4.

Die Quorrl nahmen die Hilfe der Errish an, wenn auch erst nach langem Zögern und nachdem Titch es ihnen befohlen hatte. Kaum einer war ohne mehr oder weniger schwere Verletzungen davongekommen, aber es gab auch sehr viel weniger Tote, als Skar beim ersten Anblick des Talkessels befürchtet hatte. Ihre Rüstungen, vor allem die dicken hornigen Schuppenpanzer, hatten selbst dem tödlichen Scannerfeuer seine schlimmste Wirkung genommen. Nur neun der insgesamt fünfzig Krieger, die mit ihnen aufgebrochen waren, überlebten die Nacht nicht.

Und die Errish taten ihr Bestes, den übrigen zu helfen.

Aber ihr Bestes war nicht sehr viel. Sie waren begnadete Helferinnen - die Geschicklichkeit, mit der sie Wunden der Quorrl versorgten, hätten jeden Arzt vor Neid erblassen lassen. Aber sie verbanden nur. Sie heilten nicht. Skar sah nichts von der fast magischen Begabung, Wunden zu heilen und Schmerzen zu lindern, die den Ruf der Ehrwürdigen Frauen überall auf Enwor begründet hatten. Anschi und ihre Mädchen brachten Blutungen zum Stehen, legten Salben auf Verbrennungen und schienten gebrochene Glieder; aber all das hätte auch Skar oder ein beliebiger anderer gekonnt, mit der entsprechenden Ausbildung. Von der magischen Heilkraft einer echten Errish sah Skar nichts in den zwei Stunden, in denen er den Mädchen half, die am schlimmsten verletzten Quorrl zu versorgen.

Er verlor kein Wort darüber, aber er begriff, daß seine Befürchtung richtig gewesen war. Von diesen Kindern würde er keine Hilfe zu erwarten haben.

Nach einer halben Stunde stieß Kiina zu ihnen; begleitet von einer bleichen, humpelnden Errish, deren Augen vor Schrecken groß und rund wurden, als sie ihn erkannte. Skar würdigte sie keines Blickes, winkte aber Kiina zu sich und erklärte ihr mit wenigen, knappen Worten, was vorgefallen war. Zu seiner Überraschung hörte Kiina zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen, und gesellte sich dann wortlos zu Anschis Mädchen, um ihnen zu helfen.

Es wurde Mitternacht, bis sie das Schlimmste geschafft hatten und endlich auch Skar an der Reihe kam, seine Wunden versorgen zu lassen. Es war Anschi selbst, die sich seiner gebrochenen Rippe und den zahllosen kleinen und großen Kratzern und Schrammen auf seiner Haut annahm, und obwohl sie sich alle Mühe gab und sich auch wirklich geschickt anstellte, fügte sie ihm erheblich mehr Schmerzen zu, als er es bei einer Errish erwartet hatte. Trotzdem: nachdem sie fertig war, fühlte sich Skar wesentlich besser. Sein Brustkorb war bandagiert worden, so daß ihm das Atmen schwer fiel, aber wenigstens nicht mehr weh tat, und auf seine Hautabschürfungen hatte Anschi eine übelriechende, aber angenehm kühlende Salbe aufgetragen. Eine fast wohltuende Schwäche hatte sich in seinen Gliedern breitgemacht. Er wünschte sich, schlafen zu können. Aber natürlich war daran in dieser Nacht nicht mehr zu denken.

Er bedankte sich bei Anschi, stand auf und ging mit langsamen Schritten zu den Quorrl hinüber. Obwohl jetzt klar war, daß die Quorrl von den jungen Errish nichts mehr zu befürchten hatten, lagerten sie immer noch in einer Art Verteidigungsstellung: einem dicht geschlossenen Kreis, in dessen Mitte sich die Verwundeten befanden und den keine Errish betreten durfte; die Quorrl, deren Wunden versorgt werden mußten, wurden von ihren Kameraden zu den Errish hin - und anschließend wieder zurückgetragen. Nicht einer von Titchs Quorrl hatte seine Waffen aus der Hand gelegt, und ihr improvisierter Lagerplatz befand sich ganz bestimmt nicht durch Zufall in unmittelbarer Nähe des Felsengewirrs, in dem sie während des Kampfes Deckung gefunden hatten. Skar registrierte all dies mit großer Besorgnis. Er konnte die Spannung, die in der Luft lag, beinahe fassen. Normale Menschen und Quorrl, das war schwierig genug. Errish und Quorrl, das war wie Feuer und Wasser. Er hatte das Gefühl, auf einem gewaltigen Pulverfaß zu sitzen, dessen Zündschnur er brennen hören, aber nicht sehen konnte.

