Nick bog die hohen Pflanzen beiseite, blieb stehen und benutzte einige Ausdrücke, die Fagin nie hatte übersetzen wollen. Er war keineswegs überrascht, als er feststellen mußte, daß vor ihm Wasser stand — schließlich war es noch früh am Morgen —, aber er ärgerte sich, als er sah, daß rechts und links ebenfalls eine weite Wasserfläche lag. Zu seinem Pech hatte er sich offensichtlich auf eine Halbinsel verirrt. Aber er konnte nur abwarten, denn zurück durfte er nicht mehr.
Selbstverständlich wußte er nicht genau, daß er verfolgt wurde, aber er hatte nicht den geringsten Zweifel daran, daß er mit seiner Vermutung recht hatte.
Seit seiner Flucht hatte er zwei Tage darauf verwandt, seine Spur so gut wie möglich zu verwischen. Er hatte sogar einen weiten Umweg auf sich genommen, und war nach Westen ausgebogen, bevor er die Richtung auf sein Heimatdorf zu einschlug. Aus diesen Gründen wollte er sich ebensowenig wie ein Mensch eingestehen, daß alle seine Mühe unter Umständen überflüssig gewesen sein könnte.
Allerdings hatte er nie Verfolger beobachtet. Er war gelegentlich aufgehalten worden, wenn er auf unwegsames Gelände oder wilde Tiere traf; aber trotzdem hatte ihn niemand eingeholt. Die schwebenden Tiere und Pflanzen, auf die man stets sorgfältig achten mußte, hatten sich nie für etwas hinter ihm interessiert. Aber trotzdem stand fest, daß die Höhlenbewohner erstklassige Jäger und Fährtenleser waren.
Unter diesen Umständen wäre es nur natürlich gewesen, wenn Nick zu dem Schluß gekommen wäre, seine unbehinderte Freiheit bedeute, daß er nicht verfolgt wurde. Er hätte gern daran geglaubt, aber bei nüchterner Überlegung kam er wieder davon ab.
Schließlich hatten sie darauf bestanden, daß er sie zu Fagin führte!
Er schüttelte heftig den Kopf und befaßte sich wieder mit der Gegenwart. Überlegungen halfen hier nicht weiter; er mußte sich entscheiden, ob er zurückgehen wollte, wobei er unter Umständen seinen Verfolgern in die Arme lief, oder ob er warten sollte, bis der See ausgetrocknet war, was bedeuten konnte, daß die Verfolger ihn in der Zwischenzeit einholten. Die Entscheidung war nicht leicht, aber immerhin konnte er zunächst einen Versuch unternehmen.
Er ging ans Ufer und schlug mit der flachen Hand in das Wasser. Die Wellen, die sich langsam ausbreiteten, interessierten ihn nicht, denn er achtete nur auf die Wassertropfen. Er beobachtete sie, während sie langsam herabsanken, und stellte zufrieden fest, daß selbst die größten Tropfen sich auflösten, ohne die Wasseroberfläche zu erreichen. Der See würde nicht mehr lange brauchen, bis er ausgetrocknet war; Nick ließ sich am Ufer nieder und wartete.
Eine leichte Brise kam auf, als der neue Tag begann. Nick wartete ungeduldig darauf, daß sich die ersten Auswirkungen auf der Wasseroberfläche zeigten — nicht Wellen, sondern Turbulenwirbel, die anzeigten, daß wärmere Luftmassen herangeführt wurden. Das war der entscheidende Augenblick, denn von diesem Zeitpunkt an würde das Wasser vermutlich schneller zurückweichen, als er ihm folgen konnte. Der Luftzug würde ihm das Atmen erleichtern, sofern er genügend Abstand zu dem Wasser hielt … Ja, jetzt konnte es nicht mehr lange dauern; der Punkt, an dem er stand, befand sich bereits einen Meter über der Wasseroberfläche. Der See trocknete aus.
In der Zwischenzeit hatte die Brise das Wasser weiter zurückgedrängt, so daß es jetzt wie ein Wall aufragte. Nick folgte langsam, bewahrte aber genügend Abstand. Die Halbinsel schien tatsächlich ein Hügelkamm zu sein, der unter dem See gelegen hatte. Falls diese Vermutung zutraf, konnte er sich nur beglückwünschen.
