13.

Sie hatten kein Wort mehr miteinander gesprochen. Titch war nach wenigen Augenblicken wieder erwacht, aber nichts von alledem, was Skar erwartet hatte, war geschehen. Der Quorrl hatte sich einfach aufgerichtet und lange, endlos lange zu der lodernden roten Wunde im Berg hinaufgestarrt, in die das Scannerfeuer der Errish die Höhle verwandelt hatte, und er hatte auch nicht reagiert, als Skar ihn anzusprechen versuchte. Fast eine Stunde lang hatte er einfach dagesessen und ins Leere gestarrt. Schließlich war Skar aufgestanden und noch einmal zu den beiden toten Errish zurückgegangen, um sich ihrer Vorräte und Wasserflaschen zu bemächtigen. Als er zurückkam, saß der Quorrl noch immer in der gleichen, erstarrten Haltung da.

Die Sonne stand im Zenit, als sie das Tal verließen und den langen, mühsamen Aufstieg in die Berge begannen. Es war heiß geworden, und der Regen hatte endgültig aufgehört. Am Himmel stand keine einzige Wolke mehr, und selbst der Wind war warm und trocken; wie ein Vorgeschmack der Wüste auf der anderen Seite der steinernen Barriere, die das Tal der Drachen umgab. Sie kamen nur sehr langsam voran, denn es gab keinen richtigen Weg, und oberhalb der Höhle, die Titchs Männern zum Grab geworden war, wurde das Gelände immer schwieriger, so daß sie mehr als einmal zu lebensgefährlichen Kletterpartien gezwungen wurden. Skar wartete auf den Moment, in dem Titch aus seiner Betäubung erwachen oder einfach vor Schwäche aufgeben würde, denn mit seiner verletzten Hand mußte ihm das Bergsteigen ungleich schwerer fallen als ihm, aber der Quorrl folgte stumm und klaglos.

Am späten Nachmittag hatten sie den Berggipfel erreicht und legten eine erste Rast ein. Skar war müde. Das Klettern hatte ihn erschöpft, und er hatte die zweite Nacht ohne Schlaf hinter sich. Seine Augen brannten, und im Laufe der letzten Stunde hatte er mehr als einmal danebengegriffen und war eigentlich nur noch durch pures Glück einem Absturz entronnen. Trotzdem widerstand er der Versuchung, sich auf dem Boden auszustrecken und die Augen zu schließen. Er hatte Angst, zu schlafen. Wenn er schlief, kamen die Träume, und vielleicht würde er nicht mehr er selbst sein, wenn er das nächste Mal aufwachte. Sie rasteten eine Stunde, dann zogen sie weiter, dem Gipfel des nächsten, höheren Berges entgegen, der vor ihnen aufragte. Sie brauchten den Rest des Tages, die Nacht und noch einen Teil des nächsten Morgens, um ihn zu erreichen, und dann versagten Skars Kräfte einfach. Mitten im Schritt brach er in die Knie, kippte nach vorn und schlief ein - und träumte wieder.

Er sah sich selbst und Titch, allein auf einer gigantischen, vollkommen leeren Ebene aus schwarzem Stahl, über der sich kein Himmel spannte. Sie kämpften, einen gnadenlosen, endlosen Kampf, in dem keiner den anderen besiegen konnte und sie sich gegenseitig immer wieder furchtbare Wunden beibrachten, ohne daß einer von ihnen aufgab oder schwächer wurde. Der Zorn war wieder da, schlimmer denn je, und er hatte seinen Bruder mitgebracht, die Furcht, die Skar im gleichen Maße zu lähmen schien, wie ihm der Haß Kraft verlieh.

Dieser Traum war nicht so sonderbar zweigeteilt wie seine Vorgänger, denn Skars Bewußtsein war einfach zu ausgelaugt, um noch irgendwelche Eindrücke aufnehmen zu können, aber dafür erschien er ihm - obgleich bizarr und irreal - auf unheimliche Weise wirklicher als alles, was er vorher erlebt hatte, als gäbe es eine Wahrheit, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Der Kampf zwischen Titch und ihm wogte mit verbissener Wut hin und her, und Skar wußte auch, daß er niemals enden würde, denn im Traum waren sie beide unverletzlich; ihre Wunden schlossen sich so schnell wieder, wie sie sie schlugen, es war nicht der Kampf zwischen ihnen selbst, den sie kämpften, sondern die uralte Auseinandersetzung zwischen der Welt der Quorrl und der Welt der Menschen, das Ringen zweier Völker, die sich nur gegenseitig vernichten konnten, nicht aber einander besiegen.

Plötzlich waren sie nicht mehr allein. Der Daij-Djan war da, sein dunkler, mörderischer Bruder, der die letzte Hälfte seines Lebens zu einer Spur aus Blut und Tod gemacht hatte, und er winkte ihm zu und trat mit einer fragenden, fordernden Geste hinter Titch, der weiterkämpfte, ohne die Chimäre auch nur zu bemerken. Was willst du? fragte Skar, und der Daij-Djan antwortete mit seiner lautlosen, böse flüsternden Stimme: Dir helfen, Bruder. Laß ihn mich für dich töten, wenn du es schon nicht für mich tust. Es ist gleich, wer es macht. Wir sind eins. Ich bin du, und du bist ich.

Und wieder war die Verlockung da, stärker denn je, der verzweifelte Wunsch, daß alles endlich ein Ende haben möge, ganz egal, um welchen Preis. Die Klaue des Daij-Djan hob sich, und Titchs Bewegungen erstarrten.

Nein, sagte Skar.

Überlege es dir gut, Bruder. Es ist das letzte Mal. Wenn du meine Hilfe das nächste Mal brauchst, mußt du mich rufen. Und dann werde ich nicht mehr gehen.

Ich will deine Hilfe nicht, stöhnte Skar. Du bringst den Tod. Ich bin der Tod, antwortete der Daij-Djan spöttisch. Du bist der Tod, Bruder, denn ich bin du, so wie du ich bist. Aber auch der Tod ist nicht unsterblich. Dir bleibt nicht mehr viel Zeit. Weniger, als du glaubst. Komm.

Die Bestie wandte sich um und winkte, und als Skar ihr folgte, war die stählerne Ebene plötzlich verschwunden, und sie standen am Rande einer gewaltigen, Meilen um Meilen tiefen Klippe, die direkt in die Hölle hinabführte.

Sieh! Die Hand des Daij-Djan deutete nach Norden, und Skars Blick folgte der Geste über die Leere hinweg bis zu dem Schatten, auf den sie deutete.

Es mußten Hunderte Meilen bis dorthin sein, aber die Vision folgte ihren eigenen Gesetzen, und Skar konnte deutlich sehen, was es war, das sein dunkler Bruder ihm zeigen wollte: Ein Turm. Ein finsterer, steinerner Block von einer Farbe, die dunkler als Schwarz war und das Licht aufsaugte, und die Haß ausstrahlte wie eine unsichtbare rote Woge. Skar spürte ein Pulsieren wie das Schlagen eines finsteren, gigantischen Herzens, und in seinen Gedanken wurde jeder Schlag dieses unsichtbaren Herzens zu einem drängenden Flüstern: Töte! Töte! Töte! Skar wollte die Augen schließen, aber er konnte es nicht. Der Anblick des schwarzen Kolosses im Herzen des Drachenlandes lähmte seinen Willen.

Das Mädchen ist dort, sagte der Daij-Djan. Und die, die du suchst, auch. Aber du kannst sie nicht besiegen ohne mich. Allein bist du nur ein Mensch. So wie ich nur ein Schatten bin. Sie aber sind Götter.

Nein! stöhnte Skar. Geh! Geh endlich!

Der Daij-Djan machte eine Geste, die fast bedauernd wirkte. Wie du willst, Bruder. Du bist es, der befiehlt. Ich bin nur das Werkzeug. Aber ich werde da sein, wenn du mich rufst. Und damit verschwand er, und Skar - wachte auf.

Es waren seine Reflexe, die ihn retteten, nicht sein Bewußtsein, das sich nur allmählich aus dem klebrigen Gespinst des Traumes löste, der kein Traum gewesen war. Er öffnete die Augen, spürte die Gefahr mehr, als er sie erkannte, und warf sich blitzschnell zur Seite und gleichzeitig zurück. Er schlug schmerzhaft mit der Schulter auf, tastete blindlings mit Händen und Füßen nach Halt und fühlte nichts als Leere unter dem rechten Arm und dem rechten Bein. Verzweifelt spannte er die Muskeln an, mobilisierte seine letzten Kraftreserven und versuchte sich herumzuwerfen, aber die hastige Bewegung ließ ihn nur noch weiter auf den Abgrund zurollen.

Schuppige Finger packten seine Hand und zerrten ihn mit einem Ruck herum und auf die Füße, der ihm den Arm aus dem Gelenk zu reißen schien. Skar schrie auf, riß seine Hand los und taumelte einen Schritt an dem Quorrl vorbei, fort von dem Abgrund, in den er um ein Haar gestürzt wäre.

Keuchend drehte er sich um, preßte die Hand auf die schmerzende Schulter und warf Titch einen gleichzeitig wütenden wie verwirrten Blick zu. Er hatte noch immer Mühe, sich zurechtzufinden. Im allerersten Moment glaubte er, noch immer zu träumen. Aber dann begriff er, daß es nicht der Titch aus seinem Traum war, dem er gegenüberstand, nicht der Erzfeind, sondern nur ein Quorrl, der kein Quorrl mehr war und der ihm jetzt nur noch ein Leben schuldete, und der Abgrund zwei Schritte vor seinen Füßen war nicht der Höllenschlund aus seiner Vision, sondern eine ganz normale Felswand, wenn auch eine von erschreckender Tiefe. Mit einem Gefühl heftiger Betroffenheit gestand er sich ein, daß er im Schlaf aufgestanden und hierhergegangen sein mußte. Skar trat verwirrt an dem Quorrl vorbei, ließ sich auf ein Knie herabsinken und spähte vorsichtig nach unten. Die enorme Höhe der Klippe ließ ihn schwindeln. Unter ihnen breitete sich das Tal der Drachen aus, eine sonderbare, erschreckende Landschaft, die zum Teil aus Felsen, zum Teil aus Wüste und großen, schmutziggrünen Flecken wuchernden Dschungels bestand. Sein Blick ging nach Norden und suchte den Turm, und für einen kurzen Moment glaubte er ihn sogar zu sehen. Dann verschwamm der Schatten vor seinen Augen, und Skar begriff, daß sie viel zu weit von ihm entfernt waren, als daß er ihn erkennen konnte. Aber er wußte, daß er da war. Er konnte ihn spüren. Er hörte sein böses, pulsierendes Flüstern, das nun nicht mehr nur nach seinen Träumen griff, sondern auch nach seinen Gedanken.

Er stand mit einer abrupten Bewegung auf, drehte sich herum und ging an Titch vorbei. Ihr Lagerplatz war nur wenige Schritte entfernt, aber am Morgen, als sie hergekommen waren, war Skar einfach zu müde gewesen, um den Abgrund zu bemerken, auf den sie sich zubewegten. Er fragte sich, ob Titch ihn gewarnt hätte, wäre er weitergegangen.

Wortlos ließ er sich auf einen Felsen sinken, stützte die Ellbogen auf den Knien auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Er war noch immer müde. Die Sonne hatte längst die zweite Hälfte ihrer Tagesreise in Angriff genommen, aber die Stunden, die er geschlafen hatte, hatten ihn nicht erfrischt; im Gegenteil. Auf einer geistigen Ebene fühlte er sich erschöpfter und ausgelaugter als zuvor. Das Geräusch schwerer Schritte ließ ihn aufsehen. Titch kam langsam auf ihn zu, betrachtete ihn einen Herzschlag lang prüfend und fast mißtrauisch und hob dann in einer linkischen Geste die Hand.

»Ich war einen Moment eingeschlafen«, sagte er. Es klang wie eine Entschuldigung. »Als ich gemerkt habe, daß du fort warst, war es fast zu spät.«

Skar antwortete nicht, aber er sah den Quorrl mit neuem Interesse an. Titchs Stimme klang schleppend. Der Quorrl mußte so müde sein wie er, wenn nicht erschöpfter, denn er hatte wahrscheinlich den ganzen Tag neben Skar gesessen und gewacht, aber es war nichts von der Bitterkeit und Resignation darin, die Skar erwartet hätte. Etwas war mit Titch geschehen, während er geschlafen hatte.

»Fast zu spät ist doch ausreichend«, sagte er mit einem müden Lächeln. »Besser als wirklich zu spät, oder?« Er nahm die Hände herunter und sah sich suchend um. »Ich bin durstig. Haben wir noch Wasser?«

Titch reichte ihm eine der Flaschen, die er den toten Errish abgenommen hatte. Zu Skars Überraschung war sie bis an den Rand gefüllt, und ihr Inhalt war eiskalt und wohlschmeckend.

