6.

Es war absurd, aber das erste, was ihm bewußt wurde, war, daß es zu regnen aufgehört hatte. Das Prasseln und Plätschern des Regens, das ihnen in den letzten beiden Tagen und Nächten zu einem so beständigen Begleiter geworden war, daß er es schon gar nicht mehr wahrgenommen hatte, war verstummt, und in der Luft lag ein warmer, noch immer ein wenig feuchter Hauch. Sonnenlicht kitzelte sein Gesicht, und Skar registrierte mit einem Gefühl wohliger Behaglichkeit, daß er zum ersten Mal seit Tagen wieder am ganzen Leib trocken war; ein Luxus, den man wie vieles erst dann richtig zu schätzen wußte, wenn man ihn nicht mehr hatte. Erst dann erwachte er wirklich.

Er lag auf einem Bett in einer kleinen, aber sehr behaglich eingerichteten Hütte, nackt und nur mit einer dünnen Decke aus bunten Stoff flicken zugedeckt, und er spürte, daß er nicht allein war, noch bevor er den Kopf drehte und die Gestalt auf dem Stuhl neben sich bemerkte.

Die Errish war sehr alt - sechzig, vielleicht siebzig Jahre, möglicherweise auch noch sehr viel älter, denn die Ehrwürdigen Frauen vermochten ihr Leben zu verlängern, auch wenn sie es nicht immer taten. Ihr Gesicht war schmal und von Falten durchzogen, das Gesicht eines sehr alten Menschen, das aber kein bißchen gebrechlich wirkte, sondern im Gegenteil trotz seines Alters energisch und sehr bestimmend. Ihre Augen waren klar und fast schon erschreckend wach, und ihre Hände, die das einzige waren, was außer dem Antlitz unter dem groben schwarzen Stoff ihres Mantels sichtbar wurde, waren so dürr und knochig wie Vogelklauen. Trotzdem wirkte sie nicht abstoßend, sondern eher bizarr; gar nicht mehr wie ein Mensch, sondern schon fast wie ein Wesen einer anderen Gattung, als wäre sie nicht einfach älter geworden, sondern hätte sich gleichzeitig verändert. Aber es war nichts Beunruhigendes an dieser Veränderung.

»Bist du... Yul?« fragte Skar. Er erschrak ein wenig, als er hörte, wie fremd und schwach seine eigene Stimme klang. Sie zitterte. Das Sprechen tat seinem Hals weh.

Die alte Frau nickte.

»Und du Skar.« Sie legte den Kopf schräg und betrachtete interessiert sein Gesicht, obwohl sie Stunden Zeit gehabt haben mußte, dies zu tun. »Du bist zu jung«, stellte sie schließlich fest. Skar blickte fragend, und Yul fuhr mit einer erklärenden Handbewegung fort: »Oh, keine Sorge, ich weiß, daß du der bist, als den Anschi und Gowennas Tochter dich vorgestellt haben. Ich kenne dich, weißt du?«

»Nein.« Skar schüttelte den Kopf und stemmte sich in eine halb sitzende, halb noch immer liegende Position hoch. Es fiel ihm schwer. Seine Arme schienen keine Kraft mehr zu haben, und hinter seiner Stirn war noch immer ein ganz sachtes Schwindelgefühl. »Woher auch?«

»Ich war in Elay«, erklärte Yul. »Damals, als du zusammen mit Gowenna von den Eisinseln zurückgekehrt bist.« Ihre dünnen gesprungenen Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln, als sie Skars Verwirrung bemerkte. »Oh, ich habe ein wenig anders ausgesehen, damals. Und wahrscheinlich hast du mich überhaupt nicht bemerkt. Du hattest ja nur Augen für Gowenna. Aber ich habe dich sehr wohl bemerkt. Du warst schon immer ein stattlicher Mann.« Ihr Blick wurde fragend. »Du bist es immer noch. Wüßte ich nicht, daß es unmöglich ist, dann würde ich sagen, daß du keinen Tag älter geworden bist, seit damals.«

»Aber es ist unmöglich, nicht wahr?« antwortete Skar. »Schließlich wissen wir das beide.«

Wissen wir das wirklich? fragte Yuls Blick. Aber sie sprach es nicht laut aus, sondern machte eine Handbewegung, die wohl andeuten sollte, daß sie das Thema für den Moment als beendet betrachtete. »Fühlst du dich besser?«

Skar fühlte sich in der Tat besser als am vergangenen Abend. Sein Zustand war mit dem, als er das Lager erreicht hatte, nicht zu vergleichen. Er fühlte sich zwar noch immer ein wenig matt, aber es war nur die Müdigkeit, die der Schlaf hinterlassen hatte, nicht mehr diese entsetzliche saugende Schwäche, die ihn auf dem Rücken der Daktyle überfallen hatte. Selbst seine verletzte Rippe schmerzte kaum mehr.

Vorsichtig setzte er sich auf, griff hastig nach der Decke, die von seinem Schoß rutschen wollte, und sah betreten an sich herab, als er Yuls spöttisches Lächeln bemerkte. Erst dann fiel ihm auf, daß der Verband verschwunden war, den Anschi über seine gebrochene Rippe gelegt hatte.

»Sie ist geheilt«, antwortete Yul auf die unausgesprochene Frage in seinem Blick. »Aber du solltest dich noch für ein paar Tage in acht nehmen. Und dir deine Gegner das nächste Mal etwas genauer ansehen.« Sie machte eine rasche Handbewegung, als er dazu ansetzte, sich zu verteidigen. »Ich weiß, daß du dir diese Verletzung hättest ersparen können, wenn du sie getötet hättest. Ich danke dir, daß du es nicht getan hast.«

»Wer hat diesen Kindern beigebracht, so zu kämpfen?« fragte Skar, während er sich nach seinen Kleidern bückte, die neben dem Bett auf dem Boden lagen. Ungeschickt versuchte er, unter der Decke in seine Hosen zu schlüpfen, was Yul abermals zu einem flüchtigen Lächeln veranlaßte.

»Ein Satai«, antwortete sie. »Er kam vor einem Jahr hierher. Er war verletzt und wurde verfolgt. Wir gewährten ihm Obdach und heilten seine Wunden, und zum Dank lehrte er uns, wie ein Satai zu kämpfen. Viele meiner Mädchen verdanken ihm sein Leben.«

»Ein fairer Tausch«, antwortete Skar; mehr, um überhaupt etwas zu sagen. Es war ihm endlich gelungen, in seine Hose zu schlüpfen. Mit einer raschen Bewegung schloß er die Gürtelschnalle, streifte die Decke von den Beinen und wollte aufstehen. Aber es blieb bei dem Versuch. Die schnelle Bewegung löste ein heftiges, an Übelkeit grenzendes Schwindelgefühl hinter seiner Stirn aus. Er wankte, streckte haltsuchend die Hände aus und sank kraftlos auf das Lager zurück. Yuls Gestalt verschwamm für einen Moment vor seinen Augen. Es war nicht so schlimm wie am vergangenen Abend, aber schlimm genug. Er stöhnte, hob die Hand an den Kopf und massierte seine Schläfen.

»So etwas... Dummes«, sagte er verwirrt. »Ich bin wirklich... nicht mehr gut in Form.« Er versuchte ein Lächeln und seine Verlegenheit mit einem Scherz zu überspielen: »Ein jugendliches Aussehen ist nicht alles, wenn man sich nicht die passende Kondition dazu erhält. Vielleicht sollte ich in meinem Alter keine Tausend-Meilen-Ritte mehr unternehmen.«

Yul blieb ernst. »Es war nicht der Ritt«, sagte sie. Ihre Worte waren wie eine ausgestreckte Hand, die sie ihm hinhielt. Da war etwas, was sie ihm sagen wollte; der Grund, aus dem sie - möglicherweise Stunden - an seinem Lager gesessen und darauf gewartet hatte, daß er aufwachte. Aber Skar wollte es plötzlich gar nicht mehr wissen.

Sehr viel vorsichtiger als beim ersten Mal stand er auf, bückte sich nach seinem Hemd und streifte es über, und ganz automatisch wollte er auch nach seinem Brustpanzer greifen. Aber der Satai-Harnisch aus steinhartem Leder kam ihm mit einem Male viel zu schwer und unbequem vor, obgleich er ihn jetzt seit zwei Wochen fast ununterbrochen getragen hatte. Es war auch nicht nötig, daß er ihn anlegte; er war hier unter Freunden. Und vielleicht, überlegte er, hätte er auch auf Hemd und Hose verzichten sollen, denn die Kleider lösten einen fast unerträglichen Juckreiz auf seiner Haut aus.

»Wie geht es Kiina?« fragte er; nur um überhaupt etwas zu sagen.

Yul deutete ein Achselzucken an. »Sie schläft«, antwortete sie. »Sie war zu Tode erschöpft. Und sehr erschrocken. Ich habe ihr einen Trank gegeben, der sie bis zum Abend durchschlafen lassen wird. Was übrigens auch für dich das beste gewesen wäre«, fügte sie hinzu, plötzlich ganz die besorgte Errish, die die Verantwortung für einen Kranken übernommen hatte. »Aber dazu blieb keine Zeit. Verzeih. Aber es gibt viel zu besprechen, und wir haben nicht sehr viel Zeit.«

Skar sah sie verstört an. Normalerweise reagierte er mit Unmut oder gar Zorn, wenn man ihn bei einer Schwäche ertappte. Yul gegenüber empfand er eher Verlegenheit. Und eine unbestimmte Furcht. Ihr hohes Alter gaben ihr eine Überlegenheit und Distanz, die ihn verwirrte.

»Wir haben sogar noch weniger Zeit, als du glaubst, Yul«, sagte er bedauernd. »Du wirst Kiina aufwecken müssen. Hat dir Anschi nicht von den Quorrl erzählt?«

»Doch, das hat sie.« Yul lächelte flüchtig, dann stahl sich ein Ausdruck von Bedauern auf ihre Züge. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Ich habe Anschi zu den Quorrl zurückgeschickt, mit der Bitte, auf dich zu warten. Was geschehen ist, tut mir leid. Ich bitte dich um Vergebung, auch in Anschis Namen. Ich fürchte, sie selbst ist zu stolz, um es zu tun.« Sie seufzte. »Sie ist ein Kind.«

»Das meine ich nicht«, antwortete Skar. Er überlegte, ob er Yul davon erzählen sollte, daß Anschi sich bei Titch entschuldigt - oder es wenigstens versucht hatte, entschied sich aber dann dagegen. Es war nicht wichtig in diesem Moment. »Die Quorrl werden nicht auf mich warten. Und ich muß in den Norden.« Er überlegte einen Herzschlag. »Kiina ist krank, sagst du?«

»Nein«, verbesserte ihn Yul. »Das habe ich nicht gesagt. Sie ist erschöpft, viel mehr, als sie zugeben würde. Und sie hat noch gar nicht richtig begriffen, was überhaupt geschehen ist.«

»Dann ist es vielleicht besser, wenn ihr sie nicht weckt«, sagte Skar. »Sie kann bei euch bleiben?«

»Das könnte sie«, sagte Yul. »Aber ich weiß nicht, ob es gut wäre.« Sie bewegte sich mühsam, griff in eine Falte ihres Gewandes und zog ein winziges glitzerndes Etwas heraus, das Skar erst nach Augenblicken als den Ring der Margoi erkannte. Automatisch senkte er die Hand auf die Tasche in seinem Gürtel, und obwohl er das Schmuckstück in Yuls Fingern sah, war er fast überrascht, sie leer vorzufinden.

»Ich konnte der Verlockung nicht widerstehen«, sagte Yul in entschuldigendem Tonfall. Sie hielt ihm den Ring hin, aber Skar schüttelte den Kopf. Die Errish zögerte sekundenlang, dann schloß sich ihre dürre Faust um den winzigen Silberring wie um einen kostbaren Schatz.

»Also ist es wahr, was Kiina erzählt hat«, sagte sie. »Die Margoi ist tot.« Sie lächelte müde. »Verzeih, daß ich deine Kleider durchsucht habe. Aber ich mußte mich davon überzeugen, daß es wirklich wahr war. So haben sie am Schluß auch sie getötet.«

»Ich glaube, sie hat es so gewollt«, sagte Skar leise. Plötzlich tat ihm die alte Frau leid. Eine Welle tiefen Mitleids ergriff ihn, ein Gefühl, das um so tiefer und kostbarer war, als er schon gar nicht mehr geglaubt hatte, es noch empfinden zu können. »Sie sprach mit Kiina und mir, ehe sie starb. Sie hatte Schmerzen, und ihr Geist begann sich zu verwirren, glaube ich. Aber ich hatte nicht das Gefühl, daß sie Angst vor dem Tod hatte.«

»Warum auch?« sagte Yul. Sie steckte den Ring wieder ein. »Sie war eine Königin ohne Volk. Würdest du leben wollen, gäbe es außer dir keine Satai mehr?«

Skar wich ihrem Blick aus. »Ich weiß es nicht«, gestand er nach einer Weile, sehr leise und mehr zu sich selbst gerichtet als an Yul. »Vielleicht gibt es keine anderen Satai mehr.« Er seufzte. »Vielleicht hat es das, was wir Satai zu sein behaupten, niemals wirklich gegeben.«

»Und vielleicht ist die ganze Welt nicht das, was sie zu sein scheint«, versetzte Yul in fast wütendem Tonfall. »Deine wenns und vielleicht! bringen uns nicht weiter, Satai. Enwor brennt, und wenn wir dieses Feuer noch löschen wollen, sollten wir keine Zeit mit philosophischen Betrachtungen verschwenden.«

Ihre Worte ernüchterten Skar, aber er war gleichzeitig fast dankbar dafür. Nach dem, was er am vergangenen Abend selbst zu Titch gesagt hatte, sollte er sich eigentlich ein wenig besser in der Gewalt haben, dachte er. Er ging zur Tür, blickte auf den sonnenbeschienenen Lagerplatz und die nahe See hinaus und wandte sich wieder zu Yul um. »Du hast recht«, sagte er. »Verzeih.«

»Schon gut.« Yul wiederholte ihre Handbewegung, mit der sie einen Themenwechsel zu begleiten pflegte. »Kiina hat mir erzählt, was in der Burg des Zauberpriesters geschehen ist. Aber vieles erscheint mir... unglaublich. Und an manches konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie war sehr müde und hatte Fieber. Erzähl mir, was passiert ist.«

Skar sah zur Sonne hinauf. Es war schon beinahe Mittag; vier oder fünf Stunden über die Frist, die Titch ihm gegeben hatte, und die Zeit brannte ihnen allen auf den Nägeln. Wenn seine und Dels Schätzungen richtig waren und ihnen das Wetter keinen Strich durch die Rechnung machte, dann mußte das Heer jetzt schon längst die Berge überschritten haben und sich auf halbem Wege nach Ikne befinden. Skar wußte einfach, daß die große Konfrontation zwischen den Satai und Veden auf der einen und der Armee der Zauberpriester auf der anderen Seite dort stattfinden würde. Ebenso, wie er wußte, daß er sie verhindern mußte. Er hatte Drasks Worte nicht vergessen: Gebt acht, daß ihr euch nicht totsiegt, Satai.

Er zögerte, Yuls Bitte zu entsprechen. Er war hierhergekommen, um Fragen zu stellen, nicht zu beantworten. Aber dann wandte er sich um, ging zum Bett zurück - mit Ausnahme des Stuhles, auf dem die Errish saß, war es das einzige Möbelstück im Raum - und begann mit ruhiger, fast emotionsloser Stimme zu erzählen.

Er sprach schnell, aber er ließ nichts aus, und als er einmal zu reden begonnen hatte, hätte er nicht einmal aufhören können, wenn er es gewollt hätte. Er begann mit seinem Abschied von Gowenna vor zwanzig Jahren und seiner Wanderung zum unterirdischen Tempel der Gesichtslosen Prediger, berichtete von seinem mehr als zwanzig Jahre dauernden, magischen Schlaf und dem Schock, den es ihm bereitet hatte, als er erwachte und erfahren mußte, auf welch entsetzliche Weise sich die Welt verändert hatte, in dem Menschenalter, das er schlafend verbrachte. Er erzählte von seiner Wanderung in den Osten und dem Kampf mit den Quorrl, und von der Falle, die ihm Drask gestellt hatte, einer Falle, die beinahe das Schicksal Enwors und ganz bestimmt sein Schicksal besiegelt hätte, denn sie hatte ihn dazu gebracht, seinen eigenen Sohn zu töten. Er berichtete von dem Seelentausch, den Bradburn vorgenommen hatte, dem Sai-Tan, der ihm das böse Erbe seines Sohnes zurückgab, und von ihrem Angriff auf Drasks Burg und davon, daß auch sie sich am Ende nur als eine weitere, teuflische Falle herausstellte, die um ein Haar zum Grab für sechzigtausend Menschen und Quorrl geworden wäre. Yul hörte die ganze Zeit über schweigend und mit ausdruckslosem Gesicht zu, aber als er vom Angriff des Netzes erzählte, huschte ein rascher, schmerzhafter Ausdruck über ihre Züge, denn die Bilder, die er nur mit Worten heraufbeschwören konnte, hatte sie selbst erlebt, in Elay. Aber sie unterbrach ihn auch jetzt nicht, sondern starrte aus blicklosen Augen an ihm vorbei und wartete, bis er mit seinem Bericht zu Ende gekommen war; dem gestrigen Abend, an dem er mit letzter Kraft dieses Lager erreicht und bewußtlos zusammengebrochen war. »Den Rest kennst du«, schloß er. »Ich nehme an, du hast die ganze Nacht an meinem Bett verbracht.«

Yul nickte. Sie sah ihn an, aber ihr Blick war leer. Sie wirkte wie ein Mensch, der aus einem langen, von bösen Träumen geplagten Schlaf erwachte und sich nicht sofort in der Wirklichkeit zurecht fand; vielleicht, weil auch die Wirklichkeit zum Alptraum geworden war.

»Dann warst du es, der den Wächter getötet hat«, sagte sie. Skar widersprach nicht. Es wäre sinnlos gewesen, nach allem, was er Yul erzählt hatte, und zumindest geahnt hatte er es schon, während er mit der sterbenden Margoi in der Höhle der Drachen sprach. Das Wesen in Elay und das, das Drasks Burg angegriffen hatte, waren zur gleichen Zeit gestorben. Was er getötet hatte, das war nicht die Sternenbestie in Drasks Turmkammer gewesen. Sie wie ihre gräßliche Schwester in Elay waren nichts als Ungeheuer gewesen, Trugbilder, Trugbilder aus Fleisch und Blut zwar, aber doch nichts als Bauern auf einem gigantischen Schachbrett, in genau dem Moment erschaffen, in dem sie gebraucht wurden, und im Grunde unwichtig. Was er vernichtet hatte, das war die Macht gewesen, die hinter ihnen stand. Skar begriff plötzlich - und erst jetzt! -, daß er dem unsichtbaren Feind, gegen den sie kämpften, ohne ihn überhaupt zu kennen, vielleicht den ersten wirklich schmerzenden Schlag in diesem Krieg beigebracht hatte, aber er dachte auch diesen Gedanken ohne jeden Triumph.

»Wie?« fragte Yul.

