Kapitel 24

Jeremiah hat einen Plan

Jeremiah Ratchet war mit seinem Latein so gut wie am Ende. Er hatte endgültig genug von Joe Zabbidous deutlicher Missachtung für seine, Ratchets, Position in der Gemeinde. Seine Geschäfte, seine Art, zu leben, seine Vergnügungen – alles war in Gefahr wegen dieses Mannes. Er brachte seinen Namen kaum mehr über die Lippen, und wenn doch, dann spuckte er ihn mehr oder weniger aus, meistens begleitet von Krümeln und bräunlichen Speichelfäden: Mit Vorliebe ließ sich Jeremiah seine Probleme beim Essen durch den Kopf gehen.

In seinem großartigen Speisezimmer aß er selten, gewöhnlich setzte er sich mit einem Tablett auf dem Schoß in sein Arbeitszimmer und nahm dort seine Mahlzeiten ein. Es war ein Raum von großzügigen Ausmaßen, nur schlecht beleuchtet, weil die Wände vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen zugestellt waren. Jedes Regal war bis zum Bersten voll und bog sich unter der Last stattlicher Bücherreihen. Jeremiah war ein Sammler. Er besaß gern Dinge, manchmal aus keinem anderen Grund, als sie zu besitzen. Ein großer Leser war er nicht; er fand die erforderliche Konzentration ziemlich anstrengend für seinen Kopf. Er hatte es sich zum Prinzip gemacht, sich nur solche Bücher ins Regal zu stellen, mit denen er andere Leute beeindrucken konnte, oder solche, deren Preis vermutlich steigen würde. Die Folge war, dass die meisten Bücher zu einer schwer verständlichen Ausdrucksweise neigten und dass es darin entweder um Fakten ging, die er nicht begriff, oder um Handlungen, die er nicht nachvollziehen konnte. Jeremiah war ein glänzendes Beispiel für einen Menschen, der von allem den Preis kannte, aber von nichts den Wert.

Nun saß er in seinem Arbeitszimmer, kaute auf einer Lammkeule herum und dachte an Joe Zabbidou. Dieser Mann war eine einzige Plage. Erst heute war Job Wright vor der Bäckerei auf ihn zugekommen und hatte ihm einen Beutel mit einer Geldsumme überreicht, die mehr als die Hälfte seiner Schuld ausmachte. Später dann, nach dem Mittagessen, hatte Polly ihm erzählt, sie habe im Fenster des Pfandleihers ein Paar Hufeisen gesehen, und da hatte Jeremiah gewusst, dass wieder einmal Joe Zabbidou am Werk gewesen war.

»Schöne Hufeisen sind es, sie glänzen richtig«, hatte Polly mit Unschuldsmiene gesagt. »Ich könnte mir denken, dass Joe gutes Geld dafür bezahlt hat.« Dann hatte sie sich schnell aus dem Staub gemacht, und Jeremiah war sicher, dass er sie auf dem Weg zur Küche hatte kichern hören.

»Gleich am ersten Tag hätte ich ihn rauswerfen sollen«, sagte er reuevoll. »Ich habe ihn zu lange gewähren lassen.« Doch selbst Jeremiah ahnte, dass ein Rauswurf gar nicht so einfach gewesen wäre.

Er hatte natürlich erkannt, dass es zwischen der plötzlichen Zahlungsfähigkeit seiner Pächter und dem Schaufenster des Pfandleihers einen direkten Zusammenhang gab. Er rechnete sich aber aus, dass Joe unmöglich jedermanns Schulden finanzieren könne, dass er früher oder später ruiniert sein würde und dass dann alles wieder so werden würde wie früher. Aber Joe handelte nicht nach den üblichen Zwängen der Geschäftswelt.

Erschöpft schüttelte Jeremiah den Kopf.

»Wie kann ein Mann zu Reichtum kommen, wenn er ein halbes Vermögen für wertlosen Ramsch zahlt?«, fragte er sich jeden Tag. Und jeden Tag wartete er gespannt auf Polly, die ihm immer die aktuelle Beschreibung des Schaufensters lieferte, sobald sie von Pfarrer Stirling zurückkam. Und Tag für Tag stürzten ihn diese Berichte in tiefere Verzweiflung. Wie hatte er es bedauert, Stirling um Hilfe gebeten zu haben, nachdem sich gezeigt hatte, dass dieser Kerl eine absolute Null war.

»Was soll ich bloß tun?«, stöhnte Jeremiah, als er seine Einnahmen immer mehr schwinden sah. Jeremiahs hoher Lebensstandard hatte seinen Preis. Er schuldete seinem Schneider Geld, seinem Hutmacher, seinem Perücken-und seinem Schuhmacher, und an die Summen, die er beim Kartenspiel verloren hatte, wollte er erst gar nicht denken.

