„Daddy! Doktor Raeker! ›Mina‹ hat recht gehabt; dort drüben steht wirklich Nick!“ Easys Stimme hatte einen fast hysterischen Unterton. Die Männer an Bord der Vindemiatrix wechselten besorgte Blicke. Rich zuckte mit den Schultern und überließ Raeker den Platz vor dem Bildschirm. Raeker nickte ihm aufmunternd zu und drückte den Sprechknopf seines Mikrophons.
„Wissen Sie bestimmt, daß Sie Nick vor sich haben, Easy?“ erkundigte er sich so gelassen wie möglich.
„Eigentlich sollte er nämlich das Lager nicht verlassen. Sechs meiner Schüler suchen paarweise nach Ihnen; erkennen Sie dort draußen zwei Eingeborene?“
„Nein“, antwortete Easy mit ruhiger Stimme. Ihr Vater atmete erleichtert auf und sank in seinen Sessel zurück. „Es war nur einer, und ich habe ihn nicht länger als eine Sekunde gesehen. Warten Sie — jetzt taucht er wieder auf!“ Easy stand mit dem Rücken zur Kamera vor einem Bullauge. „Er versteckt sich hinter den Büschen, so daß nur Kopf und Schultern sichtbar sind. Jetzt kommt er etwas näher. Er muß den Bathyskaphen sehen, obwohl ich nicht beurteilen kann, in welche Richtung er blickt. Ich weiß nicht, ob er die richtige Größe hat, aber der Körperbau stimmt jedenfalls. Wie unterscheiden Sie eigentlich die Eingeborenen voneinander?“
„Das ist nicht leicht“, gab Raeker zu. „Aber nach einigen Jahren bilden sich doch gewisse Unterscheidungsmerkmale heraus. Vielleicht beschreiben Sie mir lieber, was dieser eine mit sich herumschleppt; das ist bestimmt einfacher.“
„Einverstanden. Er hat einen ziemlich großen Sack über der rechten Hüfte hängen — beziehungsweise an der Stelle, wo bei einem Menschen die rechte Hüfte wäre —, von dem aus ein breites Band über die linke Schulter führt. Vorn an dem Sack baumelt ein Messer, und ich glaube, daß er noch ein zweites trägt, aber das ist schlecht zu beurteilen, weil er sich nie offen zeigt. Er ist mit vier kurzen Speeren bewaffnet, die genau wie die aussehen, die Nick und seine Leute gebrauchen.
Je länger ich ihn beobachte, desto größer wird seine Ähnlichkeit mit Nick.“
„Trägt er eine Axt?“ fragte Raeker.
„Wenn er eine hat, muß er sie auf dem Rücken tragen, wo ich sie nicht sehen kann.“
„In diesem Fall befürchte ich, daß Sie tatsächlich werden beweisen müssen, wie gut Sie mit Swifts Leuten auskommen. Meine tragen nur zwei Speere und zusätzlich eine Axt. Wenn der Eingeborene, den Sie sehen, einer von Nicks Leuten wäre hätte er bestimmt die Axt in einer der linken Hände. Das bedeutet, daß wir unseren Plan abändern müssen; bisher hofften wir, daß unsere Leute den Bathyskaphen zuerst finden würden. Die Entdeckung muß allerdings ein Zufall sein; ich nehme an, daß der Eingeborene auf der Jagd war. Swift hat in dieser kurzen Zeit noch keine Suchaktion organisieren können, selbst wenn er sich dazu entschlossen hätte.“
„Brauchen die Suchteams nicht ziemlich lange, bis sie in das Lager zurückkommen?“ erkundigte sich Easy zögernd.
„Ja, leider; über eine Woche nach unserer Rechnung. Aber in der Zwischenzeit hat Nick bestimmt Swifts Antwort erhalten.“
„Wenn die Zeit auf diesem komischen Planeten nur nicht so langsam verginge! Haben Sie nicht einmal davon gesprochen, daß Sie Swifts Dialekt teilweise aufgezeichnet haben, als der Roboter in seinen Händen war?“
„Richtig. Aber wir wissen nicht sehr viel darüber, für Menschen ist der Dialekt kaum aussprechbar.