Dann kam er plötzlich nicht mehr weiter und mußte länger als eine Viertelstunde warten, bis sich der See völlig in Luft aufgelöst hatte. Er war ungeduldig genug, das Zeug fast zu schnell einzuatmen, spürte aber keine Nachwirkungen. Wenige Minuten später kletterte er den Abhang am Ostufer des ehemaligen Sees hinauf. Bevor er wieder in das Dickicht eindrang, aus dem heraus er nur die schwebenden Pflanzen über sich erkennen konnte, drehte er sich nochmals um und sah zu der Stelle hinüber, an der er das Wasser erreicht hatte — noch immer entdeckte er keine Verfolger. Zwei oder drei schwebende Pflanzen näherten sich ihm; er griff nach seinen Messern und bedauerte, daß er die Speere verloren hatte. Allerdings brauchte er die schwebenden Pflanzen nicht zu fürchten, solange er sich einigermaßen rasch bewegte — und genau das mußte er jetzt tun. Er drang in das Dickicht ein.
Die Pflanzen stellten kein ernsthaftes Hindernis dar, denn sie waren so biegsam, daß man sie einfach beiseite schieben konnte. Nur gelegentlich mußte er sich seinen Weg mit dem Messer bahnen, was unangenehm war — nicht wegen der damit verbundenen Anstrengung, sondern vor allem deshalb, weil er dabei das Messer der Luft aussetzen mußte. Messer waren in letzter Zeit ziemlich rar, und Fagin rückte nicht gern ein neues heraus.
Der Morgen verstrich langsam, aber noch immer sah er keine Verfolger hinter sich. Er kam außergewöhnlich rasch voran, weil er bisher kaum Tieren begegnet war.
Normalerweise rechnete man für einen Marsch von vierzig Meilen mit vier oder fünf Überfällen durch Raubtiere, die abgewehrt werden mußten — aber Nick hatte erst einen Kampf hinter sich. Er verlor jedoch sehr viel Zeit, als er ein Gebiet durchqueren mußte, das rauher und unwegsamer als alle anderen zuvor war. Die Hügel waren nicht mehr abgerundet, sondern steil und zerklüftet; von Zeit zu Zeit stieß er auf lose Felsbrocken die durch ungewöhnlich heftige Beben in Bewegung gesetzt wurden. Gelegentlich mußte er steile Felswände durchklettern oder in engen Schluchten marschieren, ohne vorher zu wissen, ob er am anderen Ende einen Ausweg finden würde. Einige Male gab es tatsächlich keinen, so daß er zurück mußte.
Als er dieses Gebiet endlich hinter sich hatte, konnte er kaum noch glauben, daß er verfolgt wurde.
Die Stunden vergingen, während Nick so rasch wie möglich weitereilte. Der eine Kampf hatte ihn kaum aufhalten können; eine schwebende Pflanze, die er schon von weitem gesehen hatte, war plötzlich herabgesunken. Zum Glück war sie nur klein gewesen; sogar so klein, daß Nicks Arme länger als ihre Nesselfäden gewesen waren. Ein rascher Schnitt mit einem der Messer hatte ausgereicht, genügend Gasblasen zu zerstören so daß die Pflanze hilflos zu Boden sank.
Nick steckte das Messer ein und marschierte weiter, wobei er sich einen Arm massierte, der mit dem Gift der Pflanze in Berührung gekommen war.
Altair stand hoch am Himmel, als er sich endlich wieder in vertrauter Umgebung befand. Er hatte früher einige Male in diesem Gebiet gejagt und erkannte es sofort wieder, obwohl es sich in der Zwischenzeit beträchtlich verändert hatte. Nick marschierte noch etwas rascher und veränderte seine Richtung ein wenig. Zum erstenmal war er davon überzeugt, daß er einen Bericht von seiner Gefangennahme würde erstatten können, aber dabei fiel ihm ein, daß er noch gar nicht darüber nachgedacht hatte, wie dieser Bericht lauten sollte. Eine genaue Schilderung seiner Erlebnisse nahm zuviel Zeit in Anspruch; viel wichtiger war, daß Fagin und die anderen sofort flohen. Andererseits mußte Nick schon eine stichhaltige Erklärung abgeben können, wenn er den Lehrer von dieser Tatsache überzeugen wollte. Er ging unwillkürlich langsamer, als er sich mit diesem Problem beschäftigte, und wurde erst durch eine Stimme, die seinen Namen rief, aus seinen Gedanken gerissen.
