den Quorrl in den nächsten Stunden genau im Auge zu behalten.

Titch blieb lange Zeit draußen im Regen stehen, auch als die Errish schon längst nicht mehr zu sehen war. Als er zurückkam, bewegte er sich langsam, wie unter Zwang. In seinen großen, fast pupillenlosen Augen stand noch immer derselbe Schrecken geschrieben wie in dem Moment, in dem Skar ihm die Wahrheit gesagt hatte. Skar war nicht einmal sicher, daß er wirklich gehört hatte, was sie sprachen.

Der Quorrl mußte sich weit nach vorne beugen, um unter das kleine Zeltdach zu treten, das seine Leute für Kiina errichtet hatten. Wasser lief in kleinen glitzernden Rinnsalen über seine Rüstung, und zum ersten Mal seit Wochen wieder fiel Skar der Raubtiergeruch auf, den der Quorrl verströmte.

»Ist sie fort?« fragte Skar überflüssigerweise.

Titch deutete ein Nicken an und ließ sich auf der anderen Seite von Kiinas Lager in die Hocke sinken. Sekundenlang blickte er reglos auf Kiina hinab, dann sah er Skar an, aber sein Blick blieb leer. »Traust du ihr?«

»Anschi?« Skar tat so, als überlege er eine Weile, während er in Wahrheit den Quorrl musterte. Titch wirkte benommen, aber normal. Soweit Skar in der Lage war, irgend etwas über die Psychologie eines Quorrl zu sagen. »Haben wir denn eine andere Wahl?« sagte er schließlich.

Titch ballte die gesunde Hand zur Faust. »Aber es war doch nur... eine Legende«, flüsterte er. »Ein Märchen, mehr nicht!« Kiina blickte fragend, aber Skar signalisierte ihr mit Blicken, ruhig zu sein. Titchs Worte waren keine Antwort auf seine Frage. Er hatte sie gar nicht verstanden, sowenig wie er irgend etwas von dem gehört hatte, was Skar und Anschi in den beiden letzten Stunden gesprochen hatten. Der Quorrl schien aus einem tiefen, betäubenden Schlaf zu erwachen. Skar spannte sich innerlich. Er wußte, daß er von Titch normalerweise nichts zu befürchten hatte. Aber Titch war nicht mehr Titch. Der Quorrl war nicht einfach erschüttert. Seine Welt war zerbrochen.

»Aber sie ist wahr«, sagte er leise.

»Du hast es gewußt, nicht wahr?« fragte Titch. Sein Blick wurde fordernd, aber Skar suchte vergebens nach Spuren von Zorn oder gar Haß in den dunklen Augen des Quorrl. »Die Sternengeborenen sind wir«, zitierte er. »Das waren deine Worte, in der Burg. Du hast es... da schon gewußt.«

»Nein«, widersprach Skar, suchte einen Moment vergebens nach Worten und machte schließlich eine hilflose Bewegung mit beiden Händen. »Vielleicht. Ich... ich wollte es nicht wahrhaben.«

»Aber du hast es gewußt.«

»Spielt das noch eine Rolle?« fragte Skar. »Es ist Jahrtausende her, Titch. Vielleicht Millionen Jahre. Enwor ist...«

»Unsere Welt«, unterbrach ihn Titch, sehr leise, aber kalt, fordernd, in einem Ton, der Skar schaudern ließ. »All die alten Legenden, all die Geschichten, die ihr über die Alten erzählt habt, all die Heldensagen von den großen Taten eurer Vorfahren, ihrem Kampf gegen die Fremden von den Sternen: Es war alles gelogen.«

»Nein, Titch«, antwortete Skar sanft. »Das war es nicht. Sie sind wahr.«

»Ja«, grollte Titch bitter. »Sie sind wahr. Nur eine Kleinigkeit stimmt nicht, nicht wahr? Wir waren es, die zuerst hier waren. Und ihr seid von den Sternen gekommen und habt uns unsere Welt gestohlen. Es waren keine Ungeheuer, wie ihr uns weismachen wolltet. Keine Dämonen von den Sternen. Keine Götter. Es waren Menschen!« Plötzlich brüllte er: »Es waren Menschen, Skar! Deine Vorfahren, die uns unsere Welt gestohlen haben! Und du verlangst, daß wir euch helfen?!«

»Nein, Titch, das verlange ich nicht«, antwortete Skar. »Ich bitte dich darum, mehr nicht.«

»So, du bittest mich.« Titchs Stimme bebte. Er ballte die Fäuste, so heftig, daß Skar seine schuppige Haut knirschen hörte. Der Blutfleck auf seiner bandagierten Hand wurde größer. »Du bittest mich!« brüllte er.

