9.

Die Nacht des Wahnsinns war noch nicht zu Ende. Die Quorrl hatten schließlich einen Platz für die Nacht gefunden, nicht so weit vom Lager der Errish entfernt, daß sie sich aus den Augen verloren, aber weit genug, das Risiko einer zufälligen Konfrontation auszuschließen: eine Höhle, eine halbe Meile über Anschis Lager, geräumig genug, den Rest von Titchs zerschlagener Armee aufzunehmen, deren Eingang aber gleichzeitig klein genug war, um ihn leicht verteidigen zu können. Nicht daß Skar glaubte, daß dies irgend etwas nutzte: Er beobachtete die Anweisungen, die Titch dem Quorrl am Eingang der Höhle gab, mit dem sicheren Gefühl, etwas völlig Sinnloses zu sehen. Welche Gefahr es auch immer war, der sie gegenüberstanden, es war keine, der sie mit Waffen oder Körperkraft begegnen konnten.

Sie entzündeten ein Feuer, und nach einer Weile wurde es behaglich warm in dem kleinen Felsendom. Skar hockte sich neben Titch an die Feuerstelle, zog den nassen Mantel aus und hielt die Hände über die prasselnden Flammen. Die Wärme tat ihm gut. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl. Die winzige Höhle erschien ihm viel mehr Gefängnis als Schutz. Sie sollten nicht hier sein. Nicht einmal in diesem Teil der Welt. Es war falsch gewesen, Kiinas Bitten zu folgen und den Umweg über Elay zu machen, anstatt direkt in den Norden zu reiten, wie sie ursprünglich geplant hatten.

Nach einer halben Stunde meldete der Posten am Ausgang, daß jemand kam. Titch wollte aufstehen, aber Skar schüttelte rasch den Kopf und ging selbst, um nachzusehen.

Im ersten Moment war er fast blind, denn seine Augen hatten sich an das grelle Licht des Feuers gewöhnt, und der Himmel hatte sich wieder in Wolken gehüllt, so daß die Nacht schwärzer war denn je. Aber dann erkannte er Kiina, die gebückt und ungeschickt den geröllübersäten Hang vor der Höhle heraufkletterte.

Als sie zu ihm in die Höhle trat, waren ihre Kleider und ihr Haar schwer vom Regen. Schaudernd streifte sie den nassen Umhang ab, trat an das Feuer und ließ sich davor in die Hocke sinken. Sie sah noch immer krank aus, fand Skar, aber es war jetzt kein Siechtum mehr, das ihr Gesicht zeichnete, sondern die Blässe beginnender Rekonvaleszenz. Offensichtlich war es so, wie er vermutet hatte: Kiinas Körper war dem Ansturm des giftigen Staubes einfach eher erlegen als der seine, ganz einfach, weil sie schwächer war als er. Aber sie hatte die Krise auch schneller überwunden. Skar wagte gar nicht daran zu denken, was hätte geschehen können, hätten sie Elay drei oder vier Tage früher erreicht.

»Bringst du Nachrichten von Anschi?« fragte er, als Kiina auch nach einer Weile keine Anstalten machte, irgend etwas zu sagen, sondern nur fröstelnd die Hände über dem Feuer aneinanderrieb. Sie wich seinem Blick aus, aber Skar bemerkte auch, daß sie es fast krampfhaft vermied, einen der Quorrl anzusehen. »Ja«, sagte sie schließlich. »Oder nein. Eher Neuigkeiten über Anschi.« Skar blickte fragend, aber Kiina sprach nicht weiter. Ihr Blick irrte durch das schattenverhüllte hintere Drittel der Höhle, als suche sie etwas. Skar begriff.

»Einer von Titchs Männern ist schwer verletzt«, sagte er.

»Kannst du nach ihm sehen?«

Natürlich konnte Kiina das nicht, und der überraschte Blick, den Titch ihm zuwarf, sagte ihm sehr deutlich, daß auch der Quorrl das wußte. Trotzdem erhob er keine Einwände, als Kiina nach kurzem Zögern nickte und zu der schlafenden Gestalt des Kriegers trat. Skar folgte ihr, während Titch reglos hocken blieb und so tat, als wäre er im Sitzen eingeschlafen. Skar war klar, daß der Quorrl jedes Wort verstehen mußte, selbst wenn sie flüsterten. Seine Sinne waren ungleich schärfer als die eines Menschen. Aber offensichtlich wußte Kiina das nicht.