„Nick! Bist du das wirklich? Wo bist du die ganze Zeit über gewesen? Wir dachten schon, du hättest dich verirrt!“
Bei dem ersten Geräusch griff Nick instinktiv nach seinen Messern. Aber als er die Stimme erkannte, ließ er die Arme sinken.
„Johnny! Endlich wieder ein vernünftiges Wort.
Was tust du hier? Haben die Schafe alles um das Dorf herum kahlgefressen?“
„Nein, ich bin auf der Jagd, nicht beim Schafehüten.“ John Doolittle trat aus dem Dickicht hervor.
„Aber wo hast du gesteckt? Du bist seit Wochen verschwunden, und wir haben die Suche nach dir seit Wochen aufgegeben.“
„Ihr habt nach mir gesucht? Das ist schlecht. Aber anscheinend hat es nichts ausgemacht, sonst hätte ich davon erfahren.“
„Was soll das heißen? Ich verstehe gar nicht, wovon du sprichst. Und was war das mit dem ›vernünftigen Wort‹ — gibt es denn andere? Los, heraus mit der Sprache!“
„Die Geschichte ist ziemlich lang, und ich muß sie ohnehin allen so rasch wie möglich erzählen. Komm mit, dann brauche ich nicht zweimal zu berichten.“ Er ging auf das Tal zu, in dem ihr „Heimatdorf“ lag, und Johnny folgte ihm wortlos. Obwohl er noch frisch war, hatte er einige Mühe, dem heimgekehrten Forscher zu folgen; Nick schien es ziemlich eilig zu haben.
Unterwegs trafen sie noch zwei andere Mitglieder ihrer Gruppe — Tom und Alice, die Schafe hüteten. Sie folgten Nicks Aufforderung und trieben ihre Tiere so rasch wie möglich in das Dorf zurück.
Fünf weitere Mitglieder der Gruppe befanden sich bereits im Dorf, und Fagin war an seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort inmitten der ringförmig angeordneten Häuser. Nick rief den Lehrer an, als er in Sicht war. „Fagin! Wir sind in Gefahr! Kennst du noch andere Waffen, die du uns noch nicht gezeigt hast?“
Wie üblich vergingen einige Sekunden, bevor die Antwort kam.
„Das ist ja Nick. Wir hatten dich schon fast aufgegeben. Was hast du mit Waffen vor? Glaubst du, daß wir uns verteidigen müssen?“
„Wahrscheinlich.“
„Gegen wen?“
„Nun, sie sehen wie ganz normale Leute aus; aber sie halten keine Tiere, kennen kein Feuer und sprechen anders als wir.“
„Wo bist du auf diese Leute gestoßen? Und weshalb müssen wir uns gegen sie verteidigen?“
„Die Geschichte ist ziemlich lang, fürchte ich. Am besten fange ich ganz vorn an, ohne mich mit Einzelheiten aufzuhalten.“
„Einverstanden; ein kurzer Bericht hilft uns allen weiter. Du kannst gleich anfangen.“ Nick verteilte sein Gewicht auf die Hinterbeine und gehorchte.
„Ich wandte mich wie vereinbart nach Süden, kam nur langsam voran und zeichnete eine Karte des Gebiets. In der Gegend, in der wir meistens jagen, hatte sich kaum etwas verändert, aber jenseits der Grenze konnte ich in dieser Beziehung kein Urteil mehr abgeben.