Er entdeckte Titch inmitten seiner Männer und wollte zu ihm gehen, aber einer der Quorrl vertrat ihm den Weg. Skar war sicher, daß der Krieger ihn erkannte; schließlich waren sie zwei Wochen zusammen geritten, und auch wenn Skar nicht die Namen und Gesichter aller Quorrl kannte, so bestand doch kein Zweifel, daß diese ihn kennen mußten. Trotzdem gab der Quorrl den Weg erst frei, als Titch eine entsprechende Bewegung machte.

Titch empfing ihn unfreundlich, fast aggressiv. »Was willst du?«

»Mit dir reden«, antwortete Skar.

»Reden? Worüber?« Der Quorrl machte eine zornige Bewegung mit der gesunden Hand.

»Über das, was geschehen ist«, antwortete Skar. Es fiel ihm schwer, ruhig zu bleiben. Titch hatte allen Grund, zornig zu sein, und auf eine schwer zu begründende Art fühlte sich Skar mitschuldig an dem, was geschehen war. Trotzdem ärgerte ihn Titchs herausfordernde Art. »Ob es Konsequenzen hat, und wenn ja, welche.«

»Konsequenzen?« Titch legte den Kopf schräg und starrte Skar aus seinen kalten Schlangenaugen nachdenklich an. »Ja, die hat es. Wir werden jetzt ein wenig schneller in den Norden kommen. Die Pferde müssen neun Reiter weniger tragen. Vielleicht auch zehn oder elf.«

Skar schluckte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter. »Ich war in Elay, Titch«, sagte er überflüssigerweise. »Die Stadt ist zerstört.«

»Wie praktisch«, fauchte Titch. »Das erspart mir die Mühe, es selbst zu tun.«

»All ihre Bewohner sind tot.«

»Alle nicht«, grollte Titch. »Aber ich wollte, es wäre so.«

»Titch, bitte«, sagte Skar. »Dein Selbstmitleid bringt uns nicht weiter.«

»Selbstmitleid?« Der Quorrl lachte böse. »Was für ein praktisches Wort. Wir Quorrl kennen es nicht, aber ich weiß, was es bedeutet. Es ermöglicht euch, alles abzutun, was euch unbequem erscheint, nicht wahr?«

Skar überging auch diese Herausforderung. Er spürte ganz genau, daß Titch ihn reizen wollte, und es gelang ihm auch - Skar kochte innerlich bereits vor Zorn. Aber er hatte sich gut genug in der Gewalt, sich nicht provozieren zu lassen.

»Der Angriff auf euch war ein Irrtum«, sagte er. »Ein Fehler.«

»So, ein Fehler?« unterbrach ihn Titch höhnisch. »Na, dann bin ich ja beruhigt, wenn es nur ein Fehler war.«

»Ja, es war ein Fehler«, antwortete Skar, nicht mehr ganz so ruhig, wie er wollte. »Ein unverzeihlicher Fehler, wenn dir diese Formulierung lieber ist. Aber er ist nun einmal geschehen, und du kannst ihn mir genauso anlasten wie diesen Errish. Oder dir selbst.«

»So?« fragte Titch. »Was habe ich falsch gemacht? Ist es nur der Umstand, daß ich überhaupt geboren worden bin, oder hätte ich -«

»Das reicht«, sagte eine scharfe Stimme hinter Skar. Titch sah auf und preßte wütend die Lippen aufeinander, und Skar fuhr überrascht und zugleich erschrocken zusammen, als er sich umdrehte und Anschi erkannte, die in Kiinas Begleitung herangekommen war. Ihr Blick flammte vor Zorn, als sie abwechselnd Skar und den Quorrl ansah.

