Kapitel 40
Fragment aus den
Erinnerungen des Ludlow Fitch
Wir wanderten zwei Tage und zwei Nächte lang. Es ging ständig bergauf, und ununterbrochen schneite es. Eine Unterhaltung war unmöglich. Unsere ganze Anstrengung war darauf gerichtet, uns durch die hohen Schneeverwehungen zu arbeiten und gegen den Wind anzukämpfen. Es war überlebenswichtig, dass wir beisammenblieben. Wären wir getrennt worden, hätten wir uns zweifellos für immer aus den Augen verloren. Ich konnte nicht sagen, ob wir nach Norden oder Süden, nach Osten oder Westen gingen. Keine Sonne wies uns den Weg und nachts kein Mond.
Beim Gehen hatte ich Zeit zum Nachdenken und Grübeln über die jüngst vergangenen Ereignisse. Obwohl ich froh war, dass Joe Jeremiah nicht umgebracht hatte (und mich schämte, dass ich ihn dieser Tat je hatte beschuldigen können), hatte ich das Gefühl, Jeremiah würde noch leben, wenn Joe nicht nach Pagus Parvus gekommen wäre. Und dann war da die Sache mit Joes »Erbschaft«, wie er es nannte. Joe hatte gesagt – und ich glaubte ihm –, dass er für Geld nie jemanden umgebracht habe. Und doch schienen in seiner Nähe Geld und Tod untrennbar miteinander verbunden.
Es gab natürlich noch andere unbeantwortete Fragen, und im Lauf unserer Wanderung fielen mir auch manche Antworten ein, als aber die Temperaturen sanken und der Schnee immer dichter fiel, fragte ich mich allmählich, ob es so klug gewesen war, mitzugehen. Doch in Pagus Parvus hatte ich nichts mehr verloren, und so marschierte ich weiter und gab mir alle Mühe, optimistisch zu bleiben. Gegen Ende der Reise war ich so erschöpft, dass ich kaum mehr die Füße heben konnte. Die letzten paar Meilen trug mich Joe auf dem Rücken unter seinem Umhang. Ich konnte noch immer den Sturm heulen hören, aber allmählich wiegte mich der Rhythmus von Joes Schritten – trotz des Hinkens – in einen angenehmen Schlummer. Was danach geschah, habe ich nur noch undeutlich in Erinnerung, bis zu dem Moment, als ich aufwachte und merkte, dass ich ausgestreckt auf dem Boden lag.
Es war ein Lager aus belaubten Zweigen auf hartem Untergrund, und ich war mit meinem Umhang zugedeckt. Kein Schnee, kein Wind, keine Kälte. Ein paar Minuten blieb ich liegen, ohne mich zu bewegen, und genoss die Wärme und Behaglichkeit. Über mir sah ich eine Felsendecke, und als ich die Hand ausstreckte, spürte ich, dass der Boden sandig war. Ich setzte mich auf und blickte mich neugierig um. Ich befand mich in einer niedrigen Höhle, die von brennenden Fackeln an den Wänden erhellt war. Als ich das letzte Mal solche Fackeln gesehen hatte, in der Nacht, als Jeremiah gestorben war, hatten sie kein so angenehmes Licht verbreitet. Wenn ich mich konzentrierte, konnte ich draußen den Sturm heulen hören, aber es klang sehr weit weg. Zu meinen Füßen brannte ein Feuer, über dem ein geschwärzter Kessel hing. Was darin kochte, hatte einen vertrauten Geruch. Joe saß mit gekreuzten Beinen vor dem Feuer und hielt mir eine Tasse entgegen.
»Suppe?«
Nach dem Essen war Zeit zum Reden. Ausnahmsweise schien Joe meine Fragen diesmal gern zu beantworten. Er wirkte irgendwie anders als sonst, entspannt, als wäre er hier an einem vertrauten Ort.
»Es ist Zeit für die Wahrheit«, sagte er. »Wenn wir unsere Reise gemeinsam fortsetzen sollen, musst du mir vertrauen. Wenn du also etwas wissen möchtest, jetzt kannst du fragen.«
Wo anfangen? Ich war so nervös, dass ich zitterte, aber ich wusste, was ich sagen wollte. Diesen Moment hatte ich tagelang geprobt. »Erzählt mir von Euren Regeln.«
Joe nickte und fing an. »Es sind nur zwei, beide einfach, aber gerade ihre Einfachheit macht es schwer, sie einzuhalten. Ich denke, die erste kennst du.«
Ich kannte sie. »Man darf den Lauf der Dinge nicht ändern.«
»Genau. Das soll nicht heißen, dass ich keinen Einfluss habe. Schon die Tatsache, dass ich an einen Ort komme, wirkt sich in irgendeiner Weise auf die Zukunft aus, aber egal, wohin ich gehe: Jeder Mensch ist verantwortlich für sein eigenes Tun. Ich finde, von den beiden Regeln ist es diese, die schwerer zu befolgen ist. Ich habe schon schreckliche Dinge gesehen, Ludlow, und nicht einzugreifen ist manchmal qualvoll. In Pagus Parvus war ich fast jeden Tag versucht, mich über diese Regel hinwegzusetzen. Die Dorfleute brauchten meine Hilfe so dringend, aber ich musste ihren Bitten gegenüber taub sein. Ich weiß wirklich nicht, was ich ihrer Meinung nach tun sollte – vielleicht wollten sie, dass ich Jeremiah umbringe (das sagte er mit ironischem Unterton) –, aber ich konnte nur weitermachen wie immer und darauf hoffen, dass sie warten könnten. Jede andere Reaktion meinerseits hätte zu einer Katastrophe geführt. Dura lex sed lex. Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz.«
»Und die zweite Regel?«
»Auch die kennst du schon. Jedermann, egal wer es ist, verdient eine Chance zur Wiedergutmachung, eine Chance, etwas zu bedauern und um Gnade zu bitten. Selbst Leute wie Jeremiah Ratchet. Du wirst dich erinnern, dass ich ihm diese Gelegenheit gegeben habe, als er wegen des Buches kam.«
Ich erinnerte mich an den Anblick des um Hilfe winselnden Jeremiah, und mich schauderte.