Sie beugte sich über den schlafenden Quorrl, betastete mit spitzen Fingern die verbrannten Hornschuppen auf seiner Schulter und seinem Gesicht und schüttelte mit übertrieben geschauspielerter Gestik den Kopf. »Viel kann ich nicht für ihn tun«, sagte sie laut. »Ich habe keine Medizin, und... und auch nicht sehr viel Erfahrung in solchen Dingen. Ich kann versuchen, seine Schmerzen ein wenig zu lindern, das ist alles.« Sie beugte sich noch weiter vor und drehte den Kopf, so daß Titch nicht mehr sehen konnte, daß sich ihre Lippen weiterbewegten, und fügte im Flüsterton hinzu: »Wir müssen weg hier, Skar. So schnell wie möglich.«

»Und warum?« erwiderte Skar ebenso leise.

Kiinas Finger glitten über den Hals des bewußtlosen Quorrl und suchten nach Nervenknoten, die es vielleicht im Körper eines Menschen gab, aber nicht in seinem. Alles, was sie tat, war, seine Schmerzen zu verschlimmern, dachte er bedrückt.

»Die Errish«, antwortete Kiina. »Etwas... geht im Lager vor. Ich weiß nicht, was, aber es macht mir angst. Sie sind so voller Haß.« Sie sah auf. Ihre Augen waren dunkel vor Furcht. »Einige wollen die Quorrl angreifen, Skar. Anschi kann sie noch zurückhalten, aber ich weiß nicht, wie lange noch. Sie streiten ununterbrochen.«

»Die Quorrl angreifen? Aber das ist doch Wahnsinn! Warum? Wir sind Verbündete!« Warum stellte er diese Frage? Er wußte doch zehnmal besser als Kiina, was geschah.

»Sie machen sie für den Tod der anderen verantwortlich«, antwortete Kiina. »Sie wollen Rache für Yuls Tod. Und dafür, daß ihr Versuch mißlang, den Dronte zu beeinflussen. Und sie mißtrauen auch dir, weil du bei den Quorrl bleibst statt bei ihnen. Sie werden angreifen, ob du hier bist oder nicht. Sie wissen nicht, daß ich dich warne.«

»Dann solltest du auch zu ihnen zurückgehen, ehe sie es bemerken, Kind«, sagte eine Stimme hinter Skar.

Kiina fuhr mit einem halblauten Schrei hoch. »Du hast...«

»Jedes Wort verstanden«, unterbrach sie Titch. »Und außerdem habe ich es schon vorher gewußt.« Er machte eine Geste zum Höhlenausgang und dem Quorrl, der dort Wache hielt. »Ssart ist weder dumm noch taub oder blind. Wenn sie kommen, werden wir auf sie vorbereitet sein.«

»Red kein dummes Zeug«, sagte Skar. »Du weißt so gut wie ich, daß ein einziger Schuß mit einem Scanner in die Höhle reicht, und wir werden alle gebraten.«

Titch antwortete nicht, aber Skar wußte nur zu gut, was dieses Schweigen zu bedeuten hatte: Eine Flucht in die Berge war so unmöglich wie sinnlos, denn die Errish konnten auf den Rücken ihrer Daktylen jeden beliebigen Vorsprung aufholen. Die einzige Möglichkeit, einem Angriff zu entgehen, wäre, selbst anzugreifen. Und obwohl Titch nur noch über vier Krieger gebot, wären seine Chancen nicht einmal schlecht. Mit dem Vorteil der Überraschung auf ihrer Seite mochte es ihnen durchaus gelingen, die Errish trotz ihrer überlegenen Bewaffnung zu schlagen. Er las all dies im Blick des Quorrl, aber er spürte auch ebenso deutlich, daß Titch es aus irgendeinem Grund nicht wollte.

»Geht zurück«, sagte Titch noch einmal. »Beide. Ich verspreche euch eine halbe Stunde, ehe wir fliehen.«

Und sterben, dachte Skar. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß Anschi den Höhlenausgang beobachten ließ. Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein, Titch. Ich lasse nicht zu, daß du dich opferst. Wir alle gehen oder keiner.«

Der Quorrl machte eine Bewegung, als wolle er seine Worte wie lästige Insekten beiseite scheuchen. »Du bist mir den Tod schuldig, Satai«, sagte er. »Ich habe geschworen, dich zu begleiten, so weit es mir möglich ist. Und dann zu sterben. Ich habe mein Wort gehalten. Jetzt halte du deines.«

»Zu sterben«, wiederholte Skar in absichtlich verletzendem, höhnischem Tonfall. »O ja, ich weiß. Der große Heerführer der Quorrl, der versagt hat und seine Schande mit Blut abwaschen will, selbst wenn es sein eigenes ist. Aber so leicht mache ich es dir nicht.« Er richtete sich ganz auf und trat dem Quorrl herausfordernd entgegen. »Dein Leben gehört mir, Titch. Und ich brauche es. Ich brauche dich, denn du bist der einzige, der mich in euer Land führen kann.«

»Du wirfst mir vor, feige zu sein?« fragte Titch lauernd.

