2.

Sie fanden auch im Palast Tote, allerdings nicht halb so viele, wie Skar erwartet hatte. Die große, ehemals prunkvolle Eingangshalle des Palastes war ausgebrannt, und auch einige der dahinterliegenden Räume zeigten die Spuren schwerer Kämpfe: Stein, der zerschmolzen und zu bizarren blasigen Formen wiedererstarrt war, ausgebrannte Räume, zerborstene Türen. Aber der allergrößte Teil des Palastes war unversehrt.

Und leer.

Fast eine Stunde lang durchsuchten sie das gewaltige Bauwerk, wobei Skar Kiina wortlos die Führung überließ. Er gehörte zwar zu den wenigen Menschen, die diesen Palast schon zweimal betreten hatten, aber das war Jahre her, während Kiina hier aufgewachsen war, noch dazu als Tochter der Ehrwürdigen Mutter, für die es keine verschlossenen Türen und keine Geheimnisse gab. Und sie kannte sich wirklich gut aus: ohne ihre Hilfe hätte Skar sich wahrscheinlich hoffnungslos in dem Labyrinth aus Gängen und Hallen und ineinandergeschachtelten Ebenen verirrt, durch das Kiina ihn leitete; ganz davon abgesehen, daß er die meisten Räume nicht einmal gefunden hätte. Was sie nicht fanden, das waren Errish. Weder lebende noch tote. Der Palast war leer. Der Leichengestank, der sie empfangen hatte, stammte von Toten unten in der Halle. Aber überall lag Staub; der gleiche, pulverige graue Staub, der die Stadt bedeckte und durch Fenster und Balkon und jede noch so winzige Ritze hereingeweht worden war.

Schließlich hatten sie den gesamten Palast durchsucht, und es blieb nur noch der Thronsaal selbst, eine gewaltige, halbrunde Halle unmittelbar unter der Spitze des Turmes. Skars Herz begann ein wenig schneller zu schlagen, als er die zweiflügelige Tür aufstieß und vor Kiina in den Saal trat. Ganz instinktiv legte er die Hand auf das Schwert in seinem Gürtel.

Seine Vorsicht war auch diesmal überflüssig. Der Thronsaal der Margoi war so leer und tot wie die gesamte Festung; wie die gesamte Stadt. Skar hob die Hand vor die Augen und blinzelte in das grelle Licht, das durch die großen gebogenen Fenster hereinfiel, und der plötzliche Luftsog ließ graue Staubwolken aufwirbeln. Er hustete, wich unwillkürlich einen Schritt zurück und wartete, bis sich die grauen Schwaden wenigstens einigermaßen gelegt hatten. Dann betrat er zum zweiten Mal den Thronsaal, mit vorsichtigen, sehr langsamen Schritten, um den Staub nicht ein zweites Mal aufzuwirbeln. Sein Blick glitt rasch und mißtrauisch durch die gewaltige Halle, und abermals kam ihm zu Bewußtsein, wie bedrückend und unheimlich dieses riesige, leere Gebäude war. Es gab auch hier oben kein Leben; nicht einmal mehr die Spuren davon. Grauer Staub lag in einer fast knöcheltiefen Schicht auf dem Boden, aber sie war unversehrt und vom Wind zu einem regelmäßigen Wellenmuster geformt worden, wie eine winzige Wüste, zweihundert Manneslängen über der Stadt.

»Nichts?« Kiina wartete sein Kopfschütteln ab, ehe sie hinter ihm in die Thronhalle trat. Auch sie bewegte sich sehr langsam, aber Skar war sicher, daß sie es nicht tat, nur um den Staub nicht aufzuwirbeln. Ihr Gesicht war bleich und die Lippen eng zusammengepreßt und fast blutleer. Draußen, in der Dämmerung der Korridore und Treppen, war ihm das nicht aufgefallen, aber er sah jetzt, daß die Ruhe ihrer Bewegungen von der Art eines Menschen war, der sich mit aller Macht zusammenriß, um nicht schlichtweg die Beherrschung zu verlieren. Ihre Augen waren fast schwarz vor Entsetzen, und Skar gestand sich ein, daß er Kiina überschätzt hatte. Er machte sich schwere Vorwürfe deswegen. Sie war noch ein halbes Kind - er hätte wissen müssen, wie der Anblick der zerstörten Stadt und ihrer toten Brüder und Schwestern auf sie wirken mußte.

»Wo sind sie alle hin?« flüsterte Kiina. Auch ihr Blick irrte durch den Raum, aber anders als der von Skar tat er es unstet und immer schneller, als suche sie verzweifelt nach irgendeinem Halt, an dem sie sich festklammern konnte, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. »Aber sie... sie müssen doch irgendwo sein!« Skar antwortete auch darauf nicht. Was hatte sie erwartet? Die Margoi und sämtliche überlebenden Bewohner Elays zusammengepfercht hier im Thronsaal zu finden, in dem sie sich vor einem nicht existierenden Gegner verbarrikadiert hatten ? Aber er konnte schwerlich Logik von Kiina erwarten. Nicht in diesem Augenblick.

»Vielleicht... vielleicht konnten sie fliehen«, stammelte Kiina. Skar wich ihrem Blick aus, aber sie fuhr, jetzt lauter und fast hysterisch fort: »Sie müssen geflohen sein, Skar. Das... das ist die einzige Erklärung.«

Skar schüttelte den Kopf. Er streckte die Hand aus, aber Kiina wich vor ihm zurück. »Sie sind tot, Kind«, sagte er. »Wie alle anderen.«

»Das ist nicht wahr!« schrie Kiina. »Dann hätten wir ihre Leichen gefunden! Sie sind geflohen.«

»Und die Wachen, unten in der Halle?« widersprach Skar. Kiina verstand nicht. »Sie sind gefallen, als sie den Palast verteidigten«, sagte sie. »Und?«

»Und welchen Sinn sollte es haben, einen leeren Palast zu verteidigen?«

Kiinas Lippen begannen zu zittern. Sie machte einen Schritt an ihm vorbei, blieb wieder stehen und hob hilflos die Arme. Skar sah, daß sie noch immer den Scanner in der rechten Hand trug. Im Griff des bizarren kleinen Instruments blinkte ein winziges grünes Licht. Die Waffe war schußbereit. Mit einem traurigen Lächeln trat Skar zu ihr, nahm ihr den Scanner aus der Hand und sah sie fragend an. Kiina berührte eine Taste auf der silbern schimmernden Oberfläche des Geräts, und das Licht erlosch. Skar schob den Scanner unter seinen Gürtel.

»Laß uns gehen«, sagte er.

Kiina reagierte nicht. Ihr Blick ging an Skar vorbei ins Leere, und erst jetzt, erst in diesem Moment, begriff er wirklich, was der Anblick der leeren Thronkammer für sie bedeuten mußte. Natürlich hatte auch Kiina gewußt, daß sie hier oben so wenig finden würden wie in irgendeinem anderen Teil des Palastes, aber der Thronsaal war ihre letzte Hoffnung gewesen, die letzte, verzweifelte Lüge, die noch zwischen ihr und dem Moment stand, in dem sie sich eingestehen mußte, daß Elay vernichtet war. Und mit ihr die Errish. Kiina begann leise zu weinen und schmiegte sich an seine Brust, und während Skar einfach dastand und darauf wartete, daß der ärgste Schmerz vorüber war und sie sich wieder weit genug in der Gewalt hatte, um mit ihm diesen schrecklichen Ort zu verlassen, begriff er ganz allmählich, daß sie nicht nur eine zerstörte Stadt gefunden hatten. Diese Thronkammer war nicht irgendeine Thronkammer, so wenig wie dieser Palast irgendein Palast war oder Elay irgendeine Stadt. Es war das Herz der Errish, die Heimat der Ehrwürdigen Frauen, die unantastbar waren, seit Enwor bestand. Nicht einmal die Quorrl, die alles Menschliche haßten und Enwor und seine Bewohner mit zahllosen Kriegen überzogen hatten, hatten es jemals gewagt, die Hand gegen eine Errish zu erheben. Ihre Heimatstadt zu zerstören, bedeutete an den Grundfesten der Welt zu rütteln.

