Er näherte sich der Höhle nicht auf direktem Wege, sondern schlug einen gut hundertfünfzig Schritt messenden Bogen; geduckt, schleichend, eng in den Schatten des Berges gepreßt und das Schwert unter dem Mantel verborgen, damit sich kein verräterischer Lichtstrahl auf der Klinge brach. Zwanzig Schritte vor dem Höhleneingang hielt er an, duckte sich hinter einen Felsgrat und spähte aufmerksam in die Runde. Aus der Höhle erscholl kein Laut, aber unter ihm, im Lager der Errish, herrschte reges Treiben. Schatten bewegten sich vor dem Feuer, viel zu viele Schatten, wie Skar meinte, und die riesigen Silhouetten der Daktylen waren in beständiger, unruhig flatternder Bewegung. Zwei, drei der scheinbar nur daumennagelgroßen Gestalten bewegten sich auf den Hang zu; vielleicht nur, um hier heraufzukommen, vielleicht auch, um ihn zu suchen.
Skar überschlug in Gedanken die Zeit, die ihm noch blieb. Er wußte nicht, wie lange er bewußtlos gewesen war, aber er kannte den Griff, mit dem Kiina ihn betäubt hatte: unter normalen Umständen wäre er für mindestens zwei Stunden hilflos gewesen. Mit etwas Glück blieb ihm also noch eine Frist, bis die Errish bemerkten, daß er nicht mehr da war. Aber Skar wäre schon vor zwanzig Jahren gestorben, hätte er sich auf sein Glück verlassen...
Lautlos huschte er weiter, näherte sich dem Höhleneingang und blieb abermals stehen. Unter dem Felssturz lag die reglose Gestalt des Quorrl, den das grüne Feuer gefällt hatte, und dahinter bewegten sich Schatten. Skar hörte Geräusche. Schritte. Eine Stimme, die in einer Sprache redete, die er nicht kannte. Nicht die Stimme eines Quorrl.
Er glitt weiter, sah noch einmal sichernd ins Tal hinab. Die Errish waren nähergekommen, hatten den Fuß der Geröllhalde aber noch nicht erreicht und schienen es auch nicht besonders eilig zu haben, so daß ihm noch ein wenig Zeit blieb. Er näherte sich im Zickzack der Höhle. Eine schwarze Silhouette glitt vor dem Feuer entlang und verschwand wieder, zu schnell, als daß Skar sie erkennen konnte, aber nicht schnell genug, um ihm zu verbergen, daß sie entschieden zu groß für die eines Menschen war und zu schlank für einen Quorrl.
Es war keines von beiden.
Als Skar die Höhle erreichte, bot sich ihm ein gleichermaßen erschreckendes wie bizarres Bild: Die Quorrl lagen reglos auf dem Boden, mit verrenkten Gliedern und in fast grotesken Haltungen, als wären sie mitten in der Bewegung von einer unsichtbaren Faust getroffen und niedergestreckt worden. Skars Magen zog sich schnell und schmerzhaft zusammen, als er erkannte, daß eine der Gestalten in eine Rüstung aus schimmerndem Gold gehüllt war. Seine Hand schloß sich fester um das Schwert unter dem Mantel, während sein Blick die beiden Schatten suchte, die er von draußen gesehen hatte.
Die Geschöpfe waren sehr groß. Skar schätzte sie auf gute sieben Fuß, aber ein Gutteil dieses Maßes wurde von ihren fast grotesk großen Schädeln beansprucht, unter deren Gewicht die schmalen Schultern fast durchzubrechen schienen. Sie hatten keine Gesichter.
Dann drehte sich eine der beiden Gestalten zu ihm herum, und Skar erkannte seinen Irrtum: Was er für einen mißgestalteten Schädel gehalten hatte, das war ein Helm aus schwarzem Metall, so glatt wie das Gesicht des Daij-Djan und auf eine völlig andere, faßbarere Art ebenso drohend und furchteinflößend. Trotzdem, dachte Skar verwirrt, konnten die Köpfe darunter nicht größer als die normal proportionierter Menschen sein, denn es gab schmale, leicht schräggestellte Sehschlitze, hinter denen Skar das Glitzern eines dunklen Augenpaares wahrnahm.