Skar tat so, als verstünde er nicht. »Was... meinst du?«

»Wie hast du es getan? Du hast einen Geist besiegt, der mächtig genug war, Elay und ein Dutzend anderer Städte zu unterwerfen und euer gesamtes Heer zu bedrohen. Wie?«

»Ich... weiß es nicht«, log Skar. Er zuckte mit den Achseln und wich Yuls Blick aus. »Ich habe es einfach getan. Etwas in mir. Vielleicht die Kraft, vor der sich Drask und die Sternengeborenen so sehr fürchten. Ich weiß nicht, wie«, beteuerte er noch einmal. Yul starrte ihn an, und Skar spürte ganz genau, daß sie ihm nicht glaubte. Er wußte es. Oh, ja, dachte er bitter, er wußte es. Nicht das wie, aber das wieso. Den Grund, aus dem es ihm möglich gewesen war, eine Kreatur von der Macht eines finsteren Gottes zu vernichten, nur mit der puren Kraft seines Willens. Er wußte es, und er hatte dieses Wissen sogar ausgesprochen, als es aus der Welt des Wahnsinns zurückgekehrt und wieder zum Menschen geworden war. Hinterher hatte er sich darauf hinausgeredet, daß er verwirrt gewesen war und nicht wußte, was er sagte, und Del und die anderen hatten ihm nur zu gerne geglaubt. Aber er wußte, daß es nicht so war.

»Und du glaubst, du könntest es wirklich?« fragte Yul.

»Was?«

»Den Krieg verhindern, den dein Freund Del so gerne führen würde, wie du es Drask versprochen hast?« Yul stand auf und machte ein paar Schritte auf die Tür zu, wobei sie sich schwer auf einen glattpolierten Stock aus schwarzem Holz stützte, der bisher neben ihrem Stuhl gestanden hatte.

Auch Skar erhob sich, unterdrückte aber im letzten Moment den Impuls, die Hand auszustrecken und sie zu stützen. Yul würde ihn um Hilfe bitten, wenn sie sie brauchte. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber ich muß es versuchen. Dieser Kampf... darf nicht weitergehen.«

»Weil es ein Krieg ohne Sieger wäre.« Yul nickte und starrte wieder ins Leere. »Es hat schon einmal einen solchen Kampf gegeben, und er wurde von denselben Parteien geführt. Sie vernichteten sich gegenseitig, und was von Enwor blieb, war eine Hölle.« Sie wandte den Kopf und sah ihn durchdringend an. »Ist es das, wovor du dich fürchtest, Satai? Willst du den Krieg verhindern, weil du Angst hast, es könnte wieder keinen Sieger geben, sondern nur Verlierer?«

Skar spürte, daß von seiner Antwort viel abhing, ohne zu wissen, warum. Er dachte lange über Yuls Worte nach, und für einen ganz kurzen Moment war er in Versuchung, ihr auch den Teil der Geschichte zu erzählen, den er ihr bisher verschwiegen hatte: seine eigene, ganz private Hölle, deren Abgründe sich für ihn aufgetan hatten, seit er auf der Insel des Dronte das Erwachen des Daij-Djan miterlebt hatte. Sein Wissen um das, was er wirklich war. »Nein«, sagte er schließlich.

»Warum dann?« beharrte Yul.

»Weil ich... müde bin«, sagte er zögernd. »Wir alle sind es, Yul. Diese Welt hat zu viel Krieg und Sterben erlebt. Es muß aufhören. Für immer.«

Yul lächelte. »Seltsame Worte - aus dem Munde eines Kriegers.«

»Vielleicht ist ein Krieger der einzige, der versteht«, antwortete Skar. Er machte eine Handbewegung, die seine ganze Erschöpfung zum Ausdruck brachte. »Vielleicht sind die alten Legenden wahr, und unsere Vorfahren und die Sternengeborenen vernichteten sich wirklich gegenseitig, als sie um die Vorherrschaft auf Enwor kämpften.«

»Sie sind wahr«, sagte Yul.

»Aber in einem lügen sie«, beharrte Skar. »Der Kampf hat nie aufgehört. Es mag tausend Jahre her sein oder eine Million, aber der Krieg wurde nie beendet. Der Dronte, dieses entsetzliche Ding, das ihr den Wächter nennt und alle anderen Kreaturen, die sie noch gegen uns werfen mögen, sind -«

»- keine Dämonen, Skar, sondern Teil eines unvorstellbaren Waffensystems, das sie erschufen, um ihre Gegner zu bezwingen«, unterbrach ihn Yul. Sie sah ihn fast amüsiert an. »Überrascht dich das?«

»Nein«, antwortete Skar ehrlich. »Ich verstehe es nicht, aber es überrascht mich auch nicht.«

»Aber es ist doch ganz einfach«, fuhr Yul fort, noch immer in diesem Skar unverständlichen, fast amüsierten Tonfall. »Die Alten waren Wesen von unvorstellbarer Macht und Wissen, aber sie blieben Menschen. Ihre Seelen und ihre Art zu denken blieb die von Menschen. Die Sternengeborenen waren anders. Die Alten bezwangen sie mit ihrer Technik, denn sie wußten Dinge zu erschaffen, die selbst uns wie Zauberei vorkommen. Aber sie waren letztendlich in den Gesetzen ihrer Welt gefangen. Sie vermochten Dinge zu erschaffen wie unsere Scanner, und andere, schlimmere Waffen. Du hast ihre Wirkung gesehen. Du warst in Combat.« Skar nickte. Er hatte das Feuer gesehen, das die Erde selbst entflammt hatte. Es brannte noch immer. Nach einer Million Jahren. Und es würde auch in einer weiteren Million Jahren weiterlodern. »Aber gleich, wie perfekt ihre Waffen waren, sie blieben unvollkommen«, fuhr Yul fort. »Was die Sternengeborenen taten, war anders.« Sie suchte nach Worten, fand keine und zuckte mit den Schultern. »Nenne es besser, wenn du willst. Meinetwegen böser, auf jeden Fall aber wirkungsvoller. Die Waffen der Alten gingen mit ihrer Welt unter. Die der Sternengeborenen überdauerten ihre Schöpfer, denn was sie schufen, war Leben. Leben, das nur dem einen Zweck diente, zu töten. Und das unsterblich war, denn es vermochte sich allen nur denkbaren Veränderungen anzupassen.« Sie seufzte, senkte den Blick und stützte sich schwerer auf ihren Stock. »Du hast recht, Skar. Wir können diesen Krieg nicht gewinnen.«

»Hat... Gowenna das alles gewußt?« fragte Skar. Er war erschüttert. Das meiste von dem, was Yul ihm erzählt hatte, war ihm nicht einmal neu, und doch gab allein die Art, auf die sie gesprochen hatte, den Dingen eine neue, furchtbare Realität. Es war, als hätte sich ein unsichtbarer, eisiger Schatten vor die glühende Sonnenscheibe draußen geschoben.

»Du meinst, weil sie es dir nicht erzählt hat?« Yul schüttelte traurig den Kopf. »Wir alle wissen es, Skar. Es war das große Geheimnis der Errish, über all die Jahrtausende hinweg. Wir durften es dir nicht sagen. Nicht einmal sie durfte es. Und wir glaubten, die Gefahr sei gebannt, nachdem du das Kind zurückgebracht hattest. Vielleicht war sie es sogar.« Skar sah sie fragend an. »Es begann, nachdem du fort warst«, fügte Yul erklärend hinzu. »Der Dronte schien der letzte Versuch der Sternengeborenen, das Kind und damit dein Erbe in ihren Besitz zu bringen. Erst nachdem es dich nicht mehr gab, begannen sie wirklich zu erwachen.«

»Aber wieso?«

»Das weiß niemand«, antwortete Yul. »Vielleicht war nicht Combat das Siegel, sondern du. Die Macht, die in deiner Seele schlummert, Satai. Es hat immer Männer wie dich gegeben, seit den Zeiten der Alten, und sie haben ihre Macht weitervererbt, meist, ohne auch nur zu ahnen, wer sie waren. Vielleicht war der magische Schlaf, in den der Priester dich versetzte, die erste Zeitspanne seit dem Untergang der alten Welt, in der es keinen Wächter gab.«

Sie sah, wie sehr ihre Worte Skar trafen, und lächelte aufmunternd. »Vielleicht ist es auch ganz anders. Nur Vermutungen, die eine Greisin anstellt, die längst hätte sterben sollen. Komm - laß uns ein paar Schritte gehen. Die Sonne scheint, und die Wärme wird meinen alten Knochen guttun.«

Nebeneinander verließen sie die Hütte. Es war sehr warm, und nach dem tagelangen Regen empfand Skar den Sonnenschein als doppelt angenehm. Yuls Erzählung hatte mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet, aber er wußte auch, daß sie nicht weiterreden würde, auch wenn er es versuchte. Da war noch mehr, noch viel mehr, was es zu fragen und zu sagen gab, aber es war Yul, die die Spielregeln bestimmte, und die entschied, wieviel Wahrheit er in einer gewissen Zeit ertragen konnte und wieviel nicht. Und vielleicht hatte sie recht. Ihre Geschichte - zusammen mit dem, was Skar wußte und ihr verschwieg, ergaben ein erschütterndes Bild. Er war mehr denn je davon überzeugt, daß Drask ihm die Wahrheit gesagt hatte, kurz bevor er starb.

Skar versuchte seine Gedanken in andere Bahnen zu zwingen, indem er sich auf das Lagerleben ringsum konzentrierte. Die kleine, aus Felsen und Palisadenwänden errichtete Festung war so hastig und provisorisch angelegt, wie er schon gestern abend vermutet hatte. Yuls Schülerinnen waren mit sehr viel mehr gutem Willen als Wissen an ihre Aufgabe herangegangen, und der Satai, der sie unterrichtet hatte, hatte entweder nichts vom Festungsbau verstanden oder nicht vorausgesehen, daß seine Lebensretterinnen eines Tages auf diese Fertigkeiten angewiesen sein mochten. Skar indes sah die Anlage aus den Augen eines Kriegers, und er mußte nicht zweimal hinsehen, um zu erkennen, daß sie einem ernstgemeinten Angriff nur sehr kurze Zeit standhalten würde.

»Wie lange seid ihr schon hier?« fragte er, während sie sich nebeneinander der großen Palisadenwand näherten, die er aus der Luft heraus gesehen hatte.

»An diesem Ort?« Yul überlegte. »Zehn... nein, elf Tage. Oh, ich weiß, er ist erbärmlich, aber das Beste, was wir haben.« Sie beschattete die Augen mit der Hand und blickte aufs Meer hinaus, als suche sie nach etwas Bestimmtem. Skar folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Es war sehr warm. Nachdem sie die Hütte verlassen hatten, begann er die Sonne bereits unangenehm zu spüren, die er solange vermißt hatte. Und der Juckreiz hatte keineswegs aufgehört. Skar mußte sich beherrschen, um sich nicht ununterbrochen am ganzen Leib zu kratzen. »Wir waren auf dem Weg zurück nach Elay«, fuhr Yul fort. »Anschi und die, die mit mir in die Wüste geflohen waren, als der Wächter Elay angriff.«

»Du hast sie angeführt?«

»Nicht direkt«, antwortete Yul mit einem schmerzlichen Lächeln. »Um ehrlich zu sein - es war ein purer Zufall, daß wir entkamen. Wir versteckten uns, zuerst in der Nähe Elays, später, als sie anfingen, uns zu jagen, im Tal der Drachen, und nach und nach stießen andere zu uns, die dem Wächter entkommen waren; oder die er nicht für wichtig genug empfunden hatte, sich ihrer zu bemächtigen.«

»Wie viele seid ihr?«

»Siebzig«, antwortete Yul. »Vielleicht achtzig - ich weiß es nicht genau. Viele starben, als wir die Kontrolle über die Drachen verloren. Viele wurden von ihren Tieren getötet, bis wir begriffen, daß aus unseren Drachen wieder wilde Bestien geworden waren, andere fielen den Angriffen ihrer eigenen Schwestern zum Opfer. Wäre der Satai nicht erschienen, von dem Anschi dir erzählt hat, wären wir vielleicht alle gestorben. Er lehrte uns zu kämpfen und zu überleben.«

»Und ihr habt euch die ganze Zeit draußen in der Wüste verborgen?« fragte Skar erstaunt.

»Und immer auf der Flucht«, fügte Yul bitter hinzu. »Aber schließlich hörten wir, daß der Wächter besiegt war. Du mußt wissen, wir hatten Freunde in Elay. Verbündete, die uns manchmal Nachrichten zukommen ließen oder eine Warnung. Wir brachen auf, um in die Stadt zurückzukehren. An diesem Ort hier legten wir unsere letzte Rast ein.« Sie lachte bitter. »Um uns zu säubern. Um unsere Wunden zu versorgen und saubere Kleider anzulegen, damit wir nicht wie die Bettler zurückkehrten.«

»Es hat euch das Leben gerettet«, sagte Skar.

»Wahrscheinlich«, sagte Yul. »Nein, sicher. Wären wir weiter geritten...« Sie stockte. Ihr Blick richtete sich wieder auf jene imaginäre Stelle weit draußen auf dem Meer, und plötzlich wurde ihre Stimme noch leiser, so daß Skar sich anstrengen mußte, um ihre Worte überhaupt zu verstehen. »Es begann dort draußen, Skar. Ich habe es gesehen.«

»Was?« fragte Skar.

»Der Sturm«, antwortete Yul. »Der Staub, der Elay vernichtete. Ich stand hier, hier wo wir jetzt sind, und es begann dort, irgendwo hinter dem Horizont.« Sie hob den Stock und deutete zitternd mit dem polierten Holz nach Westen. »Auf einer jener kleinen Inseln, die dort liegen. Licht. Ein böses, weißes Licht, wie ich es nie zuvor im Leben gesehen habe. Es war, als wäre die Sonne auf die Erde herabgefallen.«

»Ein Licht?« wiederholte Skar zweifelnd. »Die Margoi hat nichts von einem Licht erzählt.«

»Vielleicht haben sie es nicht bemerkt«, antwortete Yul. »Elay stand in Flammen, vergiß das nicht. Sie kämpften. Vielleicht haben sie es gesehen, aber nicht gewußt, was es bedeutete. Aber ich sah es und wußte, daß es das Ende war.«

»Und... dann?« fragte Skar, als Yul nicht weitersprach, sondern nur aus blicklosen, weit aufgerissenen Augen nach Westen starrte. »Das Licht verlosch, aber eine Stunde später begann der Sturm. Und mit ihm kam der tödliche Staub, der Elay zerstörte. Du hast gesehen, was er getan hat. Es muß aufhören, Skar. Bevor ganz Enwor untergeht.«

Es war nicht allein das, was sie aussprach, was Skar abermals frösteln ließ. Yuls mehr zu sich selbst als an Skars Adresse gerichtete Worte hatten plötzlich etwas von einer Prophezeiung, einer düsteren, unheilschwangeren, aber unausweichlichen Prophezeiung. Skar antwortete nicht, obgleich er wußte, daß die Errish allein sein Schweigen als Zustimmung werten würde.

Einzig, um sich auf andere Gedanken zu bringen, deutete er auf den Pferch hinter dem Palisadenzaun. »Diese Kreaturen«, sagte er. »Was ist das? Ich habe nie zuvor Wesen wie diese gesehen.«

»Du warst auch noch nie im Tal der Drachen«, antwortete Yul. »Oder?«

Skar verneinte. Jetzt, im hellen, beinahe schattenlosen Licht der Mittagssonne, konnte er die so sonderbar menschenähnlich aussehenden Geschöpfe weit besser erkennen als gestern nacht, aber die Helligkeit des Tages nahm ihnen nichts von ihrem unheimlichen Äußeren. Ganz im Gegenteil. Die Kreaturen - Skar weigerte sich selbst in Gedanken, sie Drachen zu nennen, obgleich sie es zweifellos waren; aber alles in ihm sträubte sich dagegen, diese häßlichen, mörderischen Dinger mit den stolzen Riesenechsen zu vergleichen, auf denen die Errish ritten - hatten tatsächlich etwas Menschenähnliches; schon weil sie sich aufrecht gehend auf den Hinterfüßen fortbewegten und ihre Vorderbeine zu kleinen, klauenbewehrten Ärmchen verkümmert waren - klein allerdings nur im Vergleich mit den muskelbepackten Hinterläufen, die so stark wie Skars Oberkörper waren. Ein langer, gepanzerter Schwanz half ihnen offensichtlich dabei, das Gleichgewicht bei dieser für ihre Gattung ungewöhnlichen Art der Fortbewegung zu halten; ihre Füße waren groß und dreizehig wie die von Vögeln und mußten zu entsetzlichen Waffen werden, wenn sie sie im Kampf einsetzten. Das Häßlichste an den Tyrr aber war der Schädel, der unverhältnismäßig groß für den Rest des Körpers war und nur aus Maul und Zähnen zu bestehen schien. Die Tyrr waren zwischen sechs und acht Fuß groß, aber Skar schätzte ihr Körpergewicht auf eine gute halbe Tonne. Er fragte sich, ob sie intelligent waren, wie man es manchen Drachen nachsagte.

Yul gab ihm ausreichend Zeit, die scheußlichen Kreaturen zu begutachten, ehe sie weitersprach. »Sie leben im Tal der Drachen, so wie die Skrot, die Kiina verfolgten. Im Grunde sind sie harmlos.«

Harmlos? Skar hob zweifelnd die Augenbrauen. Gestern abend hatte er nicht den Eindruck gehabt, daß die Tyrr in irgendeiner Form harmlos waren. Ganz im Gegenteil - er erinnerte sich schaudernd daran, wie fürchterlich diese Wesen unter Titchs Quorrl gewütet hatten.

»Sie sind Aasfresser, und wie alle Aasfresser feige«, erklärte Yul. »Außer wenn sie ihre Beute in großen Gruppen angreifen können.«

»Oder von einer Errish gelenkt werden«, vermutete Skar. Yul nickte, aber ihr Gesicht sah dabei fast angewidert aus. »Glaube nicht, daß es uns freut, uns dieser Tiere zu bedienen«, sagte sie. »Aber sie sind alles, was uns geblieben ist. Sie und die Skrot und ein paar alte oder schwache Drachen, die sich nicht mehr gegen unseren Willen wehren können.«

»Dann hatte Kiina recht, als sie behauptete, der Wächter hätte euch die Drachen genommen?«

»Ja«, seufzte Yul. »Niemals hätte er den Geist eines Drachen bezwingen können«, sagte sie überzeugt. »So trennte er uns von ihnen.«

»Aber gestern abend, bei den Quorrl -«

»Hast du einen wirklichen Drachen gesehen, ich weiß«, unterbrach ihn Yul. »Ereil. Mein eigenes Tier.« Sie schwieg einen Moment, warf den Tyrr einen langen, eindeutig angewiderten Blick zu und drehte sich zu Skar um. »Sie ist vielleicht der letzte Drache, der uns geblieben ist. Aber sie ist so alt und schwach wie ihre Herrin. Wenn sie stirbt, dann wird es keine Drachenreiterinnen mehr auf Enwor geben. Die Mädchen sind noch nicht soweit.«

»Anschi hat die Daktyle gelenkt, auf der ich geritten bin«, wandte Skar ein.