Aber waren sie nicht längst zerbrochen ? flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Die Geister, die Vela heraufbeschworen hatte, hatten doch längst angefangen, Enwor zu verändern, schleichend und fast unbemerkt von den meisten seiner Bewohner, aber auf eine Art, die nie wieder gutzumachen war. Selbst, wenn es ihnen gelang, Drasks Brüder und ihre Verbündeten (oder Herren?) zu besiegen - wovon Skar ganz und gar nicht überzeugt war -, würde Enwor nie wieder die Welt sein, als die er sie kannte. Sie war es jetzt schon nicht mehr.

»Gehen wir«, sagte er noch einmal. »Ich habe zu Titch gesagt, daß wir in einer Stunde zurück sind. Sie ist längst vorbei.« Kiina löste sich aus seiner Umarmung und zog geräuschvoll die Nase hoch. Ihre Augen waren rot und das Gesicht verquollen. »Entschuldige«, murmelte sie. »Der... der Staub. Er brennt in den Augen.« Skar spürte, wie peinlich es ihr war, daß er sie wie ein Kind weinen sah. Dabei beneidete er sie fast darum, noch weinen zu können. Er schwieg.

»Du hast recht«, fuhr Kiina nach einer Sekunde fort. »Gehen wir. So schnell wie möglich. Ich -« Sie brach mitten im Wort ab und sog hörbar die Luft ein. Ihre Augen wurden groß.

»Was hast du?«

»Vielleicht... vielleicht gibt es doch noch ein paar Überlebende«, flüsterte Kiina. »Die Katakomben, Skar! Die Drachenhöhlen unter der Stadt! Sie halten jedem Angriff stand! Nicht einmal eine Armee von Errish könnte sie erobern!«

Skar starrte sie an. War er denn blind gewesen? Er kannte die Höhlen so gut wie Kiina. Was lag näher, als sich im Falle eines Angriffes an einen Ort zurückzuziehen, der erstens leicht zu verteidigen und dessen Existenz nur einigen wenigen Eingeweihten bekannt war? Er verstand nicht, warum er nicht von selbst auf diesen Gedanken gekommen war!

Kiina fuhr herum, aber Skar hielt sie am Arm zurück. »Wo willst du hin?«

»In die Höhlen!« antwortete Kiina. Sie versuchte sich loszureißen, aber Skar hielt sie fest. »Es gibt einen Eingang unten in den Kellern des Palastes! Ich zeige ihn dir!«

»Ich kenne einen kürzeren Weg«, antwortete Skar.

Kiina sah ihn verwirrt an. »Du -?«

Skar ließ ihre Hand los, wandte sich um und ging auf den Thronsessel der Margoi zu. Das wuchtige, aus einem einzigen übermannshohen Basaltblock herausgemeißelte Möbelstück mit den beiden drohend hochgereckten Drachenschädeln als Armlehne war mit einer grauen Staubschicht bedeckt, wie alles hier drinnen, aber Skar sah auch, daß sie nicht halb so dick war wie auf dem Boden. Und keineswegs unversehrt. Jemand hatte versucht, die Schleifspuren beiderseits des Thrones zu entfernen, sich aber dabei nicht besonders geschickt angestellt. Skar wunderte sich ein wenig, daß ihm das nicht sofort aufgefallen war. Offensichtlich hatte ihn der Marsch durch die tote Stadt doch nicht ganz so unberührt gelassen, wie er sich selbst eingeredet hatte.

Kiina beobachtete ihn mit wachsender Verblüffung, während er sich vor dem Thron auf die Knie sinken ließ und mit spitzen Fingern über den rechten der beiden Drachenköpfe tastete. Gowenna hatte ihm den verborgenen Mechanismus gezeigt, aber es war lange her, und es war fast im Spiel gewesen; er hatte nicht sehr gut aufgepaßt, denn sie wie er hatten gewußt, daß er nicht zurückkommen würde.

Aber woran sich seine Gedanken nicht mehr erinnerten, hatten seine Hände nicht vergessen. Seine Finger drückten auf einen der schwarzen Drachenzähne und fanden wie von selbst in den richtigen Rhythmus: Aus dem Inneren des Thrones erklang ein helles, aber durchdringendes Schnappen, und plötzlich bewegte sich der tonnenschwere Block um ein winziges Stück. Skar drückte mit der Schulter gegen den Sockel des Thrones, und er bewegte sich abermals; aber nicht sehr weit und nicht so leicht, wie er es sollte. Zwischen dem Fuß des Thronsessels und den steinernen Bodenfliesen entstand ein haarfeiner, dunkler Riß. Staub rieselte hindurch und verschwand lautlos in der Tiefe.

Kiina sog überrascht die Luft ein und wollte eine Frage stellen, aber Skar schnitt ihr mit einer Geste das Wort ab.

»Hilf mir«, sagte er. »Der Mechanismus scheint verklemmt zu sein.«

Kiina gehorchte. Selbst zu zweit überstieg es fast ihre Kräfte, den Riß im Boden so weit zu verbreitern, daß Skar hindurchsehen konnte. Im ersten Moment erkannte er nichts, aber nachdem sich seine Augen ein wenig an die Dunkelheit gewöhnt hatten, glaubte er einen schwachen, rötlichen Lichtschimmer weit unter sich auszumachen. Der Schein einer Fackel, gedämpft oder sehr weit entfernt.

»Was ist das?« fragte Kiina fassungslos.

Skar stemmte sich abermals gegen den Thron und schob mit aller Kraft. »Ein geheimer Gang, der direkt in die Katakomben führt«, erklärte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Die Erbauer dieses Palastes waren offensichtlich nicht ganz so sehr von der Unantastbarkeit seiner Bewohner überzeugt wie sie selbst. Von hier aus führt eine Treppe direkt in die Drachenhöhlen.«

»Davon wußte nicht einmal ich«, sagte Kiina staunend.

»Deine Mutter hat sie mir gezeigt, als ich hier war.« Skar hörte für einen Moment auf zu schieben und zu drücken, atmete tief ein und warf sich dann noch einmal mit aller Kraft gegen den Thron. Ein helles, in Ohren und Zähnen schmerzendes Kreischen erklang - und plötzlich glitt der Thron so leicht und schnell nach hinten, daß Kiina Skar am Gürtel festhalten mußte, damit er nicht kopfüber in die Tiefe fiel.

Skar richtete sich ungeschickt auf, nickte Kiina dankbar zu und hustete. Ihre Bewegungen hatten den Staub wieder aufgewirbelt, und Skar registrierte beunruhigt, wie bitter und scharf er schmeckte; völlig anders als alles, das er je kennengelernt hatte. Er wedelte mit der Hand vor dem Gesicht in der Luft, um nicht mehr von dem Zeug einatmen zu müssen als unbedingt nötig und forderte Kiina mit Gesten auf, loszugehen. Sie zögerte nur einen kurzen Moment, dann setzte sie den Fuß auf die oberste Stufe und verschwand rasch in der Tiefe.

Skar fluchte lautlos in sich hinein, als er ihr folgte. Der zweite Fehler: er hatte vergessen, wie eng die gewendelte Treppe war. Die Stufen führten beinahe senkrecht in die Tiefe, und sie waren so schmal, daß Skar nicht einmal gerade gehen konnte und es ihm schlichtweg unmöglich war, sich an Kiina vorbeizudrängen. Der Gedanke, sie vorausgehen zu lassen, gefiel ihm nicht besonders. Er hatte keine Ahnung, welche Gefahren dort unten auf sie lauern mochten. Aber es war zu spät, den Fehler zu korrigieren.