Skar hielt den Atem an, als sich der Blick dieser Augen für Sekundenbruchteile direkt auf ihn zu richten schien. Er wußte, daß er für jeden dort drinnen unsichtbar sein mußte; die Nacht war wie ein schwarzer Vorhang vor dem Höhleneingang. Aber wer sagte ihm, daß die Augen hinter diesem grotesken Helm die von Menschen waren, und nicht die irgendwelcher Kreaturen, die in der Nacht ebenso deutlich zu sehen vermochten wie er am hellen Tag? Seine Hand schmiegte sich fester um das Schwert. Er war nahe genug, um einen Sprung zu riskieren, und - Der Mann in der sonderbaren Rüstung drehte sich wieder herum und wechselte ein paar Worte mit seinem Begleiter. Skar atmete innerlich auf. Er wartete, bis sich die Gestalt ein wenig vom Eingang wegbewegte, huschte weiter und duckte sich hinter den Körper des toten Quorrl. In der nächsten Sekunde beglückwünschte er sich dazu, den Angriff nicht gewagt zu haben: In der Höhle hielten sich nicht zwei, sondern fast ein Dutzend jener sonderbaren Gestalten auf. Selbst wenn sich unter den bizarren Rüstungen ganz normale Menschen verbargen, wären seine Chancen erbärmlich gewesen, auch nur die ersten Sekunden zu überleben. Und die reglosen Gestalten der Quorrl am Boden bewiesen, daß es sich bei den Helmträgern um alles andere als normale Gegner handelte.
Skar versuchte zu erkennen, was die Männer taten, aber es gelang ihm nicht. Seine Position am Höhleneingang war zu ungünstig, um ihn mehr als huschende Schatten und einzelne nicht zu identifizierende Bewegungen wahrnehmen zu lassen. Er versuchte, sich ein wenig weiter vorzuarbeiten, wobei er den Leichnam des Quorrl als Deckung ausnutzte. Seine Hand glitt über die graugrünen Schuppen des toten Giganten.
Und zuckte erschrocken zurück.
Der Quorrl lebte.
Sein Gesicht war starr, und über den weit aufgerissenen Augen lag ein milchiger Schleier, aber der Quorrl atmete, und als Skar behutsam nach seinem Hals tastete, spürte er einen ganz schwachen, aber regelmäßigen Pulsschlag. Er lebte.
Verblüfft ließ Skar sich wieder zurücksinken. Der Quorrl lebte. Er hatte gesehen, wie ihn das grüne Feuer traf und zu Boden streckte, aber wie immer diese unheimliche Waffe wirkte, sie tötete offensichtlich nicht - und das hieß, daß Titch vielleicht auch noch am Leben war.
Skar zog sich lautlos weiter vom Höhleneingang zurück, schob die Waffe wieder in den Gürtel und sah sich um. Die Schatten der beiden Errish waren deutlich näher gekommen, aber Skar verwarf den flüchtigen Gedanken, sie anzugreifen, sofort wieder. Er ignorierte allerdings auch das mahnende Flüstern hinter seiner Stirn, das ihn dazu bringen wollte, zu verschwinden, solange er noch Zeit dazu hatte. Statt dessen wich er ein paar Schritte zur Seite, suchte sich einen Felsen, hinter dem er geschützt war, und wartete. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.
Die beiden Errish kamen nur ganz allmählich näher. Das Gehen auf dem stark abschüssigen Hang schien ihnen große Mühe zu bereiten; sie liefen stark nach vorne gebeugt, wie Menschen, die sich gegen einen unsichtbaren Sturm stemmten, und ihre Bewegungen waren... falsch. Hölzern wie die von Puppen. Oder Menschen, dachte Skar, die unter dem Einfluß eines fremden Willens standen. Aber es waren Errish. Es war unmöglich, eine Errish zu hypnotisieren.