»Freilich wollte er meine Hilfe in Wirklichkeit gar nicht«, fuhr Joe fort. »Trotzdem musste ich sie ihm anbieten. Du hast befürchtet, dass ich, falls er etwas gestanden hätte, sein Geheimnis gegen ihn verwenden würde. Es hat mir das Herz gebrochen, zu erleben, wie dein Vertrauen in mich ins Wanken geriet. Allerdings hat es mich sehr gefreut, dass du so um das Schicksal der Dorfleute besorgt warst. Von da an wusste ich, dass ich mich nicht in dir getäuscht hatte. Deine Loyalität ihnen gegenüber ist ein Wesenszug, der Bewunderung verdient. Wir handeln für die Menschen, Ludlow. Vergiss das nie.
Ich will nicht bestreiten, dass Jeremiahs Schicksal auf die eine oder andere Art besiegelt war, als ich nach Pagus Parvus kam, aber umgebracht hat er sich selbst, und zwar schon lange vor meiner Zeit dort: durch seine Selbstsucht, seine Habgier, seinen harten Charakter. – Das sind die Regeln, Ludlow, und ich befolge sie strikt.«
Er sah mich erwartungsvoll an, und ich hatte auch schon die nächste Frage auf den Lippen. »Das Geld, das Ihr in Pagus Parvus verteilt habt … woher stammt es?«
»Von einem Toten, ganz wie du vermutet hast, aber bevor du mich irgendwelcher Schandtaten verdächtigst, lass mich dir versichern, dass alles mit rechten Dingen zuging. Bevor ich nach Pagus Parvus kam, lebte ich eine Zeit lang in einer kleinen Stadt nahe der Grenze. Das Geschäft ging gut. Du wirst gleich auf den ersten Seiten des Schwarzen Buches einige Geheimnisse der dortigen Bewohner finden. Ich erinnere mich da an ein besonders interessantes von einem Sargmacher …«
Mir wurde das Herz schwer, ich spürte, dass ich puterrot wurde, und schlug die Hände vors Gesicht. »Ihr habt es gewusst!«
Joe grinste. »Natürlich habe ich es gewusst. Es war ja deutlich in deinem Gesicht zu lesen, als ich zurückkam.«
»Seid Ihr denn nicht böse?«
»Damals schon. Mehr auf dich als auf Polly. Aber wenigstens habt ihr auf den ersten Seiten angefangen.«
»Weiter hätten wir auch nicht gelesen«, sagte ich. »Wir hatten ein scheußliches Gefühl hinterher.«
»Dann bin ich ja froh«, sagte Joe lachend. »Das solltet ihr auch. Es wäre nicht schwer gewesen, dir ein Geständnis zu entlocken, aber ich fand es richtig, dich eine Weile mit deinem schlechten Gewissen allein zu lassen. Und das Buch unter deinem Kissen, nun, ich war überzeugt, es war Strafe genug, dass du es jede Nacht spüren musstest. Wie ich schon einmal gesagt habe: ›Quae nocent docent.‹«
Das waren die lateinischen Worte am Ende der Geschichte des Sargmachers.
»Es bedeutet: ›Aus Fehlern wird man klug.‹«
Jetzt fühlte ich mich noch schlechter. »Was ist also in dieser kleinen Stadt passiert?«, drängte ich, gespannt darauf, alles zu erfahren.
»Nach ein paar Wochen kam ich dahinter, dass der ortsansässige Arzt seine Patienten gezielt vergiftete und ihr Hab und Gut an sich brachte. Als er starb, belohnten mich die Einwohner mit einem üppigen Anteil aus seinem zusammengestohlenen Reichtum. Und dann zog ich weiter.«
»Aber wie ist er gestorben?«
»Nicht durch meine Hand, das schwöre ich.«
»Wie dann? Wieder durch vergiftete Pastete?«
Joe lachte. »Nein, es war ein Unfall, das versichere ich dir. Aber wir wollen das Thema nicht vertiefen. Es gibt Wichtigeres zu tun. Komm mit.«
Joe nahm seinen Ranzen und ging quer durch die Höhle zur gegenüberliegenden Wand, in der ich erst jetzt den Eingang eines Tunnels bemerkte. Ich zögerte, als ich vor der Öffnung stand, sie war schmal und dunkel, aber Joe war schon hindurchgegangen. Da nahm ich eine Fackel von der Wand und lief hinter ihm her.