Andererseits haben wir zahlreiche Bänder bespielt; wir können sie Ihnen zur Verfügung stellen und einige Erklärungen mitliefern, wenn Sie glauben, daß Ihnen damit geholfen ist. Zumindest wäre es ein guter Zeitvertreib.“
Easy lachte verschmitzt. „Mir wäre bestimmt damit geholfen. Nicht wahr, Daddy?“
Rich erwiderte ihr Lächeln. „Natürlich. Sie kann jede Sprache fast so schnell lernen, wie Sie die Tonbänder abspielen Doktor.“
„Wirklich? Ich habe aber noch nie gehört, daß sie sich mit ihrem jungen Freund dort unten anders als auf Englisch unterhalten hätte.“
„Kennen Sie einen Menschen, dessen Stimmbänder es mit denen eines Drommianers aufnehmen können?
Easy versteht seine Sprache jedoch genausogut wie ich.“
„Ich bezweifle jedenfalls, daß sie mit Swifts Dialekt besser zurechtkommt. Einige der höheren Töne sind nämlich kaum aussprechbar. Natürlich hat sie als Mädchen eine höhere Stimme, aber trotzdem glaube ich, daß sie sich auf das Zuhören beschränken muß.“
„Vielleicht haben Sie recht. Wollen wir uns nicht lieber wieder mit der Gegenwart befassen? Was tut der Eingeborene jetzt, Easy?“
„Er ist bis auf dreißig Meter herangekommen und besichtigt den Bathyskaphen von allen Seiten. Falls er uns durch die Bullaugen gesehen hat, läßt er sich nicht davon beeindrucken. Er ist noch immer allein — vermutlich haben Sie recht, Doktor Raeker; wenn einem ihrer Leute etwas zugestoßen wäre, hätte der andere bestimmt die Suche abgebrochen und wäre in das Lager zurückgekehrt.“
„Davon bin ich nicht ganz überzeugt, aber ich nehme sicher an, daß der Eingeborene zu den Höhlenbewohnern gehört“, antwortete Raeker. „Berichten Sie uns, wenn er sich anders verhält.“
„Das ist bereits jetzt der Fall. Er entfernt sich wieder in die Richtung, aus der er gekommen ist. Er trägt wirklich keine Axt; wir haben ihn inzwischen von allen Seiten zu Gesicht bekommen. Allmählich ist er kaum noch zu sehen, weil unsere Scheinwerfer die Umgebung nicht sehr weit beleuchten. Jetzt ist er ganz verschwunden.“
Raeker warf einen Blick auf seine Uhr und stellte eine rasche Berechnung an. „In etwa vier Stunden setzt der Regen wieder ein. Easy, haben Sie gesehen, ob der Eingeborene eine Fackel bei sich hatte?“
„Ganz bestimmt nicht. Aber vielleicht trägt er in seinem Sack eine Art Feuerzeug mit sich herum.“
„Swifts Leute wissen nicht, wie man Feuer macht.
Nicks Gruppe benutzt dazu Feuerbohrer, aber ich nehme an, daß die Höhlenbewohner den Trick noch nicht begriffen haben. Jedenfalls beherrschten sie ihn gestern noch nicht — also vor drei oder vier Schiffstagen.