Er wartete.
Minuten vergingen, reihten sich aneinander und wurden zu einer Viertelstunde, bis die beiden Gestalten endlich die Höhle erreichten und stehenblieben. Der Feuerschein überschüttete ihre Gesichter mit rotem Licht und verwirrenden Schatten, die es unmöglich machten, irgendeinen Ausdruck darauf zu erkennen, aber Skar sah zumindest, daß eine der beiden jungen Frauen niemand anderes als Anschi selbst war. Der Anblick erfüllte ihn mit dumpfer Wut, die allerdings zu einem nicht geringen Teil ihm selbst galt. Was für ein Narr war er gewesen, sich von diesem Kind übertölpeln zu lassen! Und sein Zorn stieg noch, als auch die zweite Errish die Kapuze zurückstreifte und er Kiina erkannte.
Eine der schwarzgepanzerten Gestalten trat aus der Höhle heraus und blieb dicht vor den beiden Errish stehen. Anschi und ihre Begleiterin senkten demütig das Haupt, und der Riese hob die Hände an den Kopf und setzte den Helm ab.
Skar unterdrückte im letzten Moment einen ungläubigen Aufschrei.
Das Gesicht unter dem bizarren Riesenhelm war alt, uralt. Ungezählte Jahre hatten es in ein Gewirr von Falten und Runzeln verwandelt, in dem nur noch die Augen zu leben schienen, dunkle, grundlose Augen voll uraltem bösem Wissen und dem unstillbaren Hunger nach Macht, der etwas in ihrem Hintergrund in Brand zu setzen schien. Und er kannte dieses Gesicht. Es war Drask.
Aber das war doch unmöglich! Der Zauberpriester war vor seinen Augen gestorben, und er selbst war dabeigewesen, als sein Körper verbrannt worden war!
»Wir sind bereit, Herr«, sagte Anschi. Ihre Stimme war leise und klang so holprig, wie ihre Bewegungen waren, aber in der Stille der Nacht konnte Skar trotzdem jedes Wort so deutlich hören, als stünde er neben ihr. »Die Daktylen sind gesattelt.«
»Der Satai«, antwortete der Mann mit Drasks Gesicht. »Ihr habt ihn?«
Es war nicht Draks Stimme, dachte Skar verwirrt. Sie klang... ähnlich, aber nicht gleich. Er versuchte, das Gesicht über der bizarren schwarzen Rüstung genauer zu erkennen, aber die Entfernung war einfach zu groß.
Anschi zögerte, zu antworten. »Noch... nicht«, sagte sie schließlich.
Der Zauberpriester legte den Kopf schräg und sah sie stirnrunzelnd an. »Noch nicht?« wiederholte er. »Was soll das heißen? Habt ihr ihn in Gewahrsam oder nicht?«
»Kiina hat ihn betäubt«, antwortete Anschi hastig. »Aber dieses dumme Kind kann sich nicht genau erinnern, wo.«
»Dann sucht ihn!« kreischte sie der Zauberpriester an. Skar sah jetzt immer mehr Unterschiede zu Drask. Es war nicht nur eine andere Stimme. Sein Gesicht war und blieb das des greisen Priesters, der um ein Haar ihr gesamtes Heer vernichtet hätte, aber seine Gestik war anders. Es war eine zufällige Ähnlichkeit; wenn auch eine, die Skar schauern ließ, denn sie machte ihm klar, wie wenig sie bisher alle über das Volk wußten, mit dem sie um nichts weniger als ihre gesamte Welt kämpften.
