Kapitel 41

Fragment aus den

Erinnerungen des Ludlow Fitch

Der Weg durch den felsigen Tunnel wurde immer enger. Bald konnte Joe nicht mehr aufrecht stehen und ich nicht mehr neben ihm gehen. Je tiefer wir kamen, desto drückender und stickiger wurde es, so als hätte es hier seit Jahren keine Luftbewegung gegeben. Das Licht der Fackel schrumpfte zu einem bernsteingelben Schimmer, und ich hatte Angst, es könnte ganz verlöschen. Ich spürte und hörte Lebewesen an mir vorbeifliegen, Fledermäuse vielleicht, aber ich sah sie nie, sondern fühlte nur etwas über meine Wangen streichen oder durch mein Haar huschen.

»Keine Angst, Ludlow!«, rief Joe über die Schulter. »Dir wird nichts passieren.«

Jetzt ging es bergab. Erst nur wenig, aber bald wurde der Gang noch abschüssiger, und ich musste mich an den Seitenwänden abstützen, um nicht hinzufallen. Ständig stieg der Luftdruck, und ein dumpfer Schmerz war in meinen Ohren. Als ich schon glaubte, es nicht länger zu ertragen, wurde der Boden eben, der Tunnel weitete sich, und die Decke wurde wieder so hoch, dass wir uns aufrichten konnten. Vor mir sah ich Joe, eingerahmt von einem Torbogen, in dessen gelblichem Lichtschein sich die Silhouette seiner schlanken Gestalt abzeichnete. Kaum war ich bei ihm, legte er mir die Hand über die Augen und führte mich so die letzten Meter weiter. Ich spürte, dass wir den Tunnel verließen, weil die Luft sofort frischer und kühler wurde. Sie war erfüllt von hohen Heul-und Klagelauten und tiefem Dröhnen und Grollen, das immer wieder anschwoll und verhallte. Mir pochte das Herz in den Ohren.

»Lasst mich sehen«, flüsterte ich, »lasst mich doch sehen.«

Als Joe die Hände von meinen Augen nahm, glaubte ich mich in einem Traum. Es war, als sei ich aus der Realität in eine Welt eingetreten, die nur in der Vorstellung existierte – denn wie konnte das sein? Wir standen wie winzige Insekten in einer weiten Halle mit einem gewölbten Dach, vielleicht dreißig Meter über uns. Riesige geriffelte Säulen, dicker als uralte Baumstämme, ragten in die Höhe und stützten die Kupferdecke. Licht kam aus flachen Schalen mit brennendem Öl, die auf schlanken weißen, silbern schillernden Marmorpfeilern standen. Die Wände waren dunkel, nicht aus Stein, sondern aus einem Material, das ich nicht bestimmen konnte. Der Boden, ein Meisterstück an handwerklichem Geschick, bestand aus lauter farbigen, in die Erde eingelassenen Steinchen.

Ich schaute und schaute. Ich glaube, ich brachte den Mund nicht zu vor Staunen. Während ich den Blick durch die unermessliche Halle wandern ließ, hatte ich das Gefühl, als würde ich zum ersten Mal richtig sehen. Ich konnte gar nicht alles fassen. Meine Augen wanderten von einer Seite zur anderen, und mit jedem Blinzeln sah ich etwas Neues. In die Säulen, auf den ersten Blick glatt, waren in Wirklichkeit komplizierte Muster gemeißelt. Zierliche Ranken wanden sich spiralförmig daran empor, und zwischen den Blättern blickten Augenpaare hindurch. Sie sahen so echt aus, dass ich fast erwartete, sie würden blinzeln. Der Fußboden bestand bei näherem Hinsehen aus zahllosen Bildern, jedes eine eigenständige Szene von seltener Schönheit. Dazwischen erkannte ich Ungeheuer und Engel, Feen und Kobolde, geschuppte Kreaturen des Meeres und der Luft, manche scheußlich, manche verführerisch, alle atemberaubend.

Mein Blick fiel auf den Bodenabschnitt zu meinen Füßen, direkt am Eingang der prunkvollen Halle. Ich stand am Rand eines hellen Mosaiks, das drei Gestalten darstellte: Eine saß an einem Spinnrad, eine zweite hielt ein Metermaß an den gesponnenen Faden und die dritte stand mit einer glänzenden Schere über ihr. Ihre Gesichter wirkten verhärmt und sie schienen zu streiten.