»Ich habe mich ein wenig umgesehen, während du geschlafen hast«, erklärte Titch, als er seinen fragenden Blick bemerkte. »Ganz in der Nähe ist eine Quelle. Und dort unten -« Er deutete mit einer Kopfbewegung zur Klippe zurück. »- fließt ein Fluß vorbei. Du kannst trinken, soviel du willst. Wir werden kaum verdursten.«

Durch seine Worte ermutigt, trank Skar einen weiteren, gewaltigen Schluck, ehe er die Flasche wieder zuschraubte. »Und wie sieht es mit Essen aus?«

»Wenn du Gras magst...«, sagte Titch. »Oder Moos.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Es gibt kein Wild hier oben. Außerdem läßt sich mit einem Schwert schlecht Jagd auf Hasen machen. Aber dort unten im Tal finden wir sicher etwas.«

»Du begleitest mich also?«

Titch entblößte sein Raubtiergebiß zu einem Grinsen. »Eine reichlich überflüssige Frage in unserer Situation, findest du nicht?«

»Du weißt genau, was ich meine.«

Titch wurde übergangslos ernst. »Du hast es wirklich so gemeint, wie du es gesagt hast, gestern morgen, nicht?«

»Daß du gehen kannst?« Skar nickte. »Ja. Es war dumm, dich zwingen zu wollen.«

»Niemand kann mich zu irgend etwas zwingen«, antwortete Titch leise.

»Wenn es dir wichtig ist, dann entbinde ich dich von deinem Ver -« Skar registrierte erst nach ein paar Sekunden, was Titch gerade gesagt hatte. Er brach mitten im Wort ab und sah den Quorrl verblüfft an. »Wie... meinst du das?«

»Niemand hat je einen Quorrl dazu gezwungen, irgend etwas gegen seinen Willen zu tun«, antwortete Titch. »Ich habe dich nach Elay begleitet, weil ich es wollte, Skar, nicht wegen irgendeines dummen Versprechens.«

»Und dein Eid, zu sterben? Deine Ehre?«

»Ehre.« Titch sprach das Wort mit sonderbarer Betonung aus, deren Bedeutung Skar nicht ganz klar wurde. »Ehre. Es gibt Ehre, und es gibt Rituale, Satai. Beides ist nicht dasselbe. Damals, in der Burg, da glaubte ich wirklich, daß Menschen und Quorrl niemals zusammen existieren könnten. Ich dachte, es wäre meine Pflicht, zu sterben. Aber ich wollte es nicht wirklich.« Er ballte die Faust, und plötzlich klang seine Stimme gequält. »Ich bin ein Krieger, Skar. Man hat mich gelehrt, daß mein Leben dem Kampf dient, und mit ihm endet, so oder so. Mich und all die Männer, die mir ihr Leben anvertrauten. Ich habe zehntausend von ihnen in den Tod geführt. Und Tausende von deinen Männern.«

»Du wurdest getäuscht, genau wie wir, und -«

»Das spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Titch. »Ich habe einen Fehler gemacht, und es ist gleich, warum. Ich bin als Krieger geboren und zum Krieger erzogen worden, und als Krieger habe ich versagt, und die Regeln sind eindeutig, in diesem Fall. Aber ich frage mich, ob sie richtig sind.«

»Keine Regel, die den Tod eines Mannes verlangt, ist richtig«, antwortete Skar.

»Aber ich bin kein Mann«, widersprach Titch in beinahe sanftem Tonfall. »Du verstehst unsere Art zu denken noch immer nicht, Satai, so wenig wie ich die eure. Ich und das Heer, das ich zu euch brachte, wir sind...« Er suchte nach Worten. »Waffen. Erinnerst du dich, wie Anschi die Ultha nannte? Dinge. Das sind wir. Krieger. Werkzeuge, die man benutzt und sorgsam pflegt, aber wegwirft, wenn sie nicht mehr gebraucht werden oder versagen. Oh, wir sind Fürsten, dort, wo wir herkommen. Wir haben alles, was unsere Brüder nicht haben: warme Feuer im Winter, gutes Essen, Wein, Frauen... Die Quorrl sind ein armes Volk, doch ihre Krieger entbehren nichts. Bis auf ihr Leben vielleicht.« Seine Stimme wurde bitter. »Damals, lange ehe sie mich zum Führer des Heeres machten und zu euch schickten, da habe ich mich manchmal danach gesehnt, mit einem einfachen Bauern oder Jäger tauschen zu können. Verrückt, nicht?«

»Nein«, antwortete Skar. »Das ist es ganz und gar nicht. Auch mir ist es oft so gegangen.«

»Aber du hast dir dein Los selbst ausgesucht«, widersprach Titch. »Niemand hat dich gezwungen, Satai zu werden. Mich hat niemand gefragt, ob ich ein Krieger sein will. Ich wurde als Krieger gezeugt, und meine Amme war das Schwert.« Er stand auf, ging zur Klippe zurück und blieb zwei Schritte vor dem Ende des Felsplateaus stehen, und nach ein paar Sekunden erhob sich auch Skar und folgte ihm.

Für eine geraume Weile standen sie einfach schweigend nebeneinander und blickten auf die verwirrend fremdartige Welt hinab, die sich zwei oder drei Meilen unter ihnen ausbreitete. Das Tal der Drachen... Die Worte erfüllten Skar mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Angst. Unter ihnen lag der Schlüssel zur Macht der Errish, die Heimat der Bestien, die sie unbesiegbar und fast allmächtig gemacht hatten, aber auch eine Welt, die den meisten Menschen Enwors so fremd und unverständlich war, daß sie davor zurückschreckten, auch nur ihren Namen auszusprechen. Kaum ein Mensch, der nicht das schwarze Gewand der Errish trug, hatte dieses Tal jemals betreten. Und von denen, die es gewagt hatten, waren nur die allerwenigsten zurückgekehrt. Selbst die Ehrwürdigen Frauen zahlten manchmal mit dem Leben für den Versuch, die Heimat der Drachen zu betreten.

»Vielleicht wäre es besser, wenn du hier auf mich wartest«, sagte er. »Kein Quorrl hat jemals dieses Tal betreten.«

»Und kein Mensch das Land der Toten«, antwortete Titch ebenso leise. »Trotzdem willst du es tun.«

Aber ich bin kein Mensch, dachte Skar. Laut sagte er: »Das ist etwas anderes. Ich... habe keine Wahl. Ich muß es tun.«

»Warum?« Titch lachte leise. Es sollte abfällig klingen, aber Skar spürte die Unsicherheit darin. »Weil du ein Satai bist und dir einbildest, die Welt retten zu müssen?«

»Nein«, antwortete Skar. »Weil ich es war, der sie geweckt hat. Und weil ich der einzige bin, der sie vielleicht aufhalten kann.«

Titch war nicht einmal überrascht. Vielleicht hatte ihm irgend jemand die Geschichte von Vela und ihrem Versuch, die Macht über die Welt an sich zu reißen, erzählt, und die Rolle, die Skar darin gespielt hatte. Vielleicht spürte er auch einfach nur, daß Skar mehr war als ein Satai.

»Ich habe nicht geschlafen«, sagte Titch plötzlich, und im ersten Moment scheinbar zusammenhanglos. »Ich hatte viel Zeit, nachzudenken, Skar. Ich glaube, du hast recht. Wir können sie nicht besiegen. Du kannst es nicht, und ich kann es nicht. Nicht allein. Aber vielleicht gelingt es uns gemeinsam. Unsere Völker sind Feinde, solange unsere Erinnerung zurückreicht, aber wenn wir zusammen überleben konnten, dann können es all die anderen vielleicht auch.«

Unter allen anderen denkbaren Umständen hätten diese Worte vielleicht lächerlich, zumindest aber pathetisch in Skars Ohren geklungen. Jetzt nicht. Er verstand, was der Quorrl meinte, und er wußte, daß er recht hatte. Menschen und Quorrl waren längst zu einem Volk geworden, auch wenn sie es selbst nicht einmal ahnten. Enwor gehörte ihnen beiden. Es spielte überhaupt keine Rolle mehr, wer von ihnen zuerst hiergewesen war.

»Vertraust du mir?« fragte Titch plötzlich.

»Natürlich«, antwortete Skar. Vielleicht war der Quorrl das einzige denkende Wesen auf dieser ganzen Welt, dem er noch vertraute.

»Aber das solltest du nicht«, fuhr Titch fort; ganz leise, den Blick starr weiter nach unten gerichtet, auf das verwirrende Marmormuster aus Gelb und Braun und schmutzigem Grün, ohne es wirklich zu sehen.

»Und... warum?«

»Weil ich dich belegen habe«, murmelte Titch. »Dich und... dieses Kind, an dem dir so viel zu liegen scheint.«

»Belogen?«

»Geh nicht dorthin«, sagte Titch anstelle einer direkten Antwort. Er deutete ins Tal hinab. Skar wollte etwas sagen, aber Titch machte eine rasche Handbewegung und fuhr fort: »Es ist nicht, was du glaubst. Aber du kannst das Mädchen nicht retten. Niemand kann das jetzt noch. Sie... stirbt. So oder so. Ihr werdet beide sterben«, fügte er leiser hinzu.

Skar sah ihn fragend an. Der Quorrl drehte sich zu ihm herum, zog ganz langsam sein Schwert und hielt Skar die Klinge hin. »Sieh dich an.«

Verwirrt nahm Skar dem Quorrl die Waffe aus der Hand und drehte die blitzende Klinge so lange, bis sich sein eigenes Gesicht in ihrer Oberfläche spiegelte. Das Bild war verzerrt; die Kratzer, die die Waffe davongetragen hatte, schienen sein Antlitz in mehrere ungleiche Teile zu teilen, die nicht ganz perfekt zusammenpaßten. Aber er sah trotzdem, was der Quorrl meinte, und er erschrak. Das Gesicht, das ihm entgegengrinste, war das eines Toten. Seine Haut war bleich, fast weiß, und mit häßlichen grauen Flecken übersät, und unter seinen Augen und auf seinen Wangen lagen schwarze Schatten. Sein Haar war dünn geworden, und als er den Mund öffnete, sah er, daß sein Zahnfleisch zurückgewichen war. Er erinnerte sich, wie sehr er erschrocken war, als er Kiina angesehen hatte, vor zwei Tagen, im Lager der Errish. Jetzt bot er selbst einen fast noch schlimmeren Anblick.

Zögernd gab er Titch das Schwert zurück und sah ihn fragend an. »Der Staub?«

»Nein«, antwortete der Quorrl. »Oder vielleicht doch, ja. Du fühlst dich schwach. Jede Bewegung fällt dir schwer. Und du blutest.«

»Es wird doch schon besser«, sagte Skar leichthin. »Als ich Kiina...«

»Es wird besser, für eine Weile, aber frißt dich von innen heraus auf. Dich und das Mädchen. In einer Woche, längstens einem Monat, seid ihr tot. Beide. Und es wird kein angenehmer Tod sein.« Skar dachte an den Ausdruck entsetzlicher Pein, den er auf dem Gesicht der Margoi gelesen hatte, und schwieg. Plötzlich war ihm kalt. »Erzähle.«

»Ich habe es geahnt«, sagte Titch. »Schon als du von der alten Frau erzählt hast, die ihr unter Elay gefunden habt. Später, als ich von dem Licht hörte, wußte ich es. Aber ich wollte sichergehen. Und später...« Er zögerte, drehte mit einem Ruck den Kopf und starrte wieder in den Abgrund hinab. »Vielleicht wollte ich, daß ihr sterbt«, flüsterte er. »Ich habe geglaubt, dich zu hassen.« Du hast nicht mehr viel Zeit, Bruder, flüsterte die Stimme des Daij-Djan hinter seiner Stirn. Weniger, als du glaubst. Skar schauderte.

»Es ist nur eine Legende«, fuhr Titch fort, als er nichts sagte. »Wir haben Tausende von Legenden, Skar. Ich habe sie alle für Märchen gehalten. Aber es... es sieht so aus, als wären die Legenden wahr, und das, was wir für Wahrheit gehalten haben, Legende.«

»Erzähl sie mir«, bat Skar. Seltsam, er hatte immer noch keine Angst. Der Gedanke an seinen eigenen Tod hatte jeden Schrecken für ihn verloren. Vielleicht hatte er seine Fähigkeit, Angst zu haben, einfach überstrapaziert.

»Was Elay vernichtet hat, ist eine Waffe der Alten. Es ist Sternenfeuer, Skar. Das Feuer der Sonne, vom Himmel geholt. Es verbrennt Städte und Länder, und die, die ihm entkommen, tötet es mit seinem giftigen Atem. Manchmal sofort, wie die Errish, manchmal erst nach Wochen. Du wirst krank und stirbst, oder du erholst dich und stirbst später. Aber du stirbst.«

Vielleicht war es gut so, dachte Skar. Etwas in ihm sehnte den Tod herbei, auch wenn sich sein Verstand davor fürchtete; nicht vor dem großen Nichts, sondern vor der körperlichen Qual, der ein Ende wie das der Margoi begleiten mußte. Es tat ihm um Kiina leid.