»Das werden wir, Herr«, sagte Anschi. »Wir werden ihn finden.«
»Gut«, antwortete der Mann mit Drasks Gesicht. Er fügte nichts hinzu, keine Drohung, keine Ermahnung, aber vielleicht war es gerade das, was Anschi wie unter einem Hieb zusammenfahren ließ, denn der alte Mann sprach mit dem Selbstbewußtsein eines Menschen, der es gewohnt war, seine Befehle ausgeführt zu sehen, und keine Ausflüchte und Entschuldigungen gelten ließ. »Dann bereitet alles für den Aufbruch vor«, fuhr er fort. »Wir erwarten euch in zwei Tagen.«
»Und die Quorrl?« fragte Anschi. »Sollen wir sie töten?«
Drask - der nicht Drask war - schüttelte den Kopf. »Das werden die Drachen und Schakale erledigen«, sagte er kalt. »Bindet sie, und sorgt dafür, daß sie sich nicht zu schnell befreien können, wenn die Betäubung nachläßt. Bis auf den Krieger in der goldenen Rüstung.«
»Titch?«
»Wenn das sein Name ist, ja«, antwortete der Zauberpriester. »Ich habe viel über ihn gehört. Ihr werdet ihn mitnehmen.« Anschi zögerte. Ihr Gesicht spiegelte deutlich das Unbehagen wider, mit dem sie der Befehl des Alten erfüllte. »Er ist... gefährlich, Herr«, sagte sie unsicher.
»Dann behandelt ihn entsprechend«, fuhr sie der Alte an. »Setzt ihn meinetwegen unter Drogen, oder legt ihn in Ketten, aber verletzt ihn nicht. Und vergreift euch nicht an seinem Geist. Wir brauchen Männer wie ihn. Und jetzt geht und sucht diesen Satai, bevor ich es tun muß.« Die Drohung, die in diesen Worten mitschwang, war unüberhörbar. Anschi fuhr abermals zusammen, während Kiinas Gesicht ausdruckslos blieb. Skar revidierte in Gedanken seine Meinung über die Unbeeinflußbarkeit einer Errish. Vielleicht hatten sie die Zauberpriester trotz allem noch unterschätzt.
Die beiden jungen Frauen machten sich auf den Rückweg ins Lager hinab, aber Skar blieb, wo er war. Gebannt sah er zu, wie der Zauberpriester zurück in die Höhle ging, wobei er seinen sonderbaren Helm wieder aufsetzte und vom Menschen zum Ungeheuer wurde. Nach einer Weile kehrte er zurück, jetzt aber nicht mehr allein, sondern begleitet von fast einem Dutzend gleichaltriger, in absurde Rüstungen gehüllter Gestalten.
Skar fiel die sonderbare Art auf, in der sie sich bewegten. Die bizarren Rüstungen mußten Zentner wiegen, und er hatte zumindest in (Drasks?) einem Fall gesehen, daß sich darunter ein ganz normaler, eher gebrechlicher Mensch verbarg, aber sie bewegten sich fast schwerelos, schienen eher zu gleiten als zu gehen. Skar hatte im Laufe der Nacht mehrmals erfahren, wie schwierig es war, sich auf der Geröllhalde zu bewegen, aber die Männer in den sonderbaren Rüstungen spazierten fast gemächlich an ihm vorbei, wobei er das unheimliche Gefühl hatte, als würden ihre Füße den Boden fast gar nicht berühren.
Aber das war natürlich Unsinn.
Skar verscheuchte den Gedanken, warf einen letzten, sichernden Blick zur Höhle zurück und folgte der Gruppe schwarzgekleideter Riesen in sicherem Abstand. Er mußte dabei nicht einmal besonders vorsichtig sein, denn die Nacht und der schwarzbraune Fels, über den er sich bewegte, gaben ihm eine vorzügliche Deckung, und keiner der Männer drehte sich auch nur einmal herum - wozu auch? Erst, als sie sich dem Lager der Errish näherten, fiel Skar wieder ein Stück zurück und sah aus sicherer Entfernung zu, was weiter geschah.