»Das ist nichts«, behauptete Yul. »Viele von ihnen sind begabt, das ist wahr, aber nicht eine von ihnen könnte einen wirklichen Drachen beherrschen, Skar. Es ist ein langer und mühseliger Weg, mit dem Geist dieser stolzen Wesen zu verschmelzen. Nicht alle schaffen es, und die, denen es gelingt, brauchen ein Leben, um perfekt zu werden. Anschi und die anderen werden diese Zeit nicht haben.«

»Sie beherrschen die Tyrr.«

»Sie lenken sie«, verbesserte ihn Yul. »Wie ein Puppenspieler seine Marionette. Einen Drachen kannst du nicht beherrschen, Skar. Du mußt seine Freundschaft erringen, oder er wird dich töten. Was wir mit den Tyrr tun, ist... schlecht. Es verdirbt sie, denn es bricht ihren Willen, und es verdirbt uns, denn es zwingt uns, unsere Gedanken mit denen eines Tieres zu verbinden. Telepathie ist immer zweiseitig, Skar. Du gibst nicht nur, du nimmst auch, ob du es willst oder nicht.«

Skar schauderte. Yul hatte ihm mit wenigen kurzen Worten einen Einblick in eine Welt gegeben, die ihm vollkommen fremd war. Nicht einmal er, der eine Errish geliebt hatte, hatte sich bisher Gedanken darüber gemacht, wie sie es bewerkstelligen mochten, die riesigen Panzerechsen Enwors zu beherrschen. Es war eben so. Errish ritten Drachen, so wie Satai das Kämpfen und Veden die Seefahrt beherrschten. Ein weiteres Wunder, dachte er bitter, das untergehen würde, ganz gleich, ob sie den Kampf gegen die Sternengeborenen gewannen oder nicht.

Der Gedanke erfüllte ihn mit Zorn, den er kaum mehr zu beherrschen vermochte. »Sie werden dafür bezahlen, Yul«, sagte er. »Ich verspreche es.«

Die alte Errish sah ihn mit sonderbarem Ausdruck an. »Sagtest du nicht vor Augenblicken noch, daß du den Krieg verhindern willst?« fragte sie.

Skar war irritiert, dann erschrocken über seine eigene Reaktion. Er kannte diesen wilden, alle Logik davonfegenden Zorn, der ihn manchmal packte, aber er war nie so plötzlich und grundlos über ihn gekommen. Seltsam, dachte er. Wie in seinem Traum. Er verscheuchte den Gedanken.

»Du hast recht«, sagte er verlegen. »Ich bin nervös. Verzeih.« Yuls Blick blieb forschend, und das auf eine Art, die Skar rasch unangenehm zu werden begann. So sah sie ihn nicht nur mißtrauisch an, sondern so, als suche sie in seinem Blick nach etwas, etwas ganz Bestimmtem, von dem sie ahnte (befürchtete?), daß es da war. Aber sie ging mit keinem Wort mehr darauf ein, sondern hob plötzlich den Kopf und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in den Himmel hinauf. »Anschi kommt zurück«, sagte sie. Auch Skar blickte nach Süden. Obwohl seine Augen ein halbes Menschenalter jünger als die Yuls und zweifellos schärfer waren, dauerte es Sekunden, bis auch er den winzigen, dreieckigen Schatten im Himmel gewahrte, der sich dem Lager in lautlosem Segelflug näherte.

»Komm«, sagte Yul. »Gehen wir ihr ein Stück entgegen. Sie bringt Neuigkeiten von deinem Freund Titch.«

Die Errish kam rasch näher. Sie ritt die große Daktyle, auf der Skar selbst in der vergangenen Nacht gesessen hatte, und er hatte ja erlebt, wie schnell der riesige Drachenvogel war. Sie hatten das Lager kaum halb durchquert, als die Daktyle auch schon mit weit ausgebreiteten Flügeln zur Landung ansetzte und hoppelnd zur Ruhe kam.

Anschi sprang aus dem Sattel, noch ehe die Daktyle ihre Schwingen zusammengefaltet hatte. Allein ihre Art, sich zu bewegen, verriet Skar eine Menge über den Gemütszustand, in dem sie sich befand. Ihr Gesicht flammte vor Zorn, als sie auf Yul und ihn zukam.

»Diese... diese Tiere!« sagte sie aufgebracht. »Diese verdammten Bestien!«

»Sprichst du von den Quorrl?« fragte Skar alarmiert. Was war geschehen?

»Ja, das tue ich«, fauchte Anschi. »Ich spreche von deinen Freunden, diesem Monstrum Titch und den anderen Fischgesichtern!«

»Anschi!«

Yuls Stimme klang eher verzeihend als scharf, aber die junge Errish fuhr trotzdem zusammen und blickte ihre Lehrerin vergebungheischend an.

»Verzeiht, Herrin«, sagte sie. »Ich weiß, ich sollte nicht so reden, aber...«

»Was ist geschehen?« fragte Skar. »Hattest du Streit mit Titch?«

»Sprich, Kind«, sagte Yul, als Anschi nicht sofort antwortete, sondern ihn nur voller Feindseligkeit anstarrte. »Berichte. Du hast den Quorrl meine Botschaft überbracht?«

Anschis Lippen wurden zu einem dünnen, blutleeren Strich. »Ja, das habe ich«, antwortete sie. »Aber sie wollen nicht warten.« Sie wandte sich an Skar. »Ich soll dir von Titch ausrichten, daß du wüßtest, wo du ihn finden kannst, und daß er glaubt, du würdest seine Hilfe jetzt nicht mehr brauchen. Sie sind bereits aufgebrochen.«

Sie starrte Skar so voller Feindseligkeit an, als wäre es seine Schuld, und irgendwie spürte er auch, daß es so war - ganz gleich, was die Quorrl taten oder unterließen, Anschi würde immer ihm die Verantwortung dafür zuschreiben, schon weil er es gewesen war, der sie hierhergebracht hatte.

»Und was ist geschehen?« fragte er. Die Tatsache allein, daß Titch sein Wort nicht hielt, konnte schwerlich der Grund für Anschis Erregung sein. Ganz im Gegenteil wäre die junge Errish wahrscheinlich eher erleichtert gewesen, wären die Quorrl nur weitergezogen.

»Die Verwundeten«, stieß Anschi hervor. »Titchs Krieger. Er hat sie getötet! Ich... ich habe ihm angeboten, sie hierzulassen, bei uns. Wir hätten sie gepflegt, bis sie wieder kräftig genug gewesen wären, ihm zu folgen. Aber er hatte nicht einmal darauf geantwortet. Dieses Ungeheuer hat sie getötet, vor meinen Augen.« Skar schwieg betroffen. Anschis Worte überraschten ihn nicht einmal wirklich. So rätselhaft ihm Titchs Persönlichkeit noch immer war, so vorausberechenbar waren seine Reaktionen als Quorrl. Er war auch nicht schockiert. Er machte sich nur Vorwürfe, den Quorrl allein gelassen zu haben. Er hätte wissen müssen, was geschah.

»Das scheint dir überhaupt nichts auszumachen, wie?« fauchte Anschi, als er nicht so reagierte, wie sie wohl erwartet hatte. »Doch«, antwortete Skar ruhig. »Aber es ist nun einmal die Art der Quorrl, ihre Verwundeten zu töten, wenn sie sie nicht mitnehmen können.«

»Es ist nicht deine Schuld, Kind«, sagte Yul sanft. »Und es steht uns auch nicht zu, über Titch zu urteilen. Er hat nach den Gesetzen seines Volkes gehandelt, wie wir nach den unseren.«

»Er hat sie abgeschlachtet, wie Vieh«, protestierte Anschi. »Vor meinen Augen. Es war... unmenschlich.«

»Titch ist kein Mensch«, erinnerte sie Skar, aber er spürte sofort, daß er damit alles höchstens noch schlimmer machte. Und er begriff plötzlich auch, warum: die Errish fühlte sich für das Ende der Quorrl verantwortlich.

»Wohin ziehen sie?« fragte er rasch, ehe Anschi Gelegenheit fand, weiterzusprechen und sich vielleicht noch mehr in Rage zu reden. »Direkt nach Norden?«

»Nein«, antwortete Anschi. »Ich habe ihnen geraten, einen Bogen um Elay zu schlagen, und ich hoffe, dieser dickköpfige Quorrl ist wenigstens klug genug, darauf hören.« Plötzlich lächelte sie, ZU aber es war nicht sehr viel Humor in dieser Miene. »Wenn du willst, sorge ich dafür, daß sie nicht weit kommen. Ich glaube nicht, daß sie es wagen, den Weg einer Herde wilder Tyrr zu kreuzen.«

»Was für ein Unsinn«, sagte Yul. »Du wirst nichts dergleichen tun, Anschi. Und jetzt geh. Laß dir etwas zu essen geben und beruhige dich ein wenig. Und dann komm zu uns. Skar und ich erwarten dich in Kiinas Hütte.«

Anschi entfernte sich ohne ein weiteres Wort, aber mit Bewegungen, die ihren Zorn nur um so deutlicher machten. Skar sah ihr kopfschüttelnd nach, während Yul sich ein dünnes, verzeihendes Lächeln gestattete.

»Sie ist sehr aufbrausend«, sagte sie, »aber auch sehr klug. Was für eine Errish wäre sie geworden.« Sie seufzte, schüttelte noch einmal den Kopf und stützte sich wieder schwer auf ihren Stock. »Komm, Satai«, sagte sie mit einer Kopfbewegung auf eine der Hütten am Rande des Lagerplatzes. »Wir haben viel zu besprechen. Und jetzt darfst du mir die Hand reichen. Ich bin müde.« Kiina schlief, als er die Hütte betrat. Sie war etwas geräumiger als die, in der er sich nach seinem Erwachen gefunden hatte, aber ebenso spartanisch eingerichtet; selbst für die Begriffe einer Errish. Skar führte Yul zu einem Stuhl, half ihr, sich auf das unbequeme Möbelstück zu setzen und trat dann an Kiinas Bett. Er erschrak ein wenig, als er ihr Gesicht sah: Es war so bleich, daß es schon fast grau wirkte, und unter ihren Augen waren dunkle Ringe. Er hätte nicht einmal die Hand auf ihre Stirn zu legen brauchen, um zu erkennen, daß sie Fieber hatte, aber er tat es trotzdem; vielleicht nur, um sie zu berühren. Obwohl sie den allergrößten Teil ihrer gemeinsamen Zeit damit verbrachten, sich zu streiten, fühlte er eine tiefe, fast väterliche Verbundenheit mit dem Mädchen. Sie war nicht seine Tochter - Skar hatte den Gedanken eine Weile ernsthaft erwogen, ihn dann aber als das erkannt, was er war: ein Wunsch, mehr nicht -, aber sie hätte es sein können, und sie war Gowennas Tochter. Etwas wie ein Andenken an eine Zeit, die unwiderruflich vorüber war. Und er war es Gowenna einfach schuldig, sie zu beschützen.

»Du liebst das Mädchen«, sagte Yul, als er sich nach ein paar Augenblicken aufrichtete.

»Ja«, sagte Skar, zu seiner eigenen Überraschung fast sofort und ohne irgendeine Scheu oder gar Verlegenheit. »Aber nicht so, wie du glaubst. Wie geht es ihr?« Erst, als er die Hütte betreten und Kiinas bleiches Gesicht gesehen hatte, hatte er sich wieder daran erinnert, daß auch sie das Lager der Errish mehr bewußtlos als wach erreicht hatte.

»Sie ist sehr schwach«, antwortete Yul nach einem Zögern und in einer Art, die Skar besorgt aufhorchen ließ. Fragend sah er die greise Errish an. Yul wich seinem Blick aus, und wieder hatte er das Gefühl, daß es da etwas gab, was sie ihm verschwieg.

»Aber das ist nicht alles«, vermutete er.

Yul zögerte erneut, und Skar erinnerte sich an die sonderbare Bemerkung, die sie nach seinem eigenen Erwachen gemacht hatte: Es war nicht der Ritt.

»Nein«, gestand sie nach einer Weile. »Das ist nicht alles. Sie ist... krank. Ihr beide seid krank. Glaube ich.«

»Du glaubst?« Skar sah Yul scharf an. »Was soll das heißen - du glaubst? Du bist eine Errish, oder nicht?«

»Ich kann nicht zaubern«, antwortete Yul beinahe aggressiv. »Ich kann Schmerzen lindern und Krankheiten heilen - manchmal. Ich weiß nicht, was ihr fehlt. Vielleicht ist sie einfach nur erschöpft.«

»Du lügst«, behauptete Skar. Er trat einen Schritt auf Yul zu und ballte die Fäuste, ehe ihm klar wurde, wie lächerlich diese Geste einer Frau wie Yul gegenüber war. Etwas leiser, aber noch immer erregt und mit nur mühsam beherrschter Stimme fuhr er fort: »Du weißt ganz genau, was ihr fehlt. Es ist... dasselbe, was die Errish in Elay getötet hat. Der Staub.«

Yul nickte. Ihr Blick ging an Skar vorbei ins Leere. »Der Staub, ja. Vielleicht. Ich... weiß es einfach nicht.« Sie zwang sich, Skar anzusehen, aber mit einem Male wirkte sie hilflos, als wäre sie es, die ihn um eine Erklärung bat. »Als es... geschah, Skar, da sandte ich eines der Mädchen in die Stadt. Es kam zurück, aber es starb binnen weniger Stunden. Ich weiß nicht, woran. Ich habe alles in meiner Macht Stehende versucht, aber ich habe versagt. Es war, als... als fräße sie etwas von innen heraus auf.«

Vor Skars innerem Auge entstand das Bild des zerfallenen Gesichtes der Margoi, ein ausgezehrter Totenschädel, in dem das Leben ganz allmählich erlosch. Er schauderte. Der Gedanke, Kiina auf die gleiche Weise sterben zu sehen, machte ihn fast wahnsinnig.

»Und du kannst nichts für sie tun?« fragte er.

»Für euch, Skar«, verbesserte ihn Yul. »Auch du warst in der Stadt.«

Und er hatte eine ganze Menge mehr von dem Zeug eingeatmet als Kiina, dachte er. Aber dieser Gedanke schreckte ihn überhaupt nicht. Wie immer war die Vorstellung des eigenen Todes für ihn so abstrakt, daß sie ihn kaum Furcht einzujagen vermochte.

»Es ist lange her«, fuhr Yul fast hastig fort. »Was immer es ist, das diesen Staub so gefährlich macht, es scheint mit der Zeit seine Wirkung zu verlieren. Die Bewohner Elays starben binnen Sekunden. Das Mädchen, das am nächsten Tag in die Stadt ging, überlebte eine Stunde.«

»Und die Margoi acht Tage«, sagte Skar bitter. »Danke, Yul - ich habe gesehen, wie sie starb. Ich lege keinen besonderen Wert darauf, so zu leben.«

»Niemand spricht vom Sterben, Satai«, sagte Yul zornig. »Ich sagte, daß Kiina krank ist, nicht, daß sie stirbt.« Sie deutete auf das Bett hinter Skar. »Vielleicht sind ein paar Tage Ruhe alles, was sie braucht. Ihr Zustand bessert sich bereits. Und du«, fügte sie spöttisch hinzu, »bist augenscheinlich schon kräftig genug, dich mit mir zu streiten, statt über Dinge zu reden, die wichtiger wären.«

»Zum Beispiel?«

»Deine Zukunft«, antwortete Yul. »Unsere Zukunft.« Sie machte eine Handbewegung in die Richtung, in der Elay lag. »Du bist hierhergekommen, um Fragen zu stellen. Tu es.«

Skar war irritiert und alarmiert zugleich. Der plötzliche Themenwechsel war nicht allein Yuls sprunghafter Art zuzuschreiben. Sie verschwieg ihm noch immer etwas. »Kannst du sie beantworten?« fragte er.

»Das sage ich dir, wenn du sie gestellt hast«, versetzte Yul spöttisch.

Skar funkelte sie an, aber er beherrschte seinen Zorn auch diesmal noch. Yul war ein geschwätziges altes Weib, das war alles. Er würde mehr - und vor allem schneller - von ihr erfahren, wenn er sie reden ließ, so schwer es ihm auch fiel. Er begann Fragen zu stellen. Und Yul beantwortete sie, so gut sie konnte.

Er träumte auch in dieser Nacht wieder, und es war wie eine getreuliche Wiederholung seines ersten Alptraumes; nicht was seinen Inhalt, wohl aber, was die Art seines Verlaufes anging: Wieder war sein Denken sonderbar zweigeteilt, als rängen hinter seiner Stirn zwei völlig unterschiedliche Wesen um die Vorherrschaft über seine Gedanken. Der eine logische - und schwächere - Teil versuchte zu verarbeiten, was er erlebt und von Yul erfahren hatte, aber das eine war unerfreulich und das andere wenig mehr als nichts, denn die Errish hatte keine seiner Fragen beantworten können. Sie war Elay fern geblieben, solange es sich unter dem Einfluß des Wächters befand, und von den Legenden der Quorrl wußte sie entweder nichts, oder sie wollte nicht darüber reden. Und die Hilfe, die er sich von den Ehrwürdigen Frauen versprochen hatte, konnte sie ihm nicht mehr geben.

Der andere, unlogische - und stärkere - Teil seines Denkens war wieder im klebrigen Gespinst eines Alptraumes gefangen. Er sah sich selbst durch einen schwarzen Sumpf voller klebriger dünner Fäden rennen, die sich wie Schlangen oder lebendig gewordene Spinnweben um seine Füße zu ringeln versuchten, Kiina dabei wie ein hilfloses Kind mit sich zerrend und auf der Flucht vor einer körperlosen, entsetzlichen Gefahr. Aber dann drehte er sich im Laufen herum und sah, daß es gar nicht Gowennas Tochter war, die er mit sich zerrte, sondern eine ausgemergelte Greisin, kahlköpfig und mit einem Gesicht voller Geschwüre und eiternder Wunden, und als er aufschrie und sie loszulassen versuchte, konnte er es nicht, denn seine Hand war an ihrem Arm festgewachsen. Wo seine Finger ihre Haut berührten, begannen auch sie zu verfaulen, und er spürte, wie sich etwas in seine Seele einnistete und damit begann, seine Lebenskraft aufzusaugen wie ein Vampir das Blut seiner Opfer. Aber er nahm nicht nur, er gab auch: Die Leere in Skars Innerem füllte sich mit Zorn, mit mörderischem, - noch - ziellosem Haß, der ihn im Schlaf aufstöhnen und so heftig die Fäuste ballen ließ, daß es weh tat. Töten! wisperte eine Stimme in seinen Gedanken. Vernichten. Zerreißen. Zerstören. Töten. Gleich was und wen.

Wie in der Nacht zuvor wurde der Traum plötzlich irreal; aus den Schreckensbildern wurden kaum weniger entsetzliche, aber formlose Lichtblitze voller gestaltloser Furcht, aber wie in der Nacht zuvor dauerte es auch jetzt nur Augenblicke, bis er spüren konnte, wie er in einen tiefen, traumlosen, normalen Schlaf hinüberglitt - und erwachte.

Nicht von selbst erwachte, das spürte er genau. Jemand (ein Geräusch?) hatte ihn geweckt. Aber es war still; so leise, daß er das Schlagen seines eigenen Herzens hören konnte, als er den Atem anhielt, um zu lauschen. Schon fast zu still, dachte Skar. Es war spät in der Nacht, aber er befand sich in einem Lager mit siebzig oder achtzig Menschen und Hunderten von Tieren - es mußte einfach Geräusche geben.

Aber es gab keine.

