Kapitel 15
Gelöste Zungen
Polly hätte sich gern genauso oft im Pfandleihgeschäft aufgehalten wie die Sourdough-Brüder, doch während Elias und Ruby sich freuten, dass Joe ihren Jungen Geschichten erzählte, war Jeremiah längst nicht so wohlwollend. Pollys Besuche waren deshalb kürzer und weniger häufig. Sie und Ludlow hatten nach wie vor ihren Spaß an den kurzen Plaudereien über den Ladentisch, wenn es auch eher so war, dass Ludlow zuhörte und Polly redete. Wenn nämlich Polly erst einmal angefangen hatte, war sie so leicht nicht zu bremsen. »Ich weiß nicht, was das Besondere an diesem Laden ist«, sagte sie mehr als einmal kichernd. »Aber immer, wenn ich hier reinkomme, macht sich meine Zunge selbstständig.«
Ludlow hörte ihr gern zu. Er war neugierig auf das Dorf und seine Bewohner, besonders auf Jeremiah, und Polly erzählte ihm mit dem größten Vergnügen von den Begebenheiten im stattlichen Haus unten an der Straße.
Sie erzählte ihm von Jeremiahs Gewohnheiten (im Allgemeinen schlechten), seinen Stimmungen (ebenso) und seinen überzogenen Forderungen (zahlreich und häufig). Ludlow erkannte schnell, dass das Leben es mit Polly bisher nicht gut gemeint hatte. Sie war gescheit und litt unter der Benachteiligung, nur wenig Unterricht erhalten zu haben. Anders als heute war es damals nicht so leicht möglich, seinen Wissensdurst zu befriedigen, und obwohl Polly alles andere als zufrieden war mit ihrem Los, hatte sie sich damit abgefunden. Ihre Eltern waren gestorben, als sie noch ein Baby war, und Lily Weaver, die Näherin im Dorf, hatte sie aufgenommen. Sie brachte ihr später das Nähen bei, und Polly stellte sich auch recht geschickt dabei an, doch Lily begriff schnell, dass es im Dorf nicht genug Arbeit für zwei Näherinnen gab. Bald sah sie in dem Mädchen nichts anderes mehr als einen zusätzlichen Esser. Es war Pollys Glück, oder richtiger gesagt ihr Pech, dass gerade zu dieser Zeit Jeremiah Ratchet ein Dienstmädchen suchte. Da hatte sie ihre wenigen Habseligkeiten in einem alten fleckigen Leintuch zusammengebunden, an einen Stock geknotet und war über die Straße zu Jeremiahs Haus gegangen, wo sie nun seit sechs Jahren lebte und arbeitete.
»Es ist nicht so schlimm, wie du denkst«, sagte sie. »Solange ich meine Arbeit mache, kann er sich nicht groß beschweren.« Aber Polly sah immer müde und hungrig aus, und Ludlow hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass er für Joe arbeiten durfte, Jeremiahs absolutes Gegenstück.
»Als Stanton Cleaver noch lebte, war es besser«, sagte Polly eines Tages zu ihm.
»Stanton Cleaver?«
»Der Vater des Fleischers. Am Anfang, als ich zu Jeremiah kam, haben er und Stanton fast jeden Abend miteinander gegessen. Da hatte ich immer eine Weile Ruhe.«
»Und was ist mit ihm?«, fragte Ludlow.
»Er hatte ein schwaches Herz, so hat Dr. Mouldered jedenfalls gesagt. Er ist ganz plötzlich gestorben. Seine Leiche hat niemand gesehen, so schnell ist er beerdigt worden. Alle hielten Stanton für einen großen Mann, aber ich weiß nicht. Zu seinem Sohn Horatio war er immer ganz schön gemein. Als Stanton tot war, hatte Jeremiah jedenfalls keine Freunde mehr im Dorf, und da fing er in der Stadt an zu spielen. Das macht er immer noch, und ich weiß nie, ob er spät nach Hause kommen wird oder nicht, aber egal, wann er kommt, betrunken ist er immer.« Sie seufzte. »Ich verstehe nicht, warum du aus der Stadt weg bist, nur um hierherzukommen – an einen Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. War es wirklich so schlimm?«
»Viel schlimmer noch, als ich dir erzählt habe«, sagte Ludlow grimmig. »Du würdest es schrecklich finden, Poll. Die Stadt ist voller Gemeinheiten.«
»Manche hier sagen, du wärst aus der Stadt weg, weil du ein Verbrechen begangen hast«, sagte Polly. »Sie denken, du bist auf der Flucht.«
Ludlow runzelte die Stirn. »Lass sie denken, was sie wollen.«
»Und Joe?«, bohrte sie. »Woher ist er gekommen?«
Ludlow zog die Schultern hoch. Sooft er ihn danach gefragt hatte, war Joe einer Antwort erfolgreich ausgewichen. Im Grunde genommen wusste Ludlow nicht sehr viel über seinen neuen Herrn. Selbst in den Geschichten aus fremden Ländern, die Joe den Sourdough-Brüdern erzählte, brachte er es fertig, nicht viel von sich preiszugeben.