Der auffallendste Punkt am ersten Tag war ein kegelförmiger Berg, dessen Höhe alles übertraf, was ich bisher gesehen hatte. Der Wind war in dieser Gegend ziemlich stark und schien stets zu dem Berg hinüberzuwehen; ich nannte ihn also Sturmgipfel auf der Karte. Dem Wind nach zu urteilen, muß es auf dem Berg eine Menge Pflanzen geben, die nachts wachsen; eine Expedition müßte ihn also jedenfalls vor Einbruch der Dunkelheit wieder verlassen.
Sonst verlief eigentlich alles wie gewöhnlich. Ich erlegte genügend Tiere, um nicht hungern zu müssen, aber die Tiere unterschieden sich keineswegs von denen, die wir kennen.
Am dritten Morgen, als der Berg schon lange hinter mir lag, geriet ich jedoch in die Fangarme eines unbekannten Tieres, das in einer Höhle lebte. Seine Arme umklammerten meine Beine, und das Tier ließ sich durch meine Speere kaum stören. Wahrscheinlich wäre ich nicht entkommen, wenn mir niemand geholfen hätte.“
„Dir hat jemand geholfen?“ Die verwunderte Frage kam sofort — ohne die Pause von wenigen Sekunden, die für die Bemerkungen des Lehrers typisch war; Jim hatte sich an Nick gewandt. „Wie konnte dir jemand helfen? Von uns war niemand in der Gegend.“
„Es war auch keiner von uns — jedenfalls nicht genau. Er sah wie wir aus und gebrauchte Speere wie wir; aber als wir das Tier in der Höhle getötet hatten und uns zu unterhalten versuchten, sprach er ganz anders. Ich brauchte sogar einige Zeit, bevor ich merkte, daß er überhaupt sprach, denn er stieß ganz merkwürdige Laute hervor.
Nach einiger Zeit fiel mir ein, daß diese Geräusche Worte bedeuten mußten, und ich fragte mich, warum ich nicht schon früher auf diesen Gedanken gekommen war — schließlich konnte ich nicht erwarten, daß jemand, der sich seine Worte selbst ausdenken muß, die gleichen wie wir gebraucht. Ich beschloß, ihm zu folgen und seine Sprache nach Möglichkeit zu lernen, denn das erschien mir wichtiger als meine Karte.
Er hatte nichts dagegen, daß ich ihn begleitete, und im Lauf der Zeit lernte ich einige seiner Worte. Das war nicht leicht, denn es genügte nicht, wenn man nur den Laut für jedes Ding beherrschte. Aber wir jagten längere Zeit gemeinsam und lernten dabei die Sprache des anderen. Wir bewegten uns nicht geradlinig vorwärts, aber ich machte mir genügend Notizen und kann sein Dorf in die Karte eintragen, wenn ich genügend Zeit dazu habe.“
„Dorf?“ Auch diesmal war es Jim, der ihn unterbrach; Fagin hatte nichts gesagt.
„Das ist der einzige Ausdruck, der mir im Augenblick einfällt. Natürlich war es kein Dorf wie unseres hier; es bestand nur aus einer Reihe von Höhlen am Fuß einer steilen Klippe. Einige davon waren sehr klein, aber andere so groß, daß Leute darin leben konnten. Der eine, den ich kennengelernt habe, gehörte zu diesen Höhlenbewohnern.
Als sie mich sahen, waren sie sehr überrascht und versuchten mich auszufragen; aber ich verstand sie nicht gut genug, um vernünftige Antworten geben zu können. Der eine, den ich bereits kannte, schien ihnen von mir zu erzählen. Die anderen blieben interessiert und beobachteten mich ständig.
Wir hatten die Klippe erst am späten Nachmittag erreicht, und ich fragte mich zunächst, wo ich diese Nacht schlafen sollte, weil ich nicht gleich erkannte, daß diese Leute in den Höhlen lebten. Als ich endlich begriffen hatte, daß dies der Fall war, konnte ich mich nicht recht dafür begeistern. In dieser Gegend waren die Erdbeben heftiger als anderswo, und die Felswand erschien mir ziemlich gefährlich.