Für einen Moment erwog er ganz ernsthaft die Möglichkeit, noch zu träumen, verwarf diesen Gedanken aber sehr schnell wieder. Lautlos stand er auf, schlüpfte in Hose, Hemd und Stiefel und schlich zur Tür. Sie war geschlossen, aber das Mondlicht ließ sie zu einem Muster aus rechteckigen schmalen Lichtstreifen werden, die sich schräg auf dem Boden fortsetzten und denen er aus einem absurden Impuls heraus sorgsam auswich, als er das Gesicht gegen die dünne Tür aus Bast und Holz drückte und hinausspähte. Der Anblick war absurd: völlig unmöglich und einfach... verrückt. Aber es war so: Trotz der vollkommenen Stille hier drinnen war der Platz zwischen den Hütten voller Menschen. Wenn Yuls Angaben richtig waren, was die Größe ihrer Gruppe anging, so mußten sie alle auf dem Platz zwischen den Hütten versammelt sein. Ein Feuer brannte, dessen Schein aber so abgeschirmt war, daß er Skars Hütte nicht erreichen konnte, und die Errish trugen ihre schwarzen Prachtgewänder; knöchellange Roben, auf denen verschlungene Drachensymbole gestickt waren. Sie standen in kleinen Gruppen da, trotzdem in fast militärischer Präzision ausgerichtet. Manche von ihnen unterhielten sich, lachten, gestikulierten mit den Händen - aber er hörte keinen Laut! Es war, als hätte jemand eine unsichtbare Barriere zwischen ihm und jener Gruppe von Errish errichtet, die jedes noch so kleine Geräusch aufsaugte wie ein trockener Schwamm das Wasser. Skar war plötzlich sicher, daß es kein Geräusch gewesen war, was ihn geweckt hatte, sondern ganz im Gegenteil diese völlige, unnatürliche Stille. Einen Moment lang überlegte er, einfach aus der Hütte zu treten und zu ihnen hinüberzugehen. Aber etwas warnte ihn, es nicht zu tun. Wenn Yul oder eines ihrer Mädchen für diesen schweigenden Zauber verantwortlich waren, so hatten sie ihn gewoben, damit er nicht sah, was sie taten. Aber warum?

Eine Bewegung am Rand seines Gesichtsfeldes erweckte seine Aufmerksamkeit. Er versuchte, durch die schmalen Ritzen in der Tür mehr zu erkennen, aber es ging nicht; er sah nur ein schattenhaftes Huschen, das aber mit dem fast sicheren Wissen von Größe verbunden war. Ein Drache? Aber hatte Yul nicht gesagt, daß sie die Drachen verloren hatten ? Nicht zum ersten Mal hegte Skar den Verdacht, daß die greise Errish ihm nicht in allem die Wahrheit gesagt hatte.

Skar sah sich nachdenklich in der kleinen Hütte um. Es gab keinen zweiten Ausgang, nicht einmal ein Fenster, aber die Wände bestanden nur aus wenigen, stabilen Baumstämmen, zwischen denen Bast und dünne Äste geflochten waren; mit ein wenig Vorsicht mußte es möglich sein, ein Loch in die Rückwand zu brechen, ohne daß die Errish draußen es bemerkten.

Er tat es, und es ging leichter, als er geglaubt hatte. Der unheimliche, lautevernichtende Zauber war hier drinnen nicht wirksam, aber die dünnen Wände setzten seinem Griff kaum Widerstand entgegen und zerbrachen fast lautlos. Stille strömte wie eine unsichtbare erstickende Woge in die Hütte. Sein Herz schlug schneller.

Skar spähte vorsichtig hinaus, sah niemanden und ging noch einmal zu seinem Bett zurück, um Mantel und Schwert zu holen; den einen, weil ihn die schwarze Farbe des Kleidungsstückes vorzüglich tarnen würde, das andere, weil er das bestimmte Gefühl hatte, die Waffe zu brauchen, sollte man sein Verschwinden bemerken. Sein Blick verharrte kurz am silbernen Funkeln des Scanners, den er nachlässig zu seinen Sachen gelegt hatte, aber er verwarf den Gedanken, ihn mitzunehmen, fast augenblicklich. Sooft er oder irgend jemand in seiner Nähe eine dieser Waffen benutzt hatten, war etwas Schreckliches geschehen. Skar war nicht abergläubisch, aber etwas in ihm war fest davon überzeugt, daß diese Waffen Unglück brachten.

Gebückt kroch er durch die Öffnung, die er in die Rückseite der Hütte gebrochen hatte, sah sich sichernd nach allen Seiten um und richtete sich behutsam auf. Das unheimliche Schweigen war hier draußen doppelt deutlich und erfüllte ihn mit Unbehagen, fast Furcht. Gebannt sah er sich ein zweites Mal und noch aufmerksamer um, dann begann er, sich an der Hütte entlangzuschieben.

Seine Vorsicht war nur zu berechtigt. Als er die Ecke erreichte, sah er sich einer Errish gegenüber. Skars Herz machte einen erschrockenen Sprung, und seine Hände zuckten hoch, ehe er begriff, daß sie ihn nicht sah: Sie saß mit untergeschlagenen Beinen, aber hoch aufgerichtet und wie gelähmt da, mit weit geöffneten, aber starren Augen, die an ihm vorbei ins Leere blickten.

Skar hob die Hand und bewegte die Finger vor dem Gesicht der Errish. Sie reagierte nicht, und Skar wußte auch, warum: die Errish befand sich in Trance. Aus seinem Verdacht wurde Gewißheit: Der Ring unheimlichen Schweigens, der seine Hütte umgab, war Yuls Werk.

Obwohl er fast davon überzeugt war, unbehelligt an der Errish vorübergehen zu können, entschied er sich für den sichereren Weg: Er streckte die Hand nach dem Nacken des Mädchens aus, tastete nach einem bestimmten Punkt und drückte kurz und heftig zu. Die Errish zitterte, gab ein halblautes, schmerzerfülltes Seufzen von sich und brach in seinen Armen zusammen. Skar fing sie auf, lehnte sie gegen die Hütte und drapierte ihren Mantel so, daß es zumindest von weitem den Anschein haben mußte, sie saß noch immer in Trance da. Er verbaute sich damit selbst jede Möglichkeit, unbemerkt in die Hütte zurückzukehren und so zu tun, als hätte er gar nichts gemerkt, aber darauf kam es ihm auch nicht an. Es gab nur zwei Möglichkeiten: Was hier vorging, war gefährlich für Kiina und ihn, und dann würde er ganz bestimmt nicht in die Hütte zurückkehren. Oder es war keine Bedrohung - aber dann würde ihm Yul einige sehr unangenehme Fragen beantworten müssen.

Gebückt schlich er weiter, sorgsam darauf bedacht, immer im Schatten der Hütte zu bleiben. Ihm fiel ein, daß es vielleicht klüger gewesen wäre, sich des Mantels der Errish zu bemächtigen, damit sie ihn in der Dunkelheit für eine der ihren hielten - aber das würde bedeuten, zurückzugehen. Er tat es nicht.

Statt dessen huschte er geduckt zwischen den niedrigen Hütten entlang, wobei er geschickt jeden Schatten als Deckung ausnutzte. Er umrundete den Lagerplatz fast zur Hälfte, bis er sich dem Tyrr-Gehege näherte. Die meisten Tiere schienen zu schlafen, aber es waren weit über hundert; und selbst Hunderte schlafender Ungeheuer machten genug Lärm, jedes verräterische Geräusch zu übertönen, das er verursachen mochte.

Skar blickte gebannt zu den versammelten Errish hinüber. Der Sinn dieser nächtlichen Versammlung war ihm noch immer nicht klar, aber er spürte, daß hier etwas Großes vorging; und etwas, das ganz eindeutig nicht für seine und Kiinas Augen und Ohren gedacht war. Er blickte rasch zu der Hütte hinüber, in der er Kiina wußte, und nach kurzem Suchen entdeckte er, was er erwartet hatte: Auch neben diesem Gebäude kauerte ein Schatten. Er war also nicht der einzige, der in dieser Nacht ganz besonders ungestört schlafen sollte. Sein Zorn wuchs.

Er hielt nach Yul Ausschau, ohne sie zu entdecken. Dafür sah er Anschi unter den versammelten Errish, und nicht einmal weit von ihm entfernt.

Und noch etwas.

Eine Gestalt, die er im ersten Moment nur als verschwommenen Schatten erkennen konnte, denn ihre Farbe war die der Nacht, so daß er sie überhaupt nur sah, weil sie sich bewegte.

Im ersten Moment glaubte er, sich getäuscht zu haben, denn wenn das, was er sah, wirklich das war, was er zu sehen glaubte, dann war die Schlußfolgerung daraus einfach... unvorstellbar. Aber dann, fast in der gleichen Sekunde und so, als hätte er seine Gedanken gelesen und täte es absichtlich, um ihn zu verspotten, trat der Schatten mit einer sonderbar eckig anmutenden Bewegung in den Lichtschein des Feuers hinein, und Skar begriff, daß er sich nicht getäuscht hatte.

Die Errish - wenn es eine Errish war, die sich unter der Hülle aus glänzendem schwarzem Horn verbarg - war sehr groß, sicherlich so groß wie Del, aber viel schlanker. Ihre Bewegungen waren sehr schnell, wirkten aber trotzdem irgendwie ungelenk, fast... ja, dachte Skar schaudernd: fast insektenhaft, und...

Das Wesen drehte den Kopf, und als Skar seine Augen sah, wußte er, daß er sich abermals getäuscht hatte.

Es war drei Wochen her, daß er Wesen wie dieses schon einmal gesehen hatte, auf der großen Ebene östlich von Drasks Burg. Errish, die die Chitinhaut eines toten Ultha als Panzer trugen. Und doch war es das erste Mal, daß er die grundlosen, irisierenden Insektenaugen in dem gigantischen Ameisenschädel sah, das Funkeln einer bösen, lauernden Intelligenz darin erkannte und die furchtbar fremdartigen, spinnenhaften kleinen Rucke sah, mit denen das Wesen sich bewegte.

Skar weigerte sich selbst jetzt noch für Augenblicke, den Gedanken zu akzeptieren, aber es war so: Dies hier war keine Errish, die den Panzer eines fremden Wesens trug wie eine monströse schwarze Rüstung.

Der Ultha lebte.

Für geschlagene zehn Sekunden saß Skar einfach da und starrte die monströse Insektenkreatur an, unfähig, sich zu rühren, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, irgend etwas zu empfinden, zu fühlen. Der Schock war total, schlimmer als irgend etwas, was er je erlebt hatte. Der Ultha lebte, das war alles, was er denken konnte. Er war lebendig, und er bewegte sich, und er gab den Errish Anweisungen!

Dann - endlich - erwachte ein anderer Teil seines Denkens, den er schon viel zu lange vermißt hatte: der Satai. Der Krieger, dem die alten Legenden der Quorrl und alle Gedanken an Verrat und Betrug ziemlich gleichgültig waren und der den Ultha einzig als das betrachtete, was er war: ein Monstrum und ein fürchterlicher Gegner. Die dürren Insektenarme mußten kräftig genug sein, ihn mit einer spielerischen Bewegung in Stücke zu reißen. Sein einziges Kleidungsstück war ein dünner Gürtel aus schwarzen Lederschuppen, an dem gleich zwei Schwerter hingen, und als wäre all dies noch nicht genug, wuchsen aus dem unteren Drittel des dreieckigen flachen Schädels zwei fürchterliche Zangen, halb so lang wie Skars Unterarm. Er begriff, daß es um ihn geschehen war, wenn dieses Wesen ihn auch nur bemerkte, und verscheuchte jeden Gedanken an einen Angriff.

Hastig zog er sich tiefer in den Schatten des Palisadenzaunes zurück und schlich weiter, wobei er immer wieder sichernd zu den Errish und dem schrecklichen Insektendämon hinübersah. Aber die mannshohe Palisadenwand bot ihm ausgezeichnete Deckung; selbst wenn eine der Errish oder der Ultha direkt in seine Richtung geblickt hätten, hätten sie ihn kaum entdeckt.

Er erreichte das Ende des Zaunes, ließ sich in den schwarzen Schlagschatten eines Felsens sinken und sah abermals zu den Errish zurück. Zwischen den schlanken Frauengestalten bewegten sich noch mehr Schatten, deren Bewegungen ihn alarmierten, aber das Licht war zu schlecht, um zu entscheiden, ob ihm seine Phantasie nur einen bösen Streich spielte oder der Ultha nicht allein gekommen war. Es spielte auch keine Rolle.

Vorsichtig erhob er sich aus seiner Deckung und sah sich um. Links von ihm erstreckte sich das Lager, auf der anderen Seite war der schwarze Abgrund der Steilküste, unter der das Meer schäumte. Er erinnerte sich wieder des gewaltigen Schattens, den er von seiner Hütte aus zu sehen geglaubt hatte. Ein Schiff? Ja, wahrscheinlich ein Schiff. Behutsam schob er sich weiter, kroch bis unmittelbar an den zerbröckelnden Rand der Steilküste heran und hob den Kopf.

Es war ein Schiff.

Und doch wieder nicht.

Es war riesig, schwarz von Bug bis Heck und von fast absurd gedrungener Form, die etwas schwer in Worte zu fassendes Unheimliches und Angsteinflößendes hatte. Beiderseits des buckeligen Rumpfes ragten mehr als ein Dutzend Ruder ins Wasser, lang und dünn und in der Mitte geknickt, so daß sie dem Schiff etwas von einem übergroßen Käfer gaben, der eher über das Wasser lief, als daß er ruderte, und das Segel, riesig und wie das gesamte Schiff von tiefem Schwarz, ähnelte einem zerfetzten Hautlappen.

Und ganz genau das war es auch.

Was dort, fünfhundert Fuß unter Skar, in der Brandung schaukelte, unheimlich und dräuend und sich mit den landwärts gerichteten Rudern gegen die gefährlichen Riffe stemmend, war der Dronte. Die Geißel der Meere, der lebende Killersegler, der Hunderten von Schiffen den Untergang gebracht hatte; und mehr noch - es war der Dronte gewesen, der den Daij-Djan erschaffen hatte, Skars ganz persönlichen Boten aus der Hölle. Was dort unter Skar lag, das war kein Schiff, sondern nur ein Ding, das das Aussehen eines Schiffes angenommen hatte, so mühelos, wie es wahrscheinlich in jede beliebige Form kriechen konnte, Teil dessen, was Yul so verharmlosend als gewaltiges Waffensystem bezeichnet hatte und das in Wirklichkeit doch etwas ganz anderes war: Gestalt gewordener Wahnsinn; Leben, das kein Leben war, sondern dem einzigen Zweck diente, zu töten und zu vernichten, eine fürchterliche Perversion der Schöpfung selbst.

Und Yul und ihre Mädchen standen auf ihrer Seite...

Skar erkannte den Fehler in diesem Gedanken fast im gleichen Moment, in dem er ihn dachte. Natürlich traf Yul und die anderen Errish keine wirkliche Schuld; sowenig wie die Errish, die Kiina gejagt hatten, oder die Margoi oder die Bewohner Elays. Sie waren nichts als willenlose Sklaven, Marionetten, die vielleicht nicht einmal wirklich wußten, was sie taten. Wie hatte er nur so närrisch sein können, sich im Ernst einzubilden, alles wäre vorbei, nur weil er die Netzkreatur getötet hatte? Die Sternengeborenen hatten unzählige Helfer, und wahrscheinlich waren der Dronte und der Ultha, ja, selbst die Netzkreatur nicht einmal die schlimmsten Dämonen, über die sie geboten.

Und wenn du endlich fertig damit bist, dir alle möglichen Schrecken auszumalen, du Narr, wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn, dann solltest du dir Gedanken darüber machen, wie du von hier wegkommst, ohne daß sie dich bemerken.

Der Satai in ihm hatte recht, dachte Skar alarmiert. Er befand sich in einer prekären Situation: Vor ihm lagen nichts als fünfhundert Fuß Leere und darunter der Dronte, von dessen Deck aus mißtrauische Augen jeden Quadratzentimeter der Küste absuchen mochten, und hinter ihnen die Errish und ihre dämonischen Herren, die sicherlich nicht zusammengekommen waren, um ein Schwätzchen zu halten. Er mußte weg hier. Solange er noch konnte. Vorsichtig und ohne die Errish und den monströsen Insektenschatten auch nur eine Sekunde aus dem Auge zu lassen, begann er sich abermals an der Palisade entlangzuschieben.

Er hatte selbst kaum damit zu rechnen gewagt, aber er erreichte den rückwärtigen Teil des Lagers und die Hütten unbehelligt. Auf dem Platz hinter ihm geschah etwas, daß er nicht erkennen konnte: Die Errish bewegten sich auf eine Art, die fast wie ein Tanz anmutete; regelmäßig, schnell und auf komplizierten, nur scheinbar zufälligen Bahnen, wobei manche von ihnen einen düsteren, arhythmischen Gesang anstimmten, andere auch mit leiser Stimme miteinander redeten. Und auch die Ultha - von denen es tatsächlich mehrere gab, Skar sah mindestens drei - waren irgendwie in dieses unheimliche Muster von Bewegung und Körpern einbezogen.

Aber was immer sie taten, es beanspruchte ihre gesamte Konzentration, und Skar erreichte Yuls Behausung unbehelligt. Und diesmal ging er wesentlich weniger rücksichtsvoll vor: Das Haus selbst als Schutz gegen eine zufällige Entdeckung nutzend, näherte er sich der träumenden Errish neben der Tür, packte sie und betäubte sie mit einem blitzschnellen Hieb in den Nacken. Dann war er mit einem Sprung in der Hütte und zog sein Schwert. Die Spitze seiner Klinge beschrieb einen blitzschnellen, drohenden Halbkreis vor seinem Körper und senkte sich wieder, als er begriff, daß der Raum leer war.

Hastig schloß er die Tür hinter sich wieder, eilte zu Kiinas Lager und kniete neben ihr nieder. Sie schlief, aber ihr Schlaf mußte ebenso unruhig wie der sein, aus dem er selbst aufgewacht war. Ihre Hände führten kleine, nervöse Bewegungen aus, an ihrem Hals pochte eine Ader, und ihre Lippen bewegten sich, ohne daß ein Laut zu hören war. Skar streckte die Hand nach ihr aus und berührte Kiina an der Schulter. Ihre Haut war kalt und feucht, und er konnte durch den Stoff der Decke hindurch ihren rasenden, unregelmäßigen Puls spüren. Es war zu dunkel hier drinnen, als daß er ihr Gesicht wirklich erkennen konnte, aber das wenige, was er sah, erschreckte ihn zutiefst: Kiinas Haut glänzte wie Wachs, und das bißchen Sternenlicht, das sich durch die Ritzen der Tür mogelte, ließ sie nun wirklich grau aussehen. Aus den dunklen Ringen unter ihren Augen waren schwarze Halbmonde geworden, ihre Wangen waren eingefallen, und das blonde, ehemals seidig glänzende Haar sah aus wie Stroh.

Sie reagierte auch nicht auf seine Berührung, sondern begann sich nur stärker im Schlaf zu bewegen. Skar warf einen besorgten Blick zur Tür, beugte sich über das Bett und flüsterte Kiinas Name; einmal, zweimal, dreimal, jedesmal ein wenig lauter, bis sie schließlich stöhnend die Augen aufschlug und ihn verwirrt anblinzelte.

»Was -?«

Skar legte ihr rasch die Hand auf den Mund und schüttelte den Kopf. »Still!« flüsterte er. »Sag kein Wort. Hast du verstanden?« Kiina nickte, aber in ihren Augen war nichts als Schrecken und Verwirrung. Vorsichtig zog Skar die Hand zurück, stützte gleichzeitig mit der anderen ihren Rücken und half ihr, sich aufzusetzen. Kiina zitterte am ganzen Leib.

»Kannst du laufen?« fragte er besorgt.