Die Zauberpriester betraten das Lager nicht, sondern schwenkten dicht davor nach links und bewegten sich weiter auf die Ebene zu, fast genau zu der Stelle, an der Titchs erstes Lager gewesen war. Irgendwo dahinter bewegten sich Schatten. Skar stockte der Atem, als er sah, was das Ziel der Zauberpriester war.
Die Männer waren nicht zu Fuß gekommen; aber auch nicht zu Pferde oder mit irgendeinem magischen Gefährt, was Skar mittlerweile auch nicht mehr erstaunt hätte. Vor den Felsen bewegten sich die Schatten eines Dutzend titanischer Drachen.
Zumindest beschloß Skar in Gedanken, diese Tiere Drachen zu nennen, solange ihm keine bessere Bezeichnung einfiel.
Es waren Giganten. Bestien, gegen die selbst die legendären Feuerechsen der Errish wie Zwerge erscheinen mußten, riesige, grün und braun und rot geschuppt und nur aus Muskeln und Zähnen und Klauen und Panzerplatten bestehend. Ihre Größe war... absurd: achtzig, wenn nicht hundert Fuß, vom Kopf bis zur Schwanzspitze. Im allerersten Moment erinnerten sie Skar an die Tyrr, die Anschi und ihre Schwestern gezähmt hatten, aber diese Ähnlichkeit beschränkte sich nur auf ihre Gestalt: wie diese gingen sie aufrecht auf zwei muskulösen, fast übertrieben stark ausgebildeten Hinterläufen, während die Vorderbeine zu dürren, aber mit fürchterlichen Krallen versehenen Ärmchen verkümmert waren, die unter einem absurd großen, buckeligen Schädel hervorwuchsen. Die Augen der Monstren waren so klein, daß Skar sie im ersten Moment nicht einmal sah, aber dafür waren ihre Mäuler um so größer. Skar schätzte, daß sie ein ausgewachsenes Pferd verschlingen konnten, ohne mehr als einmal zuzubeißen. Nichts, aber auch rein gar nichts an diesen Ungeheuern erinnerte Skar an die kraftvolle Eleganz der Drachen, wie sie die Errish ritten. An diesen Wesen war nichts Schönes oder Majestätisches. Sie waren einfach nur groß. Groß und häßlich. Und unbeschreiblich wild.
Mühsam löste er sich aus der morbiden Faszination, mit der ihn der Anblick der zwölf Kolosse erfüllte, und suchte die Zauberpriester. Die Männer näherten sich ihren ungeheuerlichen Reittieren fast gemächlichen Schrittes, blieben noch einmal stehen - und schwebten wie lautlos fallende Blätter auf die Rücken der Riesentiere hinauf.
Skar erstarrte. Für Sekunden vergaß er selbst zu atmen. Was er sah, war... unmöglich!
So unmöglich wie Menschen, die von den Sternen gekommen sind? flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken. Wie grünes Licht, das betäubt, und ein Geist, der den einer Errish bezwingt? Skar versuchte vergeblich, das Chaos hinter seiner Stirn zu ordnen. Er wußte, daß es eine Erklärung für das vermeintlich Unmögliche gab und daß sie so einfach wie erschreckend war: was er sah, war keine Magie, sondern ein Teil der vergessenen Macht der Alten, von der die Legenden erzählten, aber diese Erklärung bedeutete auch gleichzeitig, daß er die Wahrheit endgültig akzeptieren mußte: er stand den Nachkommen der Sternengeborenen gegenüber. Und es waren Menschen.
Trotz allem hatte sich ein Teil von ihm noch immer an die große Lüge geklammert, die die Geschichte Enwors war. Anschis Worte, alles, was er erlebt hatte, ja, selbst sein eigener Kampf mit der Netzkreatur und das Wissen, das er dabei erworben hatte, dies alles hatte ihm die Wahrheit immer und immer wieder vor Augen geführt, und trotzdem traf ihn der Anblick wie ein Hieb, denn es war der letzte, unleugbare Beweis. Er konnte sich jetzt nicht einmal mehr selbst belügen.
