11

Nick starrte zum hundertstenmal in die Richtung, in der das Meer lag. Er hätte fast einen Wutanfall bekommen. Selbstverständlich war das Meer von hier aus nicht zu sehen; das Lager war weit von ihm entfernt aufgeschlagen worden, um nachts nicht überflutet zu werden, aber Nick wußte, daß das Meer dort lag. Er wollte es jedoch sehen und sogar darauf herumfahren. Er wollte es erforschen und in seine Karte aufnehmen. Mit dem letzten Problem beschäftigte er sich einige Zeit, bis er den Gedanken vorläufig fallenließ. Fagin würde ihm erklären, wie man dabei vorzugehen hatte; in der Zwischenzeit mußte vor allem ein Boot gebaut werden.

Das war wieder ein Grund zu neuem Ärger, denn bevor die Suchmannschaften zurück waren, war an den Bau nicht zu denken. Selbstverständlich waren Nick und Betsey nicht den ganzen Tag lang mit Viehhüten und Holzsammeln beschäftigt, aber trotzdem konnten sie nicht gleichzeitig auf die Jagd gehen; und für das Boot wurden sehr viele Felle benötigt.

Nick konnte die Zahl nicht schätzen, und Fagin hatte sich zu seiner Überraschung geweigert, den Bedarf zumindest überschlägig anzugeben. Das war allerdings nur vernünftig, denn Raeker, der selbst kein Physiker war, kannte weder die genaue Dichte des Meeres noch die Tragfähigkeit eines der geplanten Luftkissen noch das wirkliche Gewicht jedes seiner Schüler. Deshalb gab er Nick nur den guten Rat, er solle sich selbst mit diesem Problem beschäftigen — eine Methode, die in der Vergangenheit stets zu guten Ergebnissen geführt hatte.

Trotzdem mußte jemand auf die Jagd gehen, denn es wäre unsinnig gewesen, ein Stück Vieh für diesen Versuch zu opfern. Betsey suchte die umliegenden Täler in der Hoffnung ab, dort etwas Geeignetes zu finden — die Schwebetiere in der Umgebung kamen schon lange nicht mehr in die Nähe der Herde, und die vielen, die es früher doch versucht hatten, waren schon längst von Aasfressern vertilgt worden. Außerdem wäre ihre Haut ohnehin zu dünn gewesen, um gutes Leder zu liefern.

Natürlich bestand kein Zweifel daran, daß Betsey mit einem geeigneten Fell zurückkommen würde, aber Nick wünschte, sie würde sich etwas beeilen.

Geduld war nicht eben seine Stärke, was sogar Easy bereits aufgefallen war.

Als Betsey endlich zurückkam, war Nicks Zorn sofort verflogen; sie hatte nicht nur eine geeignete Haut mitgebracht, sondern sie auch gleich entschuppt, so daß Nick sich damit nicht mehr aufhalten mußte. Betsey hatte daran gedacht, zu welchem Zweck die Haut dienen sollte, und hatte sie so wenig wie möglich zerschnitten; trotzdem blieb noch viel Arbeit zu tun, wenn daraus ein einigermaßen dichter Sack werden sollte.

Die Zubereitung des Leims nahm beträchtliche Zeit in Anspruch, obwohl das Zeug keine lange Trockenzeit erforderte — genau genommen trocknete der Leim nicht völlig, sondern bildete nur eine genügend klebefähige Schicht zwischen verschiedenen Materialien.

Schließlich war der Sack fertiggestellt und wurde zu dem Teich hinuntergetragen, an dem der Versuch mit dem Eimer stattgefunden hatte.

Nick warf den Sack hinein und war nicht im geringsten überrascht, als er ebenfalls schwamm; das war schließlich nicht der Zweck des Versuchs. Dann watete er selbst in den Teich hinein und versuchte auf den Sack zu klettern.

Das Ergebnis seiner Bemühungen erschien weder Nick noch Betsey besonders amüsant, aber als Raeker später davon hörte, bedauerte er doch, daß er das Experiment nicht verfolgt hatte. Nick verfügte über einen guten Gleichgewichtssinn, was allerdings kein Wunder war, nachdem er sein ganzes Leben auf einem Planeten verbracht hatte, dessen Oberfläche sich gelegentlich plötzlich veränderte; aber dem mit Luft gefüllten Sack, der auf dem Teich schwamm, war er doch nicht gewachsen.


