7

„Wieviel Vorsprung haben Sie dadurch, Doktor?“

Raeker antwortete, ohne den Blick von den Bildschirmen des Roboters abzuwenden. „Wahrscheinlich die ganze restliche Nacht und noch einige Stunden dazu — wie lange eben der Fluß braucht, um nach Tagesanbruch auszutrocknen. Bis dahin sind es ungefähr zwanzig Stunden.“

„Vielleicht wachsen die Pflanzen in der Zwischenzeit genug, um die Spur des Roboters zu verdecken.

Wäre das nicht möglich?“

„Leider kann ich das nicht sagen.“

„Obwohl Sie diesen Planeten seit nunmehr sechzehn Jahren ununterbrochen beobachten? Wirklich, Doktor, allmählich müßten Sie etwas mehr darüber wissen.“

„In diesen sechzehn Jahren habe ich nie Gelegenheit gehabt, die Vegetation am Nordufer dieses Flusses zu beobachten“, erwiderte Raeker ungeduldig,

„und ich weiß nur von Nick, daß Swift ein guter Fährtenleser ist; wie gut, kann ich von hier aus nicht beurteilen. Ich weiß, daß die letzten drei Wochen bestimmt nicht leicht für Sie gewesen sind, Councillor; aber wenn Sie nichts als destruktive Kritik zu bieten haben, helfen Sie Ihrer Tochter keineswegs. Allmählich erinnert mich Ihre Art fast an Aminadabarlee.“


„Ich bin froh, daß Sie diesen Namen erwähnt haben.“ Rich schien überraschenderweise keineswegs beleidigt zu sein. „Doktor, mir ist durchaus klar, daß Sie unter der brüsken Art des Drommianers zu leiden haben — aber trotzdem müssen Sie anerkennen, daß Aminadabarlee im Vergleich zu seinen Landsleuten ein sanftmütiges Lamm ist, denn sonst hätte er diesen verantwortungsvollen Diplomatenposten nie bekommen. Deshalb muß ich Sie ausdrücklich bitten, in seiner Gegenwart nicht ungeduldig zu werden, selbst wenn er Sie herausfordert oder sogar beleidigt. Leider besteht tatsächlich die Möglichkeit, daß er seine Drohung wahrmacht. Was das bedeuten würde, brauche ich Ihnen wohl nicht ausführlicher zu erklären, denn ein Mann von Ihrer Intelligenz müßte die schwerwiegenden Folgen dieser Handlungsweise selbst überblicken können. Ich übertreibe keineswegs, wenn ich sage, daß ich noch nie in meiner gesamten Dienstzeit eine ähnliche Krisensituation erlebt habe.“

Raeker starrte Rich einen Augenblick lang an.

„Das war mir bisher noch nicht klar“, sagte er langsam. „Aber ich muß Ihnen leider mitteilen, daß diese Tatsache meine Bemühungen zur Rettung der beiden Kinder nicht beeinflussen wird; ich habe schon mein Bestes getan.“

„Das glaube ich, aber ich mußte mit Ihnen über diese andere Sache sprechen. Wäre Aminadabarlee nicht hier, hätten Sie es vermutlich einfacher; aber nachdem Sie sich nicht vor ihm verstecken können, müssen Sie ihn wenigstens zu verstehen versuchen.

Denken Sie immer daran — unter allen Umständen die Beherrschung bewahren! Ich versichere Ihnen, daß er Ihre Ruhe nicht für Feigheit halten wird; das entspräche gar nicht seiner Denkweise. Er wird Sie um so eher respektieren — und ich ebenfalls.“

„Ich werde mich bemühen“, versprach Raeker,

„aber im Augenblick bin ich froh, wenn er sich ein paar Stunden lang nicht sehen läßt. Ich muß Nick über den Fluß bringen, und Nick ist in gewisser Beziehung mein Kind. Wir können uns gern unterhalten, solange alles in Ordnung ist, aber Sie dürfen nicht überrascht sein, wenn ich mich mitten im Satz unterbreche. Haben Sie mit den Kindern gesprochen?“