»Ich... glaube schon«, antwortete Kiina zögernd. Sie sah zur Tür, blickte sich plötzlich erschrocken um und starrte dann aus weit aufgerissenen Augen in die Schatten hinter Skar, mit einem Blick, als fürchte sie, die Schreckensvisionen ihrer Alpträume wären ihr gefolgt. »Was ist passiert?«

»Später«, antwortete Skar hastig. »Wir müssen weg hier. So schnell wie möglich und ohne daß es jemand merkt.« Er zögerte einen Moment. »Ich werde zwei Pferde für uns stehlen müssen«, sagte er. »Glaubst du, daß du reiten kannst?«

»Stehlen? Aber wieso... ich... ich verstehe nicht«, murmelte Kiina hilflos. Sie versuchte aufzustehen, aber dieser Versuch endete so kläglich wie der Skars am vergangenen Morgen. Er fing sie auf, ehe sie neben dem Bett zusammenbrechen konnte.

Kiina blieb einen Moment zitternd an ihn gepreßt stehen, dann machte sie sich mühsam frei und bückte sich nach ihren Kleidern. Skar unterdrückte den Impuls, ihr beim Anziehen behilflich zu sein. Er wollte sehen, wie kräftig sie wirklich war, und das Ergebnis dieser Beobachtung stimmte ihn nicht gerade optimistisch. Ihre Bewegungen waren schwach und fast ziellos; als sie den Gürtel aufzuheben versuchte, griff sie dreimal daneben, ehe es ihr schließlich gelang, das dünne Lederband zu fassen und ungeschickt um die Taille zu binden.

»Was ist passiert?« fragte sie noch einmal.

»Genau weiß ich es auch nicht«, gestand Skar. »Aber wir sind verraten worden. Yul und die anderen Errish sind...« Er zögerte. Kiina sah ihn gleichermaßen verwirrt wie erschrocken an, und Skar fügte fast widerwillig hinzu: »Ich weiß nicht, was sie sind, jedenfalls nicht das, was sie zu sein vorgeben.« Er machte eine abgehackte Bewegung zur Tür: »Dort draußen sind alte Freunde von dir.«

Vielleicht war es ein Fehler - aber er erhob keinen Einspruch, als Kiina mit schwankenden Schritten an ihm vorbeiging und durch die Ritzen der Basttür auf den Platz hinausspähte. Besser, sie sah es jetzt, als in einem Moment, in dem ihnen ein erschrockener Laut oder ein entsetztes Zögern zum Verhängnis werden konnte. Er trat hinter sie und spannte sich, um sie im Notfall blitzschnell zum Schweigen zu bringen.

Aber Kiina schrie nicht auf. Sie fuhr nicht einmal zusammen, sondern stand einfach da und starrte auf den Platz hinaus, auf dem der furchtbare lautlose Tanz noch immer anhielt. Das Feuer brannte mittlerweile höher, und irgendwo an der Küste hinter den Errish tat sich etwas; Skar konnte nicht genau erkennen, was, aber wieder hatte er das Gefühl, einen gigantischen huschenden Schatten zu sehen, etwas, das sich immer dicht am Rande seines Gesichtsfeldes bewegte und stets verschwand, wenn er versuchte, es genauer auszumachen. Er dachte an den Dronte, und ein eisiger Schauer raste auf Spinnenfüßen über seinen Rücken.

»Überzeugt?« fragte er. Seine Stimme klang belegt, als hätte es erst dieses Anblicks bedurft, um den Schrecken neu zu erwecken. »Ja«, flüsterte Kiina. »Komm.« Sie wollte die Tür öffnen, aber Skar hielt sie mit einer raschen Bewegung zurück und schüttelte den Kopf.

»Wir nehmen den Hinterausgang«, sagte er mit einer Geste auf die Rückwand der Hütte. Kiina blickte fragend, verstand dann aber und folgte ihm ohne ein weiteres Wort.

Die Wand zu durchbrechen gestaltete sich wesentlich schwieriger als in Skars Behausung. Yuls Hütte war weitaus massiver erbaut als die übrigen Gebäude, und es erforderte Skars ganze Kraft, die dünnen, aber zähen Ranken zu zerreißen, die zwischen die Stützbalken geflochten waren. Schließlich nahm er sein Tschekal zu Hilfe, um ein halbrundes Loch in die Hüttenwand zu schneiden, gerade hoch genug, daß sie hintereinander ins Freie kriechen konnten. Skar bedeutete Kiina mit Gesten, still zu sein und aufzupassen, ließ sich ein zweites Mal auf die Knie sinken und setzte das herausgeschnittene Teil der Bastwand wieder an seinen Platz, so daß ihr Fluchtweg wenigstens auf den ersten Blick nicht sofort entdeckt werden würde. Er gestand sich ein, daß es ein Fehler gewesen war, die beiden Errish zu betäuben, denn in spätestens zwei Stunden würde eine von ihnen erwachen; was ihren Vorsprung automatisch auf diese Zeitspanne beschränkte. Ganz kurz erwog er die Möglichkeit, noch einmal zurückzugehen und die beiden Errish zu töten; aber wirklich nicht sehr lange, und auch nicht ernsthaft. Er war kein Mörder. Und etwas sagte ihm, daß sie so oder so sehr viel weniger Zeit als zwei Stunden hatten.

Ein Grund mehr, sich zu beeilen. Geduckt huschten sie los, immer im Schatten der Hütten entlang und in die Richtung, in der Skar die Pferde der Errish vermutete. Er hoffte, daß sie überhaupt Pferde hatten. Bisher hatte er sie nur auf den Daktylen oder den großen Drachen reiten sehen.

Sie wandten sich nach Süden, in die Richtung, in der Skar die Pferde untergebracht hätte, hätte er dieses Lager geplant, denn im Norden befand sich der Pferch mit den Tyrr, im Westen die See und im Osten die zyklopischen Felsen, die der Handvoll Hütten als Deckung dienten. Und er behielt mit seiner Vermutung recht: Die Errish hatten Pferde - nicht sehr viele, aber sie brauchten ja auch nur zwei - und sie waren an der Stelle des Lagers untergebracht, die vom Tyrr-Gehege am weitesten entfernt war. Pferde und Drachen hatten sich noch nie gut verstanden, was vielleicht daran lag, daß die einen die anderen nur zu gerne als willkommene Abwechslung ihres Speiseplanes verstanden.

Skar signalisierte Kiina mit Gesten, stehenzubleiben, als das Gatter mit dem knappen Dutzend schlafender Pferde vor ihnen lag. Von einem Wächter war weit und breit nichts zu sehen, was ihn überraschte und gleichzeitig mißtrauisch stimmte. Aber vielleicht, dachte er, war die Anwesenheit aller Errish nötig bei jenem sonderbaren Tanz.

Mißtrauisch sah er zum Lager zurück. Die Errish und ihre dämonischen Besucher waren nur noch als verschwommene Schatten zu erkennen, aber sie bewegten sich noch immer wie kleine schwarze Motten vor dem roten Schein des Feuers. Und je länger Skar hinsah, desto deutlicher glaubte er ein Muster in dieser Bewegung wahrzunehmen.

»Sie werden unsere Flucht bemerken«, drang Kiinas Stimme in seine Gedanken.

»Ja«, murmelte Skar. In Gedanken fügte er hinzu: In knapp zwei Stunden. Wenn wir Glück haben. Aber das behielt er lieber für sich. Statt dessen sah er Kiina an und versuchte, einen möglichst aufmunternden Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern. »Ich kenne ein paar kleine Tricks, um Verfolger abzuschütteln. Auch solche«, fügte er hinzu, »die fliegen können.« Was eine glatte Lüge war. Skar war sich der Tatsache schmerzhaft bewußt, daß sie in dem öden Wüstenland nördlich Elays kaum eine Deckung finden würden, die ihnen Schutz vor einem Verfolger gab, der sie aus hundert oder auch tausend Fuß Höhe suchen konnte. »Vielleicht gelingt es uns, uns zu Titch durchzuschlagen.«

»Und dann?«

Skar seufzte. Er hätte viel darum gegeben, die Antwort auf diese Frage zu wissen. Aber wenn er sie sich jedesmal gestellt hätte, bevor er eine Flucht oder ein besonders riskantes Unternehmen begann, dann wäre er jetzt längst nicht mehr am Leben. Statt zu antworten, erhob er sich hinter dem Felsen, hinter dem sie Deckung gesucht hatten, signalisierte Kiina, ihm zu folgen, und ging los.

Sie kamen nur wenige Schritte weit.

Der Schatten stand jäh und wie aus dem Boden gewachsen vor ihnen, und Skar begriff eine Sekunde zu spät, daß es nicht der Schatten einer Errish war. Ganz instinktiv duckte er sich und schlug aus der Bewegung heraus zu, aber der Schatten machte einen rasend schnellen Schritt zurück. Skars Hieb ging ins Leere, und gleichzeitig zuckte ein spinnendürrer Arm vor und packte sein Handgelenk.

Es war wie das Zuschnappen einer stählernen Fessel. Die Arme des Ultha waren lächerlich dünn, aber es war die fürchterliche Kraft eines Insekts, mit der er zupackte. Skar keuchte vor Schmerz und Überraschung, als er mit einem einzigen Ruck aus dem Gleichgewicht nach vorne und auf die Knie gerissen wurde, versuchte sich herum - und zur Seite zu werfen, um auf diese Weise dem Griff des Gegners zu entschlüpfen, und schrie ein zweites Mal auf. Das einzige Ergebnis seiner Bewegung war, daß er sich fast selbst den Arm ausgekugelt hätte. Dann packte die zweite Hand des Ultha, zu, ergriff seinen anderen Arm und drehte ihn brutal auf den Rücken. Skar wurde wie ein Spielzeug in die Höhe und herumgerissen. Hinter sich hörte er Kiina schreien, als auch vor ihr plötzlich ein sieben Fuß großer Gigant auftauchte und sie ebenso spielerisch überwältigte, und mit einem Mal waren überall Errish, das rote Lodern von Fackeln und Bewegung.

Skar wehrte sich wie ein Rasender, aber es war sinnlos; der Ultha verdrehte seinen linken Arm so erbarmungslos, daß er sich selbst das Gelenk gebrochen hätte, hätte er noch mehr Kraft eingesetzt, und seine andere Hand hing unverrückbar fest im Griff des Insektenwesens.

»Hör endlich auf, Skar«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Es ist sinnlos.«

Skar wehrte sich nur noch heftiger; aber bloß für einen Augenblick - dann verstärkte der Ultha den Druck auf seinen Arm für eine Sekunde bis zur Grenze des Erträglichen und noch ein Stück darüber hinaus, und Skar sank mit einem Schmerzensschrei in den schwarzen Spinnenarmen der Bestie zusammen. Der Ultha bewegte sich, wobei er Skar wie eine Puppe herumzerrte, so daß er jetzt auch erkennen konnte, wer es war, der zu ihm gesprochen hatte.

Es war Anschi. Der Blick, mit dem sie ihn musterte, war kalt, aber auch spöttisch, und allein die Verachtung, die Skar in ihren Augen las, ließ seinen Zorn zu rasender Wut werden. Wieder bäumte er sich gegen den Griff des unheimlichen Wesens auf; mit dem einzigen Ergebnis allerdings, daß ihn ein spitzer Ellbogen aus Horn wie ein Keulenhieb in den Rücken traf und stöhnend in die Knie brechen ließ.

»Du solltest das wirklich nicht tun«, sagte Anschi kopfschüttelnd. »Er ist ungefähr siebzigmal so stark wie ein Mensch, weißt du? Du hast keine Chance.« Sie gab dem Ultha ein kaum sichtbares, rasches Zeichen mit der Hand, und das Insektenwesen zerrte Skar mit einem Ruck auf die Füße. Ein zweiter Wink, und der entsetzliche Druck auf seinen Arm ließ ein wenig nach. Nicht sehr, aber doch so viel, daß der Schmerz erträglich wurde. »Bist du jetzt vernünftig?« fragte Anschi.

»Nein«, stöhnte Skar. »Wenn ich das wäre, hätte ich dir gestern abend schon den Kopf heruntergeschossen, du Miststück!«

Anschi lachte, ein glockenheller, perlender Laut, der Skars Wut zur Raserei machte. Aber es war nur Zorn, das registrierte er trotz allem mit einem dumpfen Schrecken. Nicht jene brodelnde, unbezwingbare Wut aus seinen Träumen, die aus den Abgründen seiner Seele emporbrodelte und sein furchtbares Erbe erweckte, diese entsetzliche Kraft, die ihn zu einem Ding jenseits alles Menschlichen machte und es ihm - vielleicht - sogar ermöglicht hätte, den Ultha zu besiegen. Es war wie immer: Jetzt, wo er die schreckliche Kraft seines Dunklen Bruders wirklich gebraucht hätte, wo er sie haben wollte, ließ sie ihn im Stich. Das tötende Etwas in seinem Inneren war nichts, was er nach Belieben ein- und ausschalten konnte.

»Yul möchte dich sehen«, sagte Anschi.

»Dann sag ihr, daß es mir im Moment nicht paßt«, stöhnte Skar. »Sie soll sich von meinem Hofschreiber einen Termin geben lassen. So in zwei, drei Jäh -«

Anschi schlug ihm mit der flachen Hand so heftig über den Mund, daß seine Unterlippe aufplatzte. Aber es war sonderbar: Der Schmerz schürte Skars Zorn nicht noch mehr, sondern schaltete ihn regelrecht ab, von einem Sekundenbruchteil auf den anderen. Ganz plötzlich erfüllte ihn eine tiefe, fast schon unnatürliche Ruhe. Er stellte seine sinnlose Gegenwehr endgültig ein, richtete sich auf, soweit es der Griff des Ultha zuließ, und blickte Anschi ruhig an. Und plötzlich begriff er auch, warum Anschi ihn haßte: Sie hatte Angst vor ihm. Sie hatte einen entsetzlichen Fehler begangen, und sie machte ihn dafür verantwortlich, und gleichzeitig fürchtete sie ihn; vielleicht auch nur den Ruf, der ihm vorauseilte. Sie tat ihm fast leid.

Einen Moment lang hielt die Errish seinem Blick stand, dann drehte sie mit einem Ruck den Kopf und machte eine zornige Handbewegung. »Kommt!«

Sie wurden zurück ins Lager gebracht. Der Ultha, der Skar gepackt hielt, gab sich sogar Mühe, nicht zu grob mit ihm zu sein, aber seine Chitinklauen waren nicht zum sanften Zugreifen gemacht, sondern Werkzeuge zum Zerreißen und Töten, und Skars Handgelenke waren schon nach Augenblicken blutig. Hinter sich hörte er Kiina stöhnen. Er versuchte, im Gehen den Kopf zu wenden, um nach ihr zu sehen, handelte sich damit aber nur einen weiteren Ellbogenstoß des Monstrums ein und unternahm keinen zweiten Versuch.

Auf dem Platz hatte der bizarre Tanz seinen Höhepunkt erreicht, als sie zwischen den Hütten hinaustraten. Das Feuer brannte sehr viel höher als vorhin, und aus den gleitenden, fast eleganten Bewegungen der Errish war ein hektisches Hin und Her geworden, in dem Skar immer deutlicher einen beunruhigenden, irgendwie vertrauten Rhythmus zu erkennen glaubte, ohne ihn wirklich identifizieren zu können. Zwischen den Errish bewegte sich fast ein Dutzend Ultha, und Skar sah jetzt, daß es immer eine Gruppe von sieben oder acht Ehrwürdigen Frauen war, die eines der Insektenwesen umkreisten, es manchmal berührten, manchmal mit weit gespreizten Fingern die Konturen seines Schädels nachzeichneten. Es war verwirrend. Erschreckend und beunruhigend, fremd und vertraut zugleich. Er hatte das Gefühl, wissen zu müssen, was hier geschah; gleichzeitig war es etwas, was er nie zuvor im Leben beobachtet hatte. Und es machte ihm Angst. Irgend etwas war falsch.

Die ineinandergedrehten Kreise der tanzenden Errish teilten sich, als er zwischen Anschi und ihren Begleiterinnen auf den Platz hinaustrat. Skar blinzelte, als er direkt in das hoch auflodernde Feuer in der Mitte des Platzes sah. Eine schattenhafte Gestalt stand direkt vor dem Feuer, flankiert von zwei großen, lächerlich dürren Schemen, in deren Schädeln dunkelrote Feuer zu glühen schienen: Ultha, deren faustgroße Insektenaugen den Widerschein des Feuers brachen und etwas Fremdes, Böses hineinbrachten.

Der Ultha stieß ihn rücksichtslos vorwärts. Sie näherten sich Yul und dem Feuer. Der Kreis aus Errish und Bewegung schloß sich wieder hinter ihnen, und für einen Augenblick hatte Skar das unangenehme Gefühl, nun selbst Teil dieser unnatürlichen Beschwörung zu sein. Und irgendwie war er es auch, das spürte er. Was immer hier geschah, er hatte damit zu tun.

Yul hob die Hand, als er vor ihr stehenblieb, und der Griff des Ultha lockerte sich noch weiter. Skar schwankte. Einer der beiden Ultha hinter der Errish stieß ein hohes, zirpendes Geräusch aus, das gleichzeitig hilflos wie drohend klang. Yul brachte ihn mit einer knappen Geste zum Verstummen und wiederholte ihre Handbewegung. Die Insektenklauen lösten sich von Skars Haut, und plötzlich war er ohne Halt. Er wankte, wäre um ein Haar auf die Knie gefallen und fand im letzten Moment sein Gleichgewicht wieder.

»Ich hoffe, du bist nicht verletzt«, sagte Yul.

Skar starrte sie an. Seine Schulter pochte wie ausgekugelt, und sein linker Arm war so nutzlos, als wäre sie es, und Zorn und Schmerz gebaren einen verlockenden Gedanken: Sie hatten ihn nicht einmal entwaffnet. An seiner Seite hing noch immer das Tschekal, und er stand kaum drei Schritte von der alten Errish entfernt. Eine blitzschnelle Bewegung, und - Aber dann fielen ihm Anschis Worte wieder ein: Sie sind ungefähr siebzigmal so stark wie ein Mensch. Es war gleich, ob er ihr glaubte oder nicht. Es reichte, wenn sie doppelt so stark waren. Sie waren auch mindestens doppelt so schnell wie er. Das Ungeheuer hinter ihm hätte ihm den Arm abgerissen, ehe er das Schwert auch nur halb aus der Scheide gezogen hätte.

»Das stimmt, Skar«, sagte Yul.

»Was?«

Die Errish lächelte milde, auf eine verzeihende, fast mütterliche Art und Weise, die ihn schon wieder fast an den Rand der Raserei trieb. »Oh, ich kann manchmal Gedanken lesen, weißt du? Oder zumindest Blicke deuten. Du hättest keine Chance. Sie sind die besten Leibwächter, die du dir denken kannst.«

Skar starrte sie an, schluckte die wütende Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und drehte sich mit einem Ruck zu Kiina herum.

Das Mädchen war auf die Knie gesunken, nachdem der Ultha sie losgelassen hatte. Skar schauderte, als er das Ungeheuer zum ersten Mal von nahem und deutlich sah: Es war weit größer, als er bisher angenommen hatte, und schien nur aus Horn und Stacheln und natürlichen Waffen zu bestehen. Seine faustgroßen Facettenaugen musterten Skar kalt, aber voller Mißtrauen und Tücke, und seine dreifingrigen Klauen blieben leicht geöffnet, zum Zupacken bereit, als Skar sich über Kiina beugte und ihr ins Gesicht sah. »Bist du verletzt?« fragte Skar.

