Kapitel 23
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
Stirlings Auftritt war drei Tage lang Dorfgespräch. In den Augen der Leute war die Blamage des Pfarrers nur ein weiterer Sieg für Mr Zabbidou und ein weiterer Schlag in Richtung von Mr Ratchet (der die ganze Vorstellung, nur unzureichend hinter der Gardine verborgen, von seinem Fenster aus beobachtet hatte). Die Frontlinien waren so klar, dass man sie im Schnee hätte abstecken können.
Keine Frage, Joe war in Pagus Parvus mit großer Herzlichkeit aufgenommen worden. Das war schon in dem Augenblick sichtbar geworden, als er Jeremiah Ratchet widerstanden hatte. Und die anfängliche Begeisterung hatte nicht nachgelassen, im Gegenteil, sie war enorm gewachsen. Inzwischen traten ihm die Dorfleute, kaum dass sie ihn sahen, wie einem König entgegen. Ich schwöre bei meinem miesen Pa, dass ich mehr als einmal erlebt habe, wie jemand vor ihm niederkniete. Der arme Joe, er konnte nicht durchs Dorf gehen, ohne ein Dutzend Mal von wohlwollenden Leuten angehalten zu werden, die sich nach seiner Gesundheit, nach seinem Geschäft und sogar nach Saluki erkundigten. Immer war Joe höflich, unverändert herzlich und liebenswürdig, aber ich spürte, dass ihn diese Vergötterung allmählich beunruhigte.
»Ich bin nicht hergekommen, um mich verehren zu lassen«, murmelte er vor sich hin.
In langen schlaflosen Nächten wälzte ich die gleiche Frage in meinem Hirn: Warum bist du hergekommen, Joe Zabbidou? Ich ahnte inzwischen, dass die Dinge nicht so einfach waren – und nicht so einfach sein konnten –, wie sie schienen. Ein Mann kommt von nirgendwoher in ein abgelegenes Dorf und zahlt für wertlosen Plunder und für Geheimnisse viel Geld, das scheinbar aus einer unerschöpflichen Quelle fließt. Ich verstand das nicht. Wenn ich aber versuchte, Joe nach seiner Vergangenheit zu fragen, ging er nicht darauf ein und sprach schnell von etwas anderem.
Ob Joes Abneigung gegen diese ganze Aufmerksamkeit an seinem zurückhaltenden Wesen lag? Jedenfalls achtete ich nicht weiter auf sein Unbehagen. Während er versuchte, das Rampenlicht zu meiden, sonnte ich mich in seinem Ruhm. Damals, als ich mich durch die Straßen der Stadt geschlichen hatte, war ich niemand. In Pagus Parvus war ich der Prinz neben König Joe. Natürlich war es Joe, mit dem alle sprechen wollten, seine Hand wollten sie schütteln, aber sie sprachen auch mit mir, und sei es nur, um mir einen guten Morgen zu wünschen. Dann musste ich jedes Mal grinsen. In der Stadt wären sie bei meinem Anblick auf die andere Straßenseite gegangen.
Vielleicht war es die abgeschiedene Lage des Ortes, die Joe (und mich) zu etwas Besonderem machte. Doch besonders oder nicht, ich hatte so eine Ahnung, dass uns das nicht viel nützen würde, solange Jeremiah Ratchet in Pagus Parvus lebte.
Unsere Tage waren immer ausgefüllt. Ich hatte meine Aufgaben, und Joe hatte seine, aber wir waren nie in Eile. Das Leben in Joes Laden war manchmal wie ein Leben in einer anderen Welt, in der alles mit halber Geschwindigkeit vor sich geht. Nie habe ich von Joe eine hastige Bewegung gesehen; es gab nichts Dringliches in seinem Leben, und dennoch ließ sich nur schwer die Vorahnung abschütteln, dass wir auf irgendein Ereignis warteten.
Am späten Nachmittag, wenn Ruhe eingekehrt war, wenn Polly und die Jungen aus der Bäckerei hier gewesen und wieder gegangen waren, saßen wir oft am Kaminfeuer und genossen die Wärme und Behaglichkeit, die es ausstrahlte. In solchen Stunden konnte ich mir nicht vorstellen, jemals wieder in die Stadt zurückzukehren.
»Ich gehe nie wieder zurück«, sagte ich eines Abends zu Joe.