»Du bist der Anführer der Quorrl?«

Titch schwieg. Anschi starrte Skar an, begriff, daß sie auch von ihm keine Antwort bekommen würde und kam noch einen Schritt näher. Hinter ihr und Kiina schloß sich der Ring aus gepanzerten schuppigen Leibern wieder, der sich geöffnet hatte, um die beiden jungen Frauen hindurchzulassen, und Skar fragte sich erst jetzt und mit einiger Verspätung, wieso die Quorrl sie anstandslos hatten passieren lassen, nachdem man selbst ihm den Zutritt verwehrt hatte. Plötzlich hatte er Angst. Er wußte nicht mehr, ob der Ausdruck auf den schwer zu deutenden Reptiliengesichtern der Quorrl nur Mißtrauen oder mehr war.

»Ich bin gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen«, fuhr Anschi fort, als Titch auch nach einer Weile keine Anstalten machte, zu reden, sondern sie nur weiter anstarrte. »Ich wollte dich um Verzeihung bitten, Quorrl. Aber du bist ja viel zu sehr damit beschäftigt, dich zu streiten und dir selbst leid zu tun.« Titch starrte sie für die Dauer von drei, vier Atemzügen weiter ausdruckslos an, machte einen schwerfälligen Schritt auf sie zu und streckte die Hand aus. Seine Pranke war größer als Anschis Kopf, und Skar sah, wie die junge Errish innerlich zusammenfuhr, als Titchs goldgepanzerte Faust sich ihrem Gesicht näherte. Aber sie hatte sich erstaunlich gut in der Gewalt und rührte keinen Muskel, und nach einer Weile senkte Titch die Faust wieder und sah zu seinen Kriegern hinüber. Wahrscheinlich bemerkten es weder Anschi noch Kiina, aber Skar kannte den Quorrl mittlerweile zu gut, als daß ihm der lautlose Befehl entgangen wäre, den er seinen Männern gab. Der Wall aus Leibern, der sich hinter Kiina und der jungen Errish gebildet hatte, zog sich ein kleines Stück weit zurück. Skar atmete innerlich auf.

»Wie ist dein Name?« fragte Titch. »Du bist eine Errish? Führst du sie?«

»Welche Frage soll ich zuerst beantworten?« gab Anschi zurück. Skar warf ihr einen raschen, warnenden Blick zu, und Anschi fuhr hastig fort: »Ich bin die Tochter einer Errish. Mein Name ist Anschi, und ich führe diese Patrouille, ja.«

»Du bist... noch sehr jung«, sagte Titch nachdenklich.

»Selbst für einen Menschen.«

Skars Blick wurde fast beschwörend, und Anschi verstand die Warnung, die darin lag. »Wir fragen nicht, wie alt jemand ist«, antwortete sie vorsichtig. »Sondern was er kann.«

»Ihr hättet uns alle getötet, wäre Skar nicht gekommen«, fuhr Titch fast nachdenklich fort. Anschi schwieg.

Skar blickte beunruhigt zu dem gigantischen Quorrl hoch.

Was hatte Titch vor? Er hatte den Quorrl nicht als einen Mann kennengelernt, der Konversation machte - wahrscheinlich wußte Titch nicht einmal, was dieses Wort bedeutete. Wenn er redete, dann nur, wenn es nötig war.

»Hättet ihr es getan?« beharrte Titch, als Anschi nicht antwortete.

»Ja«, sagte die Errish schließlich. »Das hätten wir. Wir hätten es zumindest versucht.«

»Und es wäre euch gelungen«, sagte Titch. Plötzlich lachte er, ein tiefer, grollender Laut, der Anschi abermals erschrocken zusammenfahren ließ. Es gab nur wenige Menschen, die einen Quorrl jemals hatten lachen hören.

»Du imponierst mir, Menschenjunges«, sagte er. »Du bist nicht sehr klug. Was du für Tapferkeit hältst, ist mehr Unbesonnenheit, aber du imponierst mir, denn du bist ehrlich.«

»Dann haben wir... Frieden?« fragte Anschi zögernd.

»Wir werden nicht mehr gegeneinander kämpfen«, antwortete Titch, und nicht nur Skar begriff, daß das nicht genau die Antwort war, die die Errish hatte hören wollen. Aber vielleicht war es mehr, als sie alle hatten erwarten können. Skar spürte die Feindseligkeit, die wie ein übler Hauch in der Luft war, überdeutlich.