Das Ding wollte einfach nicht unter ihm bleiben, obwohl er sich alle erdenkliche Mühe gab, seine acht Arme und Beine so zu gebrauchen, daß er es kontrollieren konnte. Immer wieder fiel er in den Teich zurück, der ihm zum Glück nur bis zur Hüfte reichte; dabei glich er einem Zehnjährigen, der auf einem riesigen Wasserball das Gleichgewicht zu halten versucht.

Es dauerte einige Zeit, bis der Versuch ein brauchbares Ergebnis zeigte, denn Nick wurde von Mal zu Mal wütender und wollte unbedingt beweisen, daß er mit diesem Problem fertig werden konnte. Erst nach zahlreichen vergeblichen Anläufen machte er eine Pause und überlegte. Da er nicht dumm war und zudem wußte, welche Kräfte hier zu berücksichtigen waren, fiel ihm schließlich eine Lösung ein.

Auf seine Anweisung hin watete Betsey ebenfalls in den Teich hinein, stellte sich auf der anderen Seite des Sackes auf und griff von dort aus nach Nicks Händen. Dann setzten sie vorsichtig nacheinander die Füße auf den Sack und brachten es tatsächlich fertig, nicht sofort wieder in den Teich zu fallen. Leider wurde dadurch aber auch überzeugend bewiesen, daß der eine Sack sie nicht beide tragen konnte; er verschwand nämlich tief unter der Oberfläche.

Nick und Betsey wateten ans Ufer zurück und zogen den Sack hinter sich her. „Ich habe noch immer keine Ahnung, wie viele wir brauchen, aber anscheinend sind es eine ganze Menge“, stellte er fest. „Wahrscheinlich werden wieder zwei bei der Herde bleiben müssen, während die anderen sich auf den Weg machen.

Meiner Meinung nach können wir vorläufig nichts Besseres tun, als möglichst viele Säcke herzustellen.“

„Du hast etwas vergessen“, meinte Betsey. „Wie sehen wir überhaupt nach Fagins Anweisungen arbeiten, wenn wir nur mit Mühe das Gleichgewicht halten können? Ich finde, daß dieses Problem auch noch gelöst werden muß.“

„Richtig“, stimmte Nick zu. „Nachdem wir selbst einen Versuch unternommen haben, erzählt Fagin uns vielleicht eher, was wir noch tun können. Wenn nicht, können wir uns vielleicht an Easy wenden, deren Stimme er uns aus dem Schiff schickt, das wir suchen sollen.

Mir ist übrigens vorher etwas eingefallen, Betsey.

Du hast doch auch gehört, daß er erklärt hat, wie Maschinen Stimmen von einem Ort zum anderen schikken können. Vielleicht ist Fagin gar nicht hier unten bei uns; vielleicht ist er nur eine Maschine, die uns seine Stimme bringt? Was hältst du davon?“

„Sehr interessant und vermutlich möglich; aber welchen Unterschied macht es denn?“

„Natürlich keinen. Ich möchte es nur wissen; du weißt selbst, daß Fagin immer behauptet, je mehr man weiß, desto besser kommt man im Leben zurecht. Bisher vermute ich das alles nur, aber ich werde darauf achten, ob ich nicht doch einen schlüssigen Beweis finde.“

„Vielleicht erzählt er es dir sogar selbst, wenn du ihn danach fragst“, meinte Betsey nachdenklich.

„Normalerweise beantwortet er doch alle Fragen bis auf die wenigen, bei denen er der Meinung ist, daß wir uns weiterbilden, wenn wir die Antwort selbst suchen; aber wie wäre das in diesem Fall möglich, ohne den Lehrer auseinanderzunehmen?“

„Du hast recht, ich werde ihn danach fragen. Aber im Augenblick ist das Boot wirklich wichtiger. Befassen wir uns lieber damit; wir können die andere Frage später immer noch stellen, ohne daß wir uns einen Vortrag anhören müssen, in dem wir ermahnt werden, uns nicht an Kleinigkeiten zu verzetteln.“

„Einverstanden.“ Während dieser Unterhaltung hatten Nick und Betsey den Hügel erklettert, auf dem der Roboter zwischen den Habseligkeiten der Gruppe stand. Hier berichteten sie die Ergebnisse ihres Experiments. Fagin hörte bis zum Ende schweigend zu.