„Ja. Sie halten sich bewundernswert. Zum Glück ist der Drommianer mit dort unten; ich fürchte, daß Easy schon einen Nervenzusammenbruch bekommen hätte, wenn sie sich nicht für ihren ›Mina‹ verantwortlich fühlen würde. Er scheint davon überzeugt zu sein, daß sie allen Schwierigkeiten gewachsen ist, so daß wir zunächst in dieser Beziehung keine Sorgen zu haben brauchen. Habe ich Ihnen schon erzählt, daß Mister Sakiiro festgestellt hat, weshalb die Elektrolyse nicht in Gang gekommen ist? Die Inspektionsluken waren noch nicht verschlossen, so daß die Kontakte korrodierten, als der Bathyskaph in die Planetenatmosphäre eindrang. Mister Sakiiro will versuchen, den Schaden von Ihren Leuten beheben zu lassen.“

„Ich weiß. Ich habe schon darüber nachgedacht; aber das bedeutet, daß wir sie zuerst finden müssen, und daß sie den Bathyskaphen finden müssen. Glücklicherweise können die Kinder unbegrenzt lange dort unten leben; die Maschine versorgt sie mit Essen, Wasser und Luft.“

„Richtig, aber Easy kann die starke Schwerkraft nicht ewig ertragen.“

Raeker runzelte die Stirn. „Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Haben die Ärzte Ihnen gesagt, wie lange sie es dort unten aushalten kann?“

„Sie wußten es selbst nicht. Erwachsene könnten monatelang leben, aber mit Kindern hat man bisher noch nie ähnliche Versuche unternommen.“

„Hm, das ist allerdings schwierig. Wenigstens haben Sie jetzt einen guten Grund, Aminadabarlee gegenüber energischer aufzutreten. Schließlich macht die Schwerkraft seinem Sohn nichts aus.“

„Nein, aber dafür etwas anderes. Der Bathyskaph erzeugt nur menschliche Synthetiknahrung.“

„Und? Haben die Drommianer denn nicht den gleichen Metabolismus wie wir? Sie atmen Sauerstoff, und ich habe selbst gesehen, daß sie an Bord der Vindemiatrix an unseren Mahlzeiten teilgenommen haben.“

„Richtig, aber sie brauchen trotzdem andere Vitaminkombinationen, obwohl sie die gleichen Fette, Kohlehydrate und Proteine aufnehmen. Wenn ›Mina‹ noch längere Zeit dort unten bleiben muß, leidet er bestimmt unter Vitaminmangel.“

Raeker pfiff leise vor sich hin und zog nachdenklich die Augenbrauen in die Höhe. Rich dachte bereits, daß der andere sich wegen der Ereignisse auf Tenebra Sorgen mache, aber die Bildschirme zeigten noch immer das Flußbett. Der Diplomat beobachtete schweigend, wie der Roboter weiterrollte und schließlich das gegenüberliegende Ufer erreichte.

Es regnete noch immer, deshalb mußte Fagin die Scheinwerfer einschalten, um den Tropfen ausweichen zu können, bis Nick wieder bei Bewußtsein war.

Etwa zehn Minuten später setzten die beiden ihren Marsch fort, nachdem Nick eine neue Fackel entzündet hatte. Allerdings brauchten sie jetzt keine Verfolgung mehr zu befürchten.

Dann kam der Mann herein, der die Wache übernehmen sollte. Raeker ließ sich ungern ablösen, weil die Lage noch nicht völlig geklärt war; aber er wußte, daß kein Mensch die ganze Nacht lang konzentriert aufmerksam bleiben konnte. Deshalb wies er seine Ablösung ein und verließ dann zögernd den Raum.