Kiina richtete sich halb auf ihrem Lager auf und hob die Hand, um sie dem Quorrl beruhigend auf die Schulter zu legen. »Bitte, Titch. Wir verstehen dich ja, aber...«

Titch stieß sie zurück. »Ihr versteht mich?« schnappte er. »Ihr versteht nichts! Ihr habt... habt... habt eine ganze Welt belogen! Ihr habt die Geschichte eines ganzen Planeten geändert, einfach so! Ihr habt uns unsere Welt gestohlen, unsere Heimat, und was das Schlimmste ist, unsere Erinnerungen. Aber du verstehst mich.«

»Kiina wollte dich nicht verletzen, Titch«, sagte Skar. Titch starrte ihn aus brennenden Augen an, und Skar spürte, wie lächerlich das Gesagte klang. Als ob Worte den Quorrl noch verletzen konnten, nach allem. Er wechselte abrupt das Thema und auch die Tonart: »Was wirst du jetzt tun?«

»Tun?«

Skar machte eine erklärende Handbewegung. »Deine Leute und du. Werdet ihr... gehen? Oder bleiben wir zusammen?«

Titch starrte ihn an. Blut tropfte von seiner Hand und besudelte Kiinas Decke, aber er bemerkte es nicht einmal. Sein fürchterliches Gebiß mahlte, als hätte er etwas gepackt und wäre dabei, es zu zerreißen. Der Quorrl war ein Raubtier, das begriff Skar plötzlich. Aber er begriff ebenso deutlich, daß er nicht das Recht hatte, so zu denken; so wenig, wie er das Recht hatte, über den Quorrl oder irgendeine andere denkende Lebensform Enwors zu urteilen. Sie waren die Eindringlinge: die Satai, die Errish, die Veden und Thbarg und alle anderen Völker, alle, sie alle, die sich für die rechtmäßigen Herren dieser Welt hielten. Wenn die Quorrl wirklich das waren, wofür Anschi und auch ein nicht zum Schweigen zu bringender Teil Skars war, nämlich Raubtiere, muskelbepackte Bestien, von denen nur die allerwenigsten zu logischem Denken und Handeln fähig waren, dann nur, weil sie sie dazu gemacht hatten.

»Ich weiß es nicht.« Titch stand auf und machte eine herrische Handbewegung. »Ich muß darüber nachdenken. Vielleicht ändert sich nichts. Vielleicht töte ich euch und diese verdammten Errish. Wir werden sehen.«

Er ging, aber nur ein paar Schritte weit, ehe er wieder stehenblieb und abermals die Fäuste ballte. Skar konnte sehen, wie sich jeder einzelne Muskel in seinem gewaltigen Körper spannte. »Glaubst du, daß er das... ernst gemeint hat?« fragte Kiina stockend.

»Was? Daß er nachdenken muß - oder daß er uns vielleicht tötet?«

»Beides.«

Skar schwieg eine Sekunde und nickte dann. »Sicher.«

»Dann wäre es vielleicht besser, wenn wir fliehen«, sagte Kiina unsicher.

»Fliehen?« Skar lachte fast. »Aber wohin denn?«

»Zu Anschi.«

Skar war nicht sicher, daß sie bei den Errish in geringerer Gefahr gewesen wären. Aber er verstand Kiinas Wunsch. »Du möchtest zu ihnen«, vermutete er. Kiina sah ihn nur wortlos an, aber er las die Antwort auf seine Frage in ihrem Blick. Zu der Verwirrung und dem Schmerz in ihren Augen hatte sich Furcht gesellt. Sie hatte Angst, dachte er. Natürlich hatte sie Angst. Nach dem, was sie im Laufe der letzten Stunde gehört hatte, mußte sie Angst haben. Und nicht nur vor den Quorrl.

»Wenn du willst, bringe ich dich zu ihnen«, sagte er.