»Auch egal«, sagte Polly mit einem Grinsen. »Jedenfalls hat er Jeremiah ganz schön wütend gemacht. Du solltest hören, wie er euch beide verflucht. Eines Tages wird der noch mal explodieren!«
Jeremiah Ratchet konnte von Joe und Ludlow halten, was er wollte, die Dorfbewohner nutzten das Pfandleihgeschäft fleißig. Es stimmte, dass sie kaum etwas von Wert besaßen, doch anders als die meisten Pfandleiher nahm Joe alles an, was man ihm anbot, selbst die lächerlichsten und wertlosesten Dinge. Eine ausgestopfte, von Motten zerfressene, halb vermoderte Katze zum Beispiel. Und Joe bezahlte gut, ganz wie er versprochen hatte. Nicht einmal Lembart Jellico würde ein solches Pfand annehmen, dachte Ludlow.
Da die meisten Kunden außer Atem waren, nachdem sie die steile Straße heraufgekommen waren, musste Ludlow einen Stuhl neben die Tür stellen, und der wurde dankbar angenommen. Von seinem Platz hinter dem Ladentisch aus beobachtete Ludlow die Leute, wie sie keuchten und husteten und jammerten. Nach einer Weile ließ das Keuchen nach, dann kamen sie heran und zeigten vor, was sie an armseligen Sachen mitgebracht hatten. Joe hielt jedes Stück ins Licht, drehte es in diese und in jene Richtung. Manchmal (aber nur selten) nahm er sein Vergrößerungsglas und prüfte etwas aus der Nähe. Der Kunde stand dann die ganze Zeit daneben, kaum atmend und mit so fest geballten Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten, und hoffte inständig, Joe würde das wertlose Objekt als Pfand nehmen. Das tat er natürlich, und so waren alle froh und erleichtert und dankten Joe überschwänglich. Meistens endete das Geschäft damit, dass sie rückwärts aus der Tür gingen und dabei immer noch dankten. Manchmal aber zögerte jemand, trat von einem Fuß auf den andern und gab vor, sich für Saluki zu interessieren.
Dann drehte sich Joe irgendwann um und fragte ganz ahnungslos: »Ist noch etwas?« Und in seinen Mundwinkeln zuckte der Anflug eines Lächelns.
In solchen Fällen sprachen die Leute ausnahmslos über Jeremiah Ratchet.
»Ihr müsst ein mutiger Mann sein, Mr Zabbidou. Nicht viele würden so gegen Jeremiah auftreten.«
Damit meinten sie die Begegnung am ersten Tag, als Joe es gewagt hatte, anderer Meinung zu sein als Mr Ratchet. Das hatte großen Eindruck auf die Dorfleute gemacht.
Joes Antwort war immer die gleiche. »Ich habe nur die Wahrheit ausgesprochen.«
»Ihr müsst wissen, er hat schon wieder eine Familie auf die Straße gesetzt«, fuhr der Betreffende fort, ohne sich von Joes scheinbarer Gleichgültigkeit abschrecken zu lassen. »Er hat ja seine Schläger, die das für ihn erledigen. Sie tragen Masken über den Gesichtern, deshalb wissen wir nicht, wer sie sind. Und alles wegen ein paar Pennys Miete, Mr Zabbidou. Es ist nicht recht.«
Wenn sie erwarteten, Joe würde etwas dagegen unternehmen, wurden sie enttäuscht. Er schüttelte nur traurig den Kopf.
»Eine schlimme Sache«, sagte er. »Wirklich eine schlimme Sache.«