Ich wollte damit vor allem sagen, daß dieser Eingeborene ohne Feuer nicht weiter als vier Stunden von Swifts anderen Leuten entfernt sein kann. Vielleicht sogar weniger; halten Sie also lieber die Augen offen, damit Sie uns sofort verständigen können, wenn die Masse der Höhlenbewohner auftaucht. Auf diese Weise hätten wir einen weiteren Hinweis, denn Swift hält sich vermutlich in der Nähe der Höhlen oder an der Stelle auf wo Nick und der Roboter den Fluß durchquert haben.“
„Ja, das verstehe ich. Wir werden nach ihnen Ausschau halten“, erwiderte Easy. „Aber wie steht es mit den Tonbändern? Je früher wir sie bekommen, desto nützlicher sind sie vielleicht schon bald.“
Raeker versprach ihr, daß die Bänder sofort abgespielt werden würden. Die nächsten Stunden verliefen ereignislos; die Nacht und der Regen setzten ein, und als die Regentropfen durchsichtig wurden, erwarteten die Kinder die Eingeborenen nicht mehr. Sie aßen, schliefen und versuchten, die Sprache der Höhlenbewohner zu lernen. Easy erwies sich als ungewöhnlich begabt, war aber nicht ganz das Naturwunder, das ihr Vater in ihr sah.
Kurze Zeit später trat eine weitere Komplikation auf, die niemand vorausgesehen hatte, obwohl sie zu erwarten war. Der Bathyskaph setzte sich wieder in Bewegung, als der Fluß allmählich durch die Regenfälle anschwoll. Die beiden Kinder konnten beim besten Willen nicht beurteilen, wie rasch sie sich bewegten, und waren überhaupt erst durch einen Stoß darauf aufmerksam geworden. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten sie allerdings erst eine Minute oder schon eine halbe Stunde unterwegs gewesen sein.
Raeker ließ sich durch diese Nachricht keineswegs erschüttern, aber Easy war dem Weinen nahe.
„Auf diese Weise besteht eher Aussicht, daß Nicks Gruppe euch vor Swifts Leuten findet“, erklärte der Biologe ihr. „Die Höhlenbewohner müssen die Suche wieder neu aufnehmen während wir die Position des Schiffes immer genauer bestimmen können.“
„Wie soll ich mir das erklären?“ fragte das Mädchen unsicher. „Sie wußten vorher nicht, wo wir waren, und jetzt haben Sie keine Ahnung, wie schnell und in welche Richtung wir uns bewegen. Meiner Meinung nach wissen wir jetzt weniger als gestern, obwohl man eigentlich nicht weniger als nichts wissen kann.“
„Wir wissen es nicht“, gab Raeker zu, „aber wir können ziemlich genau schätzen. Wir nehmen an, daß der Bathyskaph nur wenige Marschstunden — sagen wir fünfundzwanzig oder dreißig Kilometer — von der Linie zwischen Swifts Höhlen und Nicks Lager entfernt ist. Wir sind außerdem davon überzeugt, daß dieses Gebiet nicht allzu weit von dem Meer entfernt sein kann, das Nick entdeckt hat. Folglich werden Sie allmählich in dieses Meer geschwemmt, und ich wäre sehr überrascht, wenn Sie es nicht innerhalb der nächsten beiden Nächte erreichen.
Das heißt also, daß Nicks Leute nur die Küste absuchen und auch das Wasser im Auge behalten müssen. Ich glaube nicht, daß der Bathyskaph weit auf das Meer hinaustreibt; der Fluß weist keine nennenswerte Strömung auf, und auf Tenebra gibt es keine heftigen Winde.“
Easys Gesicht hellte sich auf. Aminadorneldo, der ebenfalls auf dem Bildschirm sichtbar war, zeigte keine Gemütsbewegung, aber das Mädchen, das ihn beobachtet hatte, schien mit dem Erfolg zufrieden, den Raekers Erklärungen gehabt hatten. Dann fiel ihr jedoch etwas ein; sie stellte eine präzise Frage.
„Wie soll Nicks Gruppe uns helfen, wenn wir auf dem Meer treiben?“ wollte sie wissen. „Weder sie noch Swifts Leute können uns dann erreichen, und Sie sagen, daß es auf Tenebra praktisch keinen Wind gibt, obwohl ich das nicht ganz verstehe.“