»Sag niemals nie«, erwiderte er schnell. »Alles ändert sich.«
Geändert hatte sich ganz bestimmt mein Schicksal. Für mich war Joe der Vater, den ich mir immer gewünscht hatte. Ich trug neue Kleider, die er mir geschenkt hatte. Mit Vergnügen sahen wir zu, wie meine alten Fetzen im Kaminfeuer verbrannten. Mindestens alle zwei Wochen durfte ich mich vor dem Feuer in eine große Zinkwanne setzen, die bis zum Rand mit warmem Wasser gefüllt war. Und jeden Tag hatten wir zwei ordentliche Mahlzeiten. Die Leute aus Pagus Parvus zeigten sich sehr gastfreundlich uns gegenüber, und es verging kaum ein Tag, ohne dass ein Esspaket auf unserer Eingangstreppe lag: Kaninchen, Tauben, Spatzen (köstlich gefüllt mit Zwiebeln und Lauch, eine Delikatesse in dieser Gegend) und gelegentlich ein ganzes Hähnchen vom Fleischer.
»Bestechungsgaben«, sagte Joe lachend. »Sie glauben, wenn sie für meine Ernährung sorgen, werde ich mir die Sache mit Ratchet anders überlegen.« Er änderte seine Meinung nicht, aber das Fleisch steckte er trotzdem in den Kochtopf.
Nach und nach verloren die Erinnerungen an mein früheres Leben an Schärfe, stattdessen spielte mir mein Verstand jetzt seltsame Streiche. Ich fing an, darüber zu grübeln, ob das Leben es nicht zu gut mit mir meinte. Ein Junge wie ich, einer mit meiner Vergangenheit, einer mit so vielen Gaunereien auf dem Gewissen, der verdiente doch wohl Bestrafung und nicht Belohnung? Joe versuchte, mich zu beruhigen.
»Es ist ganz normal, so zu denken«, sagte er. »Zu glauben, man habe sein gutes Schicksal nicht verdient. Aber hast du vergessen, was ich dir über das Glück gesagt habe?«
»Ihr habt gesagt, wir können selbst etwas zu unserem Glück tun.«
»Richtig. Du hast zu deinem Glück beigetragen, indem du hierhergekommen bist. Jetzt arbeitest du und verdienst, was du hast.«
»Aber ich hatte nie vor, hierherzukommen«, bohrte ich weiter. »Es war Zufall, dass ausgerechnet Ratchets Kutsche vor dem Flinken Finger stand.«
»Aber es war deine Entscheidung, gerade auf diese Kutsche aufzuspringen.«
»Was, wenn ich in jener Nacht den Berg abwärts-statt aufwärtsgegangen wäre? Dann würde ich jetzt vielleicht in der Schmiede bei Job Wright Pferde beschlagen. Dann hättet Ihr einen der Sourdoughs angestellt, damals, als sie zum ersten Mal in den Laden kamen, um sich den Frosch anzuschauen.«
»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Joe. »Aber die Sourdough-Jungen sind schwer von Begriff.«
»Ich kann auch nur lesen und schreiben, weil ich oft bei Mr Jellico war.«
»Aber es war deine Entscheidung, zu ihm zu gehen.«
Und so ging es weiter, immer im Kreis herum. Eines Abends fragte Joe: »Bist du glücklich hier?«
»Ja.«
»Wenn du die Zeit zurückdrehen könntest: Was hättest du damals in der Stadt anders gemacht?«
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Wenn ich etwas anders gemacht hätte, wäre ich Euch ja vielleicht nie begegnet.«
»Genau«, sagte Joe entschieden. »Alles, was du erlebt hast, schlecht oder gut, hat dich letztendlich hierhergeführt.«
An dieser Stelle endete unser Gespräch, weil die Ladentür aufging und ein Kunde bedient werden musste. Beim Klappern der Tür wachte Joe immer auf, egal wie fest er zu schlafen schien. Überhörte er es aber doch einmal, gab Saluki einen knallenden Rülpser von sich, sobald jemand eintrat. Es kam mir wie eine Warnung vor.
Für einen Frosch war Saluki ein angenehmer Mitbewohner. Wenn es sich ergab, fütterte ich sie gern und sah zu, wie ihre Zunge über den Rand des Glasbehälters hinausschoss und wie das Insekt oder die Made im Nu verschwunden war – so blitzschnell, dass man es kaum verfolgen konnte. Den Deckel hatte ich seit meinem ersten Tag bei Joe nicht mehr angerührt. Joe hatte es mir verboten, und ich wollte den Frosch auch nicht anfassen. Joe nahm Saluki ab und zu heraus und ließ sie auf seiner Handfläche sitzen. Er streichelte behutsam ihren Rücken, dann rülpste sie leise und schien zu leuchten. Ich hatte nicht vergessen, was Joe gesagt hatte – dass ich sie nicht anfassen dürfe, bis ich ihr Vertrauen gewonnen hätte. Ich hoffte, Saluki würde mir eines Tages vertrauen.