„Ausgezeichnete Arbeit“, sagte er schließlich. „Ihr habt etwas, wenn auch nicht alles gelernt. Die Frage wegen der Stabilität ist gut. Ich schlage vor, daß ihr einen Rahmen aus Holz baut — ungefähr so groß wie die Wand einer Hütte, aber mit mehreren Querstreben. Dann könnt ihr die Säcke an den Ecken befestigen; wenn eine Ecke tiefer als die anderen liegt, erhöht sich der dort wirkende Auftrieb, so daß die ganze Konstruktion ziemlich stabil sein dürfte.“

„Aber Holz sinkt doch. Wie kann man daraus ein Boot bauen?“

„Du mußt dir vorstellen, daß die Säcke — vielleicht bezeichnen wir sie lieber als Luftkissen — einfach ein zusätzliches Gewicht tragen müssen. Deshalb werden vermutlich ziemlich viele Luftkissen erforderlich sein, aber deswegen braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Ich schlage vor, daß ihr schon jetzt mit dem Bau des Rahmens beginnt; vielleicht werdet ihr allein damit fertig, nachdem es hier genügend Holz gibt. Dann könnt ihr ein Luftkissen nach dem anderen daran befestigen; ihr erlegt jeden Tag einige Raubtiere, die der Herde gefährlich werden könnten, so daß die Herstellung nicht schwierig sein dürfte.

Während ihr damit beschäftigt seid, könntet ihr jedoch über ein anderes Problem nachdenken. Es besteht daraus, daß der Bathyskaph nicht auf dem offenen Meer bleibt, sondern auf die Küste zutreibt.“

„Aber das ist doch kein Problem; das ist die Lösung unseres Problems! Auf diese Weise brauchen wir nur an der Küste entlang nach Süden zu marschieren, bis wir das Schiff gefunden haben. Es liegt doch südlich von uns, nicht wahr?“

„Richtig. Aber Swift scheint mit seinem Stamm an der Küste zu stehen und darauf zu warten. Genau genommen hat Easy Swift noch nicht erkannt, weil sie ihn nicht kennt und weil die Entfernung vorläufig noch zu groß ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, wer sonst dort warten sollte. Dadurch ergibt sich die Frage, ob Swift unseren Vorschlag angenommen hat, oder ob er den Bathyskaphen mit den beiden Insassen als seine Beute ansieht, über die er nach Belieben verfügen kann. Seine Antwort kann noch unterwegs sein; aber wenn sie nicht im Laufe des Tages eintrifft, müssen wir annehmen, daß wir auf uns allein gestellt sind, und entsprechend handeln.“

„Wie?“

„Das ist das Problem, mit dem ihr euch beschäftigen sollt. Ich nehme an, daß das Boot bei jeder möglichen Lösung eine Rolle spielen wird; macht euch also sofort an den Bau und arbeitet zunächst an dem Rahmen.“

Als der Lehrer schwieg, machten seine Schüler sich an die Arbeit. Wie Fagin gesagt hatte, lag überall reichlich Holz da das Lager sich noch nicht lange an dieser Stelle befand. Zum Teil war es für den vorgesehenen Zweck nicht geeignet, weil es wie viele andere Pflanzen auf Tenebra zu spröde war; aber einige Arten hatten lange, biegsame Stengel oder Zweige, die allen Ansprüchen genügten. Innerhalb einer Stunde hatten Nick und Betsey das benötigte Holz herangeschafft und konnten mit dem Bau des Rahmens beginnen, der allerdings erheblich mehr Zeit in Anspruch nahm.