»Titch wird es nicht zulassen.«

»Doch, das wird er.« Skar versuchte, mehr Optimismus in seine Stimme zu legen, als er selbst empfand. Aber er war nie ein sehr guter Lügner gewesen. »Er ist nur verwirrt. Und zornig. Und er hat ein Recht dazu, meinst du nicht?«

»Aber es... es kann nicht alles falsch sein!« protestierte Kiina verzweifelt. »Die Geschichte einer ganzen Welt kann nicht vollkommen erlogen sein, Skar!«

»Doch«, sagte er bitter. »Das kann sie, Kiina.« Und er glaubte sogar zu wissen, warum. Für einen Moment sah er es ganz deutlich vor sich: Sie, die von den Sternen gekommen waren, hatten die rechtmäßigen Besitzer dieser Welt am Ende besiegt, in einem Kampf, den er sich wahrscheinlich nicht einmal vorzustellen vermochte. Vielleicht hatte der Krieg Tausende von Jahren gedauert, vielleicht nur wenige Tage. Die Sternengeborenen (seltsam, welch höhnischen Beiklang dieses Wort plötzlich in seinen Gedanken bekam) hatten am Schluß gesiegt - aber um den Preis der fast vollkommenen Zerstörung Enwors. Sie hatten die Welt erobert, aber sie hatten sie auch vernichtet, und sie hatten diese Lüge einfach ersinnen müssen, um weiterleben zu können. Was Titch grausam erschien, das war das einzige gewesen, was kommenden Generationen ein Weiterleben ermöglichte.

»Dann war... alles wahr?« stammelte Kiina. »Die Sternengeborenen... all diese Ungeheuer, die sie erschaffen haben... das war...«

»Unser Werk«, sagte Skar. »Das unserer Vorfahren. Ja. Aber es ist so unendlich lange her, daß es keine Rolle mehr spielt, Kiina. Es ist alles wahr, und doch wieder nicht. Enwor gehört längst nicht mehr ihm oder ihnen oder irgend jemandem. Wir leben schon zu lange zusammen, um uns einander unsere Welt streitig machen zu können.« Die Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren lahm und ungeschickt, aber Skar wußte, daß Kiina verstand, was er meinte. Was geschehen war, war Vergangenheit, Geschichte, und eigentlich nicht einmal mehr das, sondern nur noch die verblassende Erinnerung daran, ein düsteres Geheimnis, das von ein paar alten Frauen von Generation zu Generation weitergegeben wurde und irgendwann einmal ganz vergessen sein würde.

»Aber wieso greifen sie uns an?« fragte Kiina fast verzweifelt. »Wir sind ihre Schöpfer!«

»Das waren wir einmal«, antwortete Skar matt. »Vielleicht hat es eigenes Leben entwickelt, in all den Jahrtausenden. Vielleicht richtet es sich einfach blindwütig gegen alles, wie Feuer, das selbst den verzehrt, der es gelegt hat.«

»Oder jemand beeinflußt es, so wie es uns beeinflußt«, murmelte Kiina. Sie sah ihn aus weiten Augen an. »Aber wer?« Skar schwieg dazu. Nach einer Weile trat er wortlos unter der Zeltplane hervor und ging, um Titch zu suchen.

An ein Weiterreiten war an diesem Tag natürlich nicht mehr zu denken. Skar hatte ein paarmal versucht, mit Titch zu reden, aber der Quorrl hatte ihn einfach ignoriert, bis er sich schließlich so hilflos und dumm vorgekommen war, daß er zu Kiina zurückging. Er war müde - die durchrittene Nacht und die Strapazen der vergangenen Tage forderten ihren Tribut, und dazu kam, daß sich sein Zustand im gleichen Maße verschlechterte, wie sich der Kiinas zu bessern schien: Am Nachmittag bekam er Fieber, und während Kiinas Kräfte von Stunde zu Stunde zunahmen, glaubte Skar innerlich zu verbrennen. Er bekam Schüttelfrost, und sein Zahnfleisch blutete. Und als er endlich einschlief, da träumte er wieder. Den gleichen, wirren, nur von Haß und zielloser Wut erfüllten Traum wie in den Nächten zuvor, der auf dieselbe, völlig unlogische Art zweigeteilt war: Während der eine - größere - Teil seines Bewußtseins hilflos in den Klauen des Alptraumes gefangen war, blieb der andere wach und registrierte und sah und hörte alles, was rings um ihn herum vorging.