Ich erinnere mich gern an diese Tage im Laden, wir hatten es warm und behaglich, und die kalte Welt draußen berührte uns nicht. Aber natürlich kam die Welt nach wie vor in unseren Laden. Die Dorfbewohner waren sichtlich dankbar für alles, was Joe für sie getan hatte, und allmählich konnte sich einer nach dem anderen aus Jeremiahs eisernem Griff befreien. Aus ihrer früheren Verzweiflung war Wut geworden, Wut darüber, dass Jeremiah sie so lange so schlecht behandelt hatte, dass er ihnen so viel abverlangt, dass er sie in Angst und Schrecken gehalten hatte. So wie sie Jeremiah ihre Schulden zurückzahlen konnten, so wollten sie ihm nun auch anderes zurückzahlen.
Eines Nachts bekamen wir Besuch von dem hiesigen Arzt, Dr. Samuel Mouldered. Es überraschte mich nicht. Joe hatte ihn ja am Tag vorher aufgesucht, wie er es bei seinen mitternächtlichen Kunden immer tat, und hatte ihn aufgefordert zu kommen. Wie die meisten hatte auch er eine interessante Geschichte zu erzählen.
Samuel Mouldered war ein kränklich aussehender Mann, an dessen stets griesgrämigem Gesichtsausdruck seine Patienten nie erkennen konnten, ob sie leben oder sterben sollten. Hätten sie geahnt, dass der Arzt das oft selbst nicht wusste, wären sie gewiss alarmiert gewesen. Mouldered war nämlich kein Arzt, sondern nur ein Quacksalber, der sich überzeugend genug darstellen konnte und der sich auf der Flucht vor einer Schar betrogener Patienten befand. Sie hatten herausgefunden, dass sein Wundermittel nicht viel mehr war als eine Mixtur aus gekochten Nesseln und Wein, der nach Kork schmeckte.
Pagus Parvus war ein ideales Versteck für einen solchen Mann. Gerechterweise muss aber gesagt werden, dass Mouldered völlig harmlos war. Seit er vor mehr als zehn Jahren ins Dorf gekommen war, praktizierte er hier als Arzt und ging dabei strikt davon aus, dass die meisten Krankheiten innerhalb von sieben Tagen von selbst vergingen. Also verschrieb er sein Wundermittel (inzwischen eine schmackhaftere Variante aus Honig und Bier), das eine Woche lang angewendet werden musste, und verzeichnete im Großen und Ganzen recht annehmbare Ergebnisse. Was die Todesfälle anging, so hinterfragte nie jemand das ungewöhnlich hohe Auftreten von Herzversagen hier in der Gegend. Die Leute vertrauten dem Doktor und seinen Diagnosen.
Samuel Mouldereds größte Angst war es, dass Jeremiah sein Geheimnis entdecken würde.
»Ich kann nicht versprechen, dass Jeremiah nie dahinterkommt«, sagte Joe am Ende. »Aber von uns wird er es nicht erfahren. Da habt Ihr mein Wort.«
Joe hielt ihm die Tür auf, doch Mouldered schien zu zögern.
»Der Mann ist ein Ungeheuer«, erklärte er. »Jahrelang haben wir durch ihn gelitten. Die Dorfleute wollen Rache. Ich weiß, dass sie auf Eure Hilfe hoffen.«
»Was kann ich tun?«, fragte Joe ruhig. »Ich bin nur ein Pfandleiher.«
»Das glaubt hier niemand«, murmelte der Doktor, während er hinaus auf die Straße trat. Joe zog nur die Schultern hoch und reichte Dr. Mouldered einen Beutel mit Münzen.
»Vincit qui patitur«, rief er ihm nach, aber der Doktor war schon außer Hörweite.
Ich sah Joe fragend an.
»Wer wartet, gewinnt.«
Ich hatte zugehört und alles niedergeschrieben, wie es meine Pflicht war, aber ich hatte ein ungutes Gefühl dabei. Wieder einmal fragte ich Joe, ob wir nicht etwas unternehmen sollten.
»Das Leben der Menschen hier ist in Gefahr«, sagte ich. »Dr. Mouldered hat doch keine Ahnung.«
Joe blieb unnachgiebig. »Er richtet keinen Schaden an. Außerdem gibt es niemanden im Dorf, der seine Arbeit tun könnte.«
Ich protestierte noch eine Weile, und Joe musste mich daran erinnern, dass es unsere Aufgabe sei, Geheimnisse zu hüten.
»Was meinst du, wie lange wir uns halten könnten, wenn wir diese Informationen weitergeben würden? Das Geschäft wäre verdorben.«
Das Geschäft, dachte ich. Was für ein Geschäft? Wir machten doch gar keinen Gewinn. Irgendwann musste das Geld zu Ende gehen, und was dann? Aber weil ich so leicht in dieses Leben hineingeglitten war und weil ich den Gedanken nicht ertragen konnte, dass es sich einmal ändern könnte, behielt ich meine Bedenken für mich. Ob ich nun verstand oder nicht, was hier gespielt wurde, auf keinen Fall wollte ich etwas tun, das Joe verstimmen könnte.