Aber er konnte etwas anderes tun.
Plötzlich waren aller Schrecken und alle Furcht verschwunden. Skar fühlte... nichts. Es war, als hätte es erst des Anblickes der furchtbaren Magie der Zauberpriester bedurft, um ihn wieder zu dem zu machen, was er vor einer kleinen Ewigkeit einmal gewesen war: einem Satai. Zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder fühlte er jene Kälte und Gelassenheit in sich aufsteigen, die die Grundfeste der Satai-Disziplin war, jene schon fast maschinenhafte Logik und Ruhe, die die Satai erst zu dem machte, was sie waren.
Reglos wartete er ab, bis auch der letzte Zauberpriester auf den Rücken seines gewaltigen Reittieres hinaufgeschwebt war. Die schuppigen Kolosse begannen sich zu bewegen, und die Erde unter Skars Füßen zitterte. Ein Hagel aus Staub und kleinen Gesteinssplittern ging auf Skars Versteck nieder, als einer der Giganten den Schwanz peitschen ließ und einen hausgroßen Felsbrocken zermalmte, aber er bewegte sich auch jetzt noch nicht, sondern wartete, bis sich die Ungeheuer eines nach dem anderen herumgedreht hatten und mit scheinbar schwerfälligen, aber unglaublich weitgreifenden Schritten in der Nacht verschwanden. Erst dann erhob er sich aus seiner Deckung und huschte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
Der Geröllhang war nicht mehr leer, als er an dessen Fuß zurückkehrte. Ein halbes Dutzend schlanker Gestalten in den schwarzen Zeremonienmänteln der Errish suchte die zerklüftete Halde ab, Fackeln wurden geschwenkt, Rufe schwirrten hin und her. Skar verspürte ein flüchtiges Gefühl von Schadenfreude, als er Kiina sah, die mit offensichtlich wachsender Verwirrung die Stelle absuchte, an der sie ihn niedergeschlagen hatte. Aber er verscheuchte auch dieses Gefühl. Anschi war nicht dumm. Es würde nicht mehr lange dauern, und sie würde die richtigen Schlüsse aus der Tatsache ziehen, daß er nicht mehr da war. Skar huschte zur Seite, tauchte in die Schatten der Nacht ein und näherte sich zum dritten Mal der Höhle unter dem Berggipfel.
Er war auch dieses Mal sehr vorsichtig. Zwar bestand kaum die Gefahr, auf einen der Zauberpriester zu treffen, aber er hatte nicht vergessen, was Drasks Doppelgänger zu Anschi gesagt hatte: die Errish würden auf jeden Fall zurückkehren, um Titch zu holen. Er näherte sich der Höhle in einem weiten Bogen, spähte vorsichtig hinein und stellte erleichtert fest, daß sie leer war. Trotzdem achtete er sorgsam darauf, aus dem Schein des bereits halb heruntergebrannten Feuers zu bleiben, als er sich Titch näherte, und er kniete auch so neben dem Quorrl nieder, daß er den Höhleneingang im Auge behalten konnte. Er hatte keine besondere Lust, zum zweiten Mal mit einem Stein oder Kiinas Nervengriff Bekanntschaft zu machen.
Der Quorrl lag auf dem Rücken. Sein goldener Helm war verrutscht, die rechte Seite, auf die er gefallen war, eingedrückt, und Titchs Augen standen offen, wie die des Kriegers unter dem Eingang. Skar untersuchte ihn flüchtig und stellte erleichtert fest, daß auch er noch atmete.
Aber das war auch schon alles, was ihn erleichterte. Er sah keine Möglichkeit, den Quorrl aufzuwecken.
Er versuchte es, rüttelte ein paarmal an seiner Schulter, rief seinen Namen, so laut er konnte, und ohrfeigte ihn schließlich - mit dem einzigen Ergebnis allerdings, sich an Titchs stahlharten Schuppen den Handrücken aufzureißen.