Und doch war etwas an diesem Traum anders als an seinen Vorgängern, aber es dauerte eine Weile, bis Skar begriff, was es war: Er hatte sich getäuscht. Es war nicht die Wirklichkeit, die er mit dem vermeintlich klar gebliebenem Teil seines Bewußtseins wahrnahm. Auch heute schien er auf einer schmalen Grenzlinie zwischen zwei Welten dahinzutreiben, aber die eine war so irreal wie die andere: Da war der Alptraum mit seinem bösen Flüstern und Drängen (...so viel Haß, hatte die Margoi gesagt. So unendlich viel Haß...), und da war eine zweite Vision, nur war sie von solcher Klarheit und Schärfe, daß er sie für die wirkliche Welt gehalten hatte. Aber sie war es nicht. Er sah sich selbst, wie er auf dem schmalen Lager aus Decken und Fellen lag, das Kiina für ihn bereitet hatte, aber der schlafende Schatten neben ihm war nicht Kiina; als er sich zu ihm herumdrehte, starrte er in eine flache schwarze Fläche aus glitzerndem Chitin, wo ein Gesicht sein sollte, und die Hand, die wie in einer bösen Verhöhnung menschlicher Gestik unter der Decke hervorkroch und einen rasiermesserscharfen Krallenfinger über nicht vorhandene Lippen legte, war keine Hand, sondern eine dreifingrige Forke, die nur zum Töten gemacht war.

Er hatte nicht einmal Angst, denn er spürte, daß der Daij-Djan nicht gekommen war, um ihn zu töten. Vielleicht war er niemals sein Feind gewesen. Sekundenlang blickte er das flache Nicht-Gesicht der Sternenbestie an, dann schlug er seine Decke zurück, stand unsicher auf und folgte dem Daij-Djan. Lautlos durchquerten sie das Lager, in dem im Traum alle Bewegungen erstarrt waren, als wäre die Zeit stehengeblieben.

Es war dunkel, und es regnete noch immer, aber die Wolken waren aufgerissen, so daß er die Ebene trotzdem auf Meilen hin deutlich überblicken konnte. Und er sah, was sein höllischer Bruder ihm hatte zeigen wollen: Über das geborstene Land krochen Schatten heran. Sie waren zu weit entfernt, um sie genau zu erkennen, und fast körperlos; beinahe nur eine Woge sich bewegender Schwärze, die sich den Bergen und damit ihrem Lager näherte. Aber etwas an ihren Bewegungen war falsch, und die Dunkelheit, die ihnen wie ein beschützender Mantel folgte, war nicht nur die Abwesenheit von Licht, sondern etwas anderes, unsagbar Fremdes, das aus den Abgründen des Wahnsinns heraufgekrochen war.

Sie kommen, Bruder, flüsterte die Stimme des Daij-Djan in seinen Gedanken. Sieh. Die, die mich und dich schufen, sind nicht dumm. Sie wissen, was geschehen ist, und sie kommen, um dich zu holen.

Skar blickte die kriechenden Schatten an, und plötzlich hatte er Angst, Angst wie nie zuvor in seinem Leben.

Ich kann sie vernichten, fuhr der Daij-Djan fort, und plötzlich war seine Stimme wieder ein körperloses, böses Kichern, die Verlockung des Bösen, die sich mit der Angst in Skars Seele vereinte und an seinem Willen nagte wie eine kleine, gierige Ratte. Gib mir den Befehl dazu, und ich vernichte sie für dich. Es ist ganz leicht. Du mußt es nur wollen.

Skar zitterte. Er wollte die Hände heben und gegen die Ohren pressen, aber er konnte sich nicht bewegen. Und es hätte auch nichts genutzt; denn die Bestie stand nicht wirklich vor ihm. Was er sah, war nur ihr Körper, ein Werkzeug, das sie nach Belieben erschaffen und verändern konnte. Das wirkliche Ungeheuer war in ihm. Der Daij-Djan war ein Teil von ihm. Er war es immer gewesen, schon lange, bevor er einen Körper bekommen hatte. Tu es, fuhr das böse Flüstern fort. Entfessele mich, wie du es schon so oft getan hast. Ich bin nicht dein Feind, Bruder. Das war ich nie. Komm zu mir. Gemeinsam schlagen wir sie. Es gibt nichts, was uns aufhalten kann. NICHTS!