Anschi atmete hörbar auf, dann runzelte sie plötzlich die Stirn und deutete auf den blutgetränkten Verband um Titchs Hand. »Deine Hand«, sagte sie. »Sie ist verletzt. Laß mich danach sehen.« Titch schüttelte den Kopf, und Skar sagte rasch: »Das ist keine Wunde, die du heilen könntest, Kind.«

»Aber ich -«

»Es ist auch keine Wunde, die eine echte Errish heilen könnte«, fuhr Skar ruhig fort. »Kümmere dich um die anderen Quorrl. Sie brauchen deine Hilfe nötiger.«

Anschi blickte verwirrt zwischen ihm und Titch hin und her, maß den blutigen Fetzen um Titchs Hand noch einmal mit einem langen, irritierten Blick und machte dann eine Bewegung, die eine Mischung zwischen Kopfschütteln, Nicken und Achselzucken zu sein schien. »Deshalb bin ich hier«, sagte sie, wieder an Titch gewandt. »Viele deiner Krieger sind schwer verwundet. Zu schwer, als daß wir ihnen hier helfen könnten. Sie werden sterben.«

»Dazu sind Krieger da«, sagte Titch gelassen.

Anschi starrte ihn an, zog es aber vor, so zu tun, als hätte sie die Bemerkung überhört. Sie wandte sich an Skar. »Unser Lager ist nicht weit von hier. Drei Stunden, vielleicht vier, wenn der Regen anhält. Dort können wir den Quorrl helfen.«

Skar blickte fragend zu Titch auf. Der Quorrl schüttelte wortlos den Kopf.

»Aber sie werden sterben!« protestierte Anschi.

»Wenn es der Wille der Götter ist, so sterben sie«, sagte Titch ruhig.

Das Gesicht der jungen Frau verdunkelte sich vor Zorn, aber Titch hatte in einem Ton gesprochen, der keinen Widerspruch zuließ. Und auch Anschi schien einzusehen, daß es Wahnsinn wäre, die Quorrl mitzunehmen. Ganz davon abgesehen, daß die meisten der Verwundeten den Ritt wohl kaum überlebt hätten, war der Gedanke einfach unvorstellbar, eine Armee von Quorrl in ein Lager der Errish zu führen. Sie wandte sich an Skar und schlug eine andere Taktik ein.

»Kiina hat mir erzählt, warum ihr hier seid«, sagte sie. »Vielleicht können wir euch helfen.«

»Und wie?«

»Yul!« antwortete Anschi und machte eine erklärende Handbewegung. »Unsere Führerin. Sie ist...« Sie biß sich auf die Unterlippe und verbesserte sich nach einer kurzen Pause: »Sie war eine Vertraute der Margoi. Sie wird viele eurer Fragen beantworten können.«

Skar sah fragend zu Titch auf, und der Quorrl nickte. »Geh nur. Wir werden hier auf euch warten.«

»Zwei meiner Schwestern werden bei euch bleiben«, sagte Anschi. »Wir sind nicht die einzigen, die überlebt haben. Und es gibt wilde Tiere.«

»Das ist nicht nötig«, antwortete Titch, aber diesmal blieb die Errish stur.

»Vielleicht nicht, vielleicht doch«, sagte sie. »Oder wißt ihr, wie ihr mit einem Drachen fertig werden könnt, Quorrl? Oder einer Herde wilder Tyrr?« Sie deutete auf den Kadaver eines der Reptilienwesen, der zwischen den Felsen lag. »Sie haben das Tal der Drachen verlassen, nachdem der magische Bann Elays erloschen ist, und durchstreifen die Wüste.«

»Anschi hat recht, Titch«, mischte sich Kiina ein. »Ihr müßt lernen, einander zu vertrauen, und vielleicht ist das der erste Schritt.« Es waren die ersten Worte, die Skar sie sprechen hörte, seit sie zurückgekehrt war, und ihm fiel auf, wie matt ihre Stimme klang. Und nicht nur das: sie war bleich, und auf ihren Wangen lagen dunkle Schatten, die vor zwei Stunden noch nicht dort gewesen waren. Vielleicht wirkte sich der Schock dessen, was sie erlebt hatte, erst jetzt richtig aus. Skar fragte sich, wann er ihn zu spüren bekommen würde.

