Kapitel 34

Abgang

Jeremiah Ratchet war hell entzückt. Am liebsten wäre er gehüpft und gesprungen, aber die vereiste Straße ließ nur vorsichtige kleine Schritte zu. So schlug er stattdessen die Faust in die Luft und schrie ein ums andere Mal: »Ha! Ha!«

Er war höchst zufrieden mit sich. Seine Vermutung, dass das Schwarze Buch der Schlüssel war, hatte sich bewahrheitet. Dass er es nun besaß, machte seine heutige Demütigung in der Sache mit Horatio und dem Truthahn fast wett. Wäre es nämlich nicht zu dieser Auseinandersetzung gekommen, hätte er nie erfahren, was es mit diesem Buch auf sich hatte. Nachdem er mit dem Truthahn nach Hause gekommen war, hatte er die Leute, und besonders Joe und Ludlow, vom Fenster aus beobachtet. Er hatte alles gehört, jedes Wort. Was waren sie doch für Einfaltspinsel, diese Dorfleute, dass sie Joe Zabbidou ihre Geheimnisse anvertrauten. Aber genau dadurch war ihm seine Idee gekommen: Er würde vortäuschen, selber ein Geheimnis verpfänden zu wollen, und sich auf diese Weise das Buch verschaffen. Was er aus den Gesprächen in der Blauen Forelle erlauscht hatte, war dann nur noch das i-Tüpfelchen auf seinem Plan gewesen. Wie dumm von Joe, diesen Erpresserbrief loszulassen. Damit hatte er seine Chancen im Dorf verspielt und gleichzeitig Jeremiah einen großen Gefallen getan. Hätten nämlich die Dorfleute Joe erst mal verjagt, wäre es zu spät gewesen. Nun aber war Jeremiah im Besitz des Schwarzen Buches, mit dessen Hilfe er seine rechtmäßige Machtstellung in Pagus Parvus zurückgewinnen würde.

Wenn er ehrlich war, hatte er tief im Innern nie geglaubt, dass es so einfach sein würde, sich das Schwarze Buch der Geheimnisse anzueignen. Aber wer hätte auch gedacht, dass Joe es freiwillig hergeben würde, nur um seinen kostbaren Frosch zu retten? Jeremiah strotzte vor Selbstgefälligkeit.

So leise es ihm in seiner Freude möglich war, betrat er sein Haus und merkte nicht, dass er die Tür nicht richtig hinter sich geschlossen hatte. Er bemerkte auch nicht die schmächtige Gestalt, die ihm nachgeschlichen war und ihm nun in sein Arbeitszimmer folgte. Der heimliche Eindringling kauerte sich in die dunkelste Ecke und beobachtete und wartete. Der Vollmond warf sein milchig schimmerndes Licht durchs Fenster. Es erhellte die Uhr auf dem Kaminsims: Viertel nach drei. Jeremiah zog seinen Mantel aus und ließ ihn zu Boden fallen, den Hut warf er in eine Ecke. Bei jedem Schritt fiel Schnee von seinen Stiefeln und zerschmolz in dunklen Flecken auf dem Teppich. In wildem Triumph hob Jeremiah seine Beute hoch, und das rote Seidenband zwischen den Seiten flatterte.

»Denen werd ich’s zeigen!« Er lachte und schwenkte das Buch durch die Luft. »Sie werden alle büßen für ihren Verrat.«

Jeremiah trat vor das allmählich verlöschende Kaminfeuer und machte es sich in einem seiner teuren Ledersessel bequem. Flüchtig blickte er auf die Worte auf dem Bucheinband, und weil er nichts damit anfangen konnte, schlug er das Buch auf und legte es auf seinen Schoß. Er leckte die Kuppe seines dicken Zeigefingers ab und blätterte mit sichtlichem Vergnügen in den Seiten, erst langsam, dann immer schneller. Er zitterte, er kicherte, er rief mehr als einmal: »Großer Gott!«, und immer wieder hielt er inne, um sich die Hände zu reiben. Das tat er jedoch nicht vor lauter Freude, sondern um den Schmerz in den Händen zu lindern. Salukis Biss, wenn es denn tatsächlich ein Biss gewesen war, erwies sich als fast so lästig wie sein Besitzer.

»Mein Glück ist gemacht«, freute sich Jeremiah. »In diesem Buch stehen Geheimnisse, auf die wäre ich nicht mal im Traum gekommen! Und nicht nur welche aus Pagus Parvus. Von überall her. Na, und erst Dr. Mouldered! Nein, nein, wer hätte das gedacht!«

Tief befriedigt klappte er das Buch zu, da flatterte eine einzelne Seite zu Boden und blieb neben seinen Füßen liegen. Jeremiah, der jetzt schwer atmete, beugte sich vor, hob das Blatt auf und hielt es ins Licht. Eine unregelmäßig gezackte Kante ließ darauf schließen, dass die Seite vor Kurzem aus einem anderen Buch gerissen worden war. Sie zeigte eine kunstvolle, handkolorierte Zeichnung.

»Frösche?«, prustete Jeremiah geringschätzig und las neugierig die Bildunterschrift. Nur wenige Sekunden darauf sank er jämmerlich stöhnend in seinen Sessel zurück.

»Was hat er getan?«, wimmerte er. »Dieser große doppelzüngige Teufel hat mich ausgetrickst!«

In seinen Händen pochte und brannte der Schmerz. Seine Bewegungen wurden schwerfälliger. Eine schleichende Taubheit breitete sich in den Armen und im ganzen Körper aus. Die Brust wurde ihm eng, die Kehle schwoll an. Das Atmen fiel immer schwerer. Und als er den Jungen sah, der plötzlich aus dem Halbdunkel auftauchte und auf ihn zukam, konnte er nicht einmal seine Überraschung ausdrücken.

»We-wer ist d-da?«, stammelte er heiser.

Der Junge antwortete nicht, er warf nur einen Blick auf den Sterbenden, dann bückte er sich und hob das Buch vom Boden auf.

»Wer hat Euch das angetan?«, flüsterte der Eindringling.

Lautlos, mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung formten Jeremiahs Lippen ein Wort.

Der Junge schüttelte den Kopf und ging.

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