»Und es gibt keine Rettung?«

»Das Wasser des Lebens«, antwortete Titch. »Es heißt, daß es alle Krankheiten heilt, wenn es dich nicht tötet.«

»Dann sollten wir keine Zeit mehr verlieren.«

»Der Weg ist zu weit«, antwortete Titch ruhig. »Selbst wenn wir das Mädchen nicht befreien müßten, selbst, wenn wir Pferde hätten, und selbst, wenn du ein Quorrl wärst und dich nicht verstecken müßtest, brauchten wir Wochen, um den Heiligen Ort zu erreichen.« Er deutete nach Norden, weit über die Grenzen des Drachenlandes hinaus, dort, wo in Hunderten und Aberhunderten Meilen Entfernung das Land der Quorrl lag, aber für Skar war es, als wiese seine blutende Hand direkt auf den schwarzen Turm im Herzen des Tales, den Moloch, der Kiina verschlungen hatte und der auch auf ihn wartet. Dann wies seine Hand nach links, zu einer Stelle am Rand der Klippe, eine halbe Meile entfernt. »Dort drüben scheint es einen Abstieg zu geben. Ich war nicht sehr weit, aber der Weg sieht begehbar aus. Es gibt Spuren.«

Skar fragte sich, warum Titch ihm das alles erzählt hatte. Wenn er recht hatte, und Skar wußte, daß es so war, dann war sowieso alles sinnlos, dann war ihr Kampf verloren, selbst, wenn es ihnen gelang, Kiina aus der Gewalt der Zauberpriester zu befreien, denn sie würde kurz darauf so oder so sterben. Aber dann begriff er, daß Titch einfach nicht länger hatte schweigen können. Hätte er es getan, dann wäre es für Titch so gewesen, als hätte er selbst Skar umgebracht.

»Wenn es der einzige Weg ist, dann werden sie dort unten auf uns warten«, sagte Skar.

Titch starrte ihn an. Er schien zu begreifen, warum Skar so abrupt das Thema wechselte. Ein dünnes, fast menschliches Lächeln stahl sich auf seine Raubtierzüge. »Ein Grund mehr, keine Zeit mehr zu verlieren«, sagte er. »Man sollte eine Errish niemals warten lassen, nicht wahr?«

Sie wurden nicht erwartet. Der Abstieg hinunter ins Tal der Drachen erwies sich sogar als wesentlich leichter, als Skar befürchtet hatte, denn was auf den ersten Schritten nur ein schmaler, jäh in die Tiefe führender Pfad war, wurde nach einem Viertel der Strecke zu einer breit ausgebauten und von zahllosen Füßen glattpolierten Treppe, die in gewagten Windungen und Kehren in die Tiefe und auf den letzten zwanzig, dreißig Metern sogar durch einen Tunnel im Inneren des Berges führte, die in einer kleinen, zu einer Seite offenen Höhle endete. Auf dem Boden waren die Spuren zahlreicher Feuer, hier und da lagen achtlos liegengelassene Kleinigkeiten, die verrieten, daß dieser Weg in der Vergangenheit oft benutzt worden war, zugleich aber, daß ihn seit Monaten niemand mehr gegangen sein konnte.

Sie legten eine kurze Rast ein, und Titch ließ Skar zurück, um sich draußen ein wenig umzusehen. Skar protestierte nicht. Der Quorrl hatte längst die Führung übernommen, während Skar selbst nur noch die Richtung bestimmte, in der sie gingen, und das war auch gut so, denn Titch war zumindest körperlich in der besseren Verfassung.

Titch blieb nicht sehr lange, aber er sah besorgt aus, als er zurückkam. Skar stand auf und ging ihm ein paar Schritte entgegen, verließ die Höhle aber noch nicht, »Was hast du?« fragte er. »Hast du jemanden gesehen?«

Der Quorrl schüttelte den Kopf. »Nein. Aber die Gegend gefällt mir nicht.« Er machte eine vage Geste zum Höhleneingang. »Es ist heiß, und der Sand ist so fein wie Puder. Man wird unsere Spuren meilenweit sehen.«

»Sie wissen sowieso, daß wir kommen«, sagte Skar müde. »Sie wissen, daß du kommst«, verbesserte ihn Titch. »Deinen Quorrl-Freund werden wir töten«, zitierte er Anschis Worte. »Wir haben nicht viele Vorteile, aber einer davon ist, daß sie nichts von mir wissen. Wir sollten ihn nicht verschenken.«

»Und was schlägst du vor?«

»Wir trennen uns«, sagte Titch. Er hob rasch die Hand, als Skar protestieren wollte. »Nur für eine Weile. Bis zum Waldrand sind es drei oder vier Meilen, nicht mehr. Ich werde die gleiche Strecke hier am Fuße der Wand entlanggehen, aber nach Westen, nicht nach Norden. Dann mache ich kehrt und folge dir. Komm.« Er wandte sich um und trat an den Ausgang der Höhle.

Als Skar neben ihn trat, spürte er, was Titch gemeint hatte. Selbst der sanfte Wind, der ihnen entgegenschlug, war warm und roch, als wäre er über eine Ebene aus glühendem Eisen gestrichen. Kaum hundert Meter vor ihnen schlängelte sich das blausilberne Band eines Flusses dahin, aber seine Ufer waren kahl, als wäre der Boden unfähig, Leben hervorzubringen. Der Wald dahinter lag vielleicht zwei oder drei Meilen entfernt, ganz wie Titch gesagt hatte, aber er war hinter einer Mauer aus hitzeflirrender Luft verborgen, in der Sand wie feiner grauer Staub tanzte.

»Du wartest dort auf mich«, sagte Titch. »Siehst du den riesigen Baum mit der gespaltenen Spitze?«

Skar sah nicht einmal einen Baum, aber er wußte, daß er sich auf Titchs scharfe Augen verlassen konnte. Er würde ihn sehen, wenn er näher kam. Er nickte.

»Du wartest dort auf mich. Ich bin da, sobald es dunkel wird. Nachts können wir marschieren, ohne aus der Luft entdeckt zu werden.«

Etwas an diesem Vorschlag gefiel Skar nicht, aber er war viel zu erschöpft, um zu widersprechen. Außerdem erschienen ihm Titchs Worte nur logisch. Von den Rücken ihrer Daktylen aus würden die Errish vielleicht ihre Spuren entdecken, aber niemals erkennen, daß sie sich um die Spuren zweier Männer handelte. Titch löste die Flasche von seinem Gürtel und hielt sie Skar hin. »Trink«, sagte er. »Der Weg ist weit.«

Skar trank einen winzigen Schluck, aber Titch schüttelte den Kopf, als er ihm die Flasche zurückgeben wollte. »Trink sie leer«, befahl er. »Ich fülle sie wieder auf. Im Fluß ist genug Wasser.« Er achtete mißtrauisch darauf, daß Skar auch den letzten Rest aus der Feldflasche trank, hängte sie an seinen Gürtel zurück und machte eine auffordernde, ungeduldige Handbewegung. »Worauf wartest du?«

Das Tal der Drachen war die Hölle. Die Luft waberte vor Hitze, und der Boden bestand aus pulverfeinem Staub, nicht aus Sand, in den er bei jedem Schritt bis weit über die Knöchel einsank, was das Gehen zu einer Qual machte. Die Wüste war so trocken, als hätte es nie einen zweiwöchigen Dauerregen gegeben, der auf das Land heruntergeprasselt war, und jeder Schritt kostete Skar ein wenig mehr Kraft als der vorherige. Er brauchte zwanzig Minuten, um den Fluß zu erreichen, obwohl er nur wenige hundert Meter von der Felswand entfernt war, und den Rest des Tages bis zum Wald, denn die Luft, die vor Hitze flimmerte, machte es unmöglich, Entfernungen zu schätzen, und die Strecke dorthin betrug nicht zwei, sondern mindestens fünf Meilen. Obwohl er auch am Fluß noch einmal anhielt und so viel trank, bis sein Magen zu platzen schien, bekam er bereits nach einer halben Stunde wieder Durst, der im Laufe des Nachmittages quälend und schließlich fast unerträglich wurde.

Einmal - es war vielleicht eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang - meinte er, einen dreieckigen schwarzen Schatten am Himmel wahrzunehmen, warf sich flach auf den Boden und grub sich ein, so gut er konnte. Als er wieder aufstand und weiterwankte, war der Sand unter seine Kleider gekrochen und scheuerte unerträglich auf seiner Haut. Er wußte nicht mehr, wie er das Kunststück fertig brachte, den Waldrand zu erreichen. Als Titch eine Stunde später ankam, fand er ihn halb bewußtlos am Stamm des Baumes lehnen, den sie als Treffpunkt ausgemacht hatten. Skar erinnerte sich nicht einmal, ihn überhaupt gesehen zu haben.

Titch gab ihm zu trinken. Wasser, das so kalt und frisch war, daß es aus einer Quelle unmittelbar in ihrer Nähe stammen mußte, aber Skar hatte nicht einmal die Kraft, ihn danach zu fragen. Er wollte nur schlafen. Aber Titch war unerbittlich. Er gab ihm eine Viertelstunde, neue Kräfte zu schöpfen, dann marschierten sie weiter.

Sie sahen noch zweimal Daktylen in dieser Nacht - einmal als verschwommenen Schatten, der in rasender Geschwindigkeit über den Himmel jagte, das zweite Mal so dicht über dem Wald, daß Skar meinte, den Luftzug ihrer Schwingen zu spüren.

Gegen Morgen versagten Skars Kräfte endgültig. Er stolperte über eine Würze! und fiel, wie zahllose Male zuvor, aber diesmal blieb er liegen, und auch Titch schien einzusehen, daß es keinen Sinn mehr hatte, weiterzugehen: er hob Skar kurzerhand auf, trug ihn noch eine kurze Strecke durch den Wald und legte ihn im Schutz eines gewaltigen, abgestorbenen Baumes nieder. Skar schlief ein, ehe sich Titchs Hände von ihm lösten - und träumte.

Wieder war etwas in diesem Traum anders. Der Daij-Djan ließ ihn in Ruhe, und er sah sich auch nicht mit Titch kämpfen, aber das Flüstern war wieder da, nur, daß es jetzt kein Flüstern mehr war, sondern eine machtvolle, befehlende Stimme von fast unwiderstehlicher Kraft, die nicht in ihm war, sondern aus allen Richtungen zugleich auf ihn einzustürmen schien, bis er glaubte, den Verstand verlieren zu müssen. Und diesmal wußte er, wo sie herkam: aus dem schwarzen Turm im Herzen des Tales.

Mit dieser Erkenntnis wachte er auf, schweißgebadet und zitternd vor Haß, der ziellos war, und deshalb vielleicht um so schlimmer. Er fuhr mit einem Ruck in die Höhe und öffnete die Hände, um etwas zu packen, ganz gleich was, etwas zu zerreißen, zu... zu töten. Es war noch dunkel, und er war umgeben von Schatten und der angenehmen Kühle der Nacht. Das Lager neben ihm war leer, aber in dem feuchten Moos erkannte er deutlich die Umrisse einer massigen, mehr als mannshohen Gestalt, und das kreischende Ding in ihm erschuf den passenden Körper dazu: groß, muskulös und von graugrünen Schuppen bedeckt, ein Quorrl.

Der alte Feind, flüsterten seine Gedanken. Vernichte ihn. Töte ihn! Jetzt!

Skar stöhnte. Verzweifelt versuchte er den Wahnsinn niederzuringen, der seine Gedanken zu verschlingen drohte, aber es gelang ihm nicht. Er stand auf. Taumelnd, nicht vor Schwäche oder Müdigkeit, sondern vor Zorn, der kein Ventil fand.

Er hörte ein Geräusch in den Büschen hinter sich: das Knacken von Zweigen, die vor einem schweren Körper zurückwichen, fuhr herum und wich einen halben Schritt zurück, zitternd, keuchend vor Anstrengung und Zorn, er... roch den Quorrl, sah seine Silhouette zwischen den Büschen auftauchen - und griff an.

Etwas in ihm schrie verzweifelt auf, aber er war unfähig, den Zorn zu besiegen, und vielleicht war es gut so, denn wäre er nur ein ganz kleines bißchen mehr bei klarem Verstand gewesen, dann hätte er vielleicht seine Waffe gezogen und Titch warnungslos getötet. So griff er den Quorrl mit bloßen Händen an, wie ein Tier, das in die Enge getrieben ist und blindlings um sich schlägt. Titch wurde vollkommen überrascht. Er versuchte, Skars Arme beiseite zu schlagen, aber er war viel zu langsam. Mit der absoluten Kraft, die nur Zorn oder Todesangst verleihen, packte Skar den Quorrl, riß ihn in die Höhe und schleuderte ihn gegen einen Baum. Titch brüllte vor Überraschung und Schmerz, ging zu Boden und schrie ein zweites Mal auf, als Skars Faust mit fürchterlicher Wucht seine Brust traf. Er versuchte sich zu wehren, aber Skar fiel wie ein Tobsüchtiger über ihn her, deckte ihn mit Schlägen und Tritten ein, die nur aus dem einen Grund nicht tödlich waren, weil er viel zu sehr raste, um gezielt zuzuschlagen. Aber er spürte, daß er den Quorrl verletzte. Sein eigenes Blut lief von seinen Händen, aber auch das Titchs.