Als es dunkel zu werden begann, wollte ich fort, um auf einem der Hügel in der Nähe zu übernachten, mußte aber feststellen, daß die Leute mich nicht gehen lassen wollten. Sie hätten mich mit Gewalt zurückgehalten, wenn ich ihnen nicht mühsam erklärt hätte, daß ich nicht fliehen, sondern nur allein schlafen wollte. Ich sammelte ohne größere Anstrengung genügend Holz für die Nacht, wobei mir die Kleineren halfen, als sie erkannten, was ich wollte.“
„Die Kleineren? Waren sie denn nicht alle gleich groß?“ fragte Dorothy.
„Nein, überraschenderweise nicht. Einige waren nicht größer als einen halben Meter, aber manche waren doppelt so groß wie wir — mindestens drei Meter.
Aber alle sahen sich ähnlich. Allerdings habe ich nicht herausbekommen können, worauf dieser Größenunterschied beruhte. Einer der Größeren schien den anderen Befehle zu erteilen, und im allgemeinen kam ich mit den Kleineren besser aus.
Aber das gehört eigentlich nicht hierher. Als ich die Holzstöße aufgeschichtet hatte und sie in Brand setzte, beobachteten mich sämtliche Höhlenbewohner mit erstaunten Augen.
Sie hatten noch nie ein Feuer gesehen; deshalb hatte ich ohne große Mühe genügend Holz in unmittelbarer Nähe der Klippe gefunden.
Natürlich hatte es zu regnen begonnen, als endlich das letzte Feuer brannte, und ich sah belustigt zu, wie die Höhlenbewohner unentschlossen zögerten. Einerseits schienen sie sich vor dem Regen außerhalb ihrer Höhlen zu fürchten, aber andererseits wollten sie unbedingt die Feuer sehen. Schließlich zogen sie sich jedoch in die Höhlen zurück, obwohl einige lange genug blieben, um zu sehen, wie sich die Feuer auf den Regen auswirkten.
Nachts erschienen sie nicht wieder, aber als das Wasser am nächsten Morgen verdunstet war, tauchten sie sofort wieder auf.
Ich könnte noch viel mehr erzählen, aber dazu fehlt mir jetzt die Zeit. Ich habe ihre Sprache einigermaßen gelernt — eigentlich ist sie ganz logisch, wenn man die Grundbegriffe kennt — und habe mich lange mit den Leuten unterhalten. Sie interessierten sich vor allem für die Dinge, die ich kannte, aber sie nicht — Feuermachen, Tierzucht und Ackerbau. Sie fragten immer wieder, wo ich das gelernt habe. Daraufhin erzählte ich ihnen von dir, Fagin. Vielleicht war das ein Fehler… Einige Tage später kam nämlich ihr Anführer zu mir und sagte, er wünsche, daß ich gemeinsam mit dir zu den Höhlen zurückkomme, damit du seine Leute alles lehren kannst was du weißt.
Natürlich hatte ich nichts gegen diesen Vorschlag einzuwenden. Ich war der Meinung, daß es nicht schaden kann, wenn möglichst viele Leute imstande sind, dir bei dem zu helfen, was du erreichen willst.“
Nick machte eine Pause, damit Fagin antworten konnte.
„Richtig“, stimmte der Roboter einige Sekunden später zu. „Aber was geschah dann?“
„Anscheinend entsprach meine Antwort nicht ganz seinen Vorstellungen. Ich betrachtete den Vorschlag nämlich als Bitte und antwortete, ich würde dich gern fragen, ob du zu seinen Leuten kommen wolltest. Der Anführer — sein Name scheint Swift oder so ähnlich zu sein — wurde sofort zornig. Offenbar erwartet er, daß seine Befehle widerspruchslos ausgeführt werden. Das war mir bereits aufgefallen, aber ich hatte im Augenblick nicht daran gedacht. Außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, wieso du seinen Befehlen gehorchen solltest.
Unglücklicherweise erwartet er aber nichts anderes; und aus meiner ausweichenden Antwort schloß er, daß du dich vielleicht weigern würdest. In seiner primitiven Art dachte er sofort an Gewalt und überlegte, wie er unser Dorf angreifen und dich entführen könnte.