»Wenn dir dieses Wort lieber ist, bitte«, sagte Skar zornig. »Nenne es, wie du willst. Aber ich lasse nicht zu, daß du Selbstmord begehst und damit vielleicht eine ganze Welt vernichtest. Kiina und ich gehen zurück zu den Errish. Ich werde mit Anschi reden. Sie wird zur Vernunft kommen, und du und deine Männer, ihr werdet hier warten, bis ich zurück bin.«

»Ich könnte versuchen, einige ihrer Daktylen zu stehlen«, sagte Kiina.

Skar erwog diesen Vorschlag einen Moment lang ganz ernsthaft, schüttelte aber dann den Kopf. Selbst wenn es Kiina gelänge, würden sie nicht sehr weit kommen. Die Errish beherrschten die großen Flugechsen ungleich besser, als es Kiina jemals könnte. »Nein«, antwortete er. »Aber vielleicht könntest du etwas Verwirrung unter ihnen stiften - nur für den Fall, daß wir fliehen müssen.«

»Fliehen? Aber du -«

»Es wird nicht nötig sein«, unterbrach sie Skar in scharfem Tonfall. »Aber ich bin gerne auf alles vorbereitet.«

»Auch auf das, was nicht nötig ist?«

»Darauf ganz besonders.« Rasch und bevor Kiina noch mehr Schaden anrichten konnte, drehte Skar sich herum und ging an dem Quorrl vorbei zum Ausgang der Höhle hin. Kiina folgte ihm, und sie machte sogar den Versuch, ihm den Weg zu vertreten, damit er stehenblieb, trat aber im letzten Moment zur Seite, als sie auf seinem Gesicht las, daß er sie ohne zu zögern über den Haufen gerannt hätte. Skar seinerseits widerstand der Versuchung, sich noch einmal zu Titch umzudrehen, ehe er die Höhle verließ, sondern begann vorsichtig, aber sehr schnell, den abschüssigen Hang hinunterzulaufen, der die Felsenhöhle vom Lager der Errish trennte. Es gelang Kiina erst, ihn einzuholen, als sie den Fuß der geröllübersäten Halde erreicht hatten. Ärgerlich griff sie nach seinem Arm, versuchte ihn herumzureißen und steckte mit einem Fluch den Finger in den Mund, als er einfach weiterging und sie sich einen Fingernagel abbrach.

Ein Schatten vertrat ihnen den Weg, als sie Anschis Lager näher kamen. Skar hörte schwarzen Stoff rascheln, dann blitzte silberfarbenes Metall im Sternenlicht. Er spannte sich, aber dann erkannte die Errish Kiina oder ihn und trat wortlos zur Seite. Ein titanischer Schatten faltete lautlos seine Schwingen über ihnen zusammen, als sie den Posten passierten und das eigentliche Lager betraten.

Es war sehr still. Die meisten Errish schienen zu schlafen, nur vor dem Feuer hockten drei zusammengekauerte Schatten, und auf den Felsen, die das Lager überragten, erhob sich eine menschliche Silhouette zwischen den monströsen Umrissen der Daktylen. Von dem Streit, von dem Kiina berichtet hatte, sah und hörte Skar jedenfalls nichts.

Eine der kauernden Gestalten erhob sich, als sie ihre Schritte hörte. Im düsteren Rot des heruntergebrannten Feuers erkannte Skar Anschis müdes Gesicht. Sie sagte kein Wort, sondern machte nur eine sonderbar matte Bewegung zum Feuer hin, setzte sich wieder und reichte Skar wortlos eine lederne Flasche und ein kleines Holzbrett, auf dem sich ein Rest kalten Bratens befand. Skar bediente sich von beidem, obwohl er weder hungrig noch durstig war. Aber er spürte, daß es besser war, wenn er Anschi reden ließ. Sie hatte nicht die mindeste Spur von Überraschung gezeigt, ihn zu sehen; Kiinas Behauptung, sie wüßte nicht, daß sie sich fortgeschlichen hatte, um ihn zu warnen, war wohl eher Wunsch als Wirklichkeit gewesen.

