Kapitel 20
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
War Joe von anhaltendem Interesse für die Dorfleute, so war ich von ebenso anhaltendem Interesse für die Jüngeren, nämlich für Polly und die Brüder Sourdough. Ich hatte nie Freunde gehabt, denn dort, wo ich herkomme, waren die Menschen einzig dem Geld verpflichtet. Doch die Sourdough-Jungen waren nicht so. Sie waren unterhaltsam und brachten mich zum Lachen. Ich mochte sie. Bis auf den ältesten vielleicht. Bei ihm hatte ich immer das Gefühl, als könne ich ihm nicht ganz trauen. Man wusste nie so recht, was er dachte.
Im Gegensatz zu den Brüdern war Polly weniger an Saluki interessiert, vielmehr an Geschichten aus meiner Vergangenheit. »Erzähl mir von der Stadt«, drängte sie immer wieder. »Ich will alles wissen.«
Da erzählte ich. Ich erzählte ihr von den düsteren Straßen, die so dicht von Häusern gesäumt waren, dass die Sonne nie bis zum Boden drang; von den ramponierten Bürgersteigen, auf denen halb verfaulte Nahrungsreste herumlagen, tote Hunde und verwesende Ratten; von den stinkenden Pfützen und den Fliegenschwärmen, die in Wolken darüber hinsummten. Ich erzählte ihr von den Menschen, die im Rinnstein hockten und um Geld bettelten, damit sie in eine der Schenken gehen konnten, und von anderen, die betrunken am Straßenrand lagen, weil sie aus einer Schenke hinausbefördert worden waren; und ich erzählte ihr von der unerträglichen Kälte im Winter, wenn Menschen und Tiere an Ort und Stelle erfroren.
Durch all dieses Elend strömt der Fluss Foedus, dessen Wasser langsam wie eine dicke Suppe dahintreibt. Aber bei Gott, er macht seinem Namen alle Ehre. Sein abscheulicher Gestank hängt wie ein Leichentuch über der Stadt. Nie kann man ihm trauen. Ich habe gesehen, wie er versucht, die Schiffe von seiner Oberfläche abzuschütteln: Er lässt sie schwanken wie wild, sodass sich ihr empörtes Knarren und Ächzen mit den angstvollen Rufen der Schiffer und Passagiere mischt, die auf den kleinen Fähren den breiten Strom überqueren. Alle fürchten sein trübes Wasser. Man weiß nur von wenigen, die ein Untertauchen in dieser Giftbrühe überlebt haben. Hat der Foedus erst jemanden verschlungen, gibt er ihn so schnell nicht heraus. Er reißt ihn in die Tiefe, saugt ihm das Leben aus, und erst Tage später spuckt er sein Opfer ans Ufer – vergiftet von den tödlichen Gasen.
Der Foedus teilt die Stadt in zwei Hälften, und er trennt auch die Menschen. Am Nordufer leben die Reichen, am Südufer die Armen. Es gibt nur eine einzige Brücke über den Fluss. Vielleicht hatte sie früher mal einen Namen, doch jetzt wird sie einfach nur »die Brücke« genannt. Zu beiden Seiten ist sie gesäumt von Schenken, Wirtshäusern und Herbergen der übelsten Sorte, und in diesen dunklen, rauchigen Lasterhöhlen sind alle Menschen gleich, ob sie vom Nordufer oder vom Südufer kommen: Sie prügeln sich, sie spielen, sie trinken, sie bringen sich gegenseitig um. Ich war selber schon im Flinken Finger, das ist die Schenke, in die Jeremiah Ratchet und Ma und Pa gern gehen.
In einer Stadt, deren Lebensnerv das Verbrechen ist, gibt es auch Strafen, um es einzudämmen. Jede Sache hat auch ihr Gutes, und wenn ich das jetzt auch nicht gern sage: Damals habe ich von den Missetaten anderer gut gelebt, vor allem mittwochs, wenn am Galgeneck Verbrecher gehenkt wurden.
Eine Hinrichtung war wie ein Feiertag. Die Menge freute sich an dem Spektakel fast so sehr, wie der arme Kerl am Galgen Angst davor hatte. Der Verurteilte wurde auf einem Karren gebracht, man hatte ihn aus dem Irongate-Gefängnis geholt und durch die Melancholy-Gasse zum Galgenplatz gefahren. Ich denke, er war schon zu Beginn der Fahrt in trauriger Verfassung, aber an ihrem Ende ging es ihm erbärmlich. Es war üblich, dass die Zuschauer dem Karren im Vorüberfahren nachwarfen, was gerade greifbar war: verfaultes Obst und Gemüse aus dem Rinnstein, auch mal eine tote Katze. Ich selbst habe keinem dieser armen Teufel je auch nur eine Kartoffelschale nachgeworfen. Wer konnte wissen, ob ich nicht nächste Woche selber im Karren sitzen würde?
Die Menge jubelte, wenn der Verbrecher dann die Stufen hinaufgeführt wurde und man ihm die Schlinge um den Hals legte (nicht selten auch war es eine Frau, die dort oben stand). Das war der Augenblick, in dem ich mich immer abwandte, nicht zuletzt deshalb, weil dann die günstigste Zeit für mich gekommen war. Wenn alle wie gebannt auf die entsetzliche Szene schauten, die sich vor ihren Augen abspielte, schob ich mich unauffällig zwischen den Leuten hindurch und nahm mit, was ich ergattern konnte. Ich hörte, wie die Falltür aufklappte und wie der Balken ächzte, wenn das Gewicht herabfiel. Und während die Menge noch johlte, schlich ich mich davon, bevor jemand den Verlust seines Geldbeutels bemerken konnte.
Polly saugte gierig jedes Wort auf. »Eines Tages gehe ich dorthin«, verkündete sie mit glänzenden Augen. Und ich konnte sagen, was ich wollte, sie ließ sich ihren Entschluss nicht ausreden.
Obwohl ich Polly vieles erzählte, sagte ich ihr nichts von Ma und Pa. Ich sagte ihr nicht, wie sie mich bestohlen und geschlagen hatten oder warum ich wirklich die Stadt verlassen hatte. Und mit keinem Wort sprach ich davon, was sie mir hatten antun wollen und dass mich dieses Erlebnis nachts in meinen Träumen verfolgte. Das Gesicht meines Vaters stand immer noch drohend über mir, und seine Hände lagen um meinen Hals … oder waren es meine, die um seinen Hals lagen?
Ich konnte Ma und Pa nie verzeihen, was sie getan hatten, und trotzdem war ich ihnen in gewisser Weise auch dankbar. Mit Taschendieben ging man streng ins Gericht, egal wie alt sie waren. Hätten Ma und Pa mich also nicht aus der Stadt vertrieben, so hätte sich früher oder später ganz sicher die Schlinge um meinen Hals gelegt, und mein lebloser Körper hätte an einem dieser Galgen gebaumelt.