»Nein, das ist sie nicht«, antwortete Yul an Kiinas Stelle. »Aber sie hätte sterben können, du Narr! Ich habe dir gesagt, daß sie krank ist.«

Skar ignorierte sie. Behutsam legte er die Hand unter Kiinas Kinn und hob ihren Kopf an. Das Gesicht des Mädchens war vor Furcht und Erschöpfung verzerrt, und ihr Blick flackerte wie der einer Wahnsinnigen. Als sie seine Berührung spürte, versuchte sie den Kopf zu schütteln. Ihre Haut war kalt und feucht. Sie zitterte. Skar fuhr wütend zu Yul herum. »Wenn sie stirbt -«

»Das wird sie nicht«, unterbrach ihn Yul. Etwas leiser und fast traurig fügte sie hinzu: »Jedenfalls hoffe ich es.«

»Das solltest du auch«, sagte Skar gepreßt. »Denn sonst töte ich dich.«

Er sah Anschis Schlag kommen, aber er machte keinen Versuch, ihn abzuwehren. Seine Lippe, die gerade zu bluten aufgehört hatte, platzte abermals. Trotzdem lächelte er.

»Anschi! Skar!« sagte Yul streng. »Das reicht!«

»Ja«, sagte Skar wütend. »Das finde ich auch.« Mit einem geringschätzigen Lächeln wandte er sich an Yul. »Also - worauf wartest du? Töte mich.«

»Das habe ich nicht vor«, antwortete Yul ruhig.

»So? Was -«

»Es ist alles ganz anders, als du glaubst«, unterbrach ihn Yul, leise, aber in einem Ton, der ihn auf der Stelle verstummen ließ. »Ich weiß, daß dich das, was du siehst, erschrecken muß.«

»Oh, wie kommst du darauf?« fragte Skar höhnisch. »Ich bin ein wenig irritiert, das gestehe ich. Du hättest mir deine... Freunde etwas eher vorstellen können. Aber in Zeiten wie diesen leiden manchmal die guten Manieren, nicht wahr?«

Yul wirkte eher verletzt als zornig. Skar sah aus den Augenwinkeln, daß Anschi abermals auffahren wollte, aber Yul bremste sie mit einem mahnenden Blick.

»Wir sind nicht deine Feinde, Skar«, sagte sie. »Wir mußten vorsichtig sein. Vielleicht... habe ich einen Fehler gemacht, aber ich... mußte sichergehen.«

»Uns wirklich in der Falle zu haben?«

Yul ignorierte seine Antwort. »Es sind deine Träume, Skar«, sagte sie. »Etwas schleicht sich in unsere Träume. Und ich mußte sichergehen. Niemand weiß mehr, wer der andere ist, nicht einmal ich. Diese Wesen hier -«

Es begann mit einem kaum hörbaren, peitschenden Laut, dem ein hohes, boshaftes Sirren folgte, hell und tödlich und rasend schnell näher kommend; ein Laut, den Skar nur zu gut kannte und der ihn den Rest von Yuls Antwort gar nicht mehr hören ließ. Alles geschah gleichzeitig: Skar ließ sich fallen. Yul verstummte mitten im Wort, und der Ultha hinter Skar machte eine rasend schnelle, zupackende Bewegung, die seinen Hals nur um Millimeter verfehlte und einen handlangen Streifen blutiger Haut aus seiner Schulter riß. In der gleichen Sekunde traf der Pfeil das Auge des Ultha rechts hinter Yul und tötete ihn auf der Stelle.

Und etwas in Skar übernahm die Kontrolle über sein bewußtes Denken.

Es war nicht die entsetzliche Dämonenkraft seines Dunklen Bruders, sondern seine Reflexe und Instinkte als Satai, schnell und präzise wie immer, aber gespeist von einem Zorn und einer Furcht, wie er sie beide nie zuvor in dieser Intensität verspürt hatte. Blitzschnell rollte er zur Seite, warf sich mitten in der Bewegung herum und sprang auf die Füße, federte zurück und zur Seite und riß sein Tschekal aus dem Gürtel, alles in einer einzigen Bewegung und fast schneller, als das Auge ihr zu folgen vermochte.

Seine Vermutung, was den Ultha betraf, war richtig gewesen - das Monstrum war schneller als ein Mensch, mindestens zehnmal. Aber es war nicht schnell genug.

Skars Schwert zuckte hoch. Die Klinge aus unzerstörbarem Sternenstahl beschrieb einen blitzschnellen Halbkreis vor den zupackenden Klauen des Monsters und trennten sie ab. Der Ultha stieß einen hohen, trällernden Laut aus und fiel vornüber, versuchte aber trotz seiner fürchterlichen Verletzung noch nach ihm zu greifen. Dunkles Insektenblut besudelte Skar, als er das Schwert ein zweites Mal herabsausen ließ und den Schädel der Bestie zertrümmerte. Das Monster fiel, wälzte sich kreischend auf dem Boden und schrie, ein unglaublich hoher, schriller Laut, der Skars Schädel zum Zerbersten zu bringen schien. Er taumelte zurück, schlug eine Errish nieder, die sich auf ihn stürzen wollte, und brachte sich mit einem Satz aus der Reichweite der verstümmelten Insektenarme, die im Todeskampf auf den Boden trommelten. Ein weiterer Pfeil zischte heran, verfehlte den zweiten Ultha hinter Yul um eine Handbreit und ließ einen Funkenschauer aus dem Feuer schießen, als er hineinfuhr. Skar wirbelte herum, war mit einem Satz bei Kiina und begriff, daß er zu spät kam. Der Ultha, der sie hergebracht hatte, beging keineswegs den Fehler, ihn anzugreifen, sondern tat etwas, das Skar vielleicht von einem menschlichen Gegner erwartet hätte, niemals aber von diesem gigantischen Insekt: Er packte Kiina, riß sie in die Höhe und hielt sie wie einen lebenden Schutzschild vor sich.

Skar zögerte, nur den Bruchteil einer Sekunde, aber schon diese winzige Zeitspanne war zu viel: Zwei, drei Errish sprangen ihn an, und die pure Wucht ihres Angriffes ließ Skar taumeln. Er befreite sich mit zwei, drei harten Stößen, aber die winzige Ablenkung hatte genügt. Plötzlich wuchs der Schatten des vierten Ultha vor ihm empor. Eine unmenschlich starke Hand packte seinen Arm und verdrehte ihn. Skar schrie auf, taumelte zurück und ließ das Schwert fallen. Verzweifelt drehte er den Kopf, als sich die schreckliche Insektenklaue des Ultha seinem Gesicht näherte. »NEIN!«

Yuls Schrei war so schrill und so voller Panik, daß er fast in den Ohren schmerzte. Aber das Wunder geschah: Die tödliche Klaue des Ultha verharrte mitten in der Bewegung, nur noch Zentimeter von Skars Augen entfernt.

»Töte ihn nicht«, sagte Yul. Ihre Stimme zitterte, und ihre Augen waren weit vor Angst.

Wieder ertönte dieses helle, peitschende Geräusch, und plötzlich senkte sich ein ganzer Hagel von Pfeilen auf den Platz herab. Skar sah schattenhafte Bewegung auf den Felsen, die das Lager umgaben, und plötzlich schrie eine der tanzenden Errish auf und brach mit einem Pfeil im Rücken zusammen. Die anderen führten ihren Tanz unbeeindruckt fort, und Skar begriff erst jetzt, daß keine von ihnen bisher auch nur Notiz von dem Angriff genommen hatte, obgleich seit dem ersten Schuß fast eine halbe Minute vergangen sein mußte. Auch die Ultha, die an der sonderbaren Zeremonie teilnahmen, standen noch immer reglos und wie gelähmt da, ebenso tief und unaufweckbar in Trance versunken wie Yuls Mädchen.

»Das sind deine verdammten Quorrl-Freunde!« schrie Anschi plötzlich. Erregt deutete sie auf einen der Schatten, die über dem Lager erschienen waren, ein dunkler, monströser Umriß, ebenso groß wie die Ultha, aber ungleich massiger. »Ich hätte sie alle umbringen sollen!«

»Skar tu etwas!« schrie Yul. »Sie dürfen nicht herkommen! Etwas Entsetzliches wird geschehen, wenn

Aber es geschah bereits. Yuls Worte gingen in einem urgewaltigen Kampfschrei aus drei Dutzend rauher Kehlen unter, als Titchs Krieger wie eine lebende Lawine zwischen den Schatten der Hütten hervorquollen. Ein ganzer Hagel von Pfeilen und Wurfgeschossen prasselte auf die Errish nieder. Drei, vier der schlanken Gestalten gingen getroffen zu Boden, und plötzlich zerbrach das komplizierte Muster aus tanzenden, sich wiegenden Körpern. Anschi schrie vor Zorn und Schrecken. Ihre Hand fiel auf den Gürtel hinab, aber er war leer. Sie war unbewaffnet, so, wie sie hier herausgekommen war, um zu tun, was immer die Errish hier taten. Und mit einem Male begriff Skar, daß sie alle unbewaffnet waren. Was hier gleich geschehen würde, das war nicht die Fortsetzung der Schlacht vom vergangenen Abend - es war ein Massaker, das die Quorrl unter den wehrlosen Errish anrichten würden!

Aber es kam anders; völlig anders.

Die schwarze Klaue, die Skars Handgelenk umklammert hatte, löste sich plötzlich. Der Ultha fuhr herum, seine Zangen öffneten sich, und aus seinem dreieckigen Insektenmaul drang ein fürchterliches, zischendes Geräusch. Mit einer Bewegung, der Skar kaum noch mit den Augen zu folgen vermochte, wirbelte der Ultha herum und warf sich den Quorrl entgegen.

Und nicht nur er.

Auch das Monstrum, das Kiina gehalten hatte, ließ seinen lebenden Schutzschild einfach fallen und warf sich den Angreifern entgegen, ebenso wie die fünf oder sechs übrigen Ultha, die zwischen den Errish gestanden hatten.

Es war ein bizarrer, unwirklicher Kampf. Skar hatte niemals zuvor erlebt, daß ein Quorrl auf einen Gegner gestoßen war, der ihm waffenlos überlegen gewesen wäre - aber die Ultha waren es. Das knappe halbe Dutzend schwarzer hornglänzender Gestalten wirkte fast lächerlich gegen die Lawine aus schuppigen Panzerplatten und Stahl, der es sich entgegenwarf, aber dieser Eindruck zerbrach im gleichen Moment, in dem die beiden ungleichen Heere aufeinanderprallten.

Und es war kein Kampf, es war...

Skar suchte vergeblich nach Worten, um das grauenerregende Gemetzel zu beschreiben, das sich vor ihnen abspielte. Es war kein Kampf mehr, sondern das Wüten zweier Völker, die seit Urzeiten Feinde waren, die es immer gewesen waren und es immer sein würden, ganz gleich, was geschah und wieviel Zeit verging, ein blindwütiges Töten und Vernichten, das keinem anderen Zweck diente, als den Gegner auszulöschen. Die Ultha griffen die Quorrl erbarmungslos an, und für einen Moment sah es fast so aus, als könnten sie ihren Ansturm ganz allein aufhalten: Titchs Krieger stürzten reihenweise unter den unbarmherzigen Hieben ihrer dürren Chitinklauen, und nur zu viele blieben liegen. Aber die überlebenden Quorrl kämpften kaum weniger verbissen. Zu zweit oder dritt stürzten sie sich auf einen ihrer unheimlichen Gegner, und sie nahmen dabei keinerlei Rücksicht mehr auf ihr eigenes Leben. Die Unterschiede zwischen Quorrl und Ultha schienen sich für einen Moment zu verwischen; während der wenigen Sekunden, die der verbissene Kampf in Wirklichkeit nur dauerte, schienen sie gleich zu werden, die eine wie die andere Seite keine lebenden Wesen mehr, sondern große, fürchterliche Maschinen, die nur noch dem einzigen Befehl gehorchten: zu vernichten. Skar sah Titch, der, ohne Rücksicht auf seine Verletzung zu nehmen, sein gewaltiges Schwert mit beiden Händen schwang und einen Ultha tötete, der von gleich drei Quorrl zu Boden gerissen worden war. Nur einer der drei Quorrl-Krieger erhob sich wieder.

»Skar!« stöhnte Yul. »Halte sie auf! Sie zerstören alles!«

Skar war irritiert. Er fühlte sich... hilflos. Rings um ihn herum sanken die Errish zu Boden, von Pfeilschüssen getroffen oder durch die pure Wucht des mentalen Schocks betäubt, der die jähe Unterbrechung ihrer Trance auslöste. In wenigen Sekunden würden Titchs Krieger die Ultha überrannt haben, und sei es einfach nur durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit, und nicht eine dieser achtzig Frauen würde sich auch nur wehren. Außer Yul, Anschi und den beiden Errish, die die Ultha begleitet hatten, begriff vielleicht nicht einmal eine von ihnen, was überhaupt geschah. Titchs Quorrl hatten bereits gewonnen, noch bevor der Kampf richtig begann. Er sollte Zufriedenheit empfinden, zumindest Erleichterung, denn noch vor Augenblicken hatte er den sicheren Tod vor Augen gehabt, aber statt dessen spürte er nichts als Furcht, als er in Yuls Augen blickte.

Das Gesicht der alten Errish war zu einer Maske des Entsetzens geworden. Und plötzlich begann Skar zu ahnen, daß alles anders war, ganz anders, als er geglaubt hatte. Es war nicht die Furcht um das Leben ihrer Mädchen, die Yul fast um den Verstand brachte. Es war - »Um Gottes Willen!« flüsterte er. »Der Dronte!«

Yul schlug zitternd die Hände vor das Gesicht, und selbst Anschi wurde blaß, als sie begriff, was Skars Worte bedeuteten. Skar fuhr herum, rannte den Quorrl entgegen und schrie aus Leibeskräften Titchs Namen. »Hört auf!« brüllte er. »Zurück! Titch, zieh deine Männer zurück, oder du bringst uns alle um!« Aber es war zu spät. Selbst wenn Titch ihn verstanden hätte, und selbst wenn er den Sinn von Skars Warnung begriffen hätte - die Dinge hatten schon lange ihren eigenen Willen entwickelt und scherten sich nicht mehr um den derer, die sie ins Rollen gebracht hatten. Die überlebenden Quorrl stürmten brüllend auf den Lagerplatz hinaus, Schwerter und Keulen blitzten auf und trafen die hilflos daliegenden Errish, und dann geschah, was Skar voller panischem Entsetzen erwartet hatte: Einer der Quorrl-Krieger erreichte die Steilküste und rannte daran entlang. Selbst vom fünfhundert Fuß tiefer liegenden Meer her mußte sich seine Silhouette deutlich gegen den roten Schein des Feuers abheben.

Für eine einzelne, endlos scheinende Sekunde schien die Zeit stehenzubleiben. Skar sah alles mit jener phantastischen Klarheit, mit der Momente absoluten Schreckens manchmal ablaufen, und er selbst fühlte sich wie von unsichtbaren klebrigen Fäden eingesponnen, unfähig, sich zu bewegen oder irgend etwas zu tun, um das Entsetzliche noch aufzuhalten: Der Quorrl rannte weiter an der Steilküste entlang, Titchs Krieger fuhren fort, die wehrlosen Errish zu erschlagen, und neben ihm öffnete Yul den Mund zu einem absurden, lautlosen Schrei, und für einen noch winzigeren Teil dieser kurzen Sekunde machte sich die verzweifelte Hoffnung in Skar breit, daß sie sich getäuscht hatten, daß das Chaos ausbleiben würde und - Und auf der anderen Seite der schwarzen Schattenlinie, die die Steilküste markierte, begann ein düsterrotes Höllenfeuer aufzuglühen. Ein prasselndes, ungeheuer lautes Zischen erklang, und den Bruchteil einer Sekunde später verschwanden der Quorrl und ein Drittel der Steilküste, auf deren Grat er entlanglief, in weißer Glut. Skar sah, wie sein Körper zu einem flachen schwarzen Schatten wurde, der sich unglaublicherweise immer noch bewegte und dann einfach nicht mehr da war, nicht verbrannt, sondern zu glühender Asche geworden, im Bruchteil eines Herzschlages. Wo er gestanden hatte, schmolz der Fels. Eine ungeheure Hitzewelle fauchte auf das Plateau hinaus, gefolgt von weißen und orangeroten Flammen, die wie gierige leuchtende Finger nach Nahrung tasteten.

Skar warf sich mit weit ausgebreiteten Armen nach vorne und riß Anschi und Yul gleichzeitig von den Füßen, eine halbe Sekunde ehe die Hitzewelle sie erreichte und seinen Rücken wie eine glühende Hand berührte. Plötzlich war das Lager voller Schmerz- und Schreckensschreie, voller Hitze und kochender Luft und hastender Körper in schwelenden Gewändern. Etwas Heißes, Spitzes fuhr wie ein glühender Dolch über Skars Rücken.

Stöhnend wälzte er sich zur Seite, sah sich nach Kiina um und erkannte, daß sie unverletzt geblieben war. Neben ihm stemmte sich Anschi auf Hände und Knie hoch, während Yul reglos und mit geschlossenen Augen dalag, bewußtlos oder tot.

Skar kam taumelnd auf die Füße, sah sich aus tränenden Augen nach Titch um und entdeckte das goldene Blitzen seiner Rüstung, nur wenige Schritte neben sich. Der Quorrl stand wie versteinert da, und selbst auf seinem normalerweise völlig starrem Reptiliengesicht hatte sich ein Ausdruck ungläubigen Entsetzens breitgemacht.

»Weg hier!« brüllte Skar über das Prasseln der Flammen und die Schreie der verwundeten Errish hinweg. »Titch, nimm deine Männer und verschwinde! Er ist auf euch konditioniert, verstehst du?!« Nein, Titch verstand nicht - und wie konnte er auch? Der Blick seiner pupillenlosen Eidechsenaugen richtete sich auf Skar, aber Skar war nicht einmal sicher, daß er ihn überhaupt erkannte, in diesem Moment. Auf den Zügen des Quorrl lag nur Angst. Dann schlug der Dronte ein zweites Mal zu - und diesmal schoß er all seine Feuerkatapulte ab!

Die zwölffache, berstende Explosion riß Skar von den Füßen. Licht, ein ungeheuer grelles, mörderisches Licht von sengender weißer Farbe überflutete das Plateau, als die Steilküste auf voller Länge hinter einem Flammenvorhang verschwand. Die Hitze versengte Skars Haar und machte ihn für Sekunden blind, und jedes Metallteil an seiner Kleidung schien plötzlich aufzuglühen und brannte kleine schmerzhafte Wunden in seine Haut. Die Luft, die er atmen wollte, kochte. Die flüchtenden Errish verwandelten sich in Schatten, deren Umrisse sich wie in leuchtender weißer Säure aufzulösen schienen. Alle, die der Küste näher als zwanzig oder dreißig Schritte waren, brachen zusammen oder taumelten mit brennenden Kleidern weiter. Die Dächer der kleinen Basthütten fingen mit einem einzigen, berstenden Schlag Feuer.

Skar taumelte auf die Füße, riß schützend die Arme vor das Gesicht und tastete sich blind zu der Stelle zurück, an der er Kiina wußte. Das Lager schien nur noch aus Licht und Hitze und unerträglichem Lärm zu bestehen. Er atmete Glassplitter, und der Boden war so heiß, daß er bei jedem Schritt am liebsten aufgeschrien hätte. Vielleicht tat er es.

Die nächste Salve. Diesmal hatte der Dronte höher gezielt: Skar sah einen Schwarm täuschend kleiner, lodernder Meteore hinter der Küste in die Höhe steigen, funkensprühend den Scheitelpunkt ihrer Bahn erreichen und sich wieder herabsenken, im gleichen Augenblick, in dem er Kiina erreichte und in die Höhe riß.