»Wozu hast du dich also entschieden?« fragte sie nach einer Weile.

Skar ließ die Flasche sinken und sah Anschi über die prasselnden Flammen hinweg nachdenklich an. Die Direktheit, mit der sie zur Sache kam, überraschte ihn ein wenig. Sie paßte nicht zu der Anschi, die er bisher kennengelernt hatte. Aber vielleicht war sie einfach zu müde für lange Vorreden.

Er zuckte mit den Schultern. »Die Frage ist wohl eher, wie du dich entschieden hast«, sagte er.

Anschi lächelte müde und warf Kiina einen amüsierten Blick zu. »Sie hat dir erzählt -?«

»Das hat sie«, bestätigte Skar. »Aber es wäre nicht nötig gewesen.«

Anschis Blick wurde fragend, und Skar fügte erklärend hinzu: »Du bist nicht die einzige, die schlechte Träume hat.«

»Es sind nicht nur die Träume«, widersprach Anschi, aber ohne Nachdruck und erst nach einer geraumen Weile, in der sie aus blicklosen Augen in die Flammen gestarrt hatte.

»Sondern?«

Wieder schwieg Anschi für endlose Sekunden, die sich zu einer Minute reihten, dann noch einer und noch einer. »Ich weiß es nicht«, gestand sie schließlich. »Ich...« Sie zögerte, sah Kiina an und sprach erst weiter, als Skar ihr mit einem Nicken signalisierte, daß er keine Geheimnisse vor ihr hatte. Aber auch dann nicht sofort - sie sah auf, wandte sich mit an die beiden Errish neben ihr und sagte ein Wort, das Skar nicht verstand. Die beiden jungen Frauen standen auf und gingen wortlos davon, und Anschi wartete, bis sie außer Hörweite waren.

»Du hast recht, Skar - ich spüre es auch. Wir alle spüren es. Etwas... verändert uns. Und nicht nur uns. Das ganze Land ist eine Hölle. Jeder kämpft gegen jeden. Etwas schleicht sich in unsere Träume, und es... beeinflußt uns. Und es wird schlimmer.«

Skar dachte an das, was Anschi ihm vor wenigen Stunden über Thbarg und das Drachenland erzählt hatte. War es die gleiche, böse Macht, die auch die Menschen - und Tiere - dort veränderte, dasselbe tödliche Flüstern, das ganz allmählich auch seine Seele zu vergiften begann?

»Wie lange weißt du es schon?« fragte er.

»Lange«, gestand Anschi. »Vom ersten Tag an. Es begann, als der Wächter nach Elay kam. Vielleicht schon früher. Aber ich dachte bisher, wir wären immun dagegen. Wir sind Errish!« Der letzte Satz klang gleichzeitig stolz wie auch nach einer Verteidigung. Skar antwortete nicht. Und auch Anschi verfiel für lange Sekunden wieder in quälendes Schweigen.

Skar spürte, daß sie innerlich nicht halb so ruhig war, wie es den Anschein hatte. Hinter der Maske aus Erschöpfung und Ruhe brodelte es, und Skar dachte voller Sorge an die fast zwei Dutzend schlafender Errish, die vielleicht in genau diesem Augenblick dem bösen Flüstern der Träume ausgesetzt waren. Er wußte, daß sein Vorhaben gescheitert war, noch bevor Anschi weitersprach. Er kämpfte gegen einen Feind, der mit Worten nicht zu besiegen war. Aber mit Waffen auch nicht.

»Wir können nicht zusammen bleiben«, sagte Anschi nach einer Weile. »Ihr ... ihr dürftet nicht einmal dort oben sein. Wenn diese Quorrl wirklich deine Freunde sind, wie du behauptest, dann schick sie weg, Skar. Noch bevor die Sonne aufgeht.«

»Kiina hat mir erzählt, daß du deine Mädchen zurückgehalten hast.«

»Ich weiß nicht, wie lange noch. Noch gehorchen sie mir, aber ...« Anschi sprach nicht weiter, sondern hob einen dürren Ast auf, zerbrach ihn in kleine Stücke und warf sie ins Feuer. »Es sind nicht nur die Träume, Skar«, sagte sie. »Sie können nicht vergessen, was gestern geschehen ist. Und ich auch nicht.«