Dann bekam der Quorrl seinen Arm zu fassen. Skar bäumte sich auf, versuchte sich loszureißen und schlug mit der freien Hand wie besessen auf Titchs Gesicht ein, aber der Quorrl ließ nicht los. Skars Hiebe ließen seine Lippen und die dünnen Schuppen unter seinen Augen aufplatzen, aber Titch reagierte gar nicht darauf, sondern stemmte sich mit einer kraftvollen Bewegung in die Höhe und versuchte, auch Skars anderen Arm zu packen.

Skar wich seiner Hand aus, trat nach Titchs Knie und verlor das Gleichgewicht, als der Quorrl eine blitzschnelle halbe Drehung vollführte. Dann war Titch hinter ihm, verdrehte ihm den Arm und legte die freie Hand von hinten um Skars Hals. Skar bäumte sich auf, trat und wand sich im Griff des riesigen Quorrl und tastete nach seinem Gesicht und seinen Augen, aber Titch stand wie ein Fels. Sein Griff war wie Stahl. Langsam, aber unbarmherzig, schnürte er ihm den Atem ab.

Skars Lungen brannten wie Feuer, und vor seinen Augen begannen feurige Kreise zu flimmern. Der Arm, den Titch ihm auf den Rücken drehte, schmerzte unerträglich. Aber er hörte erst auf zu toben, als er das Bewußtsein zu verlieren begann.

Titchs Griff lockerte sich, aber nur so weit, daß Skar wieder atmen konnte. Er taumelte, rang keuchend nach Luft und brach ganz langsam in die Knie. Titch folgte der Bewegung, stützte ihn, als er zusammenbrach, hielt ihn aber auch gleichzeitig fest, selbst, als Skar längst aufgehört hatte, sich zu bewegen.

»Was ist los mit dir?« schrie er.

Skar antwortete nicht, aber Titch schien zu spüren, daß es vorbei war. Zögernd ließ er Skars Hand los, drehte ihn auf den Rücken und trat rasch einen Schritt zurück, um nicht von einem neuerlichen Angriff überrascht zu werden.

»Was soll das?« fragte er mißtrauisch, und viel mehr verwirrt als zornig: »Bist du verrückt geworden?«

»Vielleicht«, stöhnte Skar. Das Sprechen fiel ihm schwer. Titchs unbarmherziger Griff hatte etwas in seinem Hals verletzt. Er schmeckte Blut. »Vielleicht bin ich das wirklich«, wiederholte er. »Oder ich werde es. Großer Gott, Titch - was geschieht mit uns?«

»Du hast es doch selbst gesagt«, grollte Titch. »Du wirst verrückt - und ich bin es offenbar schon, mich immer noch mit dir abzugeben.« Er legte den Kopf auf die Seite und sah Skar mißtrauisch und sehr lange an.

»Du hast wieder geträumt?«

Skar nickte. Er versuchte aufzustehen, aber seine Kräfte versagten. Er fühlte sich schwächer denn je. Der Schlaf hatte ihn erschöpft, statt seine Kräfte zu regenerieren; er sank stöhnend zurück, blieb sekundenlang mit geschlossenen Augen liegen und versuchte es noch einmal. Titch sah ihm schweigend zu, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen. Ganz im Gegenteil - als Skar endlich auf eigenen Füßen stand, wich er einen Schritt zurück. »Ist es... vorbei?«

Skar lauschte in sich hinein. Es war nicht vorbei, weil es nie vorbei sein würde, solange dieses fürchterliche Flüstern in seinen Gedanken nicht aufhörte, aber für den Moment hatte er die rote Haßkreatur besiegt. Er nickte, und Titch schien zu spüren, daß es die Wahrheit war, denn er atmete hörbar auf. Skar konnte sehen, wie die Spannung aus ihm wich.

»Gut«, sagte er. »Wenn du wieder klar genug bei Verstand bist, mir zuzuhören, können wir vielleicht weitergehen.« Die Stimme des Quorrl zitterte. Skar sah ihn aufmerksamer als bisher an und erschrak. Titchs Gesicht war voller Blut, und längst nicht alles davon stammte von Skar. Und die Art, in der er den rechten Arm hielt, verriet, daß er verwundet war.

»Ich habe dich verletzt«, sagte er. »Das... tut mir leid. Laß mich sehen.«

Titch schlug seine Hand beiseite, als Skar nach seinem Arm greifen wollte. »Das ist nichts«, sagte er. »Ein Kratzer. Du kannst mich nicht ernsthaft verletzen, weißt du? Aber du warst überraschend gut - für einen Menschen«, fügte er hinzu.

Skar schwieg betroffen. Er hatte Titch verletzt, das wußte er. Er konnte es sehen, und er hatte gespürt, wie irgend etwas unter seinen Fäusten zerbrochen war, und das waren nicht nur die harten Panzerschuppen des Quorrl gewesen.

»Wir werden es nicht schaffen, Titch«, flüsterte er. »Wir haben keine Chance. Es... es wird schlimmer, mit jedem Mal, wenn ich schlafe. Das nächste Mal bringe ich dich vielleicht um.«

Titch lachte unecht. »Der Mensch, der einen Quorrl mit bloßen Händen umbringt, muß erst noch geboren werden«, sagte er leichthin. Skar wollte protestieren, aber Titch schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. »Ich habe mich ein wenig umgesehen, während du geschlafen hast. Interessiert dich, was ich gefunden habe?« Er wartete Skars Antwort erst gar nicht ab, sondern drehte sich halb herum und deutete in die Richtung, aus der er gekommen war, ohne Skar dabei jedoch auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

»Dort hinten sind Spuren, und sie sind nicht älter als eine Stunde. Zwei, vielleicht drei.«

»Daktylen?«

»Nein«, antwortete Titch. »Aber auch keine Reiter.« Er machte eine hilflose Handbewegung. »Ich habe Spuren wie diese noch nie gesehen, aber ich denke, es sind Drachenspuren. Und die von Menschen. Wir sollten uns darum kümmern.«

Skar zögerte, aber nur einen Moment. Titch wollte nicht mit ihm über das sprechen, was geschehen war, und er konnte den Quorrl sogar verstehen. Reden nutzte keinem von ihnen. Und es machte die Gefahr nicht kleiner. Wortlos bückte er sich nach seinem Mantel, warf ihn über und trat mit einer auffordernden Geste neben den Quorrl. Die Stille fiel ihm auf, als sie in den Busch eindrangen. Sie hatten - schon aus Furcht vor Raubtieren - ihr Lager fast unmittelbar am Rande des kleinen Waldflecken aufgeschlagen, nur durch ein paar Büsche geschützt, aber Skar wußte, daß der Dschungel nicht sehr groß war - ein Stück von zwei, allerhöchstens drei Meilen Länge und der doppelten Breite, von der sie auf ihrem Marsch durch die Nacht allerdings schon das allergrößte Stück hinter sich gebracht hatten. Titch und er waren nicht besonders leise, was allein daran lag, daß sie sich mehr als nur einmal ihren Weg durch das verfilzte Unterholz hacken mußten. Trotzdem hätte es Geräusche geben müssen: der Dschungel quoll schier über vor Leben, und wo so viele Pflanzen Nahrung und Lebensraum fanden, mußte es einfach auch Tiere geben. Aber sie sahen und hörten nichts; nicht den mindesten Laut.

Skar sprach den Quorrl darauf an. Titch zuckte nur mit den Schultern, aber nach einem weiteren Dutzend Schritte blieb er plötzlich stehen und deutete mit der Schwertspitze auf einen Punkt dicht neben sich. Skar beugte sich neugierig vor.

Was Titch ihm zeigte, war ein Spinnennetz. Es war unversehrt, mußte aber schon mehrere Tage alt sein, denn die feinen klebrigen Fäden waren voller Staub und Schmutz. Die Spinne selbst - ein gewaltiges Tier, mit einem Körper so groß wie Skars Daumennagel und fast fingerlangen, haarigen Beinen, hing tot in ihrem Nest im Zentrum des Netzes.

»Und?« Skar warf Titch einen fragenden Blick zu.

Der Quorrl lächelte humorlos und deutete abermals mit seinem Schwert. Diesmal mußte Skar genauer hinsehen, um zu erkennen, was Titch ihm zeigen wollte. Aber als er es sah, erschrak er zutiefst.

Unweit des Spinnennetzes lag ein graugrünes Knäuel auf dem Boden, halb bedeckt von Erdreich und Blättern; ein bizarres Etwas, das Skar im allerersten Moment wie eine absurde Eidechsenkreatur mit zwei Köpfen und mindestens sechs Beinen vorkam. Bis er erkannte, daß es zwei Tiere waren: eine kleine, hellgrüne Eidechse mit schlanken Gliedern und einem fast intelligent anmutenden Gesicht, und eine etwas größere, schuppige Kreatur, die nur aus Krallen und gezackten Panzerplatten zu bestehen schien. Die Tiere hatten sich gegenseitig umgebracht. Selbst im Tode waren ihre Zähne und Krallen noch in den Körper des anderen geschlagen.

»Wenn du dich genauer umsiehst, wirst du noch mehr finden«, sagte Titch düster. »Überall. Du bist nicht der einzige, der schlechte Träume hat.«

»Du meinst, es... wirkt auch auf Tiere?«

Titch hob zur Antwort nur die Schultern, aber Skar mußte plötzlich daran denken, was Kiina ihm gesagt hatte: Sie haben uns die Drachen genommen. Und da war die riesige Gottesanbeterin gewesen, die sie in den Bergen angegriffen hatte.

»Ich weiß es nicht«, knurrte Titch nach einer Weile. »Aber ich habe mich gründlich umgesehen, in den letzten Stunden. Wenn du mich fragst, dann lebt hier nichts mehr. Dieses ganze verdammte Tal ist ein Grab. Und noch etwas.« Er zögerte, und als er weitersprach, tat er es in einer Art, als wäre er nicht ganz sicher, ob es richtig war, Skar seine Beobachtung mitzuteilen. »Ich bin... auf einen der Bäume gestiegen, um mich umzusehen.«

»Und?« fragte Skar. »Was hast du entdeckt?«

»Nichts«, sagte Titch. »Aber das ist es ja gerade, was mich beunruhigt. Wenn dies hier das Tal der Drachen ist, dann frage ich mich: wo sind die Drachen?« Er ging weiter, ehe Skar noch etwas sagen konnte, und er tat es ein bißchen zu schnell und energisch, um Skar weiter glauben zu machen, daß ihn dieser Gedanke völlig unbeeindruckt ließ.

Es waren drei, wie Titch vermutet hatte, aber es waren keine Drachen, sondern Tyrr, jene häßlichen, aufrecht auf den Hinterläufen gehenden Echsenwesen, die Anschi im Kampf gegen Titchs Männer eingesetzt und Skar später im Lager der Errish wiedergesehen hatte. Aber etwas war an diesen Tieren anders als an denen, die die Errish benutzten: sie waren aufgezäumt und sorgsam gepflegt, und auf ihren Rücken waren sonderbar asymmetrische Sättel festgeschnallt, die es einem Menschen erlauben mußten, in einer absurden Huckepack-Haltung auf den känguruhähnlichen Ungetümen zu reiten. Zwei der drei Reiter saßen an einem kleinen Feuer unweit der zusammengebundenen Laufechsen; von dem dritten war keine Spur zu sehen. Wahrscheinlich stand er irgendwo Wache. Skar hoffte, daß er nicht seinerseits in einem Versteck hockte und sie beobachtete, während sie überlegten, wie sie seine Kameraden überwältigen sollten.

Titch gab ihm ein Zeichen, sich ein Stück weit in den Wald zurückzuziehen, damit sie reden konnten. Skar nickte, robbte rückwärts durch den staubfeinen Sand und richtete sich vorsichtig auf, als er den Wald erreichte, ging aber noch ein gutes Stück in den Busch hinein, ehe er stehenblieb und auf den Quorrl wartete, der etwas langsamer und weniger elegant nachkam, aber genauso lautlos wie er.

»Sind sie das?« flüsterte Titch.

»Die Zauberpriester?« Skar war sich nicht sicher. Die beiden Gestalten, die sie beobachtet hatten, trugen die gleichen, klobigen Anzüge mit den übergroßen Helmen wie die, die vor zwei Tagen mit Anschi geredet hatten. Aber etwas an ihnen war... anders. Skar konnte das Gefühl nicht in Worte kleiden, aber es war zu deutlich, um es zu ignorieren.

»Vielleicht«, sagte er ausweichend.

»Wir werden es herausfinden«, knurrte Titch. »Spätestens, wenn wir sie überwältigt haben.«

»Du willst sie angreifen?«

»Du nicht?« Titch lachte leise. »Wo ist dein Mut geblieben, Satai? Es sind nur drei.«

»Drei Zauberer«, gab Skar zu bedenken.