Zwei der lodernden Feuerkugeln stürzten harmlos wieder ins Meer hinab und erloschen. Der Rest traf das Lager, die Hütten, die umliegenden Felsen und das Tyrr-Gehege. Die Welt versank in einem Chaos aus Feuer, Hitze und Licht.

Sie waren noch neun, als der Morgen graute und sie sich den ersten Ausläufern des Drachengebirges näherten: Skar, Kiina, sechs von Titchs Quorrl und Titch selbst. Zwei der Krieger würden sterben, ehe der Abend kam, möglicherweise auch drei. Vielleicht auch Kiina. Und vielleicht auch Skar selbst.

Er erinnerte sich nur noch schemenhaft daran, wie Kiina und er aus der Flammenhölle entkommen waren, in die der Dronte das Felsplateau über der Küste verwandelt hatte. Die mörderischen Katapulte des lebenden Schiffes hatten weitergeschossen, immer und immer weiter und weiter. Auch, als Skar und die Handvoll Überlebender sich schon Meilen von der Küste entfernt hatten, waren noch immer brennende Sterne auf die Erde herabgefallen, als wolle der Dronte nicht nur alles Leben auf diesem Flecken vernichten, sondern ihn selbst von der Oberfläche Enwors tilgen. Skar wußte nicht, ob das halb tierische, halb unsagbar fremde Bewußtsein der Killerkreatur zu solch komplizierten Überlegungen fähig war, aber wenn, dann mußte es genau das gewesen sein, was der Dronte beim Anblick der Quorrl empfunden hatte: eine Wut, die die Grenzen des Vorstellbaren sprengte, allerhöchstens noch mit der vergleichbar, mit der sich Quorrl und Ultha bekämpft hatten.

Keiner von ihnen war ohne mehr oder weniger schwere Verletzungen davongekommen, wobei Skar vielleicht noch das größte Glück gehabt hatte: Jeder Quadratzentimeter seiner Haut, der nicht von Stoff oder Leder geschützt gewesen war, war krebsrot geworden und brannte wie Feuer, und das Luftholen tat noch jetzt weh. In seinem Rücken pochte eine tiefe Schnittwunde. Sein Mantel und seine Hosen hingen in Fetzen, und wenn seine Finger recht hatten, mit denen er behutsam Gesicht und Kopf abgetastet hatte, dann war der Großteil seines Haares verkohlt.

Aber das allein war nicht der Grund für seine Schwäche. Skar war oft genug verletzt worden, und er hatte oft genug das Letzte geben müssen, um seinen Körper zu kennen, seine Leistungsfähigkeit, sein Vermögen, Verletzungen und Schmerz zu ertragen, und dessen Grenzen. Und er wußte, daß sie noch lange nicht erreicht waren. All die kleinen und großen Verletzungen, die er davongetragen hatte, waren nicht mehr als Nadelstiche, quälend und hinderlich, aber normalerweise nicht gefährlich. Und schon gar nicht so schlimm, daß er sich nur noch mit Mühe im Sattel halten konnte. Trotzdem hatte er auf dem Weg mehrmals das Bewußtsein verloren, immer nur kurz, vielleicht nur für Sekunden; er war erschrocken hochgefahren und hatte begriffen, daß er im Sattel nach vorne oder zur Seite gekippt war, und einmal hatte ihn Titchs rasches Zugreifen davor gerettet, vom Pferd zu stürzen und sich vielleicht einen Knochen oder gleich den Hals zu brechen. Die Schwäche war wieder da; der unsichtbare Vampir in seinem Inneren, der seine Kraft aufsog und nichts als furchtbare Leere und ziellosen Zorn hinterließ.

Und das Erschreckendste von allem vielleicht war der Traum. Er träumte den gleichen sinnlosen, zweigeteilten Traum wie in den Nächten zuvor, nur daß er gar nicht schlief. Aber seine Schwäche schien tief genug, daß sich in seinem Bewußtsein auch jetzt diese unheimliche Spaltung vollzog, bei der er noch immer registrierte, was um ihn herum und mit ihm geschah, aber fast unfähig war, in irgendeiner Form darauf zu reagieren.

Als die Sonne aufging, wurde es ein wenig besser. Das Licht und die wärmenden Strahlen ließen ein wenig von der verlorenen Kraft in seinen Körper zurückkehren, und die Träume verblaßten, wurden zu drohenden Schatten irgendwo am Rande seines Bewußtseins, die noch immer da waren, ihn aber nicht mehr zu überwältigen vermochten. Müde blinzelte er zu den Bergen hinüber. Während der Nacht hatte er sie manchmal als gewaltige finstere Schatten irgendwo in unbestimmbarer Entfernung erkannt, jetzt sah er, daß sie den ersten Felshängen schon bis auf zwei, allerhöchstens drei Meilen nahegekommen waren. Aber der Anblick der steinernen grauen Riesen hatte nichts Beschützendes mehr. Gewußt hatte er es schon lange, aber die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten ihm endgültig bewiesen, daß sie gegen einen Gegner kämpften, vor dem es keinen Schutz gab.

Er sah zu Titch hoch, der neben ihm ritt. Es war schwer, im Gesicht eines Quorrl ein Gefühl zu erkennen, aber Skar glaubte auch auf seinen Zügen Müdigkeit zu sehen, allerdings keine körperlicher Art. Der Blick des Quorrl war starr nach Norden gerichtet, aber er saß ein wenig zu aufrecht im Sattel, und seine Hand hielt die Zügel ein wenig zu fest, um seine Betäubung zu verbergen. Mit Ausnahme der Frage, wie es ihm und Kiina ging, hatte Titch während des gesamten Rittes kein Wort gesprochen; ebensowenig wie seine Krieger. Sie waren sieben oder acht Stunden lang nebeneinander hergeritten, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Im grauen Licht der Dämmerung kamen Skar Titch und seine zerschlagene Quorrl-Armee wie eine Gruppe gespenstischer Geisterreiter vor. Aber vielleicht waren sie das alle, ihn eingeschlossen - Gespenster, die denn Geist einer Welt nachjagten, die es schon lange nicht mehr gab.

Die Berge schienen nicht näher zu kommen. Während der Nacht, so dunkel sie gewesen war, waren sie manchmal als fast umrißlose, schwebende Schatten im Norden erschienen; nichts, was man wirklich erkennen konnte, sondern einfach ein Teil der Nacht, in der sich die Dunkelheit noch weiter verdichtet hatte, als gäbe es da irgendeine Macht, die ihnen zeigen wollte, daß ihr Weg ins Nichts führte. Jetzt konnte Skar die zerborstene Felslandschaft der Vorberge erkennen, ein Labyrinth aus Schatten und Linien und gesprungenem Grau, das den eigentlichen Bergen vorgelagert war und ihnen Schutz bieten würde; wovor, wußte er selbst nicht. Aber sowenig er sich wirklich an die Stunden im Sattel erinnern konnte, so wenig schienen die letzten Meilen kürzer zu werden. Über diesen Bergen, dessen war er plötzlich ganz sicher, lag ein böser Fluch, der sie im gleichen Tempo vor ihnen zurückweichen ließ, in dem sie sich ihnen zu nähern versuchten. Vielleicht war es auch Enwor selbst; sein ausgedörrter Boden, der unter den Hufen ihrer Pferde zurückglitt, immer so schnell, wie die Tiere liefen, so daß sie es nicht einmal merkten. Möglicherweise hatte dieser ganze Planet endlich erkannt, wer sein wahrer Besitzer war. Vielleicht war er auch des Krieges einfach ebenso müde wie die, die auf ihm lebten.

Skars Gedanken begannen sich zu verwirren, und für einen Moment, vielleicht auch für Stunden glitt er wieder hinüber in jenen fürchterlichen Alptraum, der bar jeder Handlung war und in dem ihm eine körperlose, drängende Stimme immer und immer wieder das eine Wort zuflüsterte: Töte! Noch konnte er ihr widerstehen, aber bald, das wußte er, würde sie zum Befehl werden. Und dann? Sein nächster klarer Eindruck war der eines überhängenden, vielfach geborstenen Felsens, in dessen Windschatten Titch sein und Kiinas Pferd lenkte. Er erschrak, als er begriff, daß er nicht zum ersten Mal in dieser Nacht hilflos gewesen war. »Kannst du absteigen?« fragte Titch.

Skar hatte Mühe, seine Worte zu verstehen. Der Quorrl hatte den Helm wieder aufgesetzt, wodurch er noch größer und drohender aussah, und Skar wurde erst jetzt bewußt, daß er noch immer das Schwert in der Hand trug. Offensichtlich rechnete der Quorrl noch immer mit einem Angriff.

Es erschien ihm viel zu mühsam, zu antworten, und so schwang er sich wortlos aus dem Sattel. Es ging besser, als er geglaubt hatte. Seine Knie zitterten, aber die Bewegung schien neue Kraftreserven zu mobilisieren, und für einen kurzen Moment fühlte er sich sogar beinahe frisch und ausgeruht. Dann machte er einen Schritt, und die Welt begann sich um ihn herum zu drehen. Er hielt sich am Sattel fest, wartete, bis der Anfall vorüber war, und ging vorsichtiger weiter. Titch scheuchte ihn mit einem rüden Kopfschütteln weg, als er ihm helfen wollte, Kiina vom Pferd zu nehmen.

Die Quorrl begannen ein Lager aufzuschlagen, während Skar sich einfach zu Boden sinken ließ und den Kopf gegen einen Stein legte. Müdigkeit kroch wie eine schleichende bleierne Last in seine Glieder, und ihm wurde wieder übel. Eigentlich, überlegte er, war ihm während der vergangenen beiden Tage immer ein wenig übel gewesen. Er konnte sich kaum mehr daran erinnern, wann er sich das letzte Mal wirklich wohl gefühlt hatte. Er schlief wieder ein und träumte, aber auch diesmal dauerte es nur Augenblicke, bis er mit einem halblauten Schrei wieder hochfuhr und sich erschrocken umsah.

Er blickte direkt in Titchs Gesicht. Der Quorrl hockte vor ihm, stützte sein Körpergewicht mit der verletzten Hand am Boden ab und hielt ihm mit der anderen eine Flasche hin. Skar nahm sie, trank ein wenig und kämpfte sekundenlang mit aller Macht gegen den Brechreiz an, den das Schlucken in seiner Kehle auslöste. »Wie geht es Kiina?« fragte er mühsam.

»Warum schläfst du nicht ein wenig?« sagte Titch anstelle einer Antwort. »Es wird noch eine Stunde dauern, vielleicht auch zwei, bis sie hier sind.«

»Sie?«

»Deine zauberhaften Freundinnen«, antwortete Titch spöttisch. »Sie verfolgen uns. Schon seit Stunden.«

Skar wußte nicht, was ihn mehr irritierte: der ungewohnte Spott in Titchs Worten, oder die Tatsache, daß er nichts von irgendeiner Verfolgung bemerkt hatte. Er hatte bisher nicht einmal gewußt, daß es Überlebende gegeben hatte.

»Wieviele?« fragte er.

Titch stand auf, befestigte die Feldflasche an seinem Gürtel und machte eine Kopfbewegung, ihm zu folgen. Es bereitete Skar unerwartet viel Mühe, sich zu erheben und hinter dem Quorrl herzugehen.

Die Sonne war mittlerweile völlig aufgegangen. Die Schatten waren noch lang und so tief, daß sie schwarze Schluchten in die Ebene zu brennen schienen, aber die Luft war trotzdem erstaunlich klar. Obwohl sie an die dreißig Meilen zurückgelegt haben mußten, konnte Skar das Meer sehen: ein dünner, fast übertrieben blauer Strich dicht vor dem Horizont, wie eine Trennlinie, die ein Maler zwischen Himmel und Erde gezogen hatte. Skar war sicher, daß er sich den klobigen schwarzen Schatten darauf nur einbildete; sie waren viel zu weit von der Küste entfernt, um den Dronte wirklich sehen zu können. Aber er wußte, daß er da war. Von irgendwelchen Verfolgern war keine Spur.

Titch deutete schweigend in den Himmel, und als Skar der Bewegung folgte, sah er einen winzigen, dreieckigen Schatten, dann, ein Stück tiefer und mehr zur Küste hin, einen zweiten und dritten. Daktylen.

»Warum stellst du keine Fragen?« sagte er, ohne Titch anzusehen.

Der riesige Quorrl zuckte mit den Schultern. »Wozu?« sagte er. »Du hast gesehen, was passiert ist. Du warst dabei«, fügte er nach sekundenlangem Zögern hinzu.

»Das meine ich nicht«, antwortete Skar. »Du hast kein Wort gesprochen, seit wir geflohen sind. Du...«

»Was nutzen Fragen, wenn man die Antworten mit ins Grab nimmt?« unterbrach ihn Titch. »Wir haben dir und dem Mädchen das Leben gerettet, oder?«

»Ja und die meisten deiner Leute sind dabei getötet worden«, sagte Skar.

»Krieger sind zum Sterben da.«

Skar verzog geringschätzig die Lippen. Noch vor zwei Wochen hätte er dem Quorrl diese Antwort sogar geglaubt; schon weil es damals wirklich das gewesen war, was Titch empfand. Aber seither war viel geschehen. Titch war schon lange kein Quorrl mehr. In seinem Inneren hatte eine Veränderung begonnen, die den Quorrl von allen vielleicht am meisten selbst verwirrte.

»Das stimmt doch nicht«, sagte Skar sanft. »Du...«

»Du«, unterbrach ihn Titch betont, »und das Mädchen - ihr müßt leben. Wenn du das bist, wofür ich dich halte, Satai, dann war euer Leben das Opfer wert.«

»Wofür hältst du mich denn?« fragte Skar.

Titch antwortete nicht, und nach einer Weile drehte sich Skar einfach um und ging zu Kiina zurück.

Die Quorrl hatten den schmalen Felsspalt in eine kleine, aber fast uneinnehmbare Festung verwandelt - für einen normalen Gegner. Wie lange er einem Angriff zu allem entschlossener Errish standhalten würde, wagte er nicht zu prophezeien. Titch offensichtlich auch nicht, seinen Worten von eben nach zu schließen.

Skar verscheuchte den Gedanken und kniete neben Kiina nieder. Er erschrak erneut, als er in ihr Gesicht sah. Das Mädchen hatte hohes Fieber. Sie war bei Bewußtsein, aber ihre Augen waren verschleiert. Ein Teil ihres Haares war grau geworden. Skar wollte etwas sagen, aber der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Kiina starb, nicht irgendwann, sondern hier und jetzt, und er war hilflos. Es gab nichts, was er für sie tun konnte. Die einzigen Menschen, die ihr vielleicht hätten helfen können, waren vor sechs Stunden verbrannt.

»Was hat sie?«

Skar sah auf, machte eine angedeutete Geste zu Titch, ruhig zu sein, und entfernte sich ein paar Schritte. »Der Staub«, sagte er. »Staub?«

Skar sah den Quorrl einen Moment lang überrascht an, ehe er begriff, daß Titch ja von alledem nichts wußte. Als er Skar das letzte Mal gesehen hatte, waren er und Kiina gesund und munter auf die Rücken zweier Daktylen gestiegen.

»Dasselbe, was die Errish in Elay umgebracht hat«, antwortete er. »Sie hat es auch.«

»Und du ebenfalls«, vermutete Titch.

Skar nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Vielleicht«, sagte er. »Selbst Yul war nicht sicher. Aber ich glaube, ja.«

»Erzähl mir davon«, verlangte Titch.

Skar zögerte. Warum fragte Titch danach? Es gab hundert Fragen, die wichtiger waren, die dem Quorrl geradezu auf der Zunge brennen mußten. Wenn er sie nicht stellte, dann gab es dafür eigentlich nur zwei Erklärungen: Er hatte Angst vor Skars Antworten - oder er kannte sie bereits.

»Es war der Staub, der die Errish in Elay getötet hat«, wiederholte er. »Grauer Staub, der mit dem Wind kam...« Er erzählte Titch das wenige, was er von der Margoi erfahren hatte, und später von Yul. Titch hörte schweigend zu, aber Skar entging nicht der nachdenkliche Ausdruck, der mit einem Male in seinem Blick erschien. Doch der Quorrl sagte kein Wort, auch dann nicht, als er mit seinem knappen Bericht zu Ende gekommen war.

Skar wartete lange Zeit vergeblich, daß Titch das quälend werdende Schweigen brach, aber der Quorrl stand einfach nur da, schweigend, reglos, wie eine vierhundert Pfund schwere, lebende Statue aus Muskeln und Knochen und Panzerplatten. Warum sagt er nichts? dachte Skar. Warum stellt er nicht eine einzige Frage? Aber der Quorrl schwieg. Und als Skar aufsah und in die Gesichter der anderen Quorrl blickte, begriff er, daß sie jedes seiner Worte gehört und verstanden hatten. Titchs Leibgarde bestand nicht aus Barbaren, auch wenn ihr Äußeres diesen Trugschluß manchmal leicht werden ließ. Jeder dieser schuppigen Giganten war ein gebildetes, intelligentes Individuum, ein Krieger zwar, aber das war er auch.

Schließlich drehte er sich einfach um und ging zum zweiten Mal zu Kiina zurück. Während er mit Titch gesprochen hatte, war sie vollends erwacht. Sie wirkte noch ein bißchen benommen, aber sie erkannte ihn, als er sich neben ihr niederließ, und ihre gesprungenen Lippen verzogen sich zu einem mühsamen Lächeln.

»Was ist passiert?« fragte sie.

Seltsam. Wie oft hatte er diese Frage schon gehört? Es war ihm noch nie so schwergefallen, sie zu beantworten. »Der Dronte«, sagte er schleppend. »Er ... er drehte völlig durch, als er die Quorrl sah. Ich weiß nicht genau, warum.«

Was eine Lüge war - selbst Kiina, die Mühe hatte, aus eigener Kraft aufrecht zu sitzen, mußte es spüren. Sie wußte es, und er selbst wußte es, und Titch hatte nicht eine einzige Frage gestellt. »Sterben wir?« fragte Kiina plötzlich.

Skar sah sie gleichermaßen irritiert wie erschrocken an. »Sicher«, sagte er unsicher. »Wie jeder.«

»Jeder stirbt nicht hier und jetzt«, widersprach Kiina. »Es ist der Staub, nicht wahr? Die ... die Margoi hat die Wahrheit gesagt. Der Staub tötet uns.«

»Unsinn«, log Skar. »Du bist krank, aber das bin ich auch. Ich habe mehr von dem verdammten Zeug eingeatmet als du. Und mir geht es bereits besser.«

»Ja«, sagte Kiina sarkastisch. »Das sieht man. Du siehst aus wie das blühende Leben.«

Ein Schatten, der sich über Kiinas Gesicht legte, enthob Skar einer Antwort. Er sah auf, blinzelte, hob die Hand über die Augen und blinzelte zum Umriß des Quorrl empor, der sich als scharf gezeichneter schwarzer Schatten gegen die Sonne abhob.

»Jemand kommt, Herr«, sagte der Quorrl. Es war Skar nicht gelungen, den Quorrl abzugewöhnen, ihn Herr zu nennen. Und irgendwann hatte er resigniert. Er widersprach auch jetzt nicht, sondern lächelte Kiina noch einmal aufmunternd zu und stand dann auf, um dem Quorrl zu folgen.