Schließlich war ein Geflecht mit einer Seitenlänge von sechs Metern entstanden, das an den Kreuzungspunkten mit jungen Trieben umwunden und verknüpft war. Weder Nick noch Betsey waren allerdings mit dieser Konstruktion völlig zufrieden, die überall große Lücken aufwies, durch die man leicht mit dem Fuß rutschen konnte. Dann einigten sie sich jedoch darauf, daß der Rahmen genügen müßte, und befaßten sich mit dem Problem der Beschaffung weiterer Luftkissen.

Sie erstatteten dem Lehrer Bericht, der die bisher getroffenen Vorbereitungen billigte, ohne sich allerdings näher damit zu befassen, denn Raekers Aufmerksamkeit konzentrierte sich im Augenblick auf eine andere Frage. Easy hatte berichtet, daß der Bathyskaph sich der Küste bis auf fünfzig Meter genähert hatte, wo er auf einer Untiefe festgelaufen war.

Das Mädchen konnte sich nicht vorstellen, was diese Bewegung verursacht hatte, und selbst die Wissenschaftler an Bord der Vindemiatrix, die den Planeten nun seit sechzehn Jahren beobachteten, konnten keine Erklärung dafür finden.

Easy ließ sich jedoch von dieser Überlegung nicht aus dem Konzept bringen; sie versuchte jetzt eine Verständigung mit den Eingeborenen über die wenigen Meter hinweg, die Swifts Leute noch von dem Bathyskaphen trennten. Raeker bedauerte, daß er diese Unterhaltung nicht verfolgen konnte, aber die Mikrophone für die Außenlautsprecher waren an den Bullaugen angebracht, so daß Easy hätte schreien müssen, um sich gleichzeitig auch Raeker verständlich machen zu können.

Sie sprach jedoch nicht lauter als gewöhnlich und verschwendete die ganze Zeit über kaum einen Gedanken an Raeker oder selbst ihren Vater. Sie war keineswegs an biologischen, geologischen oder klimatologischen Informationen über Tenebra interessiert; die Rettungsmaßnahmen, die sie von Anfang an verfolgt hatte, waren an einem Punkt angelangt, an dem sie nur noch geduldig abwarten konnte; aber hier waren wenigstens Leute, und mit Leuten war bestimmt eine Unterhaltung möglich. Deshalb versuchte sie zu sprechen und ließ sich nur gelegentlich lange genug ablenken, um Raeker Bericht zu erstatten.

Sie stellte fest, daß Swift sich tatsächlich unter den Eingeborenen befand, die an der Küste warteten, und Raeker gab diese Information an Nick weiter; aber auf die Fragen, ob Swift auf den unterdessen übermittelten Vorschlag eingehen wollte, oder wie er den Bathyskaphen so schnell gefunden hatte, war keine befriedigende Antwort zu erhalten. Raeker konnte nicht beurteilen, ob die Ursache dafür in Easys ungenügenden Sprachkenntnissen lag, oder ob Swift absichtlich ausweichende Antworten gab.

Jedenfalls war es nicht leicht, sich mit der neuen Situation abzufinden, wenn man sechzehn Jahre lang die Entwicklung auf Tenebra dirigiert hatte. Raeker befand sich in der unangenehmen Lage, daß seine Schüler zum größten Teil nicht erreichbar waren, während der einzige Mensch auf diesem Planeten seine Zeit mit Nebensächlichkeiten vertat. Andererseits konnte es sein, daß Easy Swift doch in ihrem Sinn beeinflußte, aber das blieb noch festzustellen.

Gegen Nachmittag des gleichen Tages hatte Raeker Grund zum Aufatmen. Jim und Jane kamen früher als erwartet zurück und verstärkten die Schiffsbaumannschaft. Sie hatten keinerlei Schwierigkeiten gehabt, ihr Gebiet in kürzester Zeit zu erreichen, hatten auch das zweite durchquert und waren in Eilmärschen zurückgekommen. In den beiden Suchgebieten war nichts zu sehen gewesen; die beiden hatten den Lichtschein im Norden bemerkt, der aber in John und Nancys Gebiet lag, so daß sie lieber bei ihrer Aufgabe blieben, um möglichst bald Bericht erstatten zu können.