Titch machte eine wegwerfende Handbewegung. »Zauberer? Aus deinem Mund mutet dieses Wort seltsam an, findest du nicht? Ich erinnere mich an lange Gespräche, in denen du mir immer wieder erklärt hast, daß du nicht an Zauberei glaubst.«

»Das tue ich auch jetzt noch nicht«, widersprach Skar gereizt. »Nenne es, wie du willst, aber diese Männer verfügen über Kräfte, denen wir nicht gewachsen sind.«

Titch fegte seine Worte mit einer zornigen Bewegung davon. »Was glaubst du, wozu sie hier sind?« schnappte er. »Bestimmt nicht, um spazieren zu reiten, weil ihnen die Landschaft so gefällt. Sie suchen dich. Und sie sind schuld am Tod meiner Männer. Sie werden dafür bezahlen. Außerdem brauchen wir ihre Reittiere. Ich tue es auch allein, wenn du Angst hast.«

Skar sah den Quorrl einen Herzschlag lang durchdringend an und begriff, daß jedes weitere Wort sinnlos war. Natürlich hatte er keine Angst. Was ihn vor dem Gedanken an einen Überfall auf die drei Zauberpriester zurückschrecken ließ, das war die Furcht vor sich selbst, die Angst, das Ding in sich nicht mehr bezwingen zu können, wenn er die Waffe zog und kämpfte. Aber Titch hatte recht. Das Tal der Drachen maß an die zweihundert Meilen, und wenn der flüsternde Turm sich auch nur annähernd in seinem Zentrum befand, dann bedeutete das einen Marsch von fünf, möglicherweise sieben Tagen. Selbst wenn er noch so lange zu leben hatte, würden seine Kräfte einfach nicht ausreichen.

»Sei vorsichtig«, sagte er. »Denk an die grünen Feuer.«

Titch lachte humorlos. »Ich denke an nichts anderes«, sagte er grimmig. »Wie gehen wir vor?«

Skar überlegte einen Moment. Das Lager der Zauberpriester befand sich gute dreißig, vierzig Schritte weit in der Wüste; selbst in der Nacht zu weit, als daß sie eine realistische Chance gehabt hätten, sich anzuschleichen. Wenn schon nicht die Reiter, würden die Tyrr ihre Annäherung bemerken und sie verraten, sollten ihre Sinne auch nur halb so scharf sein wie die ihrer großen Verwandten. Aber vielleicht war es auch gar nicht nötig, sich anzuschleichen.

Er erklärte Titch kurz seinen Plan. Der Quorrl schwieg dazu, aber als Skar fertig war, wandte er sich wortlos um und verschwand im Unterholz.

Skar schlich zurück zum Waldrand. Sein Blick suchte das kleine Feuer, vor dem sich die Gestalten der beiden Zauberpriester als schwarze Schatten abhoben. Wenn er genau hinhörte, konnte er ihre Stimmen hören, die sich in einer Sprache unterhielten, die er nicht verstand. Er war nicht einmal sicher, ob es die Summen von Menschen waren.

Er sah nach oben. Der Himmel war wolkenlos und erstaunlich klar, begann sich aber im Osten bereits grau zu färben. Ihnen blieb nicht mehr sehr viel Zeit. Und wo war der dritte Reiter? Wenn es ihnen nicht gelang, sie alle drei zur gleichen Zeit zu überwältigen, waren sie verloren. Gegen das unheimliche grüne Feuer halfen weder Titchs ungeheuerliche Körperkräfte noch seine Schnelligkeit oder die Schärfe seiner Klinge.

Skar zählte in Gedanken langsam bis hundert, dann zog er sein Schwert, trat mit einem bewußt schleppenden Schritt aus dem Wald hervor und zerbrach einen Zweig in der Hand. Das helle Knacken drang wie ein Peitschenhieb durch die Stille der Nacht.

Die riesigen Köpfe der beiden Männer am Feuer ruckten herum. Skar hörte einen halb erschrockenen, halb überraschten Ausruf, zögerte eine Winzigkeit länger, als nötig gewesen wäre, und warf sich mit einem mächtigen Satz ins Unterholz. Hinter ihm gellten Schreie auf, das zornige Fauchen eines Tyrr, das dumpfe Geräusch schwerer hastiger Schritte auf dem weichen Wüstenboden, und plötzlich erstrahlte der Wald hinter ihm in einem unheimlichen, kalten grünen Licht, das Blätter und Buschwerk wie unter innerem Feuer aufglühen ließ.

Skar warf sich mit einer verzweifelten Bewegung zur Seite, rollte hinter einen umgestürzten Baumstamm und blieb mit angehaltenem Atem liegen. Das grüne Licht flammte ein zweites Mal auf, keine Lichtnadel wie die Scannerschüsse der Errish, sondern ein breitgefächerter, flirrender Strahl, der durch den Wald schnitt, seine Deckung um kaum eine Handbreit verfehlte und über die Baumkrone über ihm glitt. Sekunden später hörte Skar ein leises Prasseln und Wispern, und dann ging ein wahrer Regen betäubter Kleintiere und Insekten auf ihn nieder.

Die Schritte kamen näher. Skar sah einen Schatten, preßte sich tiefer gegen den Boden und kroch rücklings in die Deckung eines Busches, der so dicht und voller Dornen war, daß er sich Schultern und Rücken zerkratzte, trotz des Mantels. Die Schritte brachen ab, erklangen wieder und brachen erneut ab, als der Fremde mit einem weit ausgreifenden Schritt über den gestürzten Baum hinwegtrat, hinter dem Skar gelegen hatte.

Skar hob vorsichtig den Kopf und blinzelte zu der Gestalt hinauf. Mit ihrem riesigen Helm wirkte sie mißgestaltet, wie ein verkrüppelter Schatten. In ihrer rechten Hand lag ein sonderbar geformtes Etwas, eine Waffe, ähnlich den Scanner der Errish, aber größer, plumper und mit einem grünleuchtenden Kristall an ihrem vorderen Ende. Der riesige Schädel der Gestalt drehte sich langsam hin und her - und dann verharrte ihr Blick direkt auf Skar.

Er begriff fast zu spät, daß es kein Zufall war. Er lag völlig sicher im Schatten des Busches, der schwarz wie die Nacht war, aber das nutzte nichts, denn der Fremde konnte im Dunkeln sehen! Skar reagierte, ohne zu denken. Mit aller Gewalt stieß er sich ab, rollte rücksichtslos durch das dornige Geäst und sprang auf die Füße, und im gleichen Augenblick stieß die Waffe des Zauberpriesters eine Lohe giftgrünen Lichts aus, die den Busch einhüllte und alles Leben darin betäubte. Skar sprang zur Seite und herum, aber der grüne Leuchtfinger folgte ihm unbarmherzig, folgte ihm wie eine Sense aus Licht, die alles Leben niedermähte und ein winziges bißchen schneller war als er.

Skar sprang. Mit einem verzweifelten Satz federte er in die Höhe, flog in einem ungeschickten halben Salto über den grünen Lichtblitz hinweg und verlor das Gleichgewicht, als er seinen Sturz abzufangen versuchte. Der Mann in der schwarzen Rüstung stieß ein verblüfftes Keuchen aus und wirbelte herum, aber er war um eine Winzigkeit zu langsam: Skars Schwert blitzte auf, beschrieb einen glitzernden Halbkreis und prellte ihm die Waffe aus den Fingern.

Der Mann schrie auf, taumelte zurück und umklammerte seine verstauchte Hand, aber er war keineswegs außer Gefecht gesetzt. Als Skar auf ihn zusprang, drehte er sich blitzschnell zur Seite, wich seinem nachgesetzten Hieb aus und trat nach Skars Knie. Eine Sekunde später prallten sie zusammen und stürzten aneinandergeklammert zu Boden.

Skar begriff im gleichen Augenblick, daß er einen Fehler gemacht hatte. Der Fremde war ihm an Körperkraft hoffnungslos unterlegen; aber seine Rüstung machte ihn fast unverwundbar. Sie bestand nicht aus Leder, wie Skar bisher angenommen hatte, sondern aus fingerbreiten, eng ineinanderliegenden Ringen aus mattem schwarzem Metall, von dem Skars Finger haltlos abglitten. Er rang den anderen zu Boden und hielt ihn fast mühelos nieder, aber sehr viel mehr als ihn festhalten konnte er nicht. Hätte er zugeschlagen, hätte er sich an der stahlharten Panzerung allerhöchstens die Hand gebrochen.

Schritte näherten sich, und das Geräusch eines schweren Körpers, der rücksichtslos durch das Unterholz brach. Skars Gedanken überschlugen sich. Er konnte nicht hierbleiben, aber eine Flucht war ebenso sinnlos. Die Männer mußten einfach nur in den Wald hineinschießen, um ihn zu erwischen; die Reichweite des grünen Lichtes war beträchtlich.

Als der zweite Zauberpriester näher kam, sprang er auf die Füße und riß seinen Gefangenen einfach mit sich. Er wirbelte herum, hielt den Mann wie einen lebenden Schutzschild vor sich und rammte ihm die Spitze seines Schwertes in die Seite. Ein dumpfes, erschrockenes Stöhnen drang unter dem gewaltigen Helm des Zauberpriesters hervor, und sein Widerstand erlosch. Er mußte die Waffe kennen, mit der Skar ihn bedrohte: die Klinge des Tschekal bestand aus Sternenstahl, einem Metall, das Eisen so mühelos schnitt wie weiches Holz. Skar bezweifelte insgeheim, daß seine Kraft ausreichen würde, die Klinge durch den schwarzen Metallpanzer zu stoßen; aber das wollte er ja auch gar nicht.

Der zweite Zauberpriester blieb stehen, als er sah, daß Skar seinen Kameraden mit dem Schwert bedrohte. Die Waffe in seiner Hand bewegte sich nach oben, und der grüne Kristall an ihrem Ende schien Skar anzustarren wie ein kleines, böses Auge. Aber er schoß nicht.

Statt dessen kam er einen weiteren Schritt näher und blieb hastig wieder stehen, als Skar eine drohende Bewegung mit dem Schwert machte.

»Keinen Schritt mehr«, sagte er. »Oder ich töte deinen Kameraden. Du kannst mich niederschießen, aber vorher stoße ich ihm das Schwert in den Leib.«

Der andere zögerte. Die Augen unter dem schwarzen Riesenhelm starrten Skar fast ausdruckslos an. »Du bist der Satai«, sagte er schließlich. »Skar.«

Skars Blick wanderte zwischen dem glühenden grünen Auge der Waffe und denen des Zauberpriesters hin und her. Aus irgendeinem Grunde zögerte der Mann, ihn einfach mitsamt seinem Kameraden niederzuschießen. Vielleicht war das grüne Feuer nicht ganz so harmlos, wie er bisher angenommen hatte. Daß Titch und seine Quorrl es unverletzt überstanden hatten, bedeutete nicht unbedingt, daß auch er es überlebte. Ein Quorrl war fünfmal so widerstandsfähig wie ein Mensch.

»Und wenn?« fragte er nach einer Weile. Er mußte Zeit gewinnen.

»Wenn, dann wirst du Brol nicht töten«, sagte der Mann mit dem Riesenhelm ruhig. »Du bist kein Mörder. Wir kennen dich.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Skar. »Ich habe keine große Wahl, weißt du?«

Der andere zuckte mit den Achseln, schüttelte bedächtig den Kopf und senkte seine Waffe. Seine Finger bewegten sich; Skar hörte ein deutliches ›Klick‹, und das grüne Feuer verglomm. »Wir sind nicht deine Feinde«, fuhr der Zauberpriester fort. »Es besteht kein Grund für dich, Brol noch länger festzuhalten. Wir sind nicht hier, um mit dir zu kämpfen.«

Skar lachte bitter. Sein Griff lockerte sich nicht um einen Deut. »Ich weiß«, antwortete er höhnisch. »Ihr seid nur zufällig hier, wie?«

»Keineswegs«, antwortete der Zauberpriester. »Wir suchen dich schon seit zwei Tagen. Und nicht nur wir. Aber nicht, um dich zu töten oder irgend etwas anderes Unsinniges zu tun. Wir wollen dir helfen.«

»Helfen?« Skar schnaubte. »So wie Yul und dieses Miststück Anschi?«

»Wie Yul«, bestätigte der Fremde. »Anschi ist ein dummes Kind. Sie hat einen Fehler gemacht, aber sie wußte es nicht besser. Es war auch unser Fehler; wir hätten kein Kind mit einer Aufgabe betrauen sollen, die eines Erwachsenen bedarf. Es war dumm von ihr, die Quorrl zu töten, und völlig überflüssig. Sie wird bestraft werden.« Er schwieg einen Moment, dann ging er ganz behutsam in die Hocke, legte seine Waffe vor sich auf den Boden, richtete sich wieder auf und breitete die Hände aus.