Auf der Bank hatte er zum Glück noch Geld aus dem Erbe seines Vaters, doch das war im Lauf der Jahre rapide geschrumpft. Wenn die Schulden einmal beglichen waren, konnte er unmöglich von den Mieteinnahmen allein leben. Dann natürlich seine Erpressungen. Seit er Horatios kleines Geheimnis entdeckt hatte, gab es keinen Mangel an frischem Fleisch in seiner Küche. Und bis vor Kurzem waren da ja auch noch Obadiah und die Leichenräuberei gewesen. Doch leider sah es gerade in diesem Bereich nicht allzu gut aus, und das war nicht nur Joes Schuld. Jeremiahs Leichenräuber (die tagsüber auch als Verwalter auftraten, wenn Jeremiah Hilfe bei einer Zwangsräumung brauchte) hatten ihm die schlechte Nachricht erst unlängst überbracht.

»Leichen von alten Leuten wollen die Mediziner in der Stadt nicht mehr«, hatte einer der Grabräuber gesagt. »Sie wollen frische, junge.«

Jeremiah stöhnte. »Was denken die sich? Es gibt nun mal keine jungen Leichen in Pagus Parvus.«

»Das muss nicht unbedingt ein Problem sein …«, sagte der andere bedächtig.

»Wie meinst du das?«, hatte Jeremiah gefragt.

Die zwei Gauner wechselten vielsagende Blicke, was durch ihre schwarzen Gesichtsmasken nicht leicht war, dann brachen sie in ein heiseres Gelächter aus. »Mal angenommen, der junge Kerl da droben auf dem Berg, der im alten Hutladen … also, der wäre schon mal ein gutes Exemplar …«

»Ludlow?«, fragte Jeremiah. »Aber der ist doch gesund und munter.«

»Je knackiger, desto besser«, sagte der erste.

Tatsächlich zog Jeremiah flüchtig in Betracht, was die Kerle da andeuteten. Viele Male hatte er schon gewünscht, nie wieder Ludlows wissendem Blick begegnen zu müssen, doch ein hinterrücks geplanter Mord als Lösung dieses Problems war selbst Jeremiah zu ungeheuerlich.

»Nein, nein«, sagte er hastig. »Das wird sicher nicht nötig sein. Es muss andere Möglichkeiten geben. Wie steht’s mit Zähnen?«

»Zähnen?«

»Ich habe gehört, die lassen sich ganz gut verkaufen«, fing Jeremiah an, aber die zwei Männer lachten nur. »Na, dann eben nicht«, sagte Jeremiah enttäuscht.

Einträchtig zuckten beide Männer mit den Schultern. »Dann können wir nichts weiter für Euch tun. Gebt uns unser Geld und wir werden Euch nicht mehr behelligen.«

Und damit war die Angelegenheit zu Ende.

Jeremiah schob den Teller mit dem erst halb gegessenen Gericht beiseite und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er hatte keinen Appetit. Er war zu niedergeschlagen, um in seinen Büchern zu blättern; nicht einmal Die Einsamkeit des Bergschäfers konnte ihn fesseln – das war sein absolutes Lieblingsbuch, was wahrscheinlich daran lag, dass Schäfer einen eher begrenzten Wortschatz haben und ihre Geschichten schlicht erzählt sind.

Jeremiah war klar, dass sich für ihn noch viel mehr Probleme ergeben würden, falls Joe im Ort bliebe und so weitermachte wie bisher. Nein, er würde die Sache selbst in die Hand nehmen müssen.

»Pagus Parvus ist nicht groß genug für uns beide«, erklärte er den Schatten an der Wand. »Einer von uns muss gehen.«

Von Selbstmitleid erfüllt stieg er die Treppe hinauf und machte sich zum Schlafengehen fertig. Er konnte nicht widerstehen, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Das tat er inzwischen fast zwanghaft. Oben an der Straße konnte er den Laden des Pfandleihers erkennen, auch den Rauch, der sich jede Nacht bis in die frühen Morgenstunden aus dem Schornstein kringelte.

Was treibt der da oben?, fragte sich Jeremiah zum hundertsten Mal.

Noch immer war er nicht dahintergekommen, warum der Pfandleiher bis spät in die Nacht hinein Besucher empfing, und ihm fehlte die Fantasie, um selbst eine Erklärung dafür zu finden. Von irgendjemandem hatte er gehört, Joe würde den Leuten Ratschläge geben, aber mehr war nicht zu erfahren. Wie oft hatte er schon Polly gefragt, ob sie nicht wisse, was das alles zu bedeuten habe. Aber sie hatte ihn nur verständnislos angeschaut.

Wenn ich es wüsste, dachte Jeremiah, könnte ich ja vielleicht etwas dagegen tun. Doch was es auch für Geschäfte sein mochten, die nachts dort oben getätigt wurden, kein Mensch sprach je darüber. Da zog Jeremiah seine eigenen Schlüsse und erklärte es sich so, dass die ganze Geheimnistuerei Teil der Verschwörung gegen ihn sein müsse. Angesichts dieses Ergebnisses drängte es ihn nur umso mehr, die Wahrheit zu erfahren.