Selbstverständlich war dem Roboter nicht anzumerken, was der Mann dahinter dachte, und Raeker hatte seine Stimme so gut unter Kontrolle, daß die beiden nicht ahnten, wie unbefriedigend ihr Bericht im Grund genommen war. Raeker überlegte kurze Zeit, ob er sie nicht nochmals fortschicken sollte, damit sie die Lichtquelle untersuchten; aber dann fiel ihm ein, daß John und Nancy sie bestimmt nicht übersehen haben konnten. Außerdem stand bereits fest, wo sich der gestrandete Bathyskaph befand, so daß Jim und Jane sich eher nützlich machen konnten, indem sie Leder herbeischafften. Der bedauerliche Mangel an Entschlußfreudigkeit, den die beiden an den Tag gelegt hatten, ließ eine Verwendung dieser Art ohnehin eher geraten erscheinen. Raeker erteilte ihnen seine Anweisungen, und die beiden machten sich auf die Jagd.

„Ich nehme an, daß dir etwas aufgefallen ist, Nick“, sagte Raeker, als Jim und Jane verschwunden waren.

„Was soll mir aufgefallen sein, Lehrer?“

„Die beiden haben im Süden einen Lichtschein gesehen. Meiner Meinung nach bedeutet das, daß die Küste nach Westen ausweicht, wenn man ihr nach Süden folgt; und da Swifts Höhlen in der gleichen Richtung liegen, ist es möglich, daß sie näher als angenommen an der Küste liegen. Das könnte der Grund dafür sein, daß Swift das Schiff so rasch gefunden hat.“

„Vielleicht“, gab Nick zu.

„Du scheinst nicht recht überzeugt zu sein. Wo siehst du einen Fehler?“

„Ich habe einige Wochen bei den Höhlenbewohnern verbracht und bin mit ihnen auf der Jagd gewesen — aber in der ganzen Zeit bin ich weder ans Meer gekommen noch habe ich Swifts Leute davon erzählen hören. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß die Lichter des gesuchten Schiffes aus einer Entfernung von hundert Kilometern sichtbar sein sollen — und das wäre erforderlich, damit beide Tatsachen miteinander vereinbar sind.“

„Hm. Das hätte ich auch berücksichtigen müssen.

Vielleicht lohnt es sich doch, die Lichtquelle aus der Nähe zu besichtigen. Jedenfalls werden wir mehr darüber erfahren, wenn John und Nancy zurückgekommen sind.“

„Richtig“, stimmte Nick zu, „aber vielleicht werden wir auch davon nicht schlauer. Ich muß jetzt wieder an die Arbeit — dabei kommt wenigstens bestimmt etwas Konstruktives heraus.“ Er entfernte sich wortlos und überließ den verblüfften Raeker seinen Gedanken.

Nachdem nun zwei weitere Jäger zur Verfügung standen kam die Arbeit rascher voran, als Nick zuvor angenommen hatte. In der Umgebung des neuen Lagers lebten selbstverständlich mehr Raubtiere als um das alte Dorf herum, so daß die Häute ebenso schnell angeliefert wurden, wie sie verarbeitet werden konnten. Ein Luftkissen nach dem anderen wurde an den Rahmen gebunden, wobei Nick und Betsey nach ihren üblen Erfahrungen besonders darauf achteten, daß das Gleichgewicht erhalten blieb.

Am späten Nachmittag war es jedoch bereits zu einem Problem geworden, überhaupt noch genügend Platz für weitere Luftkissen zu finden, denn die Unterseite des Rahmens war völlig mit ihnen besetzt. Allerdings wagte niemand zu schätzen, wieviel dieses merkwürdige Floß aushalten würde; das hatte Zeit bis später, wenn die Tragfähigkeit durch einen Versuch bestimmt werden konnte.

Die Arbeit ging selbstverständlich nicht ohne gelegentliche Unterbrechungen vor sich. Nick und seine Freunde mußten essen, Holz für die Nacht sammeln und die Herde hüten. Letztere Tätigkeit verschaffte der „Werft“ allerdings gleichzeitig einige Häute, aber die damit verbundenen Kämpfe waren weniger gewinnbringend. Zur allgemeinen Überraschung wurde das Vieh einige Male sogar von Schwebetieren angegriffen.