»Du hast nichts vor uns zu befürchten«, fuhr er fort. »Wir sind hier, um dir zu helfen. Du bist krank, Skar.«

»So?«

»Und du weißt es ganz genau. Du wirst jeden Tag schwächer. Du bist ebenso krank wie Kiina.«

»Wo ist sie?« schnappte Skar. »Was habt ihr mit ihr gemacht?«

»Nichts«, antwortete der andere mit einem leisen, fast ehrlich klingenden Lachen. »Oder doch dasselbe, was wir mit dir tun werden. Wir haben sie geheilt. Ihr Zustand bessert sich bereits. Aber du wirst sterben, wenn du nicht mit uns kommst.«

»Ich fürchte, das wird auch geschehen, wenn ich es tue«, sagte Skar. Aber seine Stimme klang nicht mehr ganz so überzeugt wie bisher. Sein Arm, der das Schwert hielt, begann zu schmerzen, aber er versuchte nicht, das Zittern zu unterdrücken. Er wußte, daß der andere ein scharfer Beobachter war, der die kleinen Zeichen von Unsicherheit und Schwäche sorgsam registrieren würde. »Skar, bitte«, fuhr der Zauberpriester fort. »Ich weiß, daß du Brol und mich besiegen kannst. Wir kennen deinen Ruf, und wir kennen dich, besser vielleicht als du selbst. Ich werde nicht mit dir kämpfen.« Er bückte sich, hob seine Waffe wieder auf und schob sie mit einer achtlosen Geste in eine lederne Hülle, die an seinem Gürtel hing.

»Ich werde jetzt gehen und bei den Tieren auf dich warten. Du kannst Brol hierlassen und fliehen, wenn du willst. Es gibt noch mehr von uns, aber ich bin nicht einmal sicher, ob wir dich einfangen könnten. Lauf weg, wenn du willst. Aber dann stirbst du, und zwar bald und sehr qualvoll. Oder du kannst mit uns kommen und leben.«

»Als euer Sklave, ja«, sagte Skar verächtlich. Er bemühte sich, in seine Stimme genau jenen Ton von Trotz zu legen, den der andere erwartete. »So wie Kiina.«

»Wir haben ihr für kurze Zeit ihren Willen geraubt, das ist wahr«, gestand der Zauberpriester ruhig. »Aber das geschah nur zu ihrem eigenen Schutz.« Er zuckte mit den Achseln, sah Skar noch einmal lange und fragend an und drehte sich um. Skar wartete, bis er zwei, drei Schritte gemacht hatte, dann rief er ihn zurück: »Priester.«

Der Mann drehte sich herum. »Ich bin kein Priester. Mein Name ist Ian. Hast du es dir überlegt?«

»Was... habt ihr mit Titch gemacht?« fragte Skar stockend. »Der Quorrl, den Anschi zu uns bringen sollte?« Ian schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir leid. Sie hat ihn getötet, nachdem sie gesehen hat, was du mit ihren Schwestern getan hast. Er war dein Freund, nicht wahr?«

Skar mußte sich beherrschen, um nicht erleichtert aufzuatmen, Ians Worte bedeuteten nichts weniger, als daß die Zauberpriester nichts von Titch wußten. Sie hielten ihn für tot, und ihn, Skar, für allein.

»Das war er«, sagte er leise. »Anschi...«

»Wird bestraft werden«, unterbrach ihn Ian. »Du kannst es selbst tun, wenn du willst. Aber auch dazu mußt du am Leben bleiben.« Er machte eine fragende Handbewegung.

Skar zögerte noch zwei, drei Herzschläge. Dann senkte er ganz langsam das Schwert, ließ Brol los und taumelte mit einem nicht einmal mehr geschauspielerten, erschöpften Keuchen gegen einen Baum.

Brol wankte ein paar Schritte von ihm fort, preßte die Hand gegen die Seite und trat neben seinen Kameraden. Die bizarren Rüstungen machten sie gleich; Skar vermochte die beiden nicht mehr zu unterscheiden.

»Ich... kann nicht mehr«, flüsterte er. »Ich gebe auf. Bringt mich um, wenn ihr wollt.« Er ließ das Schwert fallen, schloß die Augen und wartete mit angehaltenem Atem, daß irgend etwas geschah. Aber die beiden schweigenden Riesen rührten sich nicht. Skar fragte sich, ob sie vielleicht die Wahrheit sagten. Vielleicht war alles ganz anders; vielleicht hatte Yul ihn doch nicht belogen, und vielleicht war er es, der einem fürchterlichen Irrtum unterlag. Er wußte nicht mehr, wer sein Freund und wer sein Feind war, wer recht hatte und wer log.

Ich kann es dir sagen, wisperte eine Stimme in seinen Gedanken. Folge mir, und ich zeige dir die Wahrheit, Bruder. Aber sie wird dir nicht gefallen. Ein Schatten begann sich hinter den beiden Zauberpriestern zu bilden, wo vorher nichts gewesen war. Dürre, insektenhafte Klauen blitzten wie tödliche Schneiden im Mondlicht.

»Nein«, flüsterte er. »Geh! Verschwinde... endlich!«

Die beiden Zauberpriester tauschten einen verwunderten Blick, und Skar fügte etwas lauter hinzu: »Ich komme mit euch. Ihr... habt gewonnen.«

Der Daij-Djan verschwand, und Ian trat auf Skar zu und half ihm fast behutsam, sich aufzurichten. Dann bückte er sich nach Skars Schwert und hielt ihm die Waffe hin. »Nimm es«, sagte er, als Skar zögerte, nach der Waffe zu greifen. »Du wirst es noch brauchen.«

Mit perfekt gespielter Verwirrung nahm Skar die Klinge an sich, schob sie in den Gürtel zurück und folgte Ian. Seine Schritte waren schleppend, er hielt den Kopf gesenkt und die Schultern weit nach vorne gebeugt, wie ein Mann, der sich nur noch mit letzter Kraft auf den Beinen hielt.

Der graue Streifen am Horizont war breiter geworden, als sie den Wald verließen; die Nacht ging endgültig zu Ende. Aber wie oft in der Dämmerung war die Sicht jetzt beinahe schlechter als in der Nacht. Skar erblickte nur verschwommene Schemen, wo er wenige Minuten zuvor das Lager der Zauberpriester gesehen hatte. Aber immerhin erkannte er, daß auch der dritte Reiter zurückgekommen war. Sein Schatten hob sich deutlich vor dem verglimmenden Feuer ab. Er stand ganz ruhig da und blickte ihnen entgegen.

Einer seiner beiden gespenstischen Begleiter hob die Hand, als sie sich dem Lager näherten, und rief dem dritten Zauberpriester ein paar Worte in jener sonderbaren, gutturalen Sprache zu, die Skar vorhin schon gehört hatte. Der andere antwortete nicht, aber er entspannte sich sichtlich. Skars Hand glitt wie zufällig in die Nähe des Schwertes, berührte es aber noch nicht.

Mit klopfendem Herzen betrachtete er die drei gewaltigen Echsenwesen, während sie sich dem Lagerplatz näherten. Die Tiere starrten ihm aus ihren kleinen, böse funkelnden Augen tückisch entgegen, und vielleicht war es gerade der Umstand, daß diese Tyrr gesattelt und aufgezäumt waren, der sie in Skars Augen noch wilder und furchteinflößender aussehen ließ als vor drei Tagen in Yuls Lager. In ihrem Blick flammte ein Haß, der nicht auf das Flüstern in ihren Gedanken zurückzuführen, sondern Teil ihrer Natur war. Allein die Vorstellung, eines dieser Geschöpfe reiten zu sollen, ließ Skar schaudern.

»Du mußt müde sein«, sagte Ian. Jedenfalls vermutete Skar, daß es Ian war, denn die beiden vermummten Riesen waren in ihrer schwarzen Rüstung absolut ununterscheidbar. Er deutete einladend auf das heruntergebrannte Feuer. »Ruh dich aus, wenn du willst. Wir haben noch eine Stunde Zeit, bis es richtig hell wird. Vorher können wir sowieso nicht weiter. Es ist zu gefährlich, nachts zu reiten.«

Skar nickte müde und setzte sich. Das Feuer, obgleich schon fast nur noch aus einem Gluthaufen bestehend, strahlte eine behagliche Wärme aus, und als er sich vorbeugte und die Hände über die Glut hielt, wurde seine Müdigkeit fast übermächtig. Er wankte, drohte für einen kurzen Augenblick einzuschlafen und schrak abrupt wieder hoch, als er das Gleichgewicht zu verlieren begann. »Willst du reden?« fragte Ian.

Skar sah müde aus, schüttelte den Kopf und versuchte gleichzeitig zu nicken. »Später«, sagte er matt. Sein Blick glitt über die schwarze Larve, die da war, wo Ians Gesicht sein sollte, tastete weiter und schien sich ziellos in der Wüste zu verlieren. In Wahrheit suchte er nach irgendeinem Zeichen von Titch, irgendeinem Hinweis, daß er da war oder sich näherte.

Er fand es nach Sekunden. Nicht weit hinter dem dritten Zauberpriester bewegte sich der Sand. Kleine, zitternde Wellen huschten über seine Oberfläche, wie über Wasser, unter dem sich ein Schwimmer näherte, nur langsamer und sehr viel machtvoller. Er wußte nicht, ob der dunkle Umriß, den er darunter wahrzunehmen glaubte, wirklich da war, oder nur eingebildet. Aber Titch war da. Seine Hand glitt ein weiteres Stück auf das Schwert zu, berührte seinen Griff.

»Wer seid ihr?« fragte er. »Wer seid ihr wirklich?«

»Nicht deine Feinde«, antwortete Ian ausweichend. »Und nicht die, für die du uns hältst. Du wirst alles erfahren, sobald wir in der Festung sind. Und alles verstehen. Es wäre zu viel, jetzt, und zu verwirrend. Aber du...«

Hinter dem dritten Zauberpriester explodierte der Sand. Eine gewaltige, lautlose Fontäne schoß in die Höhe, als wäre dicht unter dem Boden plötzlich ein Geysir aufgebrochen, als sich Titch mit einem Ruck aufrichtete und auf seinen Gegner warf. Ian fuhr erschrocken herum und erstarrte für eine Sekunde, während Brol mit fast übermenschlicher Schnelligkeit reagierte: er wirbelte auf der Stelle herum, trat nach Skar und zog gleichzeitig die Waffe aus dem Gürtel.

Skar ließ sich einfach nach hinten kippen; gleichzeitig rammte er beide Füße ins Feuer. Ein Funkenregen und kleine, weißglühende Glutbrocken überschütteten Brol. Zwar vermochten sie seine Rüstung nicht zu durchdringen, aber sie lenkten den Zauberpriester für den Bruchteil eines Atemzuges ab, und diese winzige Zeitspanne genügte.

Skars Schwert fuhr mit einem reißenden Laut aus der Scheide, beschrieb einen blitzschnellen, engen Dreiviertelkreis und traf Brols Waffenarm. Die Klinge aus Sternenstahl glitt fast ohne spürbaren Widerstand durch das schwarze Metall und trennte Brols Arm dicht unterhalb des Ellbogengelenks ab.

Brol kreischte. Blauweiße Funken und Rauch und ein Schwall von Blut schossen aus dem Stumpf seiner bizarren Rüstung. Er taumelte, umklammerte seinen verstümmelten Arm und kippte mit einer grotesken Bewegung zur Seite. Ein zweiter Funkenschauer stob auf, als er direkt ins Feuer fiel und sich schreiend auf dem Boden zu wälzen begann.

Und endlich erwachte auch Ian aus seiner Erstarrung. Mit einem entsetzten Keuchen fuhr er herum, starrte auf seinen sterbenden Kameraden herab und hob die Hand zum Gürtel, aber in einer Bewegung, die auch lächerlich langsam gewesen wäre, wäre Skar nicht Skar gewesen. Skars Schwert traf seine Hand mit der flachen Seite, aber aller Gewalt, deren er fähig war, und brach sie. Ian keuchte, krümmte sich vor Schmerz und fiel auf die Knie, als Skar ihm die Breitseite des Tschekal mit aller Kraft in den Nacken schlug. Wimmernd fiel er nach vorne, versuchte wieder in die Höhe zu kommen und stürzte ein zweites Mal, als Skar sich auf ihn warf und ihm die Knie in den Rücken rammte.

Die eiserne Rüstung nahm dem Angriff die schlimmste Kraft, aber allein die pure Wucht von Skars Anprall reichte aus, Ian regelrecht gegen den Boden zu nageln. Skar hob das Schwert, um noch einmal zuzuschlagen, ließ die Waffe aber dann wieder sinken und griff statt dessen nach Ians Armen. Mit einem kräftigen Ruck verdrehte er sie, hielt seine Handgelenke für einen Moment nur mit einer Faust und zerrte mit der anderen den Gürtel herunter, um Ian damit zu fesseln. Der Zauberpriester wehrte sich nicht, obwohl Skar seine Arme so sehr verdrehte, daß er vor Schmerz aufstöhnte.

Schweratmend richtete Skar sich auf und sah über die Schulter zu Titch zurück, fest davon überzeugt, daß auch der Quorrl mittlerweile seinen Gegner zu Boden geworfen oder getötet hatte. Aber sonderbarerweise war das nicht der Fall.

Titch hatte den Zauberpriester niedergerungen, aber der Mann in der schwarzen Rüstung schien ihm an Kraft und Entschlossenheit ebenbürtig zu sein, denn es war Titch nicht möglich, seinen Widerstand zu brechen. Ganz im Gegenteil: Skar beobachtete mit einem Gefühl wachsender Fassungslosigkeit, wie Titchs Arme langsam, aber unerbittlich zurückgebogen wurden und sich der Gestürzte Stück für Stück wieder in die Höhe arbeitete!