Enttäuscht richtete er sich auf, sah sichernd zum Eingang zurück und begann die Höhle abzusuchen. Für einen Moment blieb sein Blick auf der Glut hängen, und er erwog den Gedanken, dem Quorrl Schmerz zuzufügen, um ihn aufzuwecken, verwarf ihn aber rasch wieder. Zum einen gab es nicht viel, was einem Quorrl nennenswerte Schmerzen zufügte, ohne ihn schwer zu verletzen, und zum anderen war er ziemlich sicher, daß keine Macht der Welt die betäubende Wirkung des grünen Feuers aufheben konnte, ehe sie nicht von selbst wich. Er fuhr fort, die Höhle zu untersuchen. Skar wußte, daß die Kaverne keinen zweiten Ausgang hatte. Es gab einen winzigen, von hier aus nicht direkt einsehbaren Spalt in ihrer rückwärtigen Wand, der aber nach kaum zwei Metern blind endete, aber selbst, wenn er zum einen ins Freie geführt hätte und zum anderen breit genug gewesen wäre - Skar hätte einfach nicht die Kraft gehabt, den über vierhundert Pfund schweren Quorrl auch nur durch die Höhle zu schleifen, geschweige denn, nach draußen. Ganz davon abgesehen, daß Anschi durchaus in der Lage war, bis fünf zu zählen, und Titchs goldene Rüstung unver... Und dann wußte er, was er tun mußte.
Der Gedanke erschien ihm so verrückt, daß er im ersten Moment selbst davor zurückschreckte - aber es war seine einzige Chance, Titch zu retten. Wenn ihm Zeit genug blieb. Und wenn seine Kraft reichte.
Skar ging zum Eingang der Höhe zurück, duckte sich in den Schatten der Wand und spähte aufmerksam ins Tal hinab. Über den Hang krochen die Lichtpunkte von Fackeln wie leuchtende Käfer, und der Wind trug die aufgeregten Stimmen der Errish zu ihm, die mittlerweile alle ausgeschwärmt zu sein schienen, um nach ihm zu suchen. Vielleicht, dachte er. Seine Chancen waren verzweifelt gering. Aber verzweifelte Pläne hatten die Eigenart, überraschend oft aufzugehen...
Er lief zu Titch zurück, kniete ein zweites Mal neben dem Quorrl nieder und versuchte, ihn herumzudrehen. Im ersten Moment hatte es den Anschein, daß seine Kräfte einfach nicht ausreichten, die vierhundert Pfund des Quorrl zu bewegen, aber dann rollte Titch herum und fiel mit einem sonderbar weichen, unangenehmen Laut auf den Bauch. Sein Helm löste sich vollends und rollte davon. Skar fing ihn auf, legte ihn sorgsam neben sich und begann mit fliegenden Fingern, die kleinen Kupferspangen zu lösen, die Titchs Prunkrüstung zusammenhielten. Ächzend hob er das zentnerschwere Rückenteil des Panzers ab, nestelte an Titchs Beinschützern und Stiefeln herum und zerrte beides mit verzweifelter Kraft herunter. Als letztes löste er den Gürtel des Quorrl und zerrte den metallbesetzten Streifenrock zur Seite.
Er brauchte fast zehn Minuten, den Quorrl völlig zu entkleiden, und dann noch einmal fast die gleiche Zeit, die kräftezehrende Prozedur bei einem zweiten Quorrl zu wiederholen. Die Anstrengung, den Krieger in Titchs Rüstung zu hüllen und diese wenigstens notdürftig zu befestigen, überstieg fast seine Kräfte. Aber er schaffte es, wenn auch vielleicht nur aus dem unerschütterlichen Wissen heraus, daß er ohne Titch verloren war.