Skar stöhnte. »Nein«, wimmerte er. »Nie wieder. Nie wieder, hörst du? Nie wieder!«

Aber der Daij-Djan lachte nur; ein böses, hämisches Kichern, das vom Grund seiner Seele heraufwehte und den menschlichen Teil von Skars Sein erzittern ließ. Und das Schlimmste war er wußte, daß das Ungeheuer recht hatte. Gemeinsam wären sie unbesiegbar. Der Alptraum hatte ein Ende.

»Nein!« stöhnte er. »Geh! Geh fort! Laß mich endlich in Ruhe, du Bastard!«

Wieder lachte das Ungeheuer. Seine schwarze Klaue hob sich, tastete nach Skars Gesicht und berührte es; er spürte einen kurzen, brennenden Schmerz, als die Klaue seine Haut ritzte, prallte zurück, stöhnte gellend auf - und erwachte.

Und schrie ein zweites Mal, als ein harter Schlag seine Wange traf und seinen Kopf zurückfliegen ließ. Instinktiv riß er die Hände schützend vor das Gesicht, fühlte hartes Metall und feuchten Stoff unter den Fingern und öffnete erst dann die Augen. Titchs Hand schwebte drohend zum Schlag erhoben über seinem Gesicht, aber in den Augen des Quorrl war nur Schrecken; und eine Sorge, die Skar trotz seiner Benommenheit registrierte und die ihn überraschte.

»Es ist... gut«, sagte er mühsam. »Du brauchst mich nicht mehr zu schlagen.«

Titchs Hand sank herab, aber nur für eine Sekunde. Dann griff er ein zweites Mal zu und half Skar, sich aufzusetzen.

»Habe ich geschrien?« fragte Skar.

Titch nickte. »Ununterbrochen. Ich wollte dich nicht schlagen, aber es war der einzige Weg, dich wach zu bekommen. Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe.«

Skar hob die Hand an den Mund und fühlte warmes Blut an den Fingern, aber keinen Schmerz. Sein Kiefer war wie betäubt, aber er war ziemlich sicher, daß das nicht von Titchs Schlag kam. Der Quorrl kannte seine Körperkräfte und wußte sehr wohl, sie zu dosieren.

Mit einem Ruck setzte er sich ganz auf. Er fühlte sich matt, trotzdem aber sonderbar wohl. Das Fieber war fort, und auch Übelkeit und Schwindelgefühl waren wie weggeblasen. Alles, was geblieben war, war ein dumpfer Druck hinter seiner Stirn und das taube Gefühl in seinem Mund.

Skar schlug die Decke vollends zurück. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er Angst, den Kopf zu drehen und nach Kiina zu sehen; Angst, nicht sie, sondern eine kindergroße schwarze Spottgeburt aus schwarzem Horn und Haß zu sehen, die ihn höhnisch angrinste.

Aber das Lager neben ihm war leer.

»Wo ist sie?« fragte er.

Titch machte eine unbestimmte Geste in die Nacht hinaus. »Bei den anderen. Sie bat mich, sie gehen zu lassen.«

»Und du hast es getan?«

Titch knurrte. »Wenn der Sinn deiner Frage ist, zu ergründen, ob ich euch noch immer umbringen will, dann lautet die Antwort nein, kleiner Mann«, sagte er sarkastisch. »Außerdem hat sie versprochen, zurückzukommen, und ich glaube ihr. Sie wollte Medizin für dich holen.«

Skar erhob sich taumelnd. Er war verwirrt. Verwirrt und alarmiert. Etwas... stimmte nicht. Sein Traum war nicht sinnlos gewesen, das spürte er. Er war... eine Warnung?

»Ich habe dich doch verletzt«, sagte Titch plötzlich. »Warte hier. Ich hole etwas, um das Blut zu stillen.«

Skar starrte den Quorrl eine Sekunde verständnislos an, bis ihm auffiel, daß Titch nicht auf seinen Mund blickte. Erschrocken hob er die Hand, um den Quorrl zurückzuhalten, und tastete mit der anderen nach seiner Stirn.