Er befahl mir, ihm den Weg zu unserem Dorf zu beschreiben, und als ich mich weigerte, wurde er noch zorniger. In der Nähe lag eine geschlachtete Ziege, und er fiel mit seinen Messern darüber her.
Dann wandte er sich wieder an mich.
›Du siehst, was meine Messer anrichten‹, sagte er drohend. ›Wäre die Ziege noch am Leben gewesen, hätte sie einen langsamen und qualvollen Tod erlitten. So wird es dir morgen auch ergehen, wenn du mich und meine Krieger nicht zu eurem Dorf und deinem Lehrer führst. Jetzt ist es schon so dunkel, daß du nicht mehr entkommen kannst; du hast genügend Zeit, um gründlich nachzudenken. Morgen früh brechen wir unter deiner Führung auf — oder du wirst deine Weigerung bereuen.‹ Zwei der stärksten Krieger mußten bei mir bleiben, bis der Regen einsetzte; aber als ich meine Feuer anzündete, kehrten sie in die Höhlen zurück.
Ich überlegte lange, was ich tun sollte. Wenn sie mich wirklich umbrachten, würden sie euch früher oder später doch finden, ohne daß ich euch hätte warnen können. Vielleicht war es besser, wenn ich Swift zum Dorf führte, aber andererseits gefiel mir seine brutale Art nicht. Er schien der Auffassung zu sein, daß es besser wäre, wenn keiner von uns am Leben bliebe. Das bedeutete also, daß ich auf jeden Fall umgebracht werden sollte — aber wenn ich den Mund hielt brauchte wenigstens kein anderer mit mir zu sterben.
Dann überlegte ich, ob ich nicht nachts marschieren sollte; das konnte auch den Tod bedeuten, aber ich würde wenigstens im Schlaf sterben — und außerdem bestand die Aussicht, daß ich mit dem Leben davonkommen würde. Schließlich gibt es einige Tierarten, die weder Feuer noch Höhlen haben und später als die Fleischfresser aufwachen — und trotzdem überleben.
Dann fiel mir etwas anderes ein; ich überlegte mir, ob ich nicht einfach Feuer mit mir herumtragen könnte. Wir zünden unsere Feuer doch auch mit Holzstükken an, die an einem Ende brennen; warum sollte ich nicht einige lange Stöcke mitnehmen und einen nach dem anderen in Brand setzen? Vielleicht war die Flamme nicht groß genug, um wirklich Schutz zu bieten, aber ein Versuch konnte nicht schaden. Was hatte ich denn noch zu verlieren?
Ich sammelte einen ganzen Haufen langer Stöcke, bis ich keine mehr tragen konnte, und wartete, bis zwei meiner drei Feuer im Regen ausgegangen waren. Dann nahm ich die Stöcke auf, setzte einen davon in Brand und marschierte so rasch wie möglich davon.
Ich wußte nicht genau, ob diese Leute in ihren Höhlen wach bleiben oder nicht — das Wasser reicht nicht bis zu den Eingängen —, aber anscheinend schlafen sie doch. Jedenfalls schien niemand meine Flucht bemerkt zu haben.
Der nächtliche Marsch war nicht entfernt so schlimm, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Man kann den Regentropfen ohne weiteres ausweichen, wenn man genügend Licht hat, um sie herabschweben zu sehen. Außerdem reicht das Holz ziemlich lange; ich muß über zwanzig Meilen zurückgelegt haben und wäre noch weiter gekommen, wenn ich nicht einen dummen Fehler gemacht hätte. Ich dachte nämlich erst daran, daß ich neues Holz suchen mußte, als ich bereits meinen letzten Stock in Brand gesetzt hatte.
Aber dann war nirgends genügend Holz zu finden.