Als er fertig war, brach er einfach zusammen. Schwäche kroch wie ein lähmendes Gift in seine Glieder, und als er sie zurückdrängte, kam die Übelkeit. Skar kämpfte minutenlang gegen einen immer stärker werdenden Brechreiz an. Er war hilflos in diesen Augenblicken. Wären Anschi oder eines ihrer Mädchen jetzt in der Höhle erschienen, er hätte nichts anderes tun können, als sich zu ergeben.
Aber das Schicksal oder die Götter - oder vielleicht auch nur der Zufall - schienen es ausnahmsweise einmal gut mit ihm zu meinen. Als er seine Schwäche weit genug überwunden hatte, um wieder zum Höhlenausgang zu kriechen, sah er, daß die Kette aus fackeltragenden Schatten bedrohlich näher gekommen war, aber nicht so nahe, daß ihm keine Zeit mehr blieb. Die Errish bewegten sich sehr langsam, in einer fast vollkommen geraden, weit auseinandergezogenen Kette, die den gesamten Hang überspannte. Sie wollten sichergehen, nicht an ihm vorbei zu laufen. Gut. So war er sicher, nicht im letzten Moment noch überrascht zu werden.
Er ging zu dem Krieger in Titchs Rüstung zurück, streifte ihm den Helm über und begutachtete kritisch sein Werk. Die Täuschung kam ihm selbst lächerlich vor: der Quorrl war eine Handspanne kleiner als Titch, sein Gesicht schmaler und eine Spur blasser, und in der gewaltigen Prunkrüstung des Quorrl-Fürsten wirkte er fast verloren; wie ein Kind, das den Harnisch eines Erwachsenen angelegt hatte. Trotzdem: es war alles, was er tun konnte. Und dazu kam, daß für einen Menschen ein Quorrl normalerweise aussah wie der andere, und Anschi Titch nur ein paarmal gesehen hatte. Möglicherweise würde Kiina den Betrug bemerken, denn sie kannte Titch so lange wie er selbst, aber dieses Risiko mußte er einfach in Kauf nehmen. Die Alternative war, Titch zu opfern.
Er ging zu dem Quorrl zurück, ergriff seine verletzte Hand und löste mit spitzen Fingern den Verband. Die Wunde in Titchs Handfläche blutete noch immer, und Skar fragte sich besorgt, wie lange der Metabolismus des Quorrl den ständigen Blutverlust noch ausgleichen konnte, ehe er einfach an Schwäche starb. Sorgsam schloß er die starren Finger des Quorrl zur Faust, bettete sie auf seiner Brust und wälzte Titch ein letztes Mal herum, so daß er auf dem Bauch zu liegen kam und sein Körper den verletzten Arm verbarg. Dann eilte er zu dem Krieger in Titchs Rüstung zurück, griff nach seiner rechten Hand und zog den Dolch.
Er zögerte.
Etwas in ihm sträubte sich dagegen, es zu tun, obwohl er wußte, daß er gar keine andere Wahl hatte, und die kleine Wunde einem Wesen wie dem Quorrl nicht gefährlich werden konnte. Es war absurd - noch vor zwei Tagen hätte er nicht gezögert, den Quorrl zu töten, hätte es sich als nötig erwiesen. Aber seither war viel geschehen. Der Quorrl vor ihm war kein Tier mehr, und seine Welt war zerbrochen und zu etwas Neuem und Schrecklichem geworden, in dem die alten Werte nicht mehr galten.
Dann hörte er ein Geräusch draußen auf dem Hang und begriff, wie verzweifelt klein sein Vorrat an Zeit noch war. Entschlossen trieb er den Dolch in die Handfläche des Quorrl, preßte den durchgebluteten Verband auf die Wunde und verknotete ihn, so gut er konnte.
Er fand gerade noch Zeit, seine Spuren zu verwischen und sich in den schmalen Felsspalt am anderen Ende der Höhle zu zwängen, ehe die ersten Fackeln vor dem Eingang auftauchten.