Der Quorrl änderte seine Taktik. Knurrend vor Zorn und Wut sprang er auf die Füße, wartete, bis sein Gegner halb aufgestanden war und schlug ihm die ineinanderverschränkten Fäuste in den Nacken, ein Hieb, der einen Menschen auf der Stelle getötet, wenn nicht enthauptet hätte. Auch der Zauberpriester fiel, aber das Unglaubliche geschah: er blieb nur eine Sekunde liegen, dann stemmte er die Hände in den Boden und richtete sich, benommen, aber keineswegs kampfunfähig, wieder auf. Titch wich mit einem überraschten Keuchen und ein paar Schritte von ihm zurück und zog sein Schwert. Die Hand des Zauberpriesters glitt zum Gürtel und schmiegte sich um die klobige Waffe, die darin steckte. Titch sah die Bewegung, riß das Schwert in die Höhe und griff mit einem gellenden Schrei abermals an, aber Skar sah, daß er zu langsam war. Die furchtbare Strahlenwaffe ruckte hoch und richtete sich auf den angreifenden Quorrl.

Skar stieß sich mit aller Gewalt ab. Er war zu weit entfernt und in einer zu schlechten Position, um den Priester wirklich zu Boden reißen zu können, aber seine weit ausgebreiteten Arme schlossen sich um dessen Beine und zerrten mit der ganzen Wucht des Sturzes daran.

Es war, als versuche er einen Baum auszureißen. Der Mann wankte, aber er dachte nicht daran, zu fallen, sondern schüttelte Skar mit einer fast beiläufigen Bewegung ab, die ihn meterweit davonrollen und halb betäubt liegenbleiben ließ. Seine Waffe spie einen grünen Lichtblitz aus, der Titch nur um eine knappe Handbreit verfehlte.

Skar schleuderte sein Schwert.

Die Waffe traf den linken Arm des Riesen und riß seine Rüstung und das Fleisch darunter von der Handwurzel bis zur Schulter auf. Der Priester brüllte vor Schmerz, aber er stürzte noch immer nicht, sondern taumelte nur und legte sofort wieder auf Titch an. Aber in diesem Moment war der Quorrl bereits heran.

Er versuchte nicht einmal, sein Schwert zu benutzen, sondern senkte im letzten Moment das Haupt und rammte dem Schwarzgekleideten Kopf und Schultern in den Leib.

Und diesmal stürzte der Gigant. Die Waffe flog aus seiner Hand und verschwand in der Dunkelheit, während Titch sich auf ihn warf und seine gewaltigen Fäuste immer und immer wieder auf seinen Helm und die Brust herunterprasseln ließ, mit Schlägen, die Eisen zerbrochen hätten, dem schwarzen Schuppenpanzer des Zauberpriesters jedoch nichts anzuhaben vermochten. Das Blut, das über den Helm des Riesen lief, stammte aus Titchs aufgeplatzten Fäusten.

Skar stand auf, trat einen Schritt auf die Kämpfenden zu und zögerte. Sich zwischen die beiden tobenden Giganten zu werfen, wäre glatter Selbstmord. Ein einziger, achtloser Hieb Titchs oder des Zauberpriesters reichte völlig aus, ihn zu töten oder zumindest schwer zu verletzen. Aber er konnte auch nicht tatenlos zusehen, wie Titch niedergerungen wurde, und die Kräfte des Quorrl begannen bereits zu erlahmen. Die furchtbare Wunde, die Skar seinem Gegner zugefügt hatte, schien ihn nicht im geringsten zu beeinträchtigen.

Er hob sein Schwert auf, zögerte. Er wollte den Zauberpriester nicht töten, aber er würde es tun müssen, wenn er keine andere Möglichkeit fand, Titch zu helfen - und zwar in den nächsten Sekunden!

Skar fuhr herum, war mit einem Satz bei Ian und drehte ihn auf den Rücken. Seine Hand zerrte die Waffe aus dem Gürtel des Priesters. »Wie benutzt man sie?« herrschte er Ian an. »Sprich, oder...« Er hob drohend das Schwert, aber Ian reagierte nicht, sondern starrte ihn nur trotzig durch die dünnen Sehschlitze seines Helmes an.

Skar schleuderte die Waffe mit einem Fluch davon, drehte sich herum und sah sich wild um.

Kaum zwei Schritte neben ihm glühte ein böses, grünes Auge im Sand. Brols Waffe, die er bereits gezogen und aktiviert hatte. Es kostete Skar alle Überwindung, sich nach dem abgeschlagenen Arm des Zauberpriesters zu bücken und die Waffe aus seinen verkrampften Fingern zu lösen, aber er tat es, sprang auf und lief wieder zu Titch zurück.

Er kam keine Sekunde zu spät. Titchs Kräfte begannen mehr und mehr zu erlahmen. Er hielt seinen Gegner noch am Boden, aber es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis sich das Blatt vollkommen wenden mußte. Der Zauberpriester hatte Titchs linken Arm gepackt und bog ihn zur Seite, und seine andere Hand schnürte dem Quorrl unbarmherzig den Atem ab.

»Titch!« brüllte Skar. »Zurück!« Gleichzeitig richtete er die Waffe auf die beiden ineinandergekralltcn Feinde, drückte aber noch nicht ab.

Titch schien zu begreifen, was er vorhatte, denn er versuchte sich von seinem Gegner zu lösen, aber plötzlich war es der Zauberpriester, der ihn festhielt. Skar sah, wie sich Titchs gewaltige Muskeln bis zum Zerreißen anspannten, aber es gelang ihm nicht, den unbarmherzigen Griff des anderen zu sprengen, der ihn festhielt und ihm gleichzeitig den Atem abschnürte.

»Titch!!« schrie Skar mit überschnappender Stimme. »Verschwinde!«

Der Quorrl bäumte sich auf. Sein Gesicht hatte sich vor Atemnot dunkel verfärbt, und seine Bewegungen wurden bereits schwächer. Aber noch war er nicht besiegt. Mit einer verzweifelten Kraftanstrengung gelang es ihm, die Hand des Zauberpriesters von seinem Hals zu fegen und halbwegs auf die Füße zu kommen, aber der andere ließ Titchs Arm nicht los, so daß der Quorrl ihn halbwegs mit in die Höhe zerrte.

Und Skar drückte ab.

Eine Flut giftgrünen Lichts hüllte den Schwarzgekleideten ein. Für den Bruchteil einer Sekunde glühte sein Körper, aber auch Titchs linker Arm, wie unter einem kalten inneren Feuer auf, dann kippte er lautlos zur Seite und riß Titch dabei mit sich.

Skar ließ die Waffe fallen, taumelte ein paar Schritte zurück, brach in die Knie und übergab sich vor Schwäche.

Es dauerte zehn Minuten, bis Skar wieder so weit bei Kräften war, sich auf Hände und Knie hochzustemmen und nach Titch herumzudrehen. Der Quorrl hockte nach vorne gebeugt und verkrümmt vor seinem bewußtlosen Gegner. Sein linker Arm hing schlaff herab und war gelähmt, und Titchs Gesicht war eine Maske aus Qual. Er stöhnte leise. Als er auf die Füße zu kommen versuchte, versagten seine Kräfte. Er stürzte, schlug schwer auf dem Boden auf und blieb einen Moment reglos liegen. Skar wollte zu ihm gehen und ihm helfen, aber die wenigen Schritte bis zu dem Quorrl erschienen ihm endlos; Meilen, die er nicht mehr schaffen würde, in seinem Zustand. Und er wußte auch, daß der Quorrl seine Hilfe nicht annehmen würde.

So stemmte er sich mit letzter Kraft in die Höhe, taumelte zu Ian hinüber und ließ sich erschöpft neben dem Zauberpriester auf die Knie sinken. Ian starrte ihn an, mit einem Blick, in dem sich Verachtung und widerwillige Bewunderung ein stummes Duell lieferten, aber ohne eine Spur von Angst, wie Skar sehr wohl registrierte.

»So«, sagte Skar müde. »Jetzt können wir uns unterhalten, Ian.« Der Zauberpriester lachte böse. »Worüber, du Narr? Über deinen Tod?«

Skar seufzte. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, Zorn zu empfinden. »Hör auf, Ian«, bat er. »Du bist nicht in der Lage, mir zu drohen. Und ich bin zu müde, um Spielchen zu spielen.«

»Warum sollte ich dir drohen?« fragte Ian kalt. »Du bist wahnsinnig, Skar. Ich brauche dir nicht zu drohen. Sieh dich doch an! Du hast kaum noch die Kraft, dich auf den Beinen zu halten. Morgen, spätestens in zwei Tagen, wirst du nicht einmal mehr kriechen können. Ich brauche dir nicht zu drohen. Du stirbst so oder so.«

»Aber auf jeden Fall nach dir«, bemerkte Skar ruhig. »Und wesentlich angenehmer, wenn du mir nicht ein paar Fragen beantwortest.«

Ian lachte erneut, aber in seinem Blick glomm ein ganz schwacher Funke von Unsicherheit auf. »Was willst du?« fragte er. »Mich foltern?«

»Wenn es sein muß.«

»Ich glaube dir nicht«, behauptete Ian. »Du bist ein Satai.«

»Das war ich vielleicht einmal«, antwortete Skar. »Ich weiß nicht, was ich heute bin. Aber was immer es ist - ihr habt mich dazu gemacht.«

»Du kannst nicht aus deiner Haut«, beharrte Ian.

Skar sah ein, daß er so nicht weiterkam. Schwäche machte sich wie Zentnerlasten in seinen Gliedern breit, und hinter seiner Stirn begannen sich die Gedanken zu verwirren. Er konnte es sich einfach nicht leisten, noch länger mit Ian zu diskutieren.

»Vielleicht hast du sogar recht«, sagte er matt. »Aber zu deinem Pech bin ich nicht allein, weißt du?« Er richtete sich auf, drehte sich mühsam zu Titch herum und hob die Hand.

»Titch.«

In Ians Augen blitzte es überrascht auf, als er den Namen des Quorrl hörte. Er versuchte sich zu bewegen, aber Skar stieß ihn grob zurück und rief noch einmal nach Titch. Der Quorrl hob mühsam den Kopf, stemmte sich mit der verletzten Hand hoch und kam taumelnd auf ihn zu.

»Bist du in Ordnung?« fragte Skar besorgt.

Titch lachte böse. »Nein«, grollte er. »Aber ich kann mich bewegen. Es tut sehr weh.«

»Wie unangenehm«, sagte Ian hämisch.

Titch versetzte ihm einen Tritt, der den Zauberpriester trotz seiner Metallpanzerung vor Schmerz aufstöhnen ließ.

»Reichen deine Kräfte noch, unserem Feind ein paar Fragen zu stellen?« fragte Skar. »Er ist ein bißchen verstockt.«

Titch ließ sich auf der anderen Seite Ians auf die Knie sinken, hob die verwundete rechte Hand und spreizte die Finger. Seine Krallen blitzten auf wie messerscharfe tödliche Dolche. Ein böses Grinsen verzerrte seine Züge noch mehr, als es der Schmerz getan hatte. »Dazu langt es immer«, versprach er grimmig. »Ich freue mich schon lange darauf, mich mit einem von ihnen zu unterhalten.«

»Das tut ihr nicht«, sagte Ian. Seine Stimme zitterte. »Skar, du kannst dieses Ungeheuer nicht auf mich loslassen.«

»Ich fürchte«, antwortete Titch an Skars Stelle, »daß er mich kaum zurückhalten kann. Ungeheuer haben die Eigenschaft, nicht immer zu tun, was man von ihnen will, weißt du?«

Ian versuchte sich zu bewegen, aber wieder stieß Skar ihn derb zurück. Er warf Titch einen mahnenden Blick zu, den Bogen nicht zu überspannen, aber der Quorrl reagierte nicht darauf. Skar war nicht einmal mehr sicher, ob Titch die Bestie nun wirklich nur spielte oder ob er es für diesen Moment vielleicht war.

»Warte«, sagte er hastig. »Ich bin sicher, er wird reden.« Er beugte sich über Ian, machte sich einen Moment an seinem Helm zu schaffen und zuckte enttäuscht mit den Schultern, als es ihm nicht gelang, ihn zu lösen.

»Ich könnte ihn abreißen«, schlug Titch vor. »Aber ich weiß nicht, ob sein Kopf dabei auf den Schultern bleibt.«

»Unter dem Kinn«, sagte Ian hastig. »Ein kleiner Hebel. Leg ihn um.«

Skar suchte an der bezeichneten Stelle, fand den Hebel und hörte ein leises Klicken, als er darauf drückte. Ians Helm bewegte sich mit einem zischenden Geräusch einen Finger breit nach oben. Skar griff zu, zog ihn ganz ab und registrierte überrascht, wie schwer der klobige Helm war. Selbst ihm hätte es beträchtliche Mühe bereitet, stunden - wenn nicht tagelang mit diesem Ding auf den Schultern herumzulaufen.