„Ich kann bestimmt nicht gleich schlafen“, sagte er zu Rich. „Vielleicht gehen wir noch einmal in die Nachrichtenzentrale und sprechen mit Easy.“

„Vor zwei Stunden hat sie noch fest geschlafen“, antwortete der Vater des Mädchens. „Deswegen hatte ich Zeit für die Unterhaltung mit Ihnen. Aber wir können nachsehen, ob sie unterdessen aufgewacht ist.“

In der Zwischenzeit hatte sich nichts ereignet, berichtete der Nachrichtenoffizier; aber die beiden Männer ließen sich trotzdem vor dem Bildschirm nieder. Beide schwiegen, denn jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Raeker war schon fast eingeschlafen, als Easys Stimme aus dem Lautsprecher drang.

„Dad! Hörst du mich?“ Rich war bestimmt genauso schläfrig wie Raeker, aber er antwortete sofort.

„Ja, Liebling. Was ist los?“

„Wir bewegen uns. ›Mina‹ schläft noch, und ich will ihn nicht aufwecken, aber ich dachte, ich sollte es dir lieber sagen.“

„Sprich lieber gleich mit Doktor Raeker; er kennt Tenebra besser als jeder andere.“

„Ausgezeichnet. Doktor Raeker, Sie erinnern sich doch noch an die erste Nacht nach unserer Landung auf Tenebra, als das Wasser allmählich höher stieg?“

„Ja, Easy. Vermutlich hat der Regen die Säure verdünnt, so daß der Bathyskaph tiefer eintauchte.“


„Seitdem ist es jede Nacht wieder so gewesen; wir liegen so tief im Wasser, daß sogar die oberen Bullaugen überspült werden.“

„Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen. Aber in diesem Fall könnt ihr doch überhaupt nicht hinaussehen, vermute ich; wie haben Sie also festgestellt, daß der Bathyskaph sich bewegt?“

„Wenn ich die Scheinwerfer einschalte, sehe ich genug; wir befinden uns auf dem Boden eines Meeres oder eines Sees, wo deutlich Felsen und Pflanzen zu erkennen sind. Wir bewegen uns langsam darüber hinweg und stoßen nur gelegentlich an.“

„Aha. Ich glaube nicht, daß ein Grund zur Besorgnis besteht, obwohl ich selbst gern wissen möchte, was diese plötzliche Veränderung hervorgerufen hat. Bei Tagesanbruch verdampft das zusätzliche Wasser, so daß der Bathyskaph wieder an die Oberfläche gelangt, falls er sich noch in einem See oder Meer befindet. Vielleicht schwimmt ihr aber auch in einem Fluß, so daß ihr strandet, wenn das Wasser verdunstet. Wenigstens ist dann die Landschaft etwas abwechslungsreicher.

Unsere größte Schwierigkeit besteht darin, eure genaue Position auszumachen. Wenn ihr jede Nacht in eine andere Richtung treibt, wird die Suche immer schwieriger. Sie müssen uns alle Veränderungen der Umgebung genau beschreiben, damit wir Nick und seine Freunde benachrichtigen können. Daß Sie sich sofort mit uns in Verbindung gesetzt haben, war richtig, denn wir sind auf Sie angewiesen.“

„Danke, Doktor. Wir halten die Augen offen. Ich möchte Ihren Freund Nick gern kennenlernen.“

„Wir tun alles, damit Sie ihn bald zu Gesicht bekommen. Falls Sie wirklich in der Nähe des Roboters gelandet sind, kann es nicht mehr lange dauern, bis er mit Ihnen zusammentrifft.“

„Vielleicht bleibe ich lieber noch einige Zeit wach, damit ich Sie benachrichtigen kann, falls Veränderungen eintreten. Später kann ›Mina‹ mich ablösen, damit ich etwas Schlaf bekomme.“

„Einverstanden. Hier oben sitzt immer jemand am Lautsprecher, mit dem Sie sich unterhalten können.“

Raeker schaltete das Mikrophon aus und wandte sich an Rich. Der Diplomat sah ihn nachdenklich an.

„Wieviel davon war eigentlich als moralische Aufrüstung für Easy oder mich gedacht?“ fragte er.

„Ich habe alles so gut wie möglich dargestellt“, gab Raeker zu. „Aber ich habe trotzdem nicht gelogen.

