10.

Da es kein Schlaf war, sondern Betäubung, träumte er nicht. Trotzdem spürte er, daß er nicht sehr lange ohne Bewußtsein gewesen war. Eine Hand aus Stahl lag in seinem Nacken und stützte seinen Hinterkopf, als er erwachte. Sein Kopf tat weh, und die gesamte rechte Seite seines Gesichts war taub, wo ihn der Stein getroffen hatte. Als er versuchte, die Augen zu öffnen, hob sich nur sein linkes Augenlid; unter das andere bohrten sich dünne Schmerzpfeile, die ihn keuchend die Hand ans Gesicht heben ließen. Er fror.

Skar stöhnte, stemmte sich mit der anderen Hand weiter hoch und blinzelte verständnislos in eine Fläche aus Schwarz und mattschimmerndem Horn, die sich erst nach Sekunden zu einem flachen, höhnischen Nicht-Gesicht formte, das keine Augen hatte und trotzdem bis auf den Grund seiner Seele herabblickte. Und über ihm stand der Daij-Djan.

Skar war vollkommen sicher, daß die Bestie vor einer Sekunde noch nicht dort gewesen war, aber jetzt war sie es, klein und tödlich und stumm stand sie da, über ihn gebeugt, die rechte Klaue unter seinen Nacken geschoben, um ihn zu stützen, die andere wie zum Schlag erhoben, ein lautloser Schatten, der aus der Welt des Wahnsinns herübergetreten war, um Skar zu holen.

Er erstarrte. Nie zuvor war er dem Ungeheuer so nahe gewesen wie jetzt. Er konnte ihn riechen. Die eisige Berührung seiner dürren Spinnenglieder auf der Haut fühlen.

Der tödliche Hieb, auf den er wartete, kam nicht. Der Daij-Djan stand einfach da, stumm, aber in eindeutiger Haltung, die mehr aussagte als alle Worte, und Skar begriff in diesem Augenblick endgültig, daß dieses Wesen nicht sein Feind war. Er war es niemals gewesen. Er war niemals gekommen, um ihn zu töten oder auch nur zu verletzen, sondern ganz im Gegenteil, um ihn zu beschützen, über ihn zu wachen wie ein schwarzer Cherubin, vielleicht, wenn er es wollte, mit ihm zu kämpfen, Seite an Seite, wie zwei ungleiche Zwillingsbrüder, die zusammen unbesiegbar waren.

Aber um einen Preis, den Skar niemals zahlen würde. Selbst jetzt nicht.

Mit einem Schrei fuhr er vollends hoch, kroch ein paar Schritte rücklings von dem Ungeheuer fort und hob abwehrend die Hand über das Gesicht. Der Daij-Djan starrte ihn an, machte aber keine Bewegung, um ihm zu folgen. Plötzlich begriff Skar, daß es das Ungeheuer gewesen war, das ihn geweckt hatte. »Was... was willst du von mir?« stammelte er.

Weißt du das denn nicht, Bruder? Die Stimme des Daij-Djan war ein körperloses Flüstern, das wie ein Messer in seine Gedanken schnitt. Skar stöhnte. Die Bestie machte einen Schritt und blieb wieder stehen, und plötzlich war ihre Hand nicht mehr leer. Etwas Schmales, Silbernes glitzerte in der dreifingrigen Insektenklaue. Ein Schwert.

»Geh!« stöhnte Skar. »Geh weg! Laß mich endlich in Frieden!« Frieden? Der Daij-Djan bewegte sich einen weiteren Schritt auf ihn zu, und Skar erkannte die Klinge, die er in der Hand hielt. Es war nicht irgendein Schwert, sondern seine eigene Klinge; das Tschekal, das er von Del bekommen hatte.

Das hier ist dein Frieden, Bruder, flüsterte die Stimme der Sternenbestie. Die einzige Art von Frieden, für die wir geschaffen sind, du und ich.

»Geh!« sagte Skar noch einmal. Seine Stimme zitterte. Er hob die Hand und führte die Bewegung nicht zu Ende. Die bloße Vorstellung, das Ding zu berühren, ließ etwas in ihm sterben.

Du und ich, wir werden niemals Frieden finden, wisperte das Ungeheuer. Wir SIND der Krieg, Bruder. Nimm es. Nimm dieses Schwert und meine Hilfe, und du wirst siegen. Oder Enwor wird untergehen.

»Niemals!« murmelte Skar.

Der Daij-Djan kam abermals näher. Seine gräßliche Klauenhand streckte sich nach Skar aus, in einer gleichermaßen fordernden wie hilfeverheißenden Geste, aber Skar ignorierte sie. Sekundenlang regte sich keiner von ihnen. Skar starrte das Ungeheuer an, und das Ungeheuer ihn, und es war wie ein stummer, aber gnadenloser Kampf, von dem er selbst hinterher nicht wußte, wer ihn gewonnen hatte. Vielleicht keiner.

Schließlich legte der Daij-Djan das Schwert neben ihn auf einen Stein und trat ein Stück zurück. Anders als die anderen Male, wenn Skar ihm begegnet war, verschwand er nicht, sondern zog sich nur ein paar Schritte weiter zurück und beobachtete ihn.

Vorsichtig stemmte Skar sich in die Höhe. Der Wind schlug ihm eisig ins Gesicht, und sein verletztes Gesicht begann zu brennen, als wäre es mit Säure übergossen. Ein paar Sekunden blieb er schwankend stehen, dann bückte er sich nach seinem Schwert, hob die Klinge auf und schob sie mit einem entschlossenen Ruck in den Gürtel; eine Bewegung, die er gleich darauf bitter bereute, denn sein mißhandelter Schädel quittierte sie mit einem heftigen, an körperlichen Schmerz grenzenden Schwindelanfall. Skar kämpfte das Gefühl mit aller Macht nieder, drehte sich herum und blickte zur Höhle hinauf.

Das grüne Flackern war erloschen, aber das Feuer brannte noch. Es war, wie er geglaubt hatte: er war nur Augenblicke bewußtlos gewesen. Aber was war mit Titch und seinen Männern?

Der Daij-Djan las seine Gedanken, und Skar hörte seine Antwort: ein Flüstern, das nicht von außen kam, sondern aus seiner eigenen Seele, die die Heimat der Bestie war: Du kannst nichts mehr für sie tun, Bruder. Es ist vorbei.

Als er sich herumdrehte, hob der Daij-Djan die Hand. Das lautlose Flüstern in seinem Inneren war verstummt, aber Skar verstand die Geste auch so. Schlag ein, Bruder. Nimm meine Hilfe, und die Welt gehört uns.

Und vielleicht würde er sie sogar annehmen, dachte Skar. Vielleicht würde er irgendwann tun, wozu er schon ein paarmal bereit gewesen war: sein Leben, schlimmer, seine Menschlichkeit zu opfern, um seine Welt zu retten. Aber noch nicht. Wortlos schüttelte er den Kopf.

Der Daij-Djan verschmolz mit den Schatten der Nacht und verschwand. Aber Skar wußte, daß er wiederkommen würde. Bald. Bald.

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