»Es war nicht Titchs Schuld.«

Anschi lachte leise. »Als ob das eine Rolle spielt«, sagte sie. »Die Quorrl und wir sind Feinde, verstehst du das nicht? Wir waren es immer, und wir werden es immer sein, ganz egal, was passiert. Du weißt, warum.«

Ja, dachte Skar. Weil ihr die Wahrheit kennt. Weil ihr wißt, daß die Quorrl im Recht sind, und wir die Eindringlinge. Die Diebe. Und deshalb haßten sie sie. Er sprach es nicht laut aus, aber Anschi schien seine Gedanken deutlich auf seinem Gesicht zu lesen, denn plötzlich mischte sich Zorn in die Müdigkeit auf ihren Zügen. »Es sind nicht nur die Träume«, sagte sie zornig. »Ich sagte es bereits: wir sind Errish. Wir sind nicht so leicht zu beeinflussen wie deine Quorrl-Freunde oder ein paar Tiere. Die Mädchen können nicht vergessen, was geschehen ist. Yul und die meisten meiner Schwestern sind tot.«

»Es war nicht ihre Schuld«, wiederholte Skar.

»Es geschah, weil sie da waren«, beharrte Anschi. »Sie haben alles zerstört, wofür wir in den letzten Monaten gekämpft haben, und es spielt überhaupt keine Rolle, warum und wie. Selbst wenn ich dir helfen wollte, Skar, ich könnte es nicht einmal. Schon heute fiel es mir schwer, sie zurückzuhalten. Ich bin nicht Yul.«

Die Offenheit dieses Eingeständnisses überraschte Skar. »Du widersprichst dir selbst«, sagte er ruhig. »Du -«

»Es bleibt dabei, sie müssen gehen«, unterbrach ihn Anschi. »Dann begleite ich sie.«

Anschi seufzte. »So weit waren wir schon einmal, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht«, sagte sie abfällig.

»Seither hat sich nichts geändert. Jedenfalls nicht für mich.«

»O doch, das hat es«, widersprach Anschi aufgebracht. »Etwas... geschieht hier, Skar. Etwas hat sich verändert, und ich weiß, daß du es ebenso deutlich fühlst wie ich.«

Skar sah nach Süden, wo die Ebene lag, verborgen hinter den Schleier der Nacht, und er dachte an die Woge lebendig gewordener Finsternis, die er in seinem Traum gesehen hatte. Es war keine Einbildung gewesen. Der Daij-Djan hatte versucht, ihm etwas zu zeigen, nur war er nicht in der Lage, es zu erkennen. Noch nicht. Er hoffte, daß es nicht zu spät war, wenn er es erkannte.

»Das ist dein letztes Wort?« fragte Anschi in das immer unangenehmer werdende Schweigen hinein.

Skar konnte sich nicht erinnern, überhaupt etwas gesagt zu haben, aber er wußte, was sie meinte, und nickte stumm.

»Dann gibt es nur noch einen Weg, das Schlimmste zu verhindern«, sagte Anschi entschlossen. »Wir werden gehen. Noch in dieser Nacht.«

»Ich brauche dich«, sagte Skar. »Ich kam nach Elay, weil ich die Hilfe der Margoi und ihrer Errish brauche. Ich muß wissen, was Min dort oben im Norden gefunden hat!« Er machte eine Handbewegung, als Anschi abermals widersprechen wollte, und fuhr eindringlich fort: »Ihr seid Errish, Anschi. Ihr habt gelernt, eure Gefühle zu beherrschen. Was immer es ist, das uns zu beeinflussen versucht, ihr könnt dagegen kämpfen!«

Anschi deutete ein Kopfschütteln an. »Das ist es nicht, Skar«, sagte sie traurig. »Es sind die Quorrl. Wir ertragen ihre Nähe nicht.«

»Ihr habt die Nähe der Ultha ertragen«, wandte Kiina ein. »Das war etwas anderes. Sie sind... Dinge. Nicht einmal Tiere.«

»Und sie stellen keine Gefahr dar, nicht?« fügte Skar böse hinzu. »Sie erinnern euch nicht in jeder Sekunde daran, wem diese Welt in Wahrheit gehört.«

»Sie wird bald niemandem mehr gehören, wenn es uns nicht gelingt, die Sternenge...« Anschi verbesserte sich hastig. »... die Angreifer zu identifizieren und zu besiegen. Vielleicht hast du recht, und die Lösung liegt im Norden, im Lande der Quorrl. Geh. Geh mit deinen Quorrl und versuche, sie zu finden. Meine Schwestern und ich werden hierbleiben und unseren Weg gehen.«