Diese Wesen waren einigermaßen intelligent und begriffen meist schon nach kurzer Zeit, wann ihnen irgendwo Gefahr drohte. Da sie zudem ziemlich langsam flogen — Easy hatte sie völlig richtig mit riesigen Quallen verglichen, die sich unbeholfen bewegten —, war es im allgemeinen ausreichend, einige von ihnen zu erlegen, um die Überlebenden davon zu überzeugen, daß die Herde gut genug bewacht wurde.

Nick und seine Freunde waren davon überzeugt gewesen, sie hätten dieses Ziel in dem neuen Lager bereits erreicht; aber an diesem Nachmittag mußten sie innerhalb einer Stunde vier dieser Lebewesen abwehren, um die Herde zu schützen. Diese Situation war nicht nur ungewöhnlich, sondern auch schmerzlich; ein guter Jäger konnte den Angreifer zwar leicht zu Boden zwingen, aber dabei geriet er unweigerlich in den Bereich der langen Nesselfäden, deren Gift kurzzeitige Lähmungen hervorrief.

Dieser eigenartige Umstand erregte natürlich die Aufmerksamkeit der vier Freunde, die sogar die Arbeit an dem Floß für kurze Zeit unterbrachen, um darüber zu diskutieren. Daß gelegentlich ein Schwebetier aus Zufall in eine andere Gegend geriet, war durchaus möglich — aber vier innerhalb einer Stunde konnten sich nicht zufällig verirrt haben. Trotzdem war keine Erklärung für dieses Phänomen zu finden, denn aus der Bewegungsrichtung einzelner Tiere war nicht auf einen regelrechten Zug nach Südwesten zu schließen, wo der Vulkan lag. Deshalb nahmen die vier den Wind erst wahr, als er gegen Abend auffrischte.

Unterdessen war das Floß fertiggestellt, denn es bot keinen Platz für weitere Luftkissen mehr. Keiner wußte, wie viele Leute es tragen konnte, aber das ließ sich am besten durch einen Versuch ermitteln, der am Meer vorgenommen werden sollte.

Als die Gruppe jedoch die Feuer anzündete, erkannte sie sofort, daß die Regentropfen nicht senkrecht nach unten sanken. Dies war das gleiche Phänomen, das John und Nancy bereits in der Nacht zuvor beobachtet hatten, aber hier war zudem keine Ursache dafür zu erkennen. Nach einer kurzen Besprechung entschied Nick, daß im Nordosten drei zusätzliche Feuer entzündet werden sollten, während drei an der entgegengesetzten Seite nicht unterhalten wurden, um Holz zu sparen. Kurze Zeit später ließ er noch mehr Feuer im Südwesten ausgehen, da aus dieser Richtung überhaupt keine Tropfen herabsanken. Dann besprach er die Angelegenheit mit Fagin.

„Ich weiß“, antwortete der Lehrer. „Um das Schiff herum ist die gleiche Erscheinung zu beobachten, hat Easy vorher berichtet. Die Tropfen schweben ganz deutlich auf die Küste zu. Zu dumm, daß sie die Richtung nicht feststellen kann; dann wüßten wir wenigstens, ob die Küste wirklich ausbiegt, oder ob die Regentropfen sich etwa in verschiedenen Richtungen bewegen. Beide Feststellungen könnten uns weiterhelfen.“

„Vermutlich spürt sie keinen Wind?“ fragte Nick.


„Nicht im Innern des Schiffes. Spürst du einen?“

„Nur eine ziemlich schwache Luftbewegung, die aber stärker zu werden scheint.“

„Vergiß nicht, mir jede Veränderung mitzuteilen“, mahnte Raeker. „Wir benachrichtigen dich sofort, wenn sich eine Erklärung für das Phänomen herausgestellt hat.“ Diesmal benützte Raeker das Wort wir zu Recht; der Kontrollraum füllte sich allmählich mit Geologen, Ingenieuren und anderen Wissenschaftlern. Die Nachricht, daß Tenebra zum erstenmal seit über eineinhalb Jahrzehnten seine Beobachter vor ein wirkliches Rätsel stellte, hatte sich wie ein Lauffeuer durch die Vindemiatrix verbreitet.