Ich weiß, daß ich meine Leute in absehbarer Zeit zu dem Bathyskaphen führen kann; ich gebe aber auch zu, daß ich noch nicht weiß, was sie dort ausrichten werden. Wir haben keine Ahnung, wie die Maschine im Augenblick von außen aussieht, und müssen erst auf Nicks Bericht warten, bevor wir uns für bestimmte Anweisungen entscheiden.“


Rich starrte den Biologen einen Augenblick lang an, dann nickte er leicht. „Das klingt sehr vernünftig“, sagte er. Vielleicht hätte er noch etwas hinzufügen wollen, aber dazu fand er keine Gelegenheit mehr.

„Nein, das klingt geradezu idiotisch!“ Die schrille Stimme war nicht zu verkennen. „Hier wird immer nur davon gesprochen, wie man diesen Wilden beibringen kann, eine Maschine zu reparieren, die ihrer Kultur zweitausend Jahre voraus ist. Dabei steht bei diesem Unsinn nicht nur das Leben eines Menschen, sondern auch das eines Drommianers auf dem Spiel!

Eigentlich müßte doch sogar ein Dreijähriger einsehen, daß nur ein zweiter Bathyskaph Aussicht hat, eine Rettungsaktion erfolgreich durchzuführen. Aber bisher ist von dieser Möglichkeit überhaupt noch nicht gesprochen worden. Ich nehme an, daß Menschen eher an die damit verbundenen Kosten als an das Leben der Betroffenen denken.“

„Ich habe bisher von keinem Funkspruch nach Dromm gehört, in dem ein ähnlicher Vorschlag gemacht wurde“, gab Raeker wütend zurück. „Schließlich ist die industrielle Kapazität Ihres Heimatplaneten mindestens ebenso groß wie die der Erde, und Dromm ist keineswegs weiter von Altair entfernt.

Aber anscheinend sind Sie der Auffassung, die ganze Sache sei eben nicht Ihre Schuld, und kümmern sich deshalb nicht darum.“


Keiner der Anwesenden konnte Aminadabarlees Reaktion beurteilen, denn Rich mischte sich ein, bevor der Drommianer antworten konnte.

„Doktor Raeker, Sie vergessen sich“, sagte er mißbilligend. „Wenn Councillor Aminadabarlee mich begleiten will, werde ich seine wertvolle Anregung mit ihm besprechen. Fall Sie noch einen Vorschlag zu machen haben, können Sie sich mit mir in Verbindung setzen.

Bitte kommen Sie, Sir.“ Die beiden Diplomaten verließen den Raum. Der Wachoffizier warf Raeker einen besorgten Blick zu. „Drommianer lassen sich nicht gern auf diese Weise ansprechen“, meinte er dann.

„Ich weiß“, antwortete Raeker. „Rich hat vorher mit mir darüber gesprochen. Ich habe es nicht absichtlich getan, aber ich wollte Rich auf andere Gedanken bringen.“

„Das ist ziemlich riskant. Der Drommianer kann seine Landsleute so gegen die Erde aufhetzen, daß unser Handel praktisch zum Erliegen kommt.“

„Ja, das habe ich bereits gehört“, erwiderte der Biologe unsicher. „Aber bisher war ich immer der Auffassung, die Lage könne unmöglich so ernst sein.

Vielleicht war ich wirklich zu voreilig. Jedenfalls haben Rich und der Drommianer jetzt etwas zu tun und lassen uns in Ruhe; konzentrieren wir uns lieber auf die Rettung der Kinder. Von jetzt ab lasse ich die Finger aus diesem diplomatischen Pokerspiel.“


„Hoffentlich! Was halten Sie von dem Vorschlag, einen zweiten Bathyskaphen zu bauen?“

„Ich bin kein Ingenieur“, sagte Raeker, „aber ich kann mir trotzdem vorstellen, wie lange der Bau eines zweiten dauern würde. Ich bin Biologe, und meiner Überzeugung nach wären beide Kinder längst tot, bevor der Bathyskaph einsatzbereit gemacht werden könnte. Wenn Rich und der Drommianer es damit versuchen wollen, werde ich sie nicht davon abhalten; der Versuch kann nicht schaden, und vielleicht wird die Maschine sogar schneller fertig. Aber ich bin trotzdem der Meinung, daß wir unseren bisherigen Plan weiterhin verfolgen müssen.“

„Hat der Drommianer recht gehabt?“

„Sie meinen, daß wir Nick und seine Gruppe einsetzen wollen, damit sie die Reparatur vornehmen?