Kiinas Schatten verschluckte den ohnehin schwachen Lichtschimmer unter ihnen, so daß Skar sich durch fast vollkommene Dunkelheit bewegte; was aber kein Problem war - der Treppenschacht war so schmal, daß er ohnehin mit beiden Schultern an der Wand entlangstreifte und kaum die Gefahr bestand, zu stolpern. Er versuchte die Stufen zu zählen, um nicht vollends die Orientierung zu verlieren, gab es aber bald wieder auf; zum einen geriet er unentwegt aus dem Takt, denn die Stufen waren unterschiedlich hoch und breit, so daß ein rhythmisches Gehen unmöglich wurde, und zum anderen kannte er diesen geheimen Fluchtweg sowieso und wußte, daß es keinerlei Abzweigungen oder Türen gab, bis hinab ins Kellergeschoß des Palastes, wo er in die Verliese mündete; und wahrscheinlich auch in den Gang, den ihm Kiina hatte zeigen wollen.

Der Weg schien endlos zu sein. Das Licht unter ihnen wurde nur ganz allmählich stärker, und während Kiinas Gestalt sich allmählich als schwarzer Umriß vor ihm aus rötlicher Glut herauszuschälen begann, begriff Skar, daß er sich getäuscht hatte: Es war nicht der Schein einer Fackel; dazu war das Licht zu gleichmäßig und zu düster, ein dunkles Rot wie von nur noch halb glühender Lava. Er erwog diesen Gedanken sekundenlang und verwarf ihn wieder. Die Luft, die ihnen aus der Tiefe entgegenströmte, war kalt.

Schließlich weitete sich der Treppenschacht zu einer halbrunden, gut fünfzig Fuß messenden Halle, die in eben jenem Rot glühte, das sie von oben gesehen hatten. Skar trat rasch an Kiina vorbei und atmete innerlich auf, froh, aus der erstickenden Enge des Treppenschachtes heraus zu sein. Kiina taumelte vor Erschöpfung, und auch Skars Knie zitterten spürbar. Das Gehen auf den ungleichmäßigen Stufen war sehr kräftezehrend gewesen.

»Was ist das hier?« fragte Kiina. Ihre Stimme war zu einem Flüstern herabgesunken.

Skar zuckte wortlos mit den Schultern. Ein einziges Mal war er hier gewesen, vor Jahren, aber damals hatte es dieses rote Glühen nicht gegeben. Gowenna und er hatten die Halle im Schein einer ganz normalen Fackel durchquert, und noch dazu sehr schnell, denn es gab hier nichts, was betrachtenswert gewesen wäre. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Dieses Licht...« Es war ein sonderbares Licht, ein düsterer roter Schein, der Assoziationen an Flammen und Hitze weckte, aber kalt war und ihn mit instinktivem Unbehagen erfüllte. Vielleicht, weil er seine Quelle nicht ausmachen konnte. Die Luft selbst schien in dieser roten Glut zu erstrahlen. Wenn man nur lange genug hinsah, dann glaubte man ein schwaches Pulsieren in der Helligkeit wahrzunehmen.

»Das meine ich nicht«, antwortete Kiina. »Das Licht ist normal. Ich meine den Raum.«

»Das nennst du normal?« ächzte Skar.

Kiina machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wir benutzen es nie, aber du kannst jeden Raum im Palast auf diese Weise beleuchten«, sagte sie. »Und in fast jeder beliebigen Farbe. Ein Zauber der Alten.« Sie gab sich Mühe, ihre Stimme möglichst beiläufig klingen zu lassen, aber Skar spürte, mit welchem Stolz es sie erfüllte, ihm dieses Geheimnis zu verraten. Ihm selbst bereitete es eher Furcht.

»Ein Teil des Fluchtweges«, antwortete er. »Irgendwo hinter -« Er sah sich suchend um und deutete schließlich auf eine Stelle, die der Treppe genau gegenüberlag. »- dieser Wand liegen die alten Verliese. Von dort aus kennst du den Weg wahrscheinlich besser als ich.«

Kiina schwieg einen Moment. Ihr Blick wirkte irritiert. Sie verstand den groben Ton nicht, in dem Skar plötzlich sprach. Ohne ein weiteres Wort ging sie zu der Stelle, die Skar ihr gezeigt hatte, und drückte mit der Schulter dagegen. Nichts geschah. Kiina runzelte verärgert die Stirn, und Skar trat mit einem raschen Schritt neben sie und legte die gespreizten Finger auf den glattpolierten Fels. Ein helles Klicken erscholl, vergleichbar dem Geräusch, das oben aus dem Inneren des Thrones gekommen war, aber leiser, sauberer, und plötzlich spaltete sich die scheinbar massive Wand vor ihnen in zwei Hälften, zwischen denen sie zwar gebückt, aber doch bequem hindurchgehen konnten.

Kiina nickte anerkennend. »Du überraschst mich immer wieder, Skar«, sagte sie. »Du weißt Dinge, die nicht einmal mir bekannt waren.«

Skar verzichtete auf eine Antwort. Ungeduldig wartete er, bis Kiina ihm gefolgt war, dann schloß er die Tür wieder auf die Art, die Gowenna ihm gezeigt hatte, und sah sie auffordernd an. »Jetzt darfst du die Führung übernehmen.«

»Euer Vertrauen ehrt mich zutiefst«, antwortete Kiina spöttisch. Sie drehte sich herum, ging ein paar Schritte, blieb stehen, runzelte verwirrt die Stirn, machte einen Schritt in die entgegengesetzte Richtung und blieb wieder stehen.

»So furchtbar gerechtfertigt scheint es aber nicht gewesen zu sein«, sagte Skar.

Kiina warf ihm einen vernichtenden Blick zu und ging rasch weiter; ein wenig zu schnell, um Skar davon zu überzeugen, daß sie wirklich wußte, wohin sie ging. Aber er folgte ihr widerspruchslos.

Es war ein wahres Labyrinth, durch das sie sich bewegten. Die alten, seit einem Jahrtausend nicht mehr benutzten Verliese blieben hinter ihnen zurück, sie durchquerten Gänge und Hallen voller aufgestapelter Kisten und Fässer und abgedeckter Ballen, dann wieder leere, unermeßlich große Hallen, in denen der Staub von Jahrhunderten zu einer steinharten Schicht auf dem Boden zusammengebacken war. Skar war in dieser Zeit mehr als einmal sicher, daß Kiina längst die Orientierung verloren hatte und den Weg nur noch erriet. Obwohl er schon einmal hiergewesen war, konnte er sich nicht mehr genau an den Weg zu den Drachenhöhlen erinnern, aber was er wußte war, daß er kürzer gewesen war. Wesentlich kürzer. Ein schneller Fluchtweg machte sehr wenig Sinn, wenn man sich die Füße wundlief, um ihn zu bewältigen.

Aber schließlich führte Kiina ihn wieder durch einen Gang, den er kannte, obgleich das rote Licht alles fremd und kleiner und gedrungener erscheinen ließ, als er es in Erinnerung hatte. Wortlos trat er an Kiina vorbei und bedeutete ihr mit Gesten, daß er von nun an wieder die Führung übernahm. Sie widersprach nicht, sondern wirkte ganz im Gegenteil erleichtert.

Sie traten durch eine weitere, getarnte Tür und fanden sich unvermittelt im Dunkeln wieder. Kiina hielt ihn am Arm zurück und machte einen halben Schritt in die Schwärze hinein. Skar hörte sie vor sich hinhantieren, dann glomm ein winziger Funke auf und wurde in Sekundenschnelle zum prasselnden Feuer einer ganz normalen Fackel. In dem flackernden Licht sah Skar, daß eine ganze Reihe davon in eisernen Haltern neben der Wand warteten. Er ersparte sich die Frage, wie Kiina die Fackel so schnell entzündet hatte - schon um nicht einen weiteren Vortrag über die geheimen Künste der Errish hören zu müssen -, und streckte fordernd die Hand aus. Kiina reichte ihm die Fackel, entzündete eine zweite für sich selbst und schob sich zwei weitere Reservefackeln unter den Gürtel. Skar runzelte mißbilligend die Stirn. Was hatte sie vor? Unter der Erde bis nach Ikne zurückzulaufen? Schaudernd sah er sich um. Er war nicht das erste Mal hier, aber der Anblick erschreckte ihn ebensosehr wie damals: die geheime Tür hatte sie auf einen schmalen, glasglatten Felssims hinausgeführt, der dicht unter der Decke einer wahrhaft titanischen Höhle entlangführte. Der Schein ihrer Fackeln verlor sich schon nach wenigen Fuß in absoluter Dunkelheit, aber Skar wußte, daß der Boden mehr als eine Meile unter ihnen lag. Die Höhle war so groß, daß ganz Elay bequem hineingepaßt hätte. Und es war nicht die einzige.