Und so lauerte Jeremiah eines Morgens dem ältesten Sohn des Bäckers an der Küchentür auf, als dieser das Brot brachte. Er packte den Jungen am Kragen.

»Ich will, dass du einen kleinen Auftrag für mich erledigst«, knurrte er.

»Bekomme ich was dafür?«, fragte der Junge.

Jeremiah lachte, und der arme Junge durfte einen Panoramablick in seinen Mund werfen: auf die belegte Zunge, das fleischige Gaumenzäpfchen und die fleckigen Zähne samt den Essensresten, die noch vom gestrigen Abend dazwischenhingen.

»Ich werd dir sagen, was du bekommst, wenn du’s nicht tust«, zischelte er. »Ich sag deinem Vater, dass ich dich erwischt habe, wie du in meiner Küche rumgeschlichen bist und was zum Stehlen gesucht hast. Das hier zum Beispiel!« Und mit einer Fingerfertigkeit, die selbst Joe verblüfft hätte, gelang es Jeremiah irgendwie, dem Jungen einen silbernen Kerzenhalter aus der Tasche zu ziehen, was den armen Kerl in Tränen ausbrechen ließ.

Jeremiah lockerte seinen Griff. »Tu, was ich dir sage«, flüsterte er, »dann passiert dir nichts. Du musst nur in Erfahrung bringen, was oben beim Pfandleiher vor sich geht.«

Der Junge zögerte, aber die Drohung mit seinem Vater genügte. Er hatte wirklich keine Wahl. Eine Woche lang verbarg er sich jede Nacht hinter der Ecke des Ladens und stand von Mitternacht an Stunde um Stunde in der eisigen Kälte. Und jede Nacht passierte das Gleiche. Er hörte knirschende Schritte im Schnee und ein Klopfen an der Tür. Er beobachtete, wie Joe dem Besucher etwas zu trinken gab und wie er ihn am Kaminfeuer Platz nehmen ließ. In der Ecke sah er Ludlow sitzen, der eifrig in ein großes schwarzes Buch schrieb. Was gesprochen wurde, konnte er nicht hören, aber er erriet schnell, was in den Lederbeuteln war, die Joe jedes Mal am Ende der Sitzung überreichte. Schließlich fand er, dass er nun so viel wie möglich wusste (auch fürchtete er zunehmend, Joe könnte ihn gesehen haben). Am Ende der Woche fand er sich also wieder in Jeremiahs Arbeitszimmer ein.

»Und?«, fragte Jeremiah aufgeregt. »Was hast du herausgefunden?«

»Sie reden mit Joe, und Ludlow schreibt alles, was sie sagen, in ein großes schwarzes Buch.«

»Und sonst nichts?« Das war nicht das, was Jeremiah erwartet hatte.

Der Junge schüttelte den Kopf. »Was sie ihm erzählen, ist Geld wert. Joe zahlt dafür Beutel voll Geld. Gestern war Dr. Mouldered oben. Ich konnte nicht hören, was er gesagt hat, aber so wie er aussah, muss es was Wichtiges gewesen sein. Und ich weiß, dass auch mein Vater schon dort war.«

Das wusste Jeremiah auch: Elias Sourdough hatte fast seine ganzen Mietschulden zurückgezahlt.

»Und was ist mit dem Frosch?«, fragte Jeremiah verzweifelt. Er konnte nicht erkennen, wie ihn diese Auskünfte in irgendeiner Weise weiterbringen sollten.

»Er heißt Saluki. Joe behandelt ihn wie etwas ganz Besonderes. Keiner darf ihn anfassen, aber manchmal sitzt er bei Joe auf der Hand. Könnte mir denken, dass der ein paar Shilling wert ist. So was wie diesen Frosch hab ich noch nie gesehen.«

Jeremiah war verblüfft. Nachts im Bett grübelte er über das, was er gehört hatte, und allmählich dämmerte es ihm, dass ihm der Bäckerjunge eigentlich genau das geliefert hatte, was er wissen musste.

»Das Buch«, sagte er laut, und schon saß er kerzengerade im Bett. »In dem Buch liegt die Antwort.«

Jeremiahs Gedanken rasten. Egal, was in dem Buch stehen mochte, Joe zahlte gut dafür. Also erschien es ihm logisch, dass Joe, sollte er dieses Buch verlieren oder sollte es ihm gestohlen werden, auch gut bezahlen würde, um es zurückzubekommen. Oder noch besser, vielleicht wäre er einverstanden, Pagus Parvus zu verlassen und für die Rückgabe des Buches zu zahlen. Wäre Joe erst fort, wären Jeremiahs Probleme mit einem Schlag gelöst. Seine Erregung wuchs. Was für eine prächtige Rache für all die Scherereien, die Joe ihm gemacht hatte! Es gab da nur noch eine kleine Schwachstelle in dem Plan.

Wie komme ich an das Buch heran?, fragte er sich. Aber kurz vor Sonnenaufgang hatte er die Antwort gefunden: Für Jeremiah Ratchet war es an der Zeit, Joe Zabbidou einen Besuch abzustatten.

Загрузка...