»Wer sind diese Hexen?«, fragte ich, denn es waren wirklich hässliche Gestalten. Meine Worte kamen als Echo von den Wänden zurück: »…exen …exen …exen …«

»Es sind die drei Parzen«, sagte Joe. »Die eine spinnt den Lebensfaden, die andere misst ihn ab und die dritte schneidet ihn mit ihrer Schere durch. Sie streiten sich immerzu, welche von ihnen die wichtigste sei.«

»Die mit der Schere?«, wagte ich zu sagen.

Joe lächelte. »Gewiss gilt sie als die Bedrohlichste, aber der Streit der Schwestern ist nicht zu schlichten, denn keine kann ohne die andere existieren.«

»Die drei Schicksalsschwestern«, murmelte ich. »Warum die hier wohl abgebildet sind?«

Ich ging ein Stück weiter in die Halle hinein und erkannte staunend, dass die schwarzen Wände gar keine Wände waren, sondern unbeschriftete Rücken von Büchern, die dicht nebeneinander auf Regalen bis unter die Decke standen.

»Nimm eins«, sagte Joe.

Also lief ich hin und nahm ein Buch aus einem der Regale – es ging nur mühsam, weil es so fest zwischen den danebenstehenden Büchern eingeklemmt war. Kaum hatte ich es in der Hand, wusste ich, was es war. Auf dem Einband standen die gleichen goldenen Worte:

Verba Volant Scripta Manent

»Großer Gott«, staunte ich. »Ist das etwa ein Buch der Geheimnisse?«

Joe nickte. Ich öffnete es vorsichtig, denn es war uralt und seine Seiten zerbröselten schon fast zu Staub. Ich versuchte, die unbekannte Schrift zu entziffern. Jede Seite war von oben bis unten beschrieben, jede berichtete unersetzliche Geschichten von längst gestorbenen Menschen. Ich schloss das Buch und trat einen Schritt zurück. Joe beobachtete mich gespannt. Konnte es sein, dass …?

»Sind das alles Bücher der Geheimnisse?«

»Ja. Jedes einzelne. Aus jedem Winkel der Welt.«

Es mussten Tausende sein. Und in jedem Buch vielleicht fünfzig, hundert Geheimnisse oder mehr. Ich konnte nicht annähernd erfassen, was das bedeutete. Es dauerte eine Weile, bis ich meine Sprache wiederfand. »Wer hat sie hierhergebracht?«

»Ich«, sagte Joe. »Und andere natürlich. Du siehst hier die Geständnisse aus Jahrhunderten, Ludlow. Mein Lebenswerk und das Werk jedes anderen Geheimnis-Pfandleihers, den es je gab.«

»Aber ich dachte … Ihr meint, Ihr seid nicht der einzige?«

Joe lächelte. »Ich hoffe, du bist nicht enttäuscht«, sagte er. »Aber es hat schon viele gegeben, und es wird noch viele geben. Zurzeit habe ich die Ehre. Freilich kann ich nicht ewig weitermachen. Ich bin ein Mensch, egal was du von mir denken magst. Auch ich werde eines Tages wieder zu Staub.«

Plötzlich wurde ich nervös. Meine Stimme zitterte, meine Knie wurden weich, aber ich musste einfach fragen: »Hierher seid Ihr damals gegangen, oder? Als Ihr für ein paar Tage aus Pagus Parvus fort wart?«

Joe nickte. »Das ist etwas, das ich immer wieder tun muss. Denn ich bin zum Teil für diesen Ort verantwortlich. In gewisser Hinsicht ist dieser Saal mein einziges Zuhause.«

»Und warum habt Ihr mich hierhergebracht?«

»Weil es auch dein Zuhause werden könnte. Du wirst bald eine Entscheidung treffen müssen, und falls sie so ausfällt, wie ich es mir denke, musst du das alles wissen. Komm mit, ich möchte dir jemanden vorstellen.«

Während ich ihm folgte, drehte ich ständig den Kopf nach links und nach rechts, zur Decke und zum Boden, um mehr zu sehen, um alles in mich aufzunehmen und im Gedächtnis zu bewahren. Zwischen den Säulen hindurch gingen wir zum anderen Ende der Halle, wo ein großer, dunkler Schreibtisch mit wuchtigen, kunstvoll geschnitzten Beinen stand. Verschieden hohe Stapel Bücher türmten sich darauf. Als wir näher kamen, hörte ich das kratzende Geräusch eines Stuhles, der zurückgeschoben wird. Ein Mann, der im Sitzen nicht zu sehen war, erhob sich und kam mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Er trug einen langen Samtumhang, dessen Farbe sich mit jeder Bewegung änderte. Das Gesicht des Mannes war unter einer Kapuze verborgen, doch kaum hatte er sie zurückgeschoben, blickte ich in ein Paar Augen, das ich nie wiederzusehen geglaubt hatte.