»Worauf wartest du?« fragte Kiina, als er sich nicht von der Stelle rührte.

Skar machte eine Kopfbewegung auf den finsteren Abgrund vor sich. »Dort unten ist nichts«, sagte er. »Kein Licht. Keine Geräusche.«

»Vielleicht sind sie in einer der anderen Höhlen«, sagte Kiina unwillig. »Komm schon.« Und wie es ihre Art war, ging sie einfach los, ohne auf seine Antwort zu warten. Skar folgte ihr, aber er tat es mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite war er es Kiina - und auch sich selbst - schuldig, sich wenigstens davon zu überzeugen, daß auch die Drachenhöhlen leer waren. Aber sie hatten die mit Titch vereinbarte Zeit längst überschritten, und der Rückweg würde doppelt anstrengend und somit auch ein gutes Stück länger sein. Und wenn er ganz ehrlich war, dann hatte er fast Angst vor dem, was sie vielleicht finden konnten. Er ertrug den Gedanken nicht, noch mehr Tote zu sehen.

Das einzige, was er für die nächste halbe Stunde sah, waren Kiinas Rücken, die glatte Felswand neben sich und die Stufen aus schwarzer Lava, die in magenumstülpendem Winkel vor ihnen in die Tiefe führten. Seine Waden begannen zu schmerzen, dann sein Rücken, und als er endlich den Boden der Höhle erreicht hatte, hatte er das Gefühl, keinen Schritt weiter gehen zu können. Erschöpft lehnte er sich gegen die Wand und atmete mehrmals hintereinander tief ein und aus, um sein Blut wieder mit frischem Sauerstoff zu füllen.

»Was hast du, Satai?« fragte Kiina spöttisch. »Schon müde?« Skar funkelte sie ärgerlich an. »Nicht halb so erschöpft wie du, kleines Mädchen«, sagte er. »Ich bin nur nicht so dumm, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen.«

Kiina setzte zu einer wütenden Antwort an, fuhr dann aber wortlos herum und stürmte einfach in die Dunkelheit hinein. Skar folgte ihr mit einem gemurmelten Fluch. Sie war Gowennas Tochter, daran gab es gar keinen Zweifel. Schade, daß sie nicht auch die Besonnenheit ihrer Mutter geerbt hatte.

Er holte sie ein, riß sie mit einer etwas zu groben Bewegung an der Schulter zurück und machte eine wedelnde Geste mit der freien Hand. »Und wohin jetzt? Diese verdammten Höhlen sind so groß, daß du Elay fünfmal darin unterbringen kannst. Willst du blindlings herumsuchen?«

Kiina riß sich los. Aber plötzlich geschah etwas Seltsames: Der Trotz auf ihren Zügen erlosch und machte Verlegenheit Platz. Vielleicht hatte sie gemerkt, daß Skars Zorn nicht gespielt war. Vielleicht ging es ihr auch so wie Skar, und diese Höhlen machten ihr angst.

»Es gibt einen Saal, nicht weit von hier«, sagte sie. »Er ist für den Drachen der Margoi reserviert, und ihre engsten Vertrauten. Wenn es Überlebende gibt, dann dort.«

Skar resignierte. Er wußte, daß er Kiina nicht eher hier herausbekommen würde, bis sie sich mit eigenen Augen von dem überzeugt hatte, was sie im Grunde beide schon lange wußten: daß diese Höhlen so leer und tot waren wie die Stadt, die über ihnen erbaut war.

Was Kiina mit nicht sehr weit von hier bezeichnet hatte, erwies sich als eine Strecke von zwei Meilen, für die sie auf dem unebenen Boden eine gute Stunde brauchten. Sie durchwateten einen unterirdischen, eiskalten Fluß, der nur knietief war, aber reißend, und einmal stürzte Kiina und verletzte sich an der Schläfe, als sie eine steil aufragende Halde aus Schutt und spitzen Lavabrocken überkletterten. Skars Mitleid hielt sich in Grenzen - er hatte Kiina jede nur denkbare Möglichkeit gegeben, umzukehren, aber sie war noch in einem Alter, aus dem man eben nur aus Schaden klug wurde, nicht aus Worten. Doch er registrierte mit einer Mischung aus Sorge und grimmiger Befriedigung, daß sich ihre Kräfte wirklich dem Ende entgegenneigten. Als sie endlich den Durchgang zu der Höhle erreichten, von der Kiina gesprochen hatte, wankte sie vor Erschöpfung. Skar fragte sich, ob sie den Rückweg schaffen würde. Zur Not würde er sie tragen müssen, obwohl er - Und dann sah er etwas, was ihn alle Gedanken an den Rückweg und Kiinas Zustand schlagartig vergessen ließ.

Es war sehr dunkel hier unten. Die Schwärze schien das Licht ihrer halb heruntergebrannten Fackeln aufzusaugen wie ein körperloser Schwamm, aber der zuckende rote Schein reichte trotzdem aus, Skar erkennen zu lassen, daß der Eingang zur Drachenhöhle nicht leer war.

Er war groß - halb so hoch wie die Stadttore Elays und zu perfekt gerundet, um trotz der hervorspringenden Kanten und Grate natürlichen Ursprungs zu sein. Und etwas versperrte ihn. Ein Netz. Ein schwarzes Gewebe aus fingerdicken Strängen, zu einer Spirale gedreht wie das Netz einer gigantischen Spinne und mit einem riesigen, klumpigen Zentrum, aus dessen Mitte ein Dutzend kleiner, böser Augen auf Kiina und ihn herabstarrten...

Kiina schrie auf und taumelte zurück, und auch Skars Herz machte einen erschrockenen Sprung und hämmerte schneller und mit schmerzhafter Kraft weiter. Seine Hand zuckte instinktiv zum Gürtel und riß das Tschekal hervor, gleichzeitig trat er einen halben Schritt zurück und spreizte die Beine, um festen Stand für den Fall eines Angriffes zu haben, alles in einer einzigen, fließenden, unglaublich schnellen Bewegung, die fast gegen seinen Willen ablief und noch ehe ihm klar wurde, wie lächerlich das Satai-Schwert gegen die Sternenbestie im Zentrum des Netzes wirkte.

Vor allem, da sie tot war.

Verblüfft ließ er das Schwert sinken und hob statt dessen die Fackel höher. Der zuckende Lichtschein floß wie blutiges Wasser an den ineinandergeknoteten Strängen des Netzes hinauf, erreichte den aufgedunsenen Balg des Monsters und brach sich in seinen erloschenen Augen wie in funkelnden Diamanten. Gräßliche Fänge, halb geöffnet, als wolle das Ungeheuer selbst im Tode noch zubeißen, grinsten ihn an. Auf der schwarzen Haut, die wie steinhartes zerbrochenes Leder war, hatten sich Tropfen einer wasserklaren Flüssigkeit gesammelt, die in regelmäßigen Abständen zu Boden fielen und sich dicht vor Skars Füßen zu einer schimmernden Pfütze gesammelt hatten. Einer der zahllosen, mit entsetzlichen Klauen bewehrten Schlangenarme des Monsters pendelte leicht hin und her, von einem Luftzug bewegt, und die Fackel in Skars Hand ließ seinen Schatten übergroß an der Wand entlanghuschen und sich nach den ihren greifen. Aber das Ungeheuer war tot. Und zwar schon seit langer Zeit.

Skar machte einen vorsichtigen Schritt auf das Netz zu und senkte hastig die Fackel, als die Flammen einen der Fäden streiften und zischende Funken aufstoben.