Zwischen seinen Augenbrauen, genau dort, wo ihn im Traum die Klaue des Daij-Djan berührt hatte!! - befand sich eine kleine, aber tiefe Wunde, die höllisch zu schmerzen begann, kaum daß seine Finger sie ertasteten, Skar erstarrte. Aber das war doch... unmöglich! Aus entsetzt geweiteten Augen starrte er Titch an - und fuhr plötzlich herum, um mit weit ausgreifenden Schritten durch das Lager zu laufen. Neben dem Felsen am Taleingang erhob sich ein massiger Schatten, als er näher kam, aber Skar tauchte einfach unter den Armen des Quorrl hindurch und stürmte noch zwei, drei Schritte weiter, ehe er schweratmend stehenblieb und auf die Ebene hinausstarrte.

Es war genau wie in seinem Traum. Der Regen strömte noch immer vom Himmel, aber die Wolken waren aufgerissen, und er konnte die zerrissene Ebene fast bis zur Küste hin überblicken. Nur die kriechenden Schatten waren nicht da. Es gab Schatten, aber es waren die Schatten von Felsen und Büschen und Bäumen, nicht der körperlose Terror aus seiner Vision, und trotzdem: etwas... kam.

Skar sah auf, als der Boden unter seinen Füßen zu zittern begann und der Quorrl in seiner blitzenden Goldrüstung neben ihm erschien.

»Was hast du?« fragte Titch alarmiert.

Skar zuckte wortlos mit den Schultern und fuhr fort, auf die Ebene hinabzustarren. Das Sternenlicht vermittelte ihm nur die Illusion, gut sehen zu können, das wußte er. In Wirklichkeit war alles, was weiter als fünfzig oder sechzig Schritte entfernt war, nur schemenhaft zu erkennen. Und trotzdem - er konnte die Gefahr beinahe körperlich spüren.

Vielleicht werde ich verrückt, dachte er. Vielleicht hatte der Daij-Djan endlich erreicht, was er wollte, und er vermochte schon nicht mehr zwischen Realität und Traum zu unterscheiden. Gleichzeitig spürte er, daß das nicht stimmte. Etwas war da. Er konnte es fühlen, so deutlich, wie er die Anwesenheit des Netzes in Drasks Burg gefühlt hatte.

»Ich weiß es nicht«, sagte er hilflos. »Aber wir... wir sollten hier verschwinden, Titch.« Der Quorrl sah ihn fragend an, und Skar fügte hinzu: »Weck deine Männer. Wir brauchen ein anderes Lager. Höher in den Bergen. Vielleicht bei Anschi und den anderen. Wir -«

Er sah die Bewegung aus den Augenwinkeln, aber seine Reaktion wäre zu spät gekommen, so schnell sie auch war.

Skar warf sich herum und gleichzeitig zurück, aber das Zuschnappen der gewaltigen Fänge war schneller. Grünschimmerndes Panzerhorn grabschte in einer mörderischen, zupackenden Bewegung nach ihm, einer Bewegung, die stark und schnell genug war, ihn in zwei Stücke zu reißen, so mühelos, wie er Papier zerfetzte.

Es war Titch, der ihm das Leben rettete.

Seine gepanzerte Faust zuckte in einer unglaublich schnellen Bewegung vor und fing den Hieb ab, der Skar den Kopf von den Schultern reißen sollte. Gleichzeitig warf sich der Quorrl vor, rammte die Angreiferin mit seinem gesamten Körpergewicht und brachte sie aus dem Tritt. Seine linke, verletzte Hand sauste herab und traf die gepanzerten Schultern der Beterin mit der Wucht eines Hammerschlages. Skar konnte das daumendicke Chitin ihres Körperpanzers brechen hören wie sprödes Glas. Das Rieseninsekt war tot, noch ehe Skar mit einem ungeschickten Schritt nach hinten taumelte und zu Boden stürzte, aber Titch packte es trotzdem noch einmal mit seinen gewaltigen Pranken, schmetterte es mit aller Kraft zu Boden und zermalmte mit einem Fußtritt seinen Schädel; ein blinder Reflex, den Skar nur zu gut verstehen konnte. Beterinnen gehörten zu den wenigen bekannten Tieren Enwors, die selbst einem Quorrl gefährlich werden konnten, wenn sie in die Enge getrieben oder verletzt waren.