Ja. Der Gedanke ist keineswegs so lächerlich, wie Aminadabarlee behauptet hat. Ich habe Nick und die anderen sechzehn Jahre lang ausgebildet; sie sind genauso intelligent wie Menschen und können bestimmt ein paar Drähte spleißen.“

Der Wachoffizier runzelte zweifelnd die Stirn.

„Wenn sie nur die richtigen Drähte miteinander verbinden“, murmelte er. „Und womit wollen sie das Zeug isolieren?“

„Sie stellen einen Leim aus Tierschuppen her — ich habe ihnen das Verfahren erklärt. Natürlich müssen wir erst feststellen, ob er genügend isoliert, aber deswegen mache ich mir noch keine Sorgen.“

„Obwohl Sie annehmen müssen, daß ein Teil der Körperflüssigkeit dieser Eingeborenen aus Schwefelsäure besteht?“

„Keine größeren Sorgen, wollte ich sagen“, antwortete Raeker. „Im Augenblick besteht unser größtes Problem darin, daß wir Nicks Gruppe in die Nähe des Bathyskaphen bringen. Können Sie die Position der Maschine und des Roboters wirklich nicht genauer bestimmen?“

„Leider nicht. Die Chancen, daß die beiden nicht mehr als vierzig Kilometer voneinander entfernt sind, stehen etwa fünfzig zu fünfzig. Außerdem können wir mit neunzigprozentiger Sicherheit behaupten, daß sie nicht weiter als hundert Kilometer entfernt sein dürften. Mehr kann ich nicht versprechen, denn unsere Messungen sind zu ungenau, weil die Ortungsmöglichkeiten sehr beschränkt sind.“

„Das ist eben nicht zu ändern. Ich muß mir die Umgebung von Easy beschreiben lassen und sie mit Nicks Karten vergleichen. Wenigstens brauchen wir die Eingeborenen nicht bis an den Bathyskaphen zu führen; die Scheinwerfer sind kilometerweit sichtbar.“ Der Offizier nickte, und die beiden Männer starrten schweigend auf den Bildschirm. Falls Easy weiterhin Wache hielt, wie sie versprochen hatte, war sie jedenfalls nicht in dem Kontrollraum. Von Zeit zu Zeit hörten die Männer leise Geräusche; vermutlich trieb das Schiff weiter in einer Strömung, aber bisher hatten sich noch keine Veränderungen ergeben, die das Mädchen erwähnenswert gefunden hätte.

Raeker döste schließlich in seinem Sessel ein. Der Offizier blieb wach, erhielt aber nur die kurze Benachrichtigung, daß Easy jetzt schlief, während Aminadorneldo die Beobachtung übernahm. Auch er schien nichts Bemerkenswertes zu sehen; der Lautsprecher blieb stumm, nachdem das Mädchen sich abgemeldet hatte.

Der Bathyskaph trieb weiter. Gelegentlich blieb er für Sekunden oder sogar Minuten unbeweglich; aber die Reise führte stets wieder weiter, denn die Strömung riß ihn über die Hindernisse hinweg. Easy wachte wieder auf und bereitete eine reichlich fade Mahlzeit zu — so drückte sie sich wenigstens aus.

Aminadorneldo war höflich genug, alles auf die Synthetiknahrung zu schieben; schließlich kann man aus Aminosäuren, Fetten und Traubenzucker nicht allzuviel machen, selbst wenn man Vitaminpulver zugibt.