»Skar!« sagte Kiina erschrocken. »Sei vorsichtig!«

Skar machte eine beruhigende Handbewegung, aber er hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, um seinen Blick von der toten Scheußlichkeit zwanzig Fuß über sich zu lösen. Selbst tot und bereits halb in Verwesung übergegangen wirkte das Ding noch drohend.

»Keine Angst«, sagte er. »Es kann dir nichts mehr tun. Es ist tot.« Um seine Worte zu bekräftigen, hob er das Schwert und durchtrennte einen der fingerdicken Stränge vor sich. Er zersprang mit einem peitschenden Knall, und die Erschütterung pflanzte sich durch das gesamte Netz fort und ließ die Bestie in seinem Zentrum erbeben. Kiina verzog angeekelt das Gesicht, als sich ein Hautlappen von seinem Körper löste und mit einem widerwärtigen feuchten Geräusch zu Boden fiel.

»Es ist... dasselbe Ding wie in der Burg, nicht wahr?«. Kiinas Stimme klang gepreßt. Sie kämpfte gegen die Übelkeit an, die der Anblick in ihr auslöste.

Skar nickte, obwohl er nicht einmal sicher war, daß sie die Bewegung sah. Dieselbe Kreatur, dasselbe Netz, nur kleiner und bereits halb zerfallen. Was in Draks Trutzburg begonnen hatte, hatte hier in Elay seine Vollendung gefunden. Er fragte sich, ob die Bergfestung mit all ihren Bewohnern am Schluß auch so ausgesehen hätte wie die Stadt über ihnen, wäre es ihm nicht gelungen, die Sternenbestie zu vernichten.

»Aber sie ist... tot«, stammelte Kiina. Ihre Stimme wurde schrill. »Sie haben sie getötet, so wie du das Ungeheuer in der Burg!« Sie fuhr herum und starrte ihn an. Ihre Augen waren weit und dunkel. »Sie haben sie besiegt, Skar! Sie müssen noch leben!« Skar antwortete nicht darauf. Kiinas Schlußfolgerung war von einer verlockenden Logik, aber er wußte einfach, daß sie falsch war. Es war die Höhle der Drachenkönigin, vor der die Bestie hockte, das Zentrum von Elays Macht, ein Ort, der sicherlich nicht durch Zufall gewählt war; er war voller schrecklicher Symbolik. Er sprach nichts von diesem Gedanken aus, aber Kiina schien sie in seinen Augen zu lesen. Sie begann zu zittern.

Und dann tat sie etwas, was Skar vollkommen überraschte: Völlig warnungslos griff sie zu, zerrte den Scanner aus seinem Gürtel und riß die Waffe mit beiden Händen in die Höhe, so schnell, daß selbst Skars Reaktion zu spät kam. Der Scanner spie einen grellweißen, kreischenden Lichtblitz aus, und plötzlich verwandelte sich der Kadaver der Sternenbestie über ihren Köpfen in einen lodernden Feuerball.

Skar sprang mit einem Fluch zurück, zerrte Kiina mit sich und entriß ihr die Waffe. Kiina starrte ihn trotzig an und versuchte, ihm den Scanner wieder zu entringen, und plötzlich hatte Skar Lust, sie zu ohrfeigen.

Er tat es nicht, aber Kiina schien abermals zu spüren, was in ihm vorging, denn sie hörte auf, an seinem Arm zu zerren und beschränkte sich darauf, ihn trotzig anzufunkeln, während sie ein paar Schritte weiter vor dem brennenden Kadaver zurückwichen. Skars Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war. Im Grunde konnte er Kiina sehr gut verstehen. An ihrer Stelle hätte er vielleicht nicht anders gehandelt.

Sie sahen schweigend zu, wie der Kadaver der Sternenbestie verbrannte. Es ging sehr schnell. Der aufgedunsene Balg brannte wie trockener Zunder. Sie konnten zusehen, wie er in den Flammen zusammenschrumpfte und zu einem kleinen, glühenden Etwas wurde, das träge zu Boden stürzte, als die Flammen auf das Netz übergriffen und es ebenfalls verzehrten. Vorhin, als er mit dem Schwert einen der Stränge zerschnitten hatte, hatte er gespürt, wie hart und trocken die Fäden geworden waren. Kiina täuschte sich. Mit klopfendem Herzen gingen sie weiter, als keine Gefahr mehr bestand, von einem herunterstürzenden Teil des Gewebes getroffen zu werden. Die Flammen des brennenden Netzes erfüllte die Höhle mit zuckendem Feuerschein und Schatten, in die Skars überreizte Nerven Bewegung hineinzauberte. Nicht, daß das nötig gewesen wäre. Was sie sahen, das war ein Bild aus einem Alptraum; schlimmer noch - es war Wirklichkeit, die die Phantasie überholt hatte.

In der Höhle befanden sich die Kadaver von mehr als einem Dutzend Drachen. Die meisten waren zu Boden gestürzt, aber einige standen auch aufrecht da, in absurden Stellungen eingewoben in die Fäden des schwarzen Netzes, das die Höhle in ein Labyrinth sich überschneidender Fäden und dunkler Klumpen verwandelte. Der Felsensaal war nicht sehr groß, verglichen mit der zyklopischen Höhle, durch die sie gekommen waren, aber sie war noch immer riesig. Trotzdem erfüllte das abgestorbene schwarze Gewebe ihr hinteres Drittel so dicht, daß ein Durchkommen dort fast unmöglich sein mußte. Darin eingewoben, wie Beute in schwarzen Kokons - vielleicht waren sie es -, dunkle Umrisse, die im flackernden Feuerschein nicht zu identifizieren waren. Selbst aus Ritzen und Spalten des Bodens kräuselten sich abgestorbene schwärzliche Fäden, wo das Netz den Felsen aufgebrochen und durchdrungen hatte.

Lange, endlos lange standen sie einfach da und starrten auf das Bild des Entsetzens herab, das sich ihnen bot, schweigend, jeder in seiner eigenen Angst gefangen. Es fiel Skar nicht sehr schwer, in Gedanken nachzuvollziehen, was hier geschehen war: Hier, genau hier, mußte es begonnen haben. Es war dieser Ort, das Zentrum von Elays Macht, an dem die Bestie, die die Bewohner der Stadt später den Wächter nannten, zuerst zugeschlagen hatte, mit aller Macht und lange, ehe sie begann, ihr finsteres Gespinst nach oben zu schicken. Die Stadt war schon gefallen, ehe seine Bewohner auch nur ahnten, daß sie überhaupt angegriffen wurden.

Kiina hob die Hand und deutete auf eine titanische Echse, die halb zusammengebrochen, halb auf den Hinterläufen stehend, in einem Gewirr schwarzer, schenkelartiger Netzfäden hing. »Das ist Elah«, flüsterte sie.

Skar sah sie fragend an, und Kiina fügte hinzu: »Der Drache der Margoi.«

Skar besah sich das Tier ein zweites Mal. Es war der mit Abstand größte Drache, der hier sein Grab gefunden hatte, und er unterschied sich auch sonst von den übrigen Tieren. Seine Haut war grau und glänzte wie poliertes Eisen, und in das Horn des riesigen Stachelkranzes über seinem Schädel war ein schmaler Sattel eingeschnitten worden. Seine Augen waren so groß wie Skars geballte Fäuste und strahlten selbst im Tode noch Wildheit aus. Dann erinnerte er sich, wo er ein solches Tier schon einmal gesehen hatte: es war ein Staubdrache, die wildeste und größte Bestie, die auf Enwor bekannt war. Selbst den Errish gelang es nur sehr selten, ein solches Tier zu zähmen.

Fast gegen seinen Willen drehte er sich herum und sah zu den verglühenden Resten der Sternenbestie hinüber. Der Gedanke, daß selbst ein Ungeheuer wie der Staubdrache dem Monster erlegen war, erschien ihm absurd und ungerecht. Die Drachen waren - auch wenn sie fast immer den Tod brachten - ein Teil ihrer Welt, erschaffen von der gleichen Macht, die ganz Enwor erschaffen hatte, aber die Kreaturen von den Sternen waren... anders. Fremd. Fremd u... vielleicht nicht einmal böse, aber so völlig verschieden von ihnen, daß eine Verständigung einfach nicht denkbar war.