Easy und der junge Drommianer beschrieben unterdessen genau die Wirkung des nächtlichen Regens auf die Meeresoberfläche. Der Bathyskaph wurde landeinwärts geschwemmt bis er allmählich wieder zu sinken begann, weil der Regen die Schwefelsäure zu sehr verdünnte. Aber selbst dann ließen gelegentliche Stöße darauf schließen, daß die Bewegung noch nicht zum Stillstand gekommen war.

„Jetzt ist nichts mehr zu erkennen, Dad“, sagte Easy schließlich. „Außerdem sind wir beide ziemlich müde und wollen lieber schlafen. Du kannst uns aber jederzeit aufwecken, falls es sich als notwendig erweisen sollte.“

„Einverstanden, Easy“, antwortete ihr Vater für sich und die anderen Zuhörer. „In Nicks Lager ist alles unverändert — bis auf den Wind, der aber mehr überraschend als gefährlich zu sein scheint.“ Das Mädchen nickte lächelnd und verschwand dann aus dem Bereich des Bildschirms.

Von da ab konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler auf die Bildschirme des Roboters, auf denen die Oberfläche des Planeten sichtbar war.

Aber auch dort zeigte sich nur wenig Neues; der Roboter stand wie üblich in der Mitte eines Kreises, der aus Feuerstellen gebildet wurde. Allerdings verteilten die Eingeborenen sich heute nacht nicht gleichmäßig auf die Feuer; drei hielten sich im Nordosten auf, während der vierte die Feuer an den drei verbleibenden Seiten versorgte.

Die Ursache für dieses Verfahren wurde schon nach wenigen Minuten offenbar; für jedes Feuer, das an den drei Seiten ausging, erloschen mindestens ein Dutzend im Nordosten. Von Zeit zu Zeit mußte sogar ein Feuer in dem inneren Kreis neu angezündet werden, wenn ein Regentropfen durch eine plötzlich entstandene Lücke in dem äußeren Ring schwebte. Allerdings schien keine unmittelbare Gefahr zu bestehen; die Eingeborenen waren alle bei Bewußtsein und ließen sich keineswegs aus der Ruhe bringen.

Während Raeker beim Essen gewesen war, hatte sein Assistent einen der Schüler eine bestimmte Strecke abschreiten lassen, die er mit der bekannten Länge des Roboters vergleichen konnte. Dann hatte er aus der Zeit, die ein Regentropfen für diese Entfernung benötigte, die Windgeschwindigkeit bestimmt.

Sie betrug fast drei Kilometer pro Stunde, was eine Art Rekord darstellte; diese Tatsache war den Wissenschaftlern bekannt, aber keiner von ihnen konnte sich erklären, wie sie zustande gekommen war, oder welche Auswirkungen sie vermutlich haben würde.

Ein Besatzungsmitglied, das zu dieser Zeit dienstfrei hatte und nun die Vorgänge auf Tenebra neugierig verfolgte, stellte schließlich die entscheidende Frage.

„Wie weit liegt das Lager vom Meer entfernt?“ fragte er.

„Tagsüber ungefähr drei Kilometer von der Küste.“

„Und nachts?“

„Nachts reicht das Meer bis in das Tal unterhalb des Hügels.“

„Ist das ein genügender Sicherheitsabstand?“

„Selbstverständlich. Die Regenmenge verändert sich von Tag zu Tag kaum meßbar. Natürlich kann es vorkommen, daß der Boden sich bewegt, aber das ist immer frühzeitig zu erkennen.“

„Trotzdem bin ich der Meinung, daß man sich überlegen müßte, wie der Wind sich in dieser Lage auswirkt. Wenn das sogenannte ›Meerwasser‹ gegen Morgen nicht viel dichter als die ›Luft‹ ist, könnte selbst dieser kümmerliche Hurrikan bewirken, daß die Küste wesentlich weiter zurückweicht.“ Raeker starrte den anderen überrascht an und sah dann zu den übrigen Wissenschaftlern hinüber. Auf ihren Gesichtern war deutlich zu erkennen, daß sie angestrengt über diese Möglichkeit nachdachten. Raeker überlegte ebenfalls und runzelte dabei sorgenvoll die Stirn. Rich, der ein ausgezeichneter Psychologe war, erriet seine Gedanken.