Aber der Quorrl schüttelte nur den Kopf. »Nein«, beharrte er. »Geht. Geht alle! Wir werden die Toten begraben und warten, bis die, die die Götter noch zu sich rufen, gegangen sind. Dann ziehen wir weiter.«

»Du hast uns dein Wort gegeben, Quorrl!« sagte Kiina. »Du hast -« Sie unterbrach sich, hustete, preßte die Hand gegen die Brust und verzog kurz und schmerzhaft die Lippen. Anschi sah sie besorgt an, aber Kiina schüttelte nur ärgerlich den Kopf, als sie auf sie zutreten wollte, und fuhr fast keuchend fort: »Du hast versprochen, Skar zu begleiten.«

»Du mußt mich nicht an mein Wort erinnern«, knurrte Titch. »Wirst du es halten?« Kiina hustete wieder.

Titch überlegte einen Moment. »Vielleicht«, sagte er. »Ich muß darüber nachdenken.« Er war verstört; offensichtlich mehr überrascht als zornig über die Tatsache, zum zweiten Mal an ein und demselben Tag von einem Kind besiegt worden zu sein, wenn auch diesmal nur mit Worten.

»Dann bleib wenigstens, bis wir mit der Errish gesprochen haben«, sagte Skar. »Vielleicht hat sie wertvolle Informationen.«

»Für dich«, knurrte Titch gereizt.

»Für uns«, verbesserte ihn Skar betont. »Du hattest recht mit deiner Vermutung, Titch. Die Errish, die das Wasser des Lebens brachte, kam aus eurem Land.« Er fühlte sich nicht wohl dabei, den Quorrl zu belügen - was die sterbende Margoi ihnen erzählt hatte, das war nicht mehr, als sie ohnehin schon gewußt hatten. Aber er hatte Angst, daß Titch in seiner Erregung etwas tat, das nicht wiedergutzumachen war. Er hatte keine Chance, die Grenze der Quorrl-Länder auch nur lebend zu überschreiten, ohne Titchs Hilfe.

Titch überlegte eine Weile. »Bis die Sonne aufgeht«, sagte er schließlich. »Danach ziehen wir weiter.«

»Aber das reicht nicht!«

»Vielleicht doch«, mischte sich Anschi ein. »Wenn uns die Quorrl nicht begleiten, dann gibt es vielleicht einen schnelleren Weg.« Sie legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu den unsichtbaren Wolken im Himmel hinauf, aus denen noch immer eisiger Regen auf die Küste herabfiel. Dann sah sie wieder Skar an. »Bist du schon einmal auf einer Daktyle geritten?«

Skar nickte, und Anschi wandte sich mit einem fragenden Blick an Kiina. Sie nickte ebenfalls.

»Dann laßt uns keine Zeit mehr verlieren.« Anschi machte eine Handbewegung, um ihre Worte zu unterstreichen, und drehte sich herum. Aber Skar folgte ihr nicht sofort, sondern wartete, bis Kiina und sie außer Hörweite waren. Dann wandte er sich noch einmal an Titch.

»Du wirst auf uns warten?«

»Nein«, antwortete Titch sarkastisch. »Ich lasse mir und meinen Leuten Flügel wachsen und flattere davon.«

»Ich meine es ernst, Titch«, sagte Skar. »Ich...« Er stockte. Es fiel ihm schwer, weiter zu sprechen. Die bloße Vorstellung, einem Vierhundert-Pfund-Koloß gegenüberzustehen, der das Aussehen - und meistens auch das Benehmen - eines Raubtieres hatte, und ihn um etwas zu bitten, dagegen sträubte sich etwas in Skar mit aller Macht. »Ich brauche dich«, sagte er schließlich.

Seine Worte überraschten den Quorrl wirklich. Wahrscheinlich kam es selten vor, daß ihn jemand um etwas bat. Er antwortete nicht, aber nach ein paar Sekunden deutete er ein Nicken an und drehte sich abrupt herum, und auch Skar verließ die Quorrl und eilte hinter Kiina und Anschi her.

Die Errish hatte das kleine Tal durchquert und war an der Steilküste stehengeblieben. Skar sah, wie sie beide Arme hob und winkte, und wenige Augenblicke später löste sich ein gewaltiger, finsterer Schatten mit ausgefransten Rändern aus der Wolkendecke und setzte ungeschickt flatternd dicht vor Anschi zur Landung an. Der Anblick ärgerte Skar schon wieder, denn er bewies, daß die Errish ihre Kampfdrachen nicht ganz so weit zurückgezogen hatte, wie sie versprochen hatte. Besorgt sah er zu Titch zurück, aber der Quorrl blickte nicht in seine Richtung. Er hoffte, daß er nicht die gleichen Schlüsse aus dem so plötzlichen Auftauchen der Daktyle zog wie er.