Aus den drei Punkten am Himmel waren fast ein Dutzend geworden, als er neben Titch ankam. Und sie waren näher, sehr viel näher. Aus den dunklen Punkten, die sich über der Küste kaum von den Schatten großer schwarzer Vögel unterschieden hatten, waren die häßlichen Umrisse gewaltiger Flugdrachen geworden, übergroßen Fledermäusen mit absurden Hammerköpfen gleich, die mit trägen Flügelschlägen über der Wüste kreisten. Skar sah, daß die meisten Daktylen mit zwei Errish besetzt waren.

Er schloß für einen Moment die Augen, um ihnen Zeit zu geben, sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, und blickte dann wieder nach Süden. Das Ödland blieb leer. Zwischen den Schatten bewegte sich nichts. Wenn die Errish noch Verstärkung über Land erwarteten, dann war sie noch sehr weit entfernt. »Wenn sie uns angreifen, haben wir keine Chance«, sagte Titch. »Nicht hier.« Er drehte sich halb herum und blinzelte aus zusammengepreßten Augen zu den Bergen hinauf. »Wenn wir höher hinauf kämen...« murmelte er. »Es gibt Schluchten dort oben, und Höhlen...«

»Nein«, sagte Skar.

Titch sah ihn an, widersprach aber nicht einmal. Seine gesunde Hand machte eine rasche, befehlende Geste, und zwei seiner vier noch kampffähigen Männer huschten in die Positionen, die Titch ihnen vorher zugewiesen hatte. Trotz ihrer Massigkeit und Größe bewegten sich die Quorrl fast lautlos, und abermals fiel Skar auf, wie sehr sich Titchs Männer von dem Bild unterschieden, das beim Klang des Wortes Quorrl vor dem geistigen Auge der meisten Menschen auftauchte. Die geschuppten Riesen aus dem Norden wirkten im Gegenteil fast elegant. Aber vielleicht sah er sie auch nur so. Ein Vorurteil überwunden zu haben bedeutete nicht zwangsläufig, auch objektiv zu sein.

»Sie kommen näher«, sagte Titch.

Skar blinzelte in den Himmel hinauf. Zwei der elf Daktylen hatten sich aus der Formation der schwarzen Drachenvögel gelöst und kamen näher. Aus den Augenwinkeln sah er, wie einer von Titchs Männern seine Armbrust spannte und einen Bolzen einlegte.

»Ich glaube nicht, daß sie angreifen«, sagte Skar. Titch schwieg, aber Skar sah, wie er den Krieger mit einer raschen Geste zurückwinkte.

Die beiden Daktylen kamen rasend schnell näher, viel zu schnell nach Skars Meinung, als daß ihre Reiterinnen den Flug noch rechtzeitig abfangen konnten. Seine Handflächen wurden feucht vor Schweiß. Seine Finger glitten unbewußt zum Gürtel und fanden ihn leer. Sein Tschekal lag noch auf dem Lagerplatz der Errish, vermutlich zu einem Klumpen formlosen Metalls zusammengeschmolzen.

Titch registrierte seine Bewegung und zog den Dolch aus dem Gürtel, eine schwere, gut ausbalancierte Waffe mit beidseitig geschliffener Klinge, die für die Pranken eines Quorrl gemacht war und in Skars Händen ein passables Schwert hergeben würde. Trotzdem schüttelte er nach kurzem Zögern den Kopf.

Die beiden Daktylen rasten heran, so tief, daß sie die Felsen streifen mußten, zwischen denen Skar und die Quorrl Deckung gesucht hatten. Er konnte jetzt die Reiterinnen in den Sätteln hinter den bizarren Hammerköpfen der Ungeheuer erkennen; Errish in wehenden schwarzen Mänteln, in deren Händen es silbern und tödlich funkelte. Gegen seinen Willen meldete sich der Krieger in ihm zu Wort und erinnerte ihn daran, daß sie in der Falle saßen, wenn die Errish wirklich gekommen waren, um sie zu vernichten, denn so uneinnehmbar die Felsgruppe für einen berittenen Angreifer gewesen wäre, so hilflos waren sie Attacken aus der Luft ausgeliefert.

Aber die Errish griffen nicht an. Im letzten Moment trennten sich die beiden Daktylen; ein schwerfällig erscheinender, aber ungeheuer kraftvoller Schlag der schwarzen Schwingen katapultierte die riesigen Tiere nur wenige Meter vor ihrer Deckung in die Höhe. Skar zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als die ledrigen Flügel der Bestien so dicht über ihnen durch die Luft pflügten, daß er meinte, nur den Arm ausstrecken zu müssen, um sie zu berühren.

Die beiden Flugechsen entfernten sich so schnell, wie sie gekommen waren, aber sie flogen nicht sehr weit, sondern nutzten die warmen Aufwinde des Vorgebirges, in steilem Winkel in die Höhe zu klettern und gleich darauf ein zweites Mal auf das Felsenversteck der Quorrl herabzustoßen. Diesmal rasten sie so tief heran, daß die Schwingen eines der Tiere die Felsen wirklich berührten: Skar sah, wie die Daktyle taumelte und im letzten Moment ihr Gleichgewicht wiederfand.

»Zum Teufel, was soll das?!« knurrte Titch.

»Ruhig«, sagte Skar beschwörend. »Das ist kein Angriff, Titch. Nur eine Warnung.« Besorgt sah er zu den übrigen Quorrl zurück. Titchs Krieger hatten sich ausnahmslos mit Armbrüsten und Bögen bewaffnet, und er kannte die Treffsicherheit, mit der die Quorrl ihre Waffen zu handhaben wußten. »Sie wollen uns nur zeigen, daß sie uns vernichten könnten, wenn sie wollten. Halte deine Leute zurück.«

Titch reagierte nicht auf seine Worte, machte aber auch keine Anstalten, etwas zu tun, als die Daktylen zum dritten Mal heranrasten. Wieder jagten die fliegenden Drachen so tief über ihre Deckung hinweg, daß Skar den Luftstrom ihrer gewaltigen Schwingen fühlen konnte, schwangen sich ein Stück weit in die Höhe und flogen einen vierten und letzten Scheinangriff.

»Dort!« Skar deutete in den Himmel hinauf, dorthin, wo sich der Rest der kleinen fliegenden Armee befand. Aus der Formation der kreisenden Drachen hatte sich ein weiteres Tier gelöst, ein besonders großer, häßlicher Drache, der sonderbar ungleichmäßig flog, als bereite es ihm Mühe, die Schwingen zu bewegen. Trotzdem landete er sicher auf einer Felszacke, kaum zwanzig Schritt von ihrem Versteck entfernt. Skar und Titch beobachteten, wie seine Reiterin geschickt von seinem Rücken kletterte und dann im Gewirr der Felsen verschwand. Wenige Augenblicke später tauchte sie wieder auf, und aus Skars Vermutung wurde Gewißheit: Es war Anschi. Er war froh, sie unter den Überlebenden zu sehen.

»Laß mich mit ihr reden«, sagte er hastig, als sie näher kam und Titch sich aus seiner Deckung lösen wollte. Der Quorrl zögerte, machte dann eine Bewegung, die wohl das quorrlsche Äquivalent eines Achselzuckens war, und gab ihm den Weg frei.

Mit klopfendem Herzen trat Skar Anschi entgegen. Sie trug noch immer den bestickten Zeremonienmantel vom vergangenen Abend, aber er war zerfetzt und angekohlt. Ihre rechte Hand und der Arm waren bis zum Ellbogen hinauf bandagiert, und ihr Gesicht war eine Maske aus Schmutz und Ruß und verkrustetem Blut. In ihrer linken Hand blitzte das silberfarbene Metall eines Scanners.

Skar blieb stehen. Es fiel ihm schwer, Worte zu finden. Ganz egal, was er sagen würde, er konnte es nur schlimmer machen. »Es... es freut mich, daß du lebst«, sagte er schließlich. Es waren ungeschickte Worte, die in Anschis Ohren wie böser Hohn klingen mußten, aber die einzigen, die ihm einfielen.

Die junge Errish antwortete auch nicht, sondern starrte ihn eine Sekunde lang aus weit aufgerissenen, leeren Augen an, und ging dann einfach weiter. Skar hob die Hand, wie um ihr den Weg zu verwehren, führte die Bewegung dann aber nicht zu Ende.

Zwischen den Felsen trat Titch heraus. Anschi erstarrte, als sie den titanischen Quorrl in seiner goldenen Rüstung erblickte. Ihre Lippen begannen zu zittern. Langsam, ganz langsam, hob sie die Hand, zielte mit dem Scanner auf Titch - und ließ die Waffe fallen. Mit einem gellenden Schrei stürzte sie sich auf Titch und begann mit den Fäusten auf ihn einzuschlagen.

Titch regte sich nicht. Anschis Fäuste hämmerten auf seinen Brustpanzer, seinen Helm und seine Arme ein, bis ihre Haut blutig war, aber sie hörte auch dann nicht auf, sondern schrie und schlug weiter wie in Raserei auf den schweigenden Giganten ein, bis Skar endlich hinter sie trat und fast sanft ihre Arme ergriff.

Er konnte regelrecht spüren, wie alle Kraft aus Anschi wich. Aus ihren hysterischen Schreien wurde ein krampfhaftes Schluchzen. Sie ließ es zu, daß er sie mit sanfter Gewalt herumdrehte, aber dann riß sie sich los und wich zwei, drei Schritte von ihm und dem Quorrl zurück.

»Faß mich nicht an!« zischte sie. »Faß mich nie wieder an, Satai, oder ich töte dich.«

Skar unterdrückte ein verzeihendes Lächeln, schwieg aber, und auch Titch verbiß sich jeden Kommentar und trat schweigend neben ihn. Anschi starrte sie abwechselnd an, bückte sich dann nach ihrer Waffe und schob sie mit einer zornigen Geste in den Gürtel. Dann ging sie wortlos an Skar und dem Quorrl vorbei und betrat den Felsspalt, in dem die Krieger lagerten. Rasch sah sie sich um, schürzte abfällig die Lippen und wandte sich dann wieder an Skar. »Sind das alle?« fragte sie.

»Alle, die überlebt haben, ja«, antwortete Skar.

»Gut. Dann sag deinen fischgesichtigen Freunden, daß sie sich nicht von der Stelle rühren sollen, wenn sie Wert darauf legen, auch noch länger zu leben. Meine Schwestern werden auf jeden schießen, der diesen Ort verläßt.«

Skar wußte, daß das nicht wahr war. Nichts von allem hätte irgendeinen Sinn gehabt, wären Anschi und ihre Schwestern hergekommen, um zu kämpfen. Aber er widersprach auch jetzt nicht, und zu seiner Überraschung schien selbst Titch zu spüren, wie wenig Sinn es in diesem Moment gehabt hätte, Stolz zu zeigen. Statt aufzufahren gab er seinen Kriegern ein Zeichen, die Waffen zu senken.

»Wie geht es Yul?« fragte Skar.

»Sie ist tot.« Anschi sah ihn nicht an, sondern blickte starr in die entgegengesetzte Richtung, aber das Zittern ihrer Stimme war unüberhörbar. Sie war abermals dicht davor, die Beherrschung zu verlieren.

»Das tut mir leid«, sagte er.

Anschi drehte sich nun doch zu ihm herum und maß ihn mit einem langen, schwer einzuordnenden Blick. »Seltsam«, sagte sie. »Ich glaube dir sogar. Aber das ändert nichts daran, daß ich dich hasse. Irgendwann wirst du dafür bezahlen, Satai, das schwöre ich. Und dieses... Tier ebenso.«

Skar spürte, daß nun auch Titchs Selbstbeherrschung fast erschöpft war. Er mochte ebensogut wie Skar spüren, wie es hinter Anschis mühsam beherrschtem Gesicht aussah, aber er war noch immer ein Quorrl, und noch dazu ein Fürst seines Volkes, der es nicht gewohnt war, beleidigt zu werden.

Rasch trat er zwischen ihn und Anschi und sagte hörbar schärfer als bisher: »Bist du nur gekommen, um Drohungen auszustoßen?«

»Nein. Ich... habe euch etwas auszurichten. Etwas zu tun, das ich nicht tun will, aber muß. Yul ist tot, aber sie starb nicht sofort, sondern gab mir einen letzten Befehl. Ich...« Sie stockte. Ihr Blick hielt dem Skars plötzlich nicht mehr stand, und als sie weitersprach, spürte Skar, wie schwer ihr jedes einzelne Wort fiel. »Ich soll dafür sorgen, daß du und die Quorrl sicher in den Norden gelangen.«

»Du?« ächzte Titch. »Du sollst -«

Skar unterbrach ihn mit einer fast erschrockenen Geste. »Das ist alles?« fragte er. »Nichts weiter?«

»Reicht dir das nicht?« schnappte Anschi. Sie war den Tränen nahe.

»Keine Informationen?« vergewisserte sich Skar. »Nichts, was du mir sagen sollst?«

»Sie hatte nicht mehr viel Zeit«, antwortete Anschi wütend. »Sie starb in meinen Armen, Satai, und ihren letzten Atem verschwendete sie, um über dich zu sprechen, den Mann, der ihr den Tod gebracht hat!«

»Aber das stimmt doch nicht«, widersprach Skar sanft. »Ihr hättet -«

»Alles war gut, bevor du aufgetaucht bist«, unterbrach ihn Anschi mit zitternder Stimme. »Wir waren ihm so nahe! Wir hätten es fast geschafft, sein Vertrauen zu erringen. Noch eine Nacht, oder zwei, und er hätte uns gehorcht.«

»Wovon spricht sie?« fragte Titch.

Skar sah ihn nicht an, sondern hielt Anschi weiter mit Blicken gefangen. »Vom Dronte«, antwortete er. »Dem Wesen, auf dem die Ultha kamen. Ihrem Herrn.«

»Du... kennst dieses... dieses Ding?« fragte Titch. Mißtrauen klang in seiner Stimme mit, und Skar war verwirrt. Er hatte angenommen, daß Titch die Wahrheit kannte oder zumindest erraten hatte; schon weil es nicht eine einzige Frage gegeben hatte. Aber das stimmte nicht. Wahr war, daß der Quorrl auf seine Art so betäubt und erstarrt war wie Skar. Vielleicht mehr. Er hatte einfach nicht wissen wollen, was wirklich geschehen war.

»Sag es ihm«, verlangte Skar.

In Anschis Augen glomm ein gequälter Ausdruck auf. Sie versuchte, Titch anzusehen, aber es gelang ihr nicht. Sie tat Skar leid. Aber er wußte, daß er jetzt keinen anderen Ausweg mehr hatte. Er mußte Titch die Wahrheit sagen. Er hätte es längst tun sollen. »Sag es ihm!« verlangte er noch einmal. »Wiederhole, was Yul mir erzählt hat. Du weißt es doch, oder nicht? Du warst doch ihre Vertraute. Ihre Lieblingsschülerin.«

»Was... bedeutet... das?« fragte Titch schleppend. Er weiß es, dachte Skar. Er weiß es längst. Er wußte es schon damals, in Drasks Burg. Titch hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

»Du hast mir die Legende von den Ultha erzählt, Titch«, sagte Skar, als klar wurde, daß Anschi nicht reden würde. »Die Legende vom Land der Toten und dem Daij-Djan, dem Teufel eures Volkes. Es ist keine Legende. Du hast den Daij-Djan gesehen, und du hast die Ultha gesehen.«

Titch schwieg, aber seine Hände begannen ganz sacht zu zittern. Er wußte, was kommen würde.

»Sie sind keine Dämonen, Titch«, fuhr Skar fort, ohne Anschi auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. »Sowenig wie der Dronte und die Netzkreatur oder irgendein anderes Ungeheuer, das die Sternengeborenen erschufen.« Er wandte sich mit einer auffordernden, fast herrischen Geste an Anschi. »Sag es ihm!« Anschi schwieg weiter.

»Sie sind nicht einmal richtige Lebewesen«, fuhr Skar fort. »Sie sind... Dinge. Kreaturen ohne wirklichen eigenen Willen. Wenig mehr als Maschinen, die nur durch Zufall aus Fleisch und Blut bestehen. Ist es nicht so?«

Die Errish wich seinem Blick aus. Aber sie nickte. »Ja«, flüsterte sie. »Skar sagt die Wahrheit.«

»Aber wieso waren sie hier?« fragte Titch. »Bei euch?!«

»Weil wir sie gerufen haben«, antwortete Anschi leise. Titch sog scharf die Luft ein, und Skar legte ihm abermals beruhigend die Hand auf den Unterarm. Titch schüttelte sie ab.

»Sie kamen, kurz nachdem der Wächter Elay übernommen hatte«, fuhr Anschi fort. »Sie jagten uns, und sie töteten viele unserer Schwestern. Aber Yul erkannte, daß sie nichts als Werkzeuge waren. Skar hat recht - sie sind Tiere, weniger noch als Tiere. Sie denken, und sie sind intelligent - jedenfalls glaube ich das -, aber sie haben keinen eigenen Willen.«

»Und als der Wächter starb, da habt ihr versucht, ihren Geist zu übernehmen«, vermutete Skar. »So wie ihr es mit den Tyrr und den Daktylen tut.«

Anschi nickte. »Und es wäre uns gelungen. Wir hätten sie ebenso beherrscht. Yul war sicher, daß es uns gelingt.«

»Niemand kann Feuer mit Feuer bekämpfen«, sagte Titch. »Wir schon!« behauptete Anschi. »Wir sind Errish, keine -«

»Ihr seid Kinder«, unterbrach sie Titch. Seine Stimme bebte, aber Skar war sicher, daß Anschi nicht einmal wußte, warum der Quorrl so zornig war. »Ihr habt Wesen beschworen, die schlimmer sind, als ihr euch auch nur vorzustellen vermögt!«

Anschi antwortete nicht sofort. Vielleicht überraschte sie Titchs unerwarteter Zornesausbruch, vielleicht entsann sie sich auch erst jetzt der unbeschreiblichen Wut, mit der sich Quorrl und Ultha aufeinandergestürzt hatten. »Unsinn«, sagte sie, plötzlich aber mehr hilflos als herausfordernd. »Sie sind genau das, was Skar gesagt hat: Dinge. Keine Dämonen, Quorrl.«

»Für Titch schon«, sagte Skar. »Oder wie würdest du ein Wesen nennen, das deinem Volk eine ganze Welt gestohlen hat?« Titch fuhr mit einem Ruck zu ihm herum und starrte ihn an, und in Anschis Augen glomm ein Ausdruck auf, der nur noch mit dem Wort Entsetzen zu beschreiben war. »Nicht!« sagte sie. »Schweig! Sprich es nicht aus!«

»Was?« fragte Titch. Und plötzlich packte er Skar, riß ihn mit einem brutalen Ruck herum und schrie noch einmal: »WAS?!« Skar machte sich mühsam los. »Das große Geheimnis der Errish«, sagte er. »Ihr wußtet es schon immer, nicht wahr? Ihr wart die einzigen, die es wußten. Oh, sicher nicht alle, sondern immer nur einige wenige, aber ein paar haben es immer gewußt, all die Jahrtausende hindurch.«

Anschi schwieg, und Skar fügte, leiser und fast bitter, hinzu: »Gowenna muß es gewußt haben. Sie war die Ehrwürdige Mutter eures Volkes.« Er drehte sich wieder zu Titch um, und seine Stimme wurde leise, fast traurig. »All diese Ungeheuer, gegen die wir kämpfen, Titch, sind nicht die Sternengeborenen selbst. Es sind nur Waffen. Waffen, die sie erschufen, um ihre Feinde zu vernichten. Die ursprünglichen Bewohner Enwors. Euch, Titch. Die Quorrl.«

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