Die lange Nacht auf Tenebra war noch nicht vorüber; Raeker nahm wieder seinen Dienst in dem Kontrollraum auf und führte Nick und Fagin bis an eine Stelle, die seiner Meinung nach in der Nähe der Gruppe lag. Eine Nacht auf einem Planeten, dessen Rotationsgeschwindigkeit fast hundert Stunden für eine Drehung um die eigene Achse erfordert, kann ziemlich langweilig sein. Allerdings brauchte sie es nicht zu sein, überlegte Raeker, als er sich an die Nacht erinnerte, in der Swift das Dorf überfallen hatte.

Nach Tagesanbruch schien eine Besserung in Sicht — aber jetzt war Raeker bereits wieder schläfrig. Nick erkannte die Gegend wieder, in der er sich im Augenblick mit Fagin befand, und behauptete zuversichtlich, daß sie innerhalb der nächsten beiden Stunden auf den Rest der Gruppe stoßen würden. Raekers Ablösung meldete sich und mußte genauestens eingewiesen werden. Aus der Nachrichtenzentrale kam die Mitteilung, daß der Bathyskaph sich nicht mehr bewegte.

„Richten Sie bitte Leutnant Wellenbach aus, daß er nach Möglichkeit hier einen Bildschirm installieren lassen möchte, der mit der Zentrale verbunden ist“, sagte Raeker zu der Ordonnanz, die die Nachricht gebracht hatte. „Ich hoffe, daß ich mich schon bald mit dem Bathyskaphen und meinen Schülern unterhalten muß.“

„Selbstverständlich, Sir“, antwortete die Ordonnanz. „Das läßt sich bestimmt ohne weiteres machen.“

„Ausgezeichnet. Ich gehe jetzt in die Zentrale, höre mir Easys Bericht an und komme wieder zurück, wenn der Bildschirm installiert ist.“

„Sie sollten lieber schlafen, Doktor“, mahnte der Mann, der ihn abgelöst hatte.

„Eigentlich schon, aber vorläufig habe ich keine Zeit dazu. Sie machen auch nach meiner Rückkehr Dienst und schreiten sofort ein, wenn ich irgendwelchen Blödsinn anstelle.“

„Wird gemacht.“ Der andere zuckte mit den Schultern. Raeker wußte, daß er unvernünftig war, aber vorläufig würde er ohnehin nicht schlafen können. Er ging in die Nachrichtenzentrale.

Rich und Aminadabarlee waren ebenfalls dort. Der Diplomat hatte den Drommianer offenbar beruhigt, denn Raekers Erscheinen verursachte keinen neuen Wutanfall. Easy sprach, als der Biologe den Raum betrat.

„… Minuten, seit wir uns zuletzt bewegt haben.

Draußen ist es nicht heller geworden, aber unterdessen muß es Tag geworden sein, wenn ich richtig mitgerechnet habe. Wahrscheinlich hat die Strömung nachgelassen, weil das Wasser bereits verdampft.“

Sie machte eine Pause, und Raeker sprach sie an.

„Easy, haben Sie oder ›Mina‹ irgendwelche Tiere im Wasser beobachtet?“

„Nein, nur Pflanzen — oder was uns wie Pflanzen erschien.“

„Wie steht es jetzt damit?“

„Noch immer nichts.“

„Dann haben Sie meiner Auffassung nach das Meer noch nicht erreicht. Dort gibt es nämlich Tiere, von denen Nick berichtet hat. Andererseits besteht die Möglichkeit, daß sie wegen der Scheinwerfer nicht zu nahe kommen. Können Sie die Lampen fünf Minuten lang ausmachen und sie dann plötzlich wieder einschalten? Vielleicht ist dann etwas zu sehen.“

„Einverstanden, solange ich die Innenbeleuchtung nicht ausschalten muß. Hier sind ohnehin keine Bullaugen, so daß der Lichtschein nicht nach außen dringen kann. Ich möchte die Beleuchtung nicht gern ausschalten, weil ich dann in der Dunkelheit den falschen Schalter betätigen könnte.“