Kiina war stehengeblieben, um auf ihn zu warten. »Glaubst du, daß er Wort hält?«

Skar zuckte mit den Achseln und sah zu, wie eine zweite und dritte Daktyle in rascher Folge aus den Wolken auftauchten und mit scheinbar unbeholfenen Bewegungen dicht vor Anschi zur Landung ansetzte. »Sie haben uns mehr als tausend Meilen weit begleitet«, sagte er. »Warum sollte sich daran plötzlich etwas ändern?«

»Titch hat uns begleitet, weil er glaubte, bei den Errish Hilfe zu finden«, sagte Kiina ernst. »Statt dessen haben sie ihn angegriffen.«

»Es war ein schrecklicher Irrtum«, sagte Skar, obwohl er ganz und gar nicht davon überzeugt war, daß Titch dies ebenso sehen würde. Er vertraute dem Quorrl; mehr, als er den meisten Menschen vertraute, die er in den letzten Monaten kennengelernt hatte. Aber er mußte aufpassen, daß er nicht anfing, ihn auch als Menschen zu betrachten. Titch war es nicht. Er war ein Quorrl, ein Wesen, das unter völlig anderen Bedingungen geboren und aufgewachsen war, und dessen Wertvorstellungen sich nicht mit denen eines Menschen deckten. Es war unmöglich, seine Reaktionen vorauszusehen. Er antwortete nicht, sondern ging weiter, als die letzte Daktyle den Boden erreicht hatte und Anschi ihnen winkte. Auf dem Weg zu ihr begann Kiina erneut zu husten, und diesmal war es so schlimm, daß sie stehenblieb und sich qualvoll krümmte. Skar griff nach ihr, aber Kiina schüttelte seine Hand trotzig ab und stützte sich schwer auf einen Felsen.

»Was hast du?« fragte Skar besorgt.

»Nichts«, antwortete Kiina, immer noch hustend. Ihr Atem ging schnell; trotzdem schien sie kaum Luft zu bekommen.

»Das hört sich nicht nach nichts an«, sagte Skar.

»Dieser verdammte Regen«, antwortete Kiina. »Da muß man ja krank werden.« Sie bekam ihre revoltierenden Lungen endlich wieder unter Kontrolle, atmete ein paarmal gezwungen tief ein und aus und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der sich in das Regenwasser gemischt hatte. »Es ist nichts«, versicherte sie. »Yul wird mir ein Mittel geben, und morgen früh ist alles wieder vergessen. Keine Sorge.«

Wahrscheinlich hatte sie sogar recht, dachte Skar. Es war sogar ganz im Gegenteil erstaunlich, daß sie bisher nicht krank geworden waren, alle beide. Zwei Tage ununterbrochener Regen, Kälte und unruhiger Schlaf in nassen Kleidern ruinierten selbst die stärkste Kondition.

Trotzdem beobachtete er Kiina besorgt, während sie auf den Rücken der Daktyle kletterte, die Anschi ihr zuwies. Ihre Bewegungen waren ungelenk und verdeutlichten, wie schwach und erschöpft Kiina war. Als sie nach den Zügeln des großen Flugreptils griff, zitterten ihre Finger.