Er stand auf, ging zu Titch zurück und blieb in respektvollen zwei Schritten Abstand stehen, während Titch die tote Beterin mißtrauisch musterte, wobei er die verletzte Hand fest gegen den Brustpanzer drückte. Selbst im Tod bot die Beterin noch einen bedrohlichen Anblick: fast sieben Fuß lang von den mächtigen, eingeknickten Fangscheren bis zur Schwanzspitze, dabei so dürr, daß sie fast schon wieder lächerlich wirkte. Ihre Beine waren nicht dicker als Skars kleiner Finger. Aber er wußte, welch entsetzliche Kraft in diesen so zerbrechlich aussehenden Gliedmaßen steckte. Er hatte Pferde gesehen, die von diesen gigantischen Insekten zerfetzt worden waren.

»Eine Beterin«, murmelte Titch fassungslos. Sein Blick suchte den Skars, aber sein Gesicht spiegelte nichts als Verwirrung. »Aber das... das ist unmöglich! Sie greifen niemals Menschen an!«

»Es sei denn, sie sind verrückt vor Hunger«, antwortete Skar. Sein Blick ging wieder auf die trügerisch still daliegende Ebene vor den Bergen hinaus. »Oder vor Angst«, fügte er hinzu.

Titch lachte. »Was bist du, Skar?« fragte er spöttisch. »Ein altes Weib, das Unheil aus Regenwolken liest?« Aber es klang unsicher; er spürte, daß in Skars Worten mehr Wahrheit war, als sie beide in diesem Augenblick schon ahnen mochten. Und Skar machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten. Langsam und ganz instinktiv noch immer zwei Schritte Abstand von der toten Beterin haltend, trat er an Titch vorbei und blickte konzentriert auf die Ebene hinab.

Und dann sahen sie es beide: Nicht einmal sehr weit von ihrem Standort entfernt bewegten sich Schatten. Der Regen machte es unmöglich, Einzelheiten zu erkennen, und sein monotones Rauschen verschluckte jeden Laut, aber auch Titch mußte die grotesken, fast menschlich wirkenden Umrisse der Tyrr erkennen, die sich der steinernen Vorhut der Berge näherten; zwei, drei, vier...

»Ein altes Weib, so?«

»Vielleicht haben alte Weiber manchmal recht, wenn sie Unheil prophezeien«, murmelte Titch. »Aber es kann genausogut ein Zufall sein.«

»Dann bleib meinetwegen hier«, antwortete Skar, »und laß dich ganz zufällig niedertrampeln.«

Titch musterte ihn einen Herzschlag lang mit undeutbarem Ausdruck, dann versetzte er der toten Beterin einen Tritt, der den Kadaver meterweit den Hang hinabkollern ließ, und stampfte zornig zu den Felsen zurück. Skar folgte ihm.

Sie mußten die Quorrl nicht wecken. Der Krieger, der den Ausgang ihres Felsenverstecks beobachtete, hatte den kurzen Kampf beobachtet und die anderen alarmiert. Sie waren nur noch fünf. Einer der beiden Schwerverletzten hatte sich am Abend zum Schlafen niedergelegt und war nicht mehr aufgewacht, während sich der Zustand des anderen zu Skars Erleichterung verbessert zu haben schien. Gesicht, Brust und Schultern des Quorrl waren eine einzige schreckliche Wunde, aber er stand schon wieder aus eigener Kraft, und Skar wußte, wie zäh diese schuppigen Kolosse waren. Und ganz davon abgesehen, daß sie wahrscheinlich jede Hand und jedes Schwert brauchen würden, erschien ihm auch das Leben eines Quorrl mit einem Male unendlich kostbar. Nicht nur Titchs Welt hatte sich verändert.

Der Quorrl informierte seine Männer mit wenigen, von knappen Gesten begleiteten Worten, was geschehen war. Er wechselte dabei von der Hochsprache Enwors in einen barbarischen, sehr schnellen Dialekt, von dem Skar nur Brocken verstand. Skar blieb dabei nicht verborgen, daß es Titch nicht leicht fiel, seinen Kriegern begreiflich zu machen, daß sie zu den Errish stoßen würden. Die Quorrl widersetzten sich seinem Befehl nicht, das war undenkbar. Aber Skar spürte sehr wohl, daß sie Angst hatten. Trotzdem brachen sie nach kaum fünf Minuten auf.

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