Dann erkannte er den Fehler in dieser Überlegung und zwang sich, den Gedanken abzubrechen.

Ein dumpfes Poltern und Bersten ließ ihn aufsehen. Der Brand hatte auch auf einen Teil dieses Netzes übergegriffen und breitete sich aus, nicht so schnell, daß sie in irgendeiner Gefahr gewesen wären, aber doch rasch genug, um auch die Stabilität dieses zweiten, größeren Netzes zu erschüttern. Einer der Drachenkadaver war zur Seite gestürzt; brennende Fäden regneten auf ihn herab. »Laß uns gehen«, sagte Skar schaudernd. »Bevor hier alles zusammenbricht.«

»Da hinten... ist etwas«, sagte Kiina.

Skar sah kurz in die Richtung, in die sie starrte, und schüttelte den Kopf. »Da ist nichts, Kind«, sagte er sanft. »Nur Schatten.«

»Da ist jemand!« beharrte Kiina. »Etwas hat sich bewegt.« Sie machte einen Schritt. Skar hielt sie zurück, aber Kiina riß sich mit erstaunlicher Kraft wieder los. Skar wollte wieder nach ihr greifen, um sie zum zweiten Mal zurückzureißen - und dann erkannte er, daß sie recht hatte. Nur wenige Dutzend Schritte vor ihnen, halb im Schatten des toten Staubdrachen verborgen, bewegte sich wirklich etwas. Er konnte nicht erkennen, ob es Mensch oder Tier oder etwas anderes war.

»Glaubst du mir jetzt?« fragte Kiina.

Skar gebot ihr mit einer warnenden Geste zu schweigen, machte eine zweite, befehlende Handbewegung, daß sie zurückbleiben sollte, und ging vorsichtig auf den toten Drachen zu. Kiina tat genau das, was er erwartet hatte - sie ignorierte seinen Befehl und folgte ihm in weniger als zwei Schritten Abstand. Skar näherte sich dem Tier in einem weiten Bogen, obwohl er dabei in unangenehme Nähe der Flammen geriet. Aber er hatte kein Vertrauen in die Festigkeit des abgestorbenen Gewebes, das den tonnenschweren Kadaver stützte. Er war nicht besonders erpicht darauf, unter dem zusammenbrechenden Drachen begraben zu werden.

Die Bewegung wiederholte sich, und wie um die Szene besser zu beleuchten, loderten die Flammen hinter ihnen plötzlich heller auf und durchbrachen den Schatten mit roter Glut, so daß Skar jetzt erkennen konnte, was sie verursacht hatte.

Es war ein Mensch. Eine schmale, in ein schmuckloses schwarzes Kapuzengewand gehüllte Gestalt, die verkrümmt und mit angezogenen Armen und Beinen wie ein Embryo auf der Seite lag und sich schwach bewegte. Eine Errish.

Kiina schrie auf, stürmte an ihm vorbei und fiel neben der Ehrwürdigen Frau auf die Knie herab. Ein leises Stöhnen drang unter der Kapuze hervor, als Kiina versuchte, sie auf den Rücken zu drehen. Die grausame Karikatur einer Hand kroch aus den Falten des schwarzen Gewandes und tastete zitternd nach Kiinas Gesicht, und fast im gleichen Moment schrie Kiina so gellend und voller Entsetzen auf, daß Skar die letzten Schritte bis zu ihr mit einem Satz überwand und sie instinktiv zurückriß. Gleichzeitig hob er das Schwert.

Kiina schlug seinen Arm beiseite, wobei sie sich einen langen, blutigen Kratzer an der Klinge des Tschekal zuzog, ohne es auch nur zu bemerken. »Steck die Waffe weg!« herrschte sie ihn an. »Bist du wahnsinnig, Satai? Das ist die Margoi!«

Skar schob Kiina kurzerhand zur Seite, legte das Schwert aber wenigstens neben sich auf den Boden, als er sich vor der Gestalt im schwarzen Mantel in die Hocke sinken ließ.

»Rühr sie nicht an!« drohte Kiina. »Ich warne dich - rühr sie nicht an!«

Ein schwaches Stöhnen drang aus den Schatten unter der Kapuze, dann eine Stimme, die Stimme einer jungen Frau, die trotzdem auf schreckliche Weise so müde und brüchig klang wie die einer Greisin.

»Laß ihn, Mädchen. Er wird... mir nichts antun.«

Skar versuchte, die Schatten unter dem Mantel mit Blicken zu durchdringen, aber es gelang ihm nicht richtig. Er erkannte die schemenhaften Umrisse eines Gesichtes, aber etwas daran war falsch. Beunruhigend. Die verkrüppelte Hand bewegte sich vor ihm über den Boden und verschwand raschelnd wieder in den Falten des Gewandes; wie eine Spinne, die nur kurz ihr Nest verlassen hatte, um nach Beute Ausschau zu halten, dachte Skar schaudernd. Plötzlich wurde ihm bewußt, daß die Worte der Margoi als Frage gemeint waren. Fast hastig schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er. »Das werde ich nicht. Hat sie recht? Du bist die Margoi?« Die Errish hustete qualvoll, dann nickte sie. »Ich war es. Oder ja, ich bin es.« Sie lachte ganz leise und bitter und voller Schmerz. »Aber ich bin tot, Satai. Die tote Königin eines toten Volkes. Du bist doch ein Satai? Das ist... Satai-Kleidung, die du trägst.« Das Schattengesicht unter der Kapuze bewegte sich, und Skar glaubte zu erkennen, wie sich die Augen angestrengt verengten. »Das ist der Mantel eines... Hohen Satai?«

»Ich bin Skar«, antwortete Skar.

»Skar.« Die Margoi wiederholte das Wort, als versuche sie etwas Vertrautes in seinem Klang zu erkennen. Dann, nach einer Weile, nickte sie. »Oh, ja, ich erinnere mich. Das Mädchen... ging, um... um dich zu holen. Wie war doch gleich sein Name?«

»Kiina«, antwortete Kiina. Sie ließ sich neben Skar auf die Knie sinken und warf ihm einen irritierten Blick zu. Skar schüttelte fast unmerklich den Kopf. Der Geist der Sterbenden begann sich zu verwirren, schon der Klang ihrer Stimme machte das klar. Sie hatten eine Überlebende gefunden, aber sie waren zu spät gekommen, um sie zu retten.

»Kiina. Ja, ich erinnere mich. Du bist... Gowennas Tochter.« Sie versuchte, sich aufzurichten, aber ihre Kraft reichte nicht. Mit einem schmerzhaften Keuchen sank sie zurück und stöhnte leise. Ihre Hand glitt kraftlos unter dem Mantel hervor und berührte Skars Bein. Er mußte mit aller Macht den Impuls unterdrücken, sie beiseite zu schlagen. Die Berührung war unangenehm: kalt und naß und viel mehr wie die toten als lebenden Fleisches, und auch Kiinas Augen weiteten sich erschrocken, als sie sie zum zweiten Mal und jetzt wohl deutlicher sah. Sie war nicht wirklich verkrüppelt, aber so ausgezehrt und verkrümmt, daß sie so wirkte. Die Haut war bleich und trocken und gerissen und über und über mit Geschwüren und nässenden Wunden übersät. Sie hatte keinen einzigen Fingernagel mehr.