„Sie haben recht; daran hätte ich nie gedacht.“

„Ich habe in den vergangenen drei Wochen über vieles nachgedacht.“

Einen Augenblick lang erkannten die Männer hinter der zuversichtlichen Maske, die Easy für ›Mina‹ aufgesetzt hatte, die nervöse, erschrockene Zwölfjährige, deren Selbstbeherrschung bis an die Grenze des Möglichen beansprucht worden war. Rich biß sich auf die Unterlippe und ballte die Fäuste; die anderen Männer sahen nicht zu ihm hinüber. Aminadabarlee ließ keine Gefühle erkennen; Raeker fragte sich, ob er überhaupt welche empfand. Dann wandte das Mädchen sich wieder in ihrer üblichen Art an den jungen Drommianer.

„Gehst du bitte an das Bullauge im Arbeitsraum,

›Mina‹? Wenn du dort bist, rufst du, damit ich die Scheinwerfer ausschalten kann.“

„Sofort, Easy.“ Sekunden später meldete ›Mina‹ sich aus dem Nebenraum. Das Mädchen betätigte nacheinander die Lichtschalter.

„Ist es draußen jetzt dunkel?“

„Ja, Easy. Ich kann nichts erkennen.“

„Ich weiß, aber die Scheinwerfer müssen längere Zeit ausgeschaltet bleiben. Doktor Raeker, ist ›Minas‹ Vater bei Ihnen?“

„Ja, Miß Rich.“ Aminadabarlee antwortete selbst.

„Vielleicht erzählen Sie Doktor Raeker und mir lieber, wie lange die Augen eines Drommianers brauchen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, Sir.“

Raeker wunderte sich wieder einmal über die erstaunliche Intelligenz des Mädchens. Er kannte Studenten, die zehn Jahre älter und doch erheblich langsamer waren — Easy dachte gelegentlich sogar rascher als er selbst, obwohl sie genügend andere Sorgen hatte …

Er beschäftigte sich wieder mit der Gegenwart, als das Mädchen seinen Namen rief.

„Doktor Raeker, ›Mina‹ hat nichts gesehen. Aber vielleicht waren die fünf Minuten zu kurz?“

„Vielleicht“, gab Raeker zu. „Andererseits sind die Tiere unter Umständen gar nicht an dem Bathyskaphen interessiert. Jedenfalls können wir vorläufig annehmen, daß Sie das Meer noch nicht erreicht haben. Wahrscheinlich stranden Sie irgendwo, wenn der Regen tagsüber verdunstet. In diesem Fall hätte ich gern eine möglichst genaue Beschreibung der Umgebung, in der Sie sich befinden.“

„Ich weiß. Wir werden unser Bestes tun.“

„Wir versuchen zu arrangieren, daß Sie mehr oder weniger direkt mit Nick in Verbindung treten können, sowie Sie ihm selbst Hinweise geben können.

Dadurch wird der Umweg über uns vermieden.“

„Das wäre gut. Aber kann ich denn nicht einfach mit ihm sprechen, ohne diese ganzen Geräte zu benützen? Sind an dem Bathyskaphen keine Außenmikrophone und Lautsprecher angebracht?“

„Natürlich. Mister Sakiiro wird Ihnen erklären, wie sie in Betrieb gesetzt werden. Die jetzige Lösung gilt nur vorläufig, bis Nick den Bathyskaphen gefunden hat.“

„Einverstanden. Wir setzen uns wieder mit Ihnen in Verbindung, wenn das Wasser verdampft ist. Im Augenblick sind wir beide hungrig.“

Raeker dachte an seinen knurrenden Magen und ließ sich ebenfalls einen Imbiß bringen. Unterdessen war er völlig übermüdet, aber dann erhielt er die Mitteilung, daß der angeforderte Bildschirm bereits angebracht worden war. Folglich mußte er ihn überprüfen und ging in seinen Kontrollraum zurück, den er erst einige Stunden später wieder verlassen konnte.

