Kapitel 38

Diagnose

Solange er lebte, hatte sich Jeremiah die Dorfbewohner erfolgreich vom Leibe gehalten; wenige Minuten nach seinem Tod jedoch wimmelte es in seinem Haus von Leuten. Sie liefen treppauf und treppab, öffneten und schlossen Türen und steckten ein, was sie unter ihren Umhängen verbergen konnten. Jeder glaubte den einen oder anderen Grund zu haben, dass ihm etwas zustehe.

»Ich hab mal gehört, dass seine Badewanne aus purem Gold ist«, tuschelte einer, während er einen glänzend polierten Spucknapf in seiner Brusttasche verstaute.

»Und dass er nur von silbernen Tellern gegessen und aus feinsten Kristallgläsern getrunken hat«, sagte sein Begleiter und riss einen prächtigen Messingleuchter von der Wand.

Ein Dritter war damit beschäftigt, mit den Fingerknöcheln die Bretter der Treppenstufen abzuklopfen. Er suchte nach Geheimgängen zu unterirdischen Kellerräumen, in denen Schmuck, Schätze und, weit wichtiger, Bier und Wein lagern sollten.

»Da isser«, kam von unten der Schrei des jüngsten Sourdough-Jungen. »Iiiih, ganz schwarz und blau!«

Lärmend fiel die Menge im Arbeitszimmer ein und verteilte sich um Ratchets Sessel wie Wasser, das einen Felsen im Strom umspült. Es stimmte, was der kleine Sourdough sagte, Jeremiahs Haut hatte ein seltsam fleckiges Aussehen angenommen. Diese Verfärbung, der gelbliche Schaum in den Mundwinkeln und dazu die abstoßende Grimasse, das war zu viel für Lily Weaver. Mit einem tiefen Seufzer sank sie in Ohnmacht. Sie wäre zu Boden gestürzt, aber weil so viele Leute im Zimmer waren, blieb sie aufrecht stehen, und als sie nach wenigen Minuten wieder zu sich kam, sah sie sich von allen Seiten gestützt von ihren Mitbürgern aus Pagus Parvus. Sie wurde hochgehoben, über das Meer der Köpfe gereicht wie eine von der Flut ergriffene Flasche und unsanft im Flur abgelegt.

Dann übertönte eine Stimme den Tumult, und mit Ellbogenstößen, Schubsen und Schieben gelang es Dr. Samuel Mouldered, sich Zutritt zu verschaffen.

»Gott sei Dank, dass Ihr da seid«, sagte Elias Sourdough. »Ratchet hat endlich ins Gras gebissen.«

Im Zimmer wurde es still, weil alle gespannt auf Dr. Mouldereds Beurteilung des Falls warteten. Einige der Dorfbewohner waren mit der Selbstdiagnose vertraut, einer Modeerscheinung der Zeit. Sie hielten sich dabei an Dr. Moriartis Medizinisches Wörterbuch für jedermann, das preisgünstig in Perigoe Leafbinders Buchhandlung erhältlich war. Nun wollten sie die Diagnose vom Fachmann hören.

Mouldered umrundete ein paarmal den Sessel und strich sich dabei über das spärlich behaarte Kinn. Es kam nicht oft vor, dass er so im Mittelpunkt stand, deshalb gewann seine Nervosität, die sich in den letzten Tagen immer mehr gesteigert hatte, die Oberhand. Schweiß sammelte sich in seinen Stirnfalten, und mit der blassrosa Zunge befeuchtete er seine trockenen Lippen. Endlich räusperte er sich und erklärte heiser: »Ich glaube, dass Jeremiah Ratchet eine Art Anfall erlitten hat, einen Herzanfall, der seinen vorzeitigen Tod verursachte.«

Die Menge stöhnte auf, und die allgemeine Enttäuschung war deutlich zu spüren. Alle hatten irgendetwas Grauenhaftes erwartet. Es wäre gewiss nicht unverdient gewesen.

»Für mich sieht er eher aus, als wäre er erstickt. Und mit seinen Händen stimmt auch was nicht. Seid Ihr denn sicher?«

Dass Jeremiah erstickt sein könnte, war kaum mehr als Wunschdenken, doch nach einem gründlicheren Blick auf den Toten konnte auch Mouldered nicht bestreiten, dass Jeremiahs Hände ziemlich rot und von Blasen übersät waren, als hätte er sich schwer verbrannt.

»Jawohl, ich bin sicher«, sagte er mit der Überzeugungskraft eines Menschen, der keineswegs sicher ist. »Ein Herzanfall bringt es manchmal mit sich, dass dabei die Hände, äh …« Er fummelte in seinen Taschen, als suche er dort nach dem korrekten medizinischen Begriff. Als er aber nichts fand, gab er auf und beendete seine Erklärung lahm: »Nun, dass die Hände so … aussehen.«

Augenbrauen zuckten hoch, Köpfe wurden geschüttelt, kaum unterdrücktes Kichern wurde laut, aber da Mouldered nichts weiter sagte und die Aufregung ohnehin vorbei war, schoben sich die Dorfleute, mit ihren heimlichen Beutestücken klirrend, langsam aus dem Zimmer. In der Stille, die nun einkehrte, schloss Mouldered mit zitternden Fingern Jeremiahs Augen und löste das Papier aus den starren Händen. Er warf einen flüchtigen Blick darauf, faltete es zusammen und wollte es eben einstecken, da erschien Perigoe.

»Das gehört Joe«, sagte sie. »Es ist aus einem Buch über Amphibien, das er bei mir gekauft hat.«

»Ah, Perigoe«, sagte Mouldered und gab es ihr. »Könntet Ihr wohl dafür sorgen, dass er es zurückbekommt?«

Sie nickte und ging schnell hinaus – ein abgegriffenes rötlich braunes Buch unter dem Arm.

Nur eins? Wie bescheiden, dachte Mouldered.

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