Auch Anschi war Kiinas Zustand nicht entgangen. Wortlos trat sie neben sie, löste ein kompliziert aussehendes Geschirr aus dünnen Lederriemen vom Sattel der Daktyle und begann sie damit festzuschnallen. Kiinas schwachen Protest ignorierte sie einfach. Skar schüttelte den Kopf, als die Errish auch ihm beim Aufsteigen behilflich sein wollte. Nicht besonders geschickt, dafür aber sehr schnell, kletterte er in den bizarr geformten Sattel, der zwischen den zusammengefalteten Fledermausschwingen der Daktyle wie ein Geschwür aussah, und nahm die Zügel in die Hand. Die Daktyle bewegte unruhig den Kopf. Eines ihrer daumennagelgroßen, dunkelroten Augen starrte Skar mit einer Mischung aus Bosheit und Mißtrauen an. Skar schauderte. Es war nicht das erste Mal, daß er auf dem Rücken einer dieser fliegenden Bestien saß, aber seine Furcht war so stark wie beim allerersten Mal. Die Daktylen waren schnell und stark und zäh, und in den Händen einer Errish konnten sie zu entsetzlichen Waffen werden, aber dummerweise verfügte Skar weder über die Fähigkeit, seinen Geist telepathisch mit dem des Drachenvogels zu verschmelzen und ihn so zu beherrschen, noch war er der Meinung, daß eine Fortbewegung fünfhundert Fuß über der Erde etwas ganz Selbstverständliches sei. Er fragte sich, ob es stimme, was man sich über die Daktylen erzählte: daß sie die intelligentesten unter den Drachen waren. Und die heimtückischsten.

»Keine Sorge, Satai«, sagte Anschi, die seine Gefühle auf seinem Gesicht abgelesen haben mußte. »Ich fliege mit euch. Ich werde sie steuern. Halt dich einfach nur fest.«

»Alle drei?« fragte Skar zweifelnd.

»Es wird schon gehen«, antwortete Anschi leichthin. »Der Weg ist nicht sehr weit. Keine halbe Stunde, wenn der Sturm nicht zunimmt.« Sie lächelte aufmunternd, ging zu ihrem eigenen Tier und schwang sich mit einer Bewegung in den Sattel, die Skar vor Neid hätte erblassen lassen, wäre er nicht viel zu erschöpft gewesen, um Kraft für solch alberne Empfindungen zu haben.

Anschi hob die Hand, und ein Zittern lief durch den knochigen Echsenkörper zwischen seinen Schenkeln. Die Daktyle machte einen Schritt, noch einen - und startete auf die einzige Art, auf die die großen Drachenvögel sich vom Boden lösen konnten: sie stürzte fast senkrecht an der Steilküste hinab, breitete auf halber Höhe die gewaltigen Schwingen aus und verwandelte ihren Fall in einen immer flacher werdenden Gleitflug, der Skars Magen bis in seinen Hals hinaufkatapultierte und sie in unangenehme Nähe der Wasseroberfläche brachte. Erst fünf oder sechs Meter über dem Meer gelang es dem Drachenvogel, in einen waagerechten Flug überzugehen, dann schlugen seine Schwingen mit einem gewaltigen, ledernen Flappen und schaufelten Tier und Reiter wieder in die Höhe. Skar klammerte sich mit beinahe verzweifelter Kraft an die Zügel. Das Meer sackte langsam wieder unter ihm in die Tiefe, und links von seinem eigenen Reittier tauchte der bizarre Schatten einer weiteren Daktyle aus der Nacht auf. Er erkannte Anschi und hörte, daß sie ihm etwas zurief, aber er verstand ihre Worte nicht. Und es gelang ihm auch nicht, das Schwindelgfühl vollends zurückzudrängen, das der rasende Sturzflug in seinem Kopf ausgelöst hatte.

Auch nicht, als die beiden Daktylen, zu denen sich wenige Augenblicke später ein drittes Tier gesellte, weiter an Höhe gewannen und schließlich in ihren gewohnten, fast lautlosen Gleitflug übergingen, der nur manchmal von träge erscheinenden Flügelschlägen unterbrochen wurde. Im Gegenteil - es wurde immer schlimmer. Elay glitt als formloser finsterer Schatten in der Nacht unter ihnen hinweg, und schon nach Minuten wurde der Boden vollends unsichtbar, so daß er das Gefühl hatte, durch einen endlosen finsteren Schacht zu gleiten, in dem es kein oben und kein unten mehr gab, sondern nur Kälte und schneidenden Wind und eisigen Regen, der wie mit Messern in sein Gesicht schnitt. Und doch war dieser Tunnel durch die Nacht nicht leer. Etwas war da; etwas wie eine lautlose saugende Macht, die alle Kraft aus seinem Körper fließen ließ. Skars Magen revoltierte. Ihm wurde übel, und hinter seiner Stirn drehte sich alles. Kraftlos sank er nach vorne, stützte sich mit der linken Hand auf dem Sattel ab und umklammerte mit der anderen die Zügel, nicht, um das Tier zu lenken, sondern um sich daran festzuklammern.