Es dauerte eine Sekunde, bis Skar begriff, was Anschi mit diesen Worten wirklich sagen wollte. Ungläubig starrte er sie an, und auch Kiina wurde bleich. »Du... du willst es noch einmal versuchen?« keuchte er. »Nach allem, was geschehen ist, willst du dieses Ungeheuer noch einmal rufen?«

»Es ist weniger gefährlich, als du glaubst«, sagte Anschi ernst. »Wir waren fast am Ziel. Es ist nur eine Frage des wie, Skar, nicht des wie lange. Ich bin nicht halb so stark wie Yul es war, aber sie hat mir gezeigt, was zu tun ist.«

»Du bist ja wahnsinnig«, flüsterte Kiina.

»Vielleicht«, sagte Anschi ungerührt. »Aber vielleicht ist es auch unsere einzige Chance, die Zauberpriester zu besiegen.« Sie sah Skar an. »Du hast mir erzählt, daß dein Freund Del mit seinem Heer nach Osten zieht, um Ikne und Bel-Ishtar zu befreien. Es wird ihm nicht gelingen. Ebensowenig, wie es uns gelang, die Zauberer zu schlagen.«

»Und du glaubst, die Ultha könnten es?«

»Vielleicht«, antwortete Anschi mit dem Ausdruck und der Stimme eines Menschen, der im Grund seines Herzens längst aufgegeben hatte, irgend etwas zu glauben, und einfach auf dem einmal eingeschlagenen Weg weitermacht, weil ihm die Kraft fehlte, etwas anderes zu versuchen.

»Ihr werdet alle sterben, ihr Närrinnen!« sagte Kiina.

»Möglicherweise. Aber wenn, dann ist es nur unser Leben, das wir riskieren. So wie ihr eures, weil ihr glaubt, auf dem richtigen Weg zu sein.«

»Was glaubst du, erreichen zu können?« fragte Kiina heftig. »An der Spitze einer Armee von Ultha in Ikne einziehen und die Stadt befreien?«

»Und weiter nach Süden, in das Land, aus dem die Zauberpriester kommen«, bestätigte Anschi.

Und damit genau das tun, was sie wollen, fügte Skar in Gedanken hinzu.

Und plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, sah er es ganz deutlich. Plötzlich wußte er, was geschehen würde. Vielleicht hatte dieses halbe Kind sogar Erfolg, vielleicht auch Del, der trotz des Abzuges der Quorrl noch immer über ein gigantisches Heer von mehr als zwanzigtausend Männern gebot, und vielleicht schlugen sie die Zauberpriester. Aber das war ganz egal.

»Ihr dürft das nicht tun, Anschi«, sagte er leise.

Die Errish legte den Kopf auf die Seite und sah ihn fragend an. »Es sind... die Träume, verstehst du nicht?« murmelte Skar leise mit zitternder Stimme und entsetzt von dem, was so deutlich gewesen war, daß er einfach nicht verstand, warum er es erst jetzt wirklich begriff. »Die gleiche Macht, die unsere Träume verändert! Du hast es selbst gesagt - es begann schon vor Monaten, vielleicht noch viel eher. Und es wirkt nicht nur hier, sondern überall!«

Anschi verstand offensichtlich immer noch nicht, was er sagen wollte, und auch auf Kiinas Gesicht erschien ein fragender Ausdruck, aber Skar sprach nicht weiter. Plötzlich begriff er, daß es völlig gleich war, ob Del die Schlacht um Ikne gewann oder verlor - was zählte, war, daß er sie führte! Es war Haß, mit denen die Sternengeborenen ihre Gedanken vergifteten, und es waren Tod und Leid und Schmerzen, von denen sie lebten. Plötzlich hörte er noch einmal ganz deutlich Draks Stimme, die letzten Worte, die der sterbende Zauberer zu ihm gesagt hatte: Gebt acht, daß ihr euch nicht totsiegt, Satai.

Und genau das würden sie tun, dachte Skar entsetzt. Selbst wenn sie siegten, würden sie am Ende verlieren, denn jeder Schwertstreich, jeder Tote, jeder Schmerz stärkte die Sternengeborenen.

»Selbst wenn es so ist«, sagte Anschi verstört. »Was sollen wir tun? Aufgeben?«

»Vielleicht«, murmelte Skar. »Vielleicht besteht der einzige Weg, diesen Krieg zu gewinnen, darin, ihn zu verlieren.«

»Du bist ja verrückt«, sagte Anschi. »Du -«

Etwas geschah.