Nick und Fagin waren vor wenigen Minuten auf den Lagerplatz der Gruppe gestoßen, und Nick berichtete den anderen von den Ereignissen der letzten Nacht. Raeker mußte aufmerksam zuhören, denn leider bestand immer die Möglichkeit, daß ein Eingeborener die Dinge anders als die menschlichen Beobachter an Bord der Vindemiatrix beurteilte und beschrieb.

Das war schon öfters vorgekommen, denn selbst eine menschliche Erziehung hatte aus den Eingeborenen keine Menschen gemacht.

Diesmal hatte Raeker keine Einwände gegen Nicks Bericht aber er mußte noch erfahren, was die anderen in der Zwischenzeit unternommen hatten. Auf Nicks Vorschlag hin hatten sie genaue Karten der Umgebung angefertigt, die sie jetzt nacheinander erläuterten.

Wie üblich wurden die Karten dem Roboter gezeigt, so daß sie fotografiert werden konnten; dann folgten ausführliche Erklärungen, weil nicht alle Einzelheiten zeichnerisch festgehalten worden waren.

Diese Erläuterungen wurden auf Band gespeichert und den Geologen zur Auswertung und Übertragung auf größere Karten übergeben. Selbstverständlich nahmen die Berichte längere Zeit in Anspruch. Fast zu lange Zeit.

Raekers Ablösung war nicht ausreichend über die Gefahr informiert worden, die vielleicht noch immer von Swift ausging; und Raeker selbst hatte seit seiner Rückkehr in den Kontrollraum nicht mehr daran gedacht. Keiner von den beiden war auf den Gedanken gekommen, Nick zu empfehlen, einen Posten aufzustellen. Deshalb wurde die Gefahr nur zufällig rechtzeitig entdeckt.

Während Jane ihre Karte erläuterte, sah Betsey eine Bewegung auf einem der Hügel. Sie wollte schon die anderen warnen, schwieg aber doch, bis sie deutlich erkannt hatte, daß sich dort ein Eingeborener versteckt hielt. Da ihre eigene Gruppe vollzählig um Fagin versammelt war, konnte es sich nur um einen von Swifts Kriegern handeln, obwohl sie keine Erklärung dafür fand, wie er in so kurzer Zeit hierher gekommen war.

Betsey wandte sich leise an Jim und Nick, die neben ihr standen.

„Laßt euch nicht anmerken, daß ihr etwas sucht — aber dort drüben auf dem Hügel liegt einer der Höhlenbewohner und beobachtet uns. Was sollen wir tun?“

Nick dachte angestrengt nach.

„Ich sehe nur einen. Und ihr?“

„Ebenfalls.“

„Ihr kennt euch hier besser aus als ich. Kann man den Hügel dort drüben von beiden Seiten umgehen, ohne gesehen zu werden?“ Jim und Betsey überlegten und antworteten fast gleichzeitig.

„Ja, von beiden Seiten.“

„Ausgezeichnet, dann könnt ihr gleich aufbrechen.

Verschwindet möglichst unauffällig, als wolltet ihr nur auf die Herde aufpassen. Wenn er euch nicht mehr sehen kann, macht ihr einen weiten Bogen und bringt ihn lebend hierher. Ich möchte unbedingt wissen, wie er so rasch den Weg zurückgelegt hat — und Fagin ebenfalls, das steht fest.“

„Sollen die anderen oder er etwas davon erfahren?“

„Noch nicht. Sie benehmen sich unauffälliger, wenn sie nichts davon wissen. Außerdem stehen noch einige Berichte aus, und Fagin hat Unterbrechungen nicht gern.“

„Ich weiß, aber hier handelt es sich doch um einen Sonderfall.“

„Trotzdem überraschen wir ihn lieber mit einem Gefangenen. Am besten nehmt ihr Äxte mit; die Höhlenbewohner haben anscheinend Angst davor. Vielleicht läßt er sich dann eher gefangennehmen.“

„Wird gemacht.“ Jim und Betsey gingen in Richtung auf die Herde davon. Die anderen schienen nicht darauf zu achten, und Nick tat sein Bestes, um nicht aufgeregt zu wirken, als die beiden davonschlenderten.

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