Skar fühlte eine Erleichterung wie niemals zuvor, als endlich die Lichter des Lagerplatzes unter ihnen in der Nacht erschienen. Anschi hatte gesagt, daß der Flug keine halbe Stunde dauerte, und er glaubte ihr. Trotzdem hatte er das Gefühl, seit einer Ewigkeit auf dem Rücken des bockenden Drachenvogels zu hocken. Jeder einzelne Muskel in seinem Körper war verkrampft und tat weh, und die Übelkeit kroch allmählich aus seinem Magen in die Kehle empor und wurde zu Brechreiz, den er kaum mehr beherrschen konnte. Seine verletzte Rippe meldete sich mit einem hämmernden Klopfen zurück, und als sich die Daktyle, von Anschis Willenskraft gelenkt, in eine weite Linkskurve legte und zur Landung ansetzte, wäre er um ein Haar aus dem Sattel gestürzt.

Die Flugechsen kreisten einmal über dem Lager, um ihre Geschwindigkeit herabzusetzen, so daß Skar ausreichend Gelegenheit bekam, Anschis Hauptquartier aus der Luft heraus zu betrachten. Viel gab es allerdings nicht zu sehen, trotz der zahllosen, sorgsam gegen den Regen abgeschirmten Feuer, die das von Felsen eingefaßte Rechteck erhellten. Das Lager befand sich an der Küste, mehrere hundert Fuß über dem Meer, aber das hatte Skar erwartet, schon der Daktylen wegen. Es bestand nur aus ein paar Hütten, lieblos und offensichtlich in großer Hast aus Baumstämmen und Laub zusammengezimmert, ein Pferch voller Schatten, die Pferde sein mochten, und ein Palisadenzaun, hinter dem sich mehrere Dutzend Tyrr drängten. Besonders groß konnte Anschis Kinder-Armee nicht sein. Aus irgendeinem Grund beruhigte ihn dieser Gedanke, obwohl es doch eigentlich umgekehrt sein sollte.

Dann setzte die Daktyle endgültig zur Landung an, und Skar brauchte all seine Kraft und Konzentration, um sich im Sattel zu halten. Der Drachenvogel breitete die Schwingen aus, machte ein paar ungeschickte, hoppelnde Schritte und kam ungefähr so elegant wie ein flügellahmer Albatros zum Stehen. Die Erschütterung ließ Skar im Sattel nach vorne stürzen. Instinktiv klammerte er sich fest, aber seine Hände hatten plötzlich keine Kraft mehr. Er kippte zur Seite, krallte sich in die lederne Schlinge der Daktyle und kam ungeschickt auf dem Boden auf. Ihm war noch immer schwindelig. Und die Übelkeit wurde immer schlimmer. Was war nur mit ihm los?

Als er sich aufrichtete und einen Schritt machte, taumelte er. Das Lager begann sich vor ihm zu drehen, kreiste, kippte zur Seite und verschwamm. Durch eine dichte Wand aus schwarzem treibendem Nebel sah er, wie Kiinas Daktyle wenige Schritte neben ihm den Boden berührte, und er registrierte auch noch die sonderbar falsche, schlaffe Haltung, in der das Mädchen im Sattel lag, aber seine Gedanken waren nicht mehr klar genug, dieser Beobachtung die Bedeutung zuzumessen, die sie hatten. Er brauchte all seine Kraft, um noch auf den Beinen zu bleiben. Jemand sagte etwas. Skar verstand die Worte nicht, aber er erkannte zumindest die Stimme. Mühsam, taumelnd, drehte er sich herum und blickte in Anschis Gesicht. Sie wiederholte ihre Worte, aber er verstand sie auch jetzt nicht. Ihm wurde übel. Entsetzlich übel. Dieser verdammte Vogel! dachte er. Wenn er das nächste Mal eine Daktyle sah, dann würde er sie allerhöchstens braten, aber ganz bestimmt nicht mehr auf ihr reiten!

Er begriff noch, daß etwas an diesem Gedanken vollkommen falsch war, aber nicht mehr was, und ihm blieb keine Zeit mehr, sich über den plötzlich erschrockenen Ausdruck auf Anschis Zügen zu wundern.

Skar verlor das Bewußtsein und brach zusammen.

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