»Mr Jellico?«, brachte ich gerade noch heraus, da hatte er mich schon so fest in seine Arme geschlossen, dass ich Angst bekam, er würde mir die Knochen brechen.

Als er mich endlich losließ, klopfte er mir auf den Rücken und schüttelte mir wieder und wieder die Hand. »Was für eine Freude, dich wiederzusehen, Ludlow!« Eine Träne glänzte in seinem Auge. »Ich wusste ja gar nicht, was ich denken sollte. Ich war für ein paar Tage verreist, und dann, nachdem ich zurück war, bist du nie mehr zu Besuch gekommen. Da habe ich natürlich das Schlimmste befürchtet: dass deine Eltern dir etwas Schreckliches angetan haben könnten. Aber dem Himmel sei Dank, meine Sorgen waren unbegründet. Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn dir etwas zugestoßen wäre. Du kannst dir nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin, dass letztendlich alles so gekommen ist. Ganz sicher auch dank meines guten Freundes hier, dank Joe Zabbidou.«

Entgeistert schaute ich von einem zum anderen.

»Ihr kennt Euch!«, rief ich. »Joe, warum habt Ihr mir das nicht gesagt?« Ich konnte gar nicht aufhören, ungläubig meinen Kopf zu schütteln. »Aber ich dachte, es gibt immer nur einen Geheimnis-Pfandleiher?«

Mr Jellico lachte. »Ich bin ja auch kein Geheimnis-Pfandleiher, nein, nicht so etwas Außergewöhnliches. Ich kümmere mich gewissermaßen um diesen Ort. Man nennt mich Kustos, Verwalter, und das hier ist mein Reich: Atrium Arcanorum, der Saal der Geheimnisse.«

»Und Euer Laden in der Stadt?«

»Hmm, tja«, sagte er nachdenklich und strich über sein rasiertes Kinn. Seine Fingernägel waren ausnahmsweise sauber und geschnitten, wie ich sah. Sogar seine Haut sah frisch und gesund aus. »An zwei Orten gleichzeitig sein, das ist nicht einfach. Es tut mir leid, dass ich nicht immer für dich da sein konnte, aber wie du siehst, habe ich noch andere Verpflichtungen.«

Während ich damit zu tun hatte, eine neue Enthüllung nach der anderen zu verarbeiten, traten Joe und Mr Jellico zur Seite und schlenderten, ins Gespräch vertieft, den Saal hinunter. Ich blieb neben dem Tisch stehen. Vor lauter Denken und Schauen war ich wie benommen, meine Gedanken wirbelten durcheinander und ich versuchte krampfhaft zu verstehen. Tausend »Was-wenn-Fragen« gingen mir durch den Kopf. Was, wenn ich nie nach Pagus Parvus gekommen wäre? Was, wenn ich eine andere Kutsche als die von Jeremiah Ratchet genommen hätte? Was, wenn Ma und Pa …

Schluss!, rief ich mich selbst zur Ordnung. Schluss damit. Sonst würde ich mich ja ewig im Kreis drehen.

Ich kam zu der Überzeugung, dass alles genau so hatte kommen sollen, wie es gekommen war. Es war nicht Glück, es sollte so sein.

Weiter vorn im Saal sah ich Mr Jellico, wie er von Joe das Schwarze Buch der Geheimnisse entgegennahm – dieses Buch, in das ich die Geständnisse der Leute aus Pagus Parvus geschrieben hatte – und es in ein Regal schob. Als ich noch einmal hinsah, hätte ich nicht mehr sagen können, wo es stand. Joe winkte mich zu sich.

»Nun, was meinst du?«, fragte er.

»Unglaublich«, flüsterte ich. »So was habe ich noch nie gesehen. Es … es macht mir fast Angst.«

»Das habe ich auch gedacht, als ich zum ersten Mal hierherkam«, sagte Mr Jellico wehmütig. »Aber das ist lange, lange her.«

»Lembart hält hier alles wunderbar in Ordnung«, sagte Joe.

»Ich tu mein Bestes«, sagte Mr Jellico bescheiden. Dann ging er und ließ uns allein.

Joe wandte sich mir zu, und er sah jetzt sehr ernst aus. »Ich möchte dir etwas geben, Ludlow«, sagte er. »Das heißt, falls du es haben willst.«

Er fasste unter seinen Umhang und reichte mir ein schwarzes Buch, ledergebunden und mit einem roten Seidenband zwischen den Seiten. Es war noch unbeschrieben, doch in der rechten unteren Ecke auf dem Einband sah ich die goldenen Buchstaben:

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