Ich kannte die Gegend nicht, denn ich war zunächst nach Westen statt nach Norden gegangen, um die Höhlenbewohner zu täuschen, falls sie meine Flucht beobachtet haben sollten. Als das Feuer erloschen war, dauerte es kaum eine Minute, bis sich ein Regentropfen auf mich herabsenkte; und dann war es schon so spät, daß das Zeug nicht mehr atembar war. Aber ich hatte mich immer an die Hügelkämme gehalten, so daß ich morgens aufwachte, bevor mich ein Raubtier hatte anfallen können.“
Nick machte eine kurze Pause und folgte dem Beispiel der anderen — außer Fagin —, die sich nach einem kurzen Beben bequemer zurechtgesetzt hatten. „Obwohl ich einen weiten Umweg gemacht hatte, erwartete ich doch, daß Verfolger hinter mir auftauchen würden. Die Höhlenbewohner sind alle hervorragende Jäger und Fährtenleser. Von dann ab war ich schlauer und suchte jeden Abend genügend Holz für ein großes Feuer, um mich vor dem Regen zu schützen. Die Höhlenbewohner holten mich nicht ein, aber ich weiß, daß sie unser Dorf früher oder später finden werden. Deshalb bin ich der Meinung, wir sollten so schnell wie möglich verschwinden.“
Als Nick seinen Bericht beendet hatte, herrschte einen Augenblick lang Schweigen; dann redeten die Dorfbewohner aufgeregt durcheinander, ohne sich viel darum zu kümmern was der nächste sagte. In dieser Beziehung waren sie fast menschlich zu nennen. Die Diskussion dauerte an, während Nick darauf wartete, daß Fagin sich äußern würde.
Endlich sprach der Roboter.
„Du hast vollkommen recht, wenn du sagst, daß die Höhlenbewohner unser Dorf finden werden; vielleicht wissen sie bereits, wo es liegt. Hätten sie dich aufgehalten, wären sie dumm gewesen, denn schließlich war zu vermuten, daß du hierher zurückkehren würdest.
Ich glaube jedoch nicht, daß eine Flucht sinnvoll wäre, denn die Höhlenbewohner können uns überallhin folgen. Wahrscheinlich werden sie schon bald hier erscheinen.
Ich möchte nicht, daß ihr gegen sie kämpft, denn ich habe euch alle gern. Eure Erziehung hat viel Zeit und Mühe gekostet, deshalb muß vermieden werden, daß ihr abgeschlachtet werdet. Ihr habt noch nie gekämpft — darin konnte ich euch keinen Unterricht erteilen — und hättet keine Chance gegen einen ganzen Stamm.
Deshalb möchte ich, Nick, daß du und ein anderer ihnen entgegengehst. Sie werden deiner Spur folgen, so daß du sie ohne Mühe findest. Wenn du Swift triffst, kannst du ihm sagen, daß wir gern in seine Höhlen ziehen oder ihn in unserem Dorf wohnen lassen, damit ich ihm und seinen Leuten alles beibringen kann, was sie wollen. Wenn du ihm erklärst, daß ich seine Sprache nicht beherrsche, so daß er dich als Dolmetscher braucht, ist er wahrscheinlich vorsichtig genug, keinem von euch etwas anzutun.“
„Wann sollen wir aufbrechen? Sofort?“
„Das wäre vielleicht am besten, aber du hast einen langen Marsch hinter dir und brauchst etwas Schlaf.
Bis zum Einbruch der Dunkelheit dauert es nicht mehr lange, so daß wir heute wahrscheinlich nichts mehr zu befürchten haben. Du kannst morgen früh gehen.“
„Wie du wünschst, Lehrer.“ Nick ließ sich nicht anmerken, wie wenig er von dem Gedanken an ein erneutes Zusammentreffen mit Swift begeistert war.
Er hatte den Wilden einige Wochen lang beobachten können; Fagin hatte ihn noch nie gesehen. Andererseits wußte der Lehrer fast alles und war schon immer — jedenfalls seit Nicks frühester Kindheit — eine Respektsperson gewesen, an deren Entscheidungen niemand zu zweifeln wagte. Wahrscheinlich würde alles sich so entwickeln, wie Fagin es vorhergesagt hatte.
So hätte es sein können, wenn die Männer hinter dem Roboter nicht die Fähigkeiten der Höhlenbewohner unterschätzt hätten. Nick war noch nicht hinter seinem Feuer eingeschlafen, als Nancy einen lauten Schrei ausstieß. Eine Sekunde später sah er Swift in Begleitung seiner größten und stärksten Krieger den Hügel heraufeilen.