»Was ist... geschehen, Herrin?« flüsterte Kiina entsetzt. »Ihr seid verwundet. Wer hat euch das angetan?«

»Ich selbst«, antwortete die Margoi. »Der Staub. Ich war...« Sie brach ab, rang mühsam nach Atem und machte eine bittende Handbewegung. »Helft mir, mich... aufzusetzen«, flüsterte sie. »Erschreckt nicht. Ich biete keinen... schönen Anblick.«

Kiina wollte sich vorbeugen, aber Skar schob ihre Hand mit sanfter Gewalt beiseite, griff unter die Arme der Margoi und richtete sie auf. Als er sie behutsam gegen die Flanke des toten Drachen lehnte, spürte er, wie dünn und zerbrechlich der Körper unter dem schwarzen Stoff war. Er zögerte einen winzigen Moment, ehe er die Hand hob und die Kapuze des Mantels zurückschlug. Er wünschte sich fast, es nicht getan zu haben. Kiina gelang es nicht mehr ganz, einen entsetzten Aufschrei zu unterdrücken, und auch Skar preßte erschrocken die Lippen aufeinander und kämpfte sekundenlang gegen den Impuls, die Augen zu verschließen. Was mit der Hand der Margoi geschehen war, hatte auch vor ihrem Gesicht nicht haltgemacht. Was unter der Kapuze verborgen gewesen war, das war ein Totenschädel, kahl, bedeckt mit rissiger Pergamenthaut und von eiternden Wunden entstellt. Eines der Augen der Margoi war blind, überzogen von einem milchigen Netz, und der Mund hinter den entzündeten Lippen hatte keine Zähne mehr. »Großer Gott!« wimmerte Kiina. »Was ist mit Euch geschehen?«

Der Totenschädel der Margoi verzerrte sich zu einer Grimasse, die wohl der Versuch eines Lächelns sein sollte. »Nur die gerechte Strafe der Götter, Kind«, flüsterte sie. »Wir haben bekommen, was wir... verdient haben.«

»Unsinn«, widersprach Skar. »Ihr -«

»Du«, unterbrach ihn die Margoi plötzlich mit kraftvoller, fast energischer Stimme, »solltest besser als dieses dumme Kind wissen, wovon ich spreche. Es war eine von uns, die die Götter aus ihrem Schlaf riß, damals in Combat. Wäre es ein Satai gewesen, würdest du mir nicht widersprechen.«

Aber es war ein Satai, dachte Skar bitter. Ich war es, der den Stein der Macht aus der Stadt brachte und damit das Siegel erbrach, das sie so lange gebannt hat. Aber das sprach er nicht aus. Die Margoi wußte es so gut wie er. Ebenso, wie sie wußte, daß keiner von ihnen wirklich geahnt hatte, was er tat. Sie waren alle nur Werkzeuge gewesen. Werkzeuge einer Macht, die sie vielleicht auch heute noch nicht verstanden. Vela war auf ihre Weise so unschuldig oder schuldig wie er selbst.

»Was ist passiert?« fragte er. »Wer hat Elay angegriffen? Hat der Wächter das getan?«

»Der Wächter?« Die Margoi schüttelte den Kopf. »Nein. Er... starb.«

»Er starb?« wiederholte Skar fragend. »Einfach so?«

»Vor elf Tagen«, bestätigte die Margoi. »Vielleicht auch vor zwölf. Ich weiß nicht. Ich bin... schon so lange hier unten. Er zerfiel, und wir waren... frei.«

»Aber sie sind alle tot!« sagte Kiina. »Elay liegt in Trümmern, Herrin! Jemand hat sie alle getötet!« Skar warf ihr einen warnenden Blick zu, aber Kiinas Selbstbeherrschung war aufgebraucht. Der Anblick der sterbenden Margoi war mehr, als sie noch ertragen konnte. »Wer hat das getan?!«

»Niemand«, antwortete die Margoi leise. Ihr einzelnes, sehendes Auge richtete sich auf Kiina, und für einen Moment glaubte Skar trotz des unendlichen Schmerzes und des beginnenden Wahnsinns darin Mitleid in ihrem Blick zu erkennen. »Wir selbst waren es, Kiina.«

»Ihr... selbst?«

Skar war nicht einmal überrascht. Und Kiina hätte es auch nicht sein dürfen. Sie wußten beide längst, was geschehen war. Die toten Errish oben in der Stadt, die Häuser, von Scannerschüssen niedergebrannt, der Drache, der den Palast angegriffen haben mußte - das alles hatte eine eindeutige Sprache gesprochen; deutlich genug, daß selbst Kiina die Wahrheit erkannt haben mußte. Aber keiner von ihnen hatte es gewagt, sie auszusprechen; vielleicht, weil er Angst hatte, sich mitschuldig zu machen, einen Teil der Verantwortung für diesen Wahnsinn zu übernehmen, dadurch, daß er es aussprach.

»Es begann am nächsten Tag«, berichtete die Margoi mit schwacher, aber sehr klarer Stimme. »Vielleicht auch unmittelbar danach. Niemand... bemerkte es zuerst. Wir alle waren wie... wie betäubt. Es war wie ein böser Traum, aus dem wir nur allmählich erwachen konnten. Und manche wachten nicht auf. Viele starben, als der Wächter verging, und andere wurden wahnsinnig. Einige... flohen. Aber nicht sehr viele.« Ihre Stimme wurde leiser und erstarb völlig. Sie verlor nicht das Bewußtsein, aber sie brauchte sichtlich eine kurze Pause, um neue Kraft zum Weiterreden zu sammeln.

Skar sah sich besorgt in der Höhle um. Die Flammen hatten weiter um sich gegriffen, breiteten sich aber durch einen glücklichen Umstand fast in der entgegengesetzten Richtung aus. Trotzdem blieb ihnen nicht mehr viel Zeit. Noch Minuten, und die Höhle würde sich in eine Hölle verwandeln, in der sie die Wahl zwischen Ersticken und Verbrennen hatten.

»Sie begannen... zu kämpfen«, fuhr die Margoi fort.

»Kämpfen?« Kiina hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Wer? Warum?«

»Es gab kein Warum. Es waren... die Träume. Manche starben einfach, andere... viele... sprangen plötzlich auf und griffen ihre Brüder und Schwestern an. Es dauerte eine Nacht und einen Tag und eine weitere Nacht, und danach... waren die meisten tot. Nicht alle, aber die meisten. Manche von uns, die Stärksten, konnten widerstehen. Auch ich. Oh, es war schwer, unendlich schwer. Da war... so viel Zorn in meinen Gedanken, so viel Haß...« Sie brach ab, hustete qualvoll, hob die Hand nach Skars Gesicht und ließ sie auf halbem Wege wieder sinken; Skar wußte nicht, ob aus Schwäche, oder weil sie ahnte, wie unangenehm ihm ihre Berührung sein mußte. »So viel Haß...«

Kiinas Blick war hilflos und unverstehend, aber Skar begriff nur zu gut, was die Margoi meinte. Er selbst hatte es mehr als einmal gespürt, dieses böse dunkle Flüstern aus den Abgründen seiner Seele, das ihn dazu bringen wollte, zu vernichten, zu töten und zerstören, gleich wen und was. Vielleicht war es die letzte, ultimative Waffe der Sternengeborenen, der böse Teil der menschlichen Seele, die Bestie, die in jedem Menschen lauerte, die sie entfesselten.

»Und dann kam der Staub«, flüsterte die Margoi, nachdem sie wieder einigermaßen zu Atem gekommen war. »Er wehte vom Meer heran, und er tötete... alle. Wie der... der Atem meines Drachen, nur hundertmal... tödlicher. Ist er... noch da?«

»Der Staub?« Skar nickte. »Ja. Überall. Der Regen wäscht ihn fort, aber er ist noch da.«

Auf dem zerfallenen Gesicht machte sich Schrecken breit.

»Habt ihr ihn berührt? Ihn eingeatmet?«

Skar nickte widerstrebend. »Ich fürchte. Aber nicht sehr viel.«

»Er ist nicht mehr gefährlich«, fügte Kiina hinzu. »Sieh uns an. Wir leben. Und wir bringen Euch hier heraus.«

»Du irrst dich, Kind«, widersprach die Margoi. »Sieh mich an. Es war der Staub, der mir dies angetan hat. Ich... konnte fliehen. Ich stand oben im Turmzimmer, als der Sturm begann, und etwas ... warnte mich. Ich war feige und floh hierher, zu Elah und den anderen, um zu sterben.« Sie schwieg wieder, länger als eine Minute, und diesmal nicht aus Schwäche, sondern einfach, weil die Erinnerungen sie zu überwältigen drohten.