Skar wußte nicht was, und er sollte auch später niemals eine wirklich befriedigende Erklärung für das finden, was er in diesem Moment... sah? hörte? spürte? Es war totenstill, und trotzdem war es, als glitte eine rasche, lautlose Woge aus Finsternis über den Himmel, eine Schwärze, die nicht nur die Abwesenheit von Licht bedeutete, sondern etwas Fremdes, Eisiges und Drohendes mit sich brachte und sich wie ein klammer Hauch über die Welt legte. Skar sah auf und blickte in den Himmel, sah erschrocken nach rechts und links und begegnete schließlich Anschis Augen, Augen, in denen sich die gleiche, ziellose Furcht spiegelte, die auch er mit einem Male empfand. Dann, Sekunden später, ertönte ein Geräusch; nichts, was er kannte oder zu identifizieren in der Lage war, das aber für sich so bedrohlich und furchteinflößend war wie die Woge körperloser Finsternis, die die Welt gestreift hatte wie der Atem eines finsteren Gottes.

Skar hob die Hand, als Kiina aufstehen und an ihm vorbei in die Dunkelheit hinaustreten wollte. »Warte«, sagte er. »Irgend etwas ... stimmt nicht.«

Kiina sah ihn fragend an, blieb aber gehorsam stehen und schwieg, denn in diesem Moment stand auch Anschi auf und lauschte einen Herzschlag lang mit schräggehaltenem Kopf in die Nacht hinaus. Sekundenlang blieb es still, beinahe schon wieder zu still, und dann hörte Skar es erneut, und diesmal ganz deutlich: ein helles, irgendwie... metallisches Peitschen, nicht besonders laut, fast an der Grenze des überhaupt Wahrnehmbaren, ein Geräusch so voller Feindseligkeit und Gefahr, daß er wie unter einer körperlichen Berührung zusammenfuhr. Sein Blick suchte die Felsen rings um das Lager ab. Nichts schien sich verändert zu haben: die Schatten der schlafenden Daktylen erhoben sich wie bizarre Felsformen in der Nacht. Nichts rührte sich.

Anschi hob die Hand und deutete nach Norden. »Das kommt von dort«, sagte sie. »Von den Quorrl.«

Skar blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit hinauf. Es war so finster, daß es keinen Unterschied zwischen Himmel und Gebirge mehr gab, aber er sah den Höhlenausgang, vom roten Licht des Feuers erhellt wie eine blutige Wunde in der Nacht. War das ein Schatten, der sich davor bewegte? Und wenn ja, wessen?

Wie zur Antwort auf diesen Gedanken erscholl plötzlich auch aus der entgegengesetzten Richtung dieses sonderbare, metallische Reißen, und als Skar und Anschi gleichzeitig herumfuhren, sah er etwas wie ein bleiches, grünliches Licht; einen unheimlichen, fahlen Schimmer, der für Augenblicke die Felsen erhellte und erlosch, ehe sie genau erkennen konnten, was es war.

»Weck die anderen«, sagte Skar zu Anschi gewandt und fast im Flüsterton. »Ich sehe nach, was mit Titch ist.« Er ließ Anschi keine Gelegenheit, zu widersprechen, sondern fuhr herum und lief mit weit ausgreifenden Schritten durch das Lager.

Kiina folgte ihm, obwohl er ihr mit heftigen Gesten signalisierte, zurückzubleiben. Aber dann lief er sogar langsamer, damit sie zu ihm aufholen konnte. Er fühlte sich einfach wohler, wenn sie in seiner Nähe war, statt in der der Errish.

Der Posten am Ausgang des Lagers vertrat ihm diesmal nicht den Weg, und auch die Daktyle reagierte nicht auf ihre Nähe, sondern schlief weiter, den Kopf zwischen die zusammengefalteten Flügel geschoben wie eine zu groß geratene Fledermaus. Etwas in diesem Anblick störte Skar, warnte ihn, wie ein lautloser Schrei aus seiner Seele, aber er wußte einfach nicht, was. Er lief weiter, streckte die Hand aus, um die Kiinas zu ergreifen, und stolperte den Geröllhang hinauf, so rasch es ging. Unter ihren Füßen lösten sich Schutt und lockeres Gestein und drohten, sie immer wieder aus dem Gleichgewicht zu bringen, und einmal stürzte Kiina und hätte ihn um ein Haar mit sich gerissen; erst im letzten Moment fand er seine Balance wieder.