„Sollen sie nicht lieber den Rückzug antreten, solange sich die Gelegenheit noch bietet, Doktor?“ fragte er.

„Ich weiß nicht recht. Zu viert können sie nicht alles aus dem Lager mitnehmen, und ich möchte vermeiden, daß sie noch etwas einbüßen. Außerdem sind sie auf diesem Hügel fünfzehn Meter höher, als das Meer bisher jemals gestiegen ist.“

„Genügen fünfzehn Meter tatsächlich?“

„Das kann ich nicht beurteilen, weil die Unterlagen nicht ausreichen.“ Raekers Gesichtsausdruck war schwer zu deuten; schließlich hatte er sein ganzes Leben lang Entscheidungen getroffen, wenn die Notwendigkeit dazu bestand, obwohl er die Konsequenzen in jedem Fall verantworten mußte.

„Sie müssen trotzdem etwas unternehmen, finde ich“, sagte Rich bedächtig. „Sonst verlieren Ihre Schüler alles, wenn das Meer sie erreicht.“


„Ja, aber…“

„Zu spät! Sehen Sie nur!“ Das Besatzungsmitglied von vorhin unterbrach den Biologen und wies auf einen der Bildschirme. Raeker und Rich wußten bereits, was dort zu sehen sein würde, bevor sie den Kopf weit genug gewandt hatten. Ihre Vermutung bestätigte sich.

Um Stunden zu früh flutete das Meer über die Ausläufer der niedrigeren Hügel im Osten. Einige Sekunden lang schwiegen alle Anwesenden betroffen; dann zerstörte Raeker blitzschnell die Vorstellung, die Rich sich bereits von ihm gemacht hatte — daß er ein unbeholfener, unpraktischer, unentschlossener „Wissenschaftlertyp“ sei. Als er sah, daß seine Schüler in Gefahr waren, handelte und sprach er überraschend schnell und energisch.

„Nick! Betsey, Jim und Jane! Seht einmal kurz nach Osten und fangt dann sofort mit der Arbeit an. Seht zu, daß ihr alle Schriftstücke, besonders aber die Karten, auf dem Floß festbindet. Laßt aber genügend Seile übrig, damit ihr euch selbst auch anbinden könnt.

Ihr und die Karten seid wichtiger als alles andere, denkt immer daran! Wenn das geschafft ist, braucht ihr nur noch dafür zu sorgen, daß ihr eure Waffen nicht verliert. Los, an die Arbeit!“

Nick erkundigte sich, was aus der Herde werden sollte, aber Raeker unterbrach ihm mitten im Satz.


„Kümmert euch nicht um das Vieh! Im Augenblick ist alles andere wichtiger! Denkt nur an euch, die Karten und Waffen!“

Nicks Freunde hatten bereits mit der Arbeit begonnen; der Befehlston, in dem der Lehrer mit ihm sprach, brachte Nick dazu, daß er ebenfalls wortlos zu arbeiten begann. Die Männer an Bord der Vindemiatrix beobachteten den Wettlauf, der sich zwischen den Bemühungen der Eingeborenen und dem heranflutenden Meer ergab, mit angehaltenem Atem.

Raeker stellte einige Berechnungen an und kam zu dem Schluß, daß der Regen das Meer bereits ziemlich verwässert haben mußte. Das bedeutete selbstverständlich, daß das Floß keineswegs mehr schwimmfähig war. Das spezifische Gewicht der Luftkissen betrug fast die Hälfte der Dichte normaler Schwefelsäure; in der verdünnten Säure war ihre Tragfähigkeit jedoch gleich null.

Raeker hatte sich nicht geirrt. Das Meer flutete heran, löschte augenblicklich die Feuer aus und verdunkelte für kurze Zeit die Augen des Roboters, bis die Maschine sich auf die neuen Verhältnisse umgestellt hatte.

Dann zeigten die Bildschirme an Bord der Vindemiatrix die unbeweglichen Gestalten der vier Eingeborenen auf dem Floß, das kaum zwanzig Zentimeter über dem Meeresboden schwebte. Es bewegte sich nur sehr langsam, und Raeker schickte den Roboter hinterher.

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