»Ich war feige«, wiederholte sie schließlich. »Ich ließ mein Volk im Stich, statt mit ihm zu sterben, wie es meine Pflicht gewesen wäre. Zwei Tage und Nächte blieb ich hier unten, und als ich zurückkam, da... da gab es kein Elay mehr. Aber ich berührte den Staub.«

»Wir werden Euch helfen!« sagte Kiina verzweifelt. »Wir bringen Euch hier heraus und... und werden Euch helfen. Ich verstehe eine Menge von der Heilkunst, mehr als Ihr glaubt. Meine Mutter -«

»Sei endlich still«, sagte Skar. Kiina brach mitten im Wort ab und starrte ihn aus tränenerfüllten Augen an, und Skar wandte sich wieder an die Margoi. »Es tut mir so leid«, sagte er.

»Leid?« Die Errish lachte leise. »Das muß es nicht, Satai. Es ist die gerechte Strafe für meine Feigheit. Ich hatte Angst zu sterben. Ich wollte leben, und für einen Moment war es mir gleich, ob mein Volk lebt oder nicht.«

»Du hättest es nicht verhindern können.«

»Aber ich hätte mit ihnen sterben können«, sagte die Margoi. »Ich sah, wie sie stürzten, im Bruchteil einer Sekunde, und ich hatte nur Angst.« Wieder lachte sie. »Ich hatte Angst vor einem schnellen Tod und tauschte ihn gegen das hier ein. Die Götter sind gerecht, Skar. Sie haben mich für das bestraft, was ich tat. Und sie haben Elay für das bestraft, was Vela getan hat.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Skar, sanft, aber sehr bestimmt. »Was immer es war, das Elay zerstört hat - es sind Wesen wie wir, die es entfesselten.«

»Wesen wie wir?« Die Margoi sah ihn auf sonderbare Weise an, und für einen Moment war Skar fast sicher, daß sie sein Geheimnis kannte. Aber wenn es so war, dann zog sie es vor, darüber zu schweigen.

»Vielleicht keine Wesen wie wir«, sprach er weiter. »Aber sie sind sterblich. Sie leben, und was lebt, kann getötet werden. Unsere Vorfahren haben sie schon einmal besiegt.«

»Die Alten hatten die Macht von Göttern«, widersprach die Margoi. »Wir Errish haben uns immer eingebildet, die Erben ihrer Macht zu sein, aber du hast gesehen, wie leicht sie uns überwältigen konnten.«

»Und doch war es eine Errish, die uns die Rettung brachte«, sagte Skar. Er verschwieg absichtlich, daß das Wasser des Lebens versagt hatte. Was hätte es genutzt, einer Sterbenden unnötig weh zu tun?

»Miri hat euch erreicht?«

»Eine dunkelhaarige Errish auf einer riesigen Daktyle«, sagte Skar. »Sie trug die Haut eines Ultha als Rüstung.« Kiina sah ihn fragend an, aber er spürte, daß ihnen nur noch sehr wenig Zeit blieb, und fuhr mit leiser, eindringlicher Stimme und sehr schnell fort: »Sie starb, ehe sie die Burg erreichte, aber ich fand ihren Leichnam. Und das, was sie brachte.«

»Dann war nicht alles umsonst«, flüsterte die Margoi. »Ich wußte von ihrem Plan und versuchte ihn zu vereiteln, als ich unter dem Einfluß des... Wächters stand, aber es gelang mir nicht. Ich bin sehr froh.«

Ein Teil des Netzes stürzte brennend im hinteren Drittel der Höhle zusammen, und Skar spürte das Beben, das durch den Körper des toten Staubdrachens ging, an dem die Margoi lehnte. Der Flammenschein wurde heller und die Luft merklich wärmer. »Ihr müßt... gehen«, flüsterte die Margoi. »Rasch, ehe es zu spät ist. Kümmert euch nicht um mich.«

Skar war der Verzweiflung nahe. Es gab so viele Fragen, die er ihr hatte stellen wollen, auf die er eine Antwort haben mußte, wenn nicht alles umsonst gewesen sein sollte. Gleichzeitig wußte er, daß sie recht hatte. Ihnen blieben allerhöchstens noch Sekunden.

»Herrin...«, wimmerte Kiina.

»Kümmert euch nicht um mich«, wiederholte die Margoi. »Ich bin hierhergekommen, um zu sterben. Bei Ehla, bei... den anderen. Geht. Geht nach... Norden. Geht ins Land der Quorrl. Vielleicht ... findest du dort die Antworten, die du suchst.« Sie lachte, hustete wieder und lachte noch einmal. »Oder die Fragen, die zu den Antworten passen, die du schon kennst.«

»Und Ihr?« fragte Skar.

Die Margoi blickte ihn an, und er begriff. Mühsam stand er auf, zwang auch Kiina mit sanfter Gewalt auf die Füße und blickte das brennende Netz über ihren Köpfen an. Die Flammen wogten wie ein Himmel aus Feuer unter der Höhlendecke. Es wurde heißer. »Geht nicht durch die Stadt zurück«, sagte die Margoi. »Der Staub ist noch immer gefährlich, und ihr müßt... leben. Kiina muß leben. Sie ist... die Tochter der Margoi. Vielleicht die letzte Errish, die es noch gibt.« Sie sah zu Skar auf. »Du wirst sie beschützen?«

»Das werde ich«, versprach Skar.

»Dann geht«, sagte die Margoi. Mit einer Kraft, die Skar ihr nicht mehr zugetraut hätte, richtete sie sich weiter auf und streckte ihm die Hand entgegen. Erst jetzt fiel ihm der kleine, silberne Ring auf, den sie am Mittelfinger trug. »Nimm ihn«, flüsterte sie. »Es ist der... Ring der Ehrwürdigen Mutter. Vielleicht gibt es niemanden mehr, der ihn erkennt, aber wenn, dann... wird er dir nutzen.«

»Euer Ring?« Skar zögerte. Er wußte, was der schlichte Ring bedeutete.

»Ich schenke ihn dir nicht«, antwortete die Margoi. »Gib ihn Kiina, wenn sie alt genug ist.«

Skar zögerte. Hitze und Flammen kamen näher und machten sich bereits mehr als unangenehm bemerkbar, aber alles in ihm sträubte sich dagegen, die Hand der Sterbenden zu berühren und das Symbol ihrer Macht an sich zu nehmen. Schließlich tat er es doch, aber er hatte das Gefühl, glühendes Eisen zu berühren. »Und du, Kiina - komm her.«

Kiina gehorchte. Während Skar zwei, drei Schritte zurückwich, kniete sie zitternd neben der sterbenden Errish nieder. Skar sah, wie sich die Lippen der Margoi bewegten, aber die Worte waren so leise, daß er sie nicht verstand. Und er wollte es auch nicht. Ohne zu wissen, worüber die beiden so ungleichen Frauen sprachen, begriff er, daß es etwas war, das ihn nichts anging. Sie sprachen nicht lange miteinander, nur wenige Sätze, aber in die Qual auf Kiinas Zügen mischte sich Schrecken, während sie den Worten der Margoi lauschte. Für einen kurzen Moment starrte sie ihn an, und der Blick, mit dem sie ihn musterte, spiegelte pures Entsetzen. Skar ahnte, was in ihr vorging. Er wußte, was die Margoi von Kiina erwartete; eine letzte Pflicht, die er ihr gerne abgenommen hätte. Aber er durfte es nicht. Er wußte, daß Kiina ihn hassen würde, wenn er es tat.

Schließlich wandte sie sich wieder der sterbenden Errish zu, nickte kaum merklich und beugte sich vor, um ihre Stirn zu küssen.

Skar wandte sich um, als er sah, wie Kiina den Dolch aus dem Gürtel zog.

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