Dabei war Ian kein kräftiger Mann, wie er erkannte, als er in sein Gesicht sah. Und er war wesentlich jünger, als er angenommen hatte. Seine Züge wiesen eine gewisse Ähnlichkeit mit denen Drasks und seines unheimlichen Doppelgängers auf: schmal, zerfurcht und hakennasig und von einem Haarschopf aus dünnem, fast weißem Haar gekrönt. Aber er war allerhöchstens dreißig Jahre alt. Seine Haut war blaß und wirkte fast krank, und die ohnehin dünnen Lippen waren zu einem schmalen, trotzigen Strich zusammengepreßt.

Und irgendwie wirkte er... zufrieden, dachte Skar alarmiert. In seinen Augen rangen Furcht und Zorn miteinander, aber da war auch noch etwas, ein mühsam zurückgehaltener Triumph, den Skar sich nicht erklären konnte, der ihn aber aufs höchste beunruhigte, Ian hatte Angst, aber er sah ganz und gar nicht aus wie ein Mann, der geschlagen war.

»So«, sagte Titch drohend. »Und jetzt sprich.«

Ian schnaubte verächtlich. »Worüber? Über euren Sieg?« Er betonte das Wort auf eine Art, die es wie bösen Spott klingen ließ. Titch schlug ihn. Nicht sehr fest und nur einmal, aber der Hieb reichte, Ians Unterlippe aufplatzen zu lassen und ihm ein neuerliches, qualvolles Stöhnen abzuringen.

»Titch«, sagte Skar mahnend. »Nicht. Wir erfahren nichts von ihm, wenn du ihn totschlägst.«

»Es ist noch einer da«, grollte Titch. Zornig packte er Ian, schüttelte ihn ein paarmal und warf ihn wuchtig wieder zu Boden. Der Zauberpriester stöhnte. »Schlag mich ruhig, du Tier«, murmelte er. »Aber du änderst nichts damit. Ihr habt keine Chance. Wenn die Krankheit euch nicht umbringt, dann tun es die Drachen oder dieses Tal. Wir müssen gar nichts mehr tun.«

Titch ballte mit einem zornigen Knurren die Faust, schlug aber nicht zu, als Skar ihm einen warnenden Blick zuwarf.

Ein helles, singendes Geräusch ließ Skar mitten in der Bewegung erstarren. Alarmiert sah er auf, blickte Titch an, dann den bewußtlosen Zauberpriester und schließlich Brols Leichnam, ehe er begriff, woher das Geräusch kam: aus dem Inneren von Ians Helm.

»Was zum Teufel bedeutet das?« knurrte Titch.

Ians aufgeplatzte Lippe verzerrte sich zu einem dünnen Grinsen. »Warum wartest du nicht einen Augenblick?« fragte er. »Dann wirst du es sehen.«

Titch versetzte dem Zauberpriester einen weiteren Hieb, der ihn für Sekunden das Bewußtsein verlieren ließ, während sich Skar verwirrt über den riesigen Helm beugte. Das singende Geräusch hielt an und wurde ein wenig lauter, schien jetzt irgendwie ungeduldiger, drängender zu klingen, und als Skar den Helm hochhob und herumdrehte, erlebte er eine Überraschung: Trotz seiner enormen Größe war sein Inneres gerade ausreichend, Ians Kopf aufzunehmen; der Rest des sonderbaren Gebildes wurde von einer verwirrenden Ansammlung metallener Gerätschaften und unverständlicher Dinge eingenommen. Ein kleines, hellgrünes Licht flackerte Skar wie ein blinzelndes Auge entgegen. Und plötzlich hörte er eine Stimme: »Ian? Ian, melde dich! Was ist los bei euch? Brol! Ennart!«

»Zauberei!« entfuhr es Titch. Seine Augen wurden groß. »Das ist -«

»Das ist eine verdammte Falle, keine Zauberei!« keuchte Skar. »Sie wissen, daß wir hier sind! Weg hier!«

Die beiden letzten Worte hatte er geschrien.

Titch und er sprangen gleichzeitig auf die Füße und fuhren herum, aber es war zu spät.

Als wäre die flüsternde Stimme aus Ians Helm ein Signal gewesen, erwachte die Nacht zum Leben. Ein Paar gigantischer, schwarzer Flügel verdunkelte den Himmel, und eine Sekunde später stieß eine Daktyle auf sie herab und griff kreischend an. Skar schlug einen Haken, während Titch in die entgegengesetzte Richtung auszuweichen versuchte, aber die Überraschung war total. Die riesigen Schwingen der Daktyle streiften den Quorrl und ließen ihn stürzen und meterweit davonrollen, und der pure Luftzug des gewaltigen Flügelpaares reichte aus, auch Skar taumeln zu lassen. Er fiel, raffte sich wieder auf und lief zu Titch zurück, um ihm auf die Füße zu helfen.

Eine zweite Daktyle erschien aus der Nacht, eine dritte, vierte, und plötzlich war der Himmel voller schlagender Flügel und schwarzer, tobender Schatten. Skar hieb mit seinem Schwert nach einer der Flugechsen, aber die Daktyle wich ihm mit einer fast spielerischen Bewegung aus. Er verlor durch die Wucht seines eigenen Hiebes abermals die Balance, stürzte nach vorne und rollte blitzschnell zur Seite, als gräßliche Klauen den Boden dort aufrissen, wo er gelegen hatte. Wieder schlug er zu. Die Spitze seines Tschekal fuhr mit einem reißenden Laut durch Horn und Fleisch, und aus dem aggressiven Schreien der Daktyle wurde ein gequältes Kreischen. Mit unbeholfenen Flügelschlägen flatterte die Bestie davon.

Aber es war nur eine Sekunde, die Skar gewonnen hatte. Über ihnen kreisten mindestens ein Dutzend Daktylen, Anschis gesamte verbliebene Armee, die herangekommen waren, während Ian sich mit ihnen unterhielt. Plötzlich verstand er den bösen Triumph in den Augen des Zauberpriesters. Ian hatte gewußt, daß er nur ein paar Minuten herauszuschinden brauchte. Was für Narren waren sie doch gewesen!

Skar sprang auf, lief ein paar Schritte und sah ein grünes Funkeln am Boden. Ein Teil seines Verstandes sagte ihm, daß es sinnlos war, daß er aufgeben und wenigstens sein Leben retten sollte, aber der Zorn war stärker, war wieder da, wütender und unbezwingbarer denn je. Mit einem Hechtsprung warf er sich vor, packte die Waffe mit beiden Händen und rollte herum.

Ian kreischte vor Schrecken, als er sah, was Skar tat. »Paßt auf! Er hat einen Schläfer!«

Zwei, drei der flatternden Riesenschatten hoben sich erschrocken davon. Skar sprang hoch, richtete die Waffe in die Luft und drückte ab, fast ohne zu zielen.

Grünes Licht hüllte eine der Daktylen ein. Die Reiterin auf ihrem Rücken bäumte sich auf und fiel aus dem Sattel, ein Sturz von hundert oder mehr Fuß, der sie umbringen mußte, Sekundenbruchteile, bevor ihr Reittier wie ein Stein in die Tiefe fiel. Skar drückte noch einmal ab. Diesmal streifte das grüne Leuchten nur die Schwinge eines der Echsenvögel, aber schon diese sanfte Berührung reichte, das Tier aus dem Gleichgewicht zu bringen. Mit einem schmerzerfüllten Kreischen stob es davon und sank mit hilflos flatternden Schwingen zu Boden.

Ein blauweißer Blitz zerriß die Nacht, und kaum eine Armeslänge vor Skar verwandelte sich der Boden in hochspritzende Glut. Skar taumelte zurück und riß schützend die Hände vor das Gesicht. Der Scannerschuß hatte ihn geblendet; vor seinen Augen waren nur noch rote und weiße Blitze. Trotzdem hob er die Waffe und schoß blindlings in die Luft.

»Skar!« Er erkannte Anschis Stimme, und seine Wut wuchs ins Unermeßliche. »Der nächste Schuß trifft! Wirf die Waffe weg und gib endlich auf!«

»Nein!« brüllte Skar. »Kommt her! Kommt her und bringt mich um! Ihr kriegt mich nicht!« Er blinzelte. In die weißen und roten Linien vor seinen Augen begannen sich flatternde Schatten zu mischen. Er zielte hastig, drückte ab und ahnte mehr, daß er danebengeschossen hatte, als er es sah. »Kommt her!« schrie er noch einmal. »Tötet mich oder verschwindet, aber lebendig bekommt ihr mich nicht!«

Und plötzlich wurde es still. Das Rauschen der Riesenschwingen wurde leiser und hörte nach Augenblicken ganz auf, als die Daktylen eine nach der anderen zu Boden sanken und ihre Reiterinnen abstiegen. Mehr als ein Dutzend Scanner richteten sich drohend auf Skar, und die Waffe in seiner Hand kam ihm mit einem Male lächerlich vor, noch nutzloser als das Schwert. Trotzdem richtete er sie drohend auf die vorderste Errish. Die junge Frau blieb tatsächlich stehen, aber Skar wußte, daß er verloren hatte. Er hatte überhaupt keine Angst. Er dachte nur wieder an Kiina und spürte das gleiche, tiefe Bedauern wie beim ersten Mal. Es spielte keine Rolle mehr, wenn er starb. Er hatte sein Leben gelebt - zweimal sogar - und den Tod wahrscheinlich hundertfach verdient. Aber das Kiinas hatte gerade erst begonnen.

»Gib auf, Satai. Zwing uns nicht, dich zu verletzen.«

Im ersten Moment dachte er, es wäre Ians Stimme. Aber dann fiel ihm auf, daß sie aus der falschen Richtung kam. Vorsichtig drehte er sich herum.

Auf der anderen Seite des Lagerfeuers hatte sich eine gewaltige Gestalt erhoben. Die Glut spiegelte sich wie flüssiges Blut in seinem riesigen Helm und vermischte sich mit dem wirklichen Blut, das aus seinem verwundeten Arm tropfte. Es war unmöglich, dachte Skar fast betäubt. Er hatte gesehen, wie das grüne Feuer Titch und seine Quorrl für Stunden außer Gefecht setzte - aber der Zauberpriester stand nach wenigen Minuten wieder aufrecht und sichtlich unbeschadet da. Skar glaubte, den bohrenden Blick seiner Augen durch das schwarze Metall des Helmes hindurch zu spüren. Drohend richtete er den Schläfer auf die riesige Gestalt. »Bleib, wo du bist«, sagte er.

Der Zauberpriester (war er das wirklich? Skar war nicht mehr sicher) lachte leise. »Diese Waffe kann mich nicht verletzen«, sagte er. »Gib auf.«

Skar reagierte nicht. Fünf, dann zehn Sekunden lang starrten sie sich einfach nur wortlos an, ehe die Gestalt in der schwarzen Rüstung die Hände an den Helm hob, vorsichtig, mit einer bewußt langsamen, überdeutlichen Bewegung, um Skar nicht zu einem Angriff zu provozieren. Der schwarze Helm löste sich und glitt in die Höhe.

Skar sog überrascht die Luft ein, als er das Gesicht sah, daß darunter zum Vorschein kam.

Es waren nicht die Züge eines Zauberpriesters. Es war überhaupt kein Mensch.

Im ersten Moment glaubte Skar, einem Quorrl gegenüberzustehen, aber schon beim zweiten Hinsehen begriff er, daß auch dieser Eindruck täuschte. Das Wesen in der schwarzen Rüstung war riesig gut einen Fuß größer als Titch und ungleich muskulöser, und es glich tatsächlich ein wenig einem Quorrl, gleichzeitig aber auch einem Menschen und dann wieder keinem von beiden. Sein Gesicht trug eindeutig reptilienhafte Züge, aber anders als bei Titch und seinen Brüdern war es ungleich feiner geschnitten, elegant und fast edel, wo bei einem Quorrl Wildheit und Kraft vorherrschten. Die Schuppen, die seine Haut bedeckten, blitzten in hellgoldenem Farbton. Das Wesen sah aus wie eine Statue, von einem begnadeten Künstler erschaffen, um dem Wort Kraft Ausdruck zu verleihen, und von einem ebenso begnadeten Magier zum Leben erweckt. Skar war fassunglos. Etwas an dieser gigantischen, goldglänzenden Kreatur erschlug ihn schier, und es war nicht nur sein Äußeres.

»Titch«, sagte der Goldene fast sanft.

Vielleicht ahnte Skar sogar im letzten Moment, was geschehen würde, aber er war unfähig, zu reagieren. Der Anblick der riesigen schimmernden Kreatur lähmte ihn. Er hörte Titchs Schritte, spürte den Luftzug, als der Quorrl den Arm hob, und dann schlug Titchs Hand mit fürchterlicher Gewalt in seinen Nacken und schleuderte ihn zu Boden.

Skar verlor das Bewußtsein, aber im allerletzten Augenblick, ehe seine Gedanken erloschen, sah er noch, wie Titch neben ihm auf die Knie sank und demütig das Haupt vor dem goldenen Riesen senkte. Und er hörte das Wort, das der Quorrl flüsterte: »HERR!«


ENDE DES ACHTEN TEILS


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