»Verdammt!« sagte er unwillig. »Paß auf, wo du...«

Wieder erscholl dieses metallische Geräusch, lauter und ungleich deutlicher jetzt, und für einen Moment sah Skar auch hinter dem Höhleneingang das unheimliche grüne Licht aufflackern, ein fremdes böses Glühen, das für den Bruchteil einer Sekunde den Schein des Feuers überstrahlte.

Wie in einer entsetzlichen Fiebervision sah er, wie die Gestalt des riesigen Quorrl am Höhleneingang von diesem unheimlichen Licht eingehüllt wurde und irgend etwas mit ihm geschah. Sein Körper schien zu flackern, erstrahlte für den Bruchteil einer Sekunde selbst in jenem unheimlichen grünen Feuer und kippte zur Seite.

Skar schrie auf, ließ Kiinas Hand los und warf sich vor. Er sah die Bewegung zu spät; vielleicht war er auch einfach nur zu überrascht, um darauf zu reagieren, denn ein Angriff Kiinas war nun wirklich das Letzte, womit er gerechnet hätte. Aber ganz genau das geschah: Sie war auf ein Knie herabgestürzt und stützte sich mit der linken Hand auf dem Boden ab, aber das war es nur, was er dachte - in Wirklichkeit suchten Kiinas tastende Finger nach einem Stein.

Skar riß die Arme in die Höhe, aber der Hieb war so wuchtig, daß er seine Deckung durchbrach; der scharfkantige Felsbrocken traf seine rechte Schläfe mit erbarmungsloser Wucht.

Der Schlag raubte ihm nicht das Bewußtsein, aber er lähmte ihn. Skar kippte hilflos zur Seite, rollte meterweit den Hang wieder herab und blieb bewegungsunfähig liegen. Seine rechte Körperhälfte war taub. Er spürte Blut über sein Gesicht laufen, aber nicht den allermindesten Schmerz, und er hörte, wie Kiina näher kam, war aber unfähig, sich zu bewegen. Irgendwo, weit außerhalb seines Gesichtsfeldes, flammte erneut dieses furchtbare grüne Licht auf, und jetzt hörte er auch Schreie, und obgleich er bewegungsunfähig dalag und nicht einmal den Kopf zu drehen vermochte, wußte er mit unerschütterlicher Gewißheit, daß in diesem Moment dort oben Titchs Quorrl starben; wahrscheinlich zusammen mit ihm; ebenso, wie er begriff, daß er sich wie ein Narr in die Falle hatte locken lassen. Weder für Kiina noch für Anschi oder eines ihrer Mädchen war dieser Angriff überraschend erfolgt. Kiinas angebliche Warnung hatte nur dem einzigen Zweck gedient, ihn von den Quorrl fortzulocken.

Er wartete darauf, daß der Zorn neue Kräfte in ihm mobilisierte, aber das geschah nicht. In seiner Schläfe erwachte allmählich ein dumpfer, pulsierender Schmerz, und ebenso allmählich kehrte auch das Gefühl in seine abgestorbenen Glieder zurück. Aber es war nur Schmerz; das Pulsieren von Nerven, die keine Befehle, sondern nur noch pure Agonie übertrugen. Wie durch einen Vorhang aus blutigem Nebel hindurch sah er Kiina näherkommen und neben ihm niederknien. Auf ihren Zügen erschien Schrecken, als sie erkannte, wie schwer sie ihn getroffen hatte. Ihre Finger berührten sein Gesicht, tasteten über seine aufgeplatzte Schläfe und seinen Nacken, und plötzlich verschwand der Schmerz wie abgeschaltet.

Aber auch jedes andere Gefühl.

Kiina drehte ihn ächzend auf den Rücken und bettete seinen Kopf auf einem flachen Stein. »Es tut mir leid, Skar«, sagte sie. »Aber es mußte sein.«

»Warum?« stöhnte Skar. Hinter Kiinas Silhouette verschlang grünes flackerndes Licht für eine Sekunde die Nacht. Ein weiterer von Titchs Kriegern, vielleicht er selbst.

»Um dich zu retten, du Narr«, antwortete Kiina. »Ich mußte es tun.«

»Du verdammte...«

Skar kam nicht mehr dazu, Kiina zu sagen, was er in diesem Moment von ihr hielt. Sie lächelte milde, streckte abermals die Hand nach seinem Nacken aus, und Skars Bewußtsein erlosch wie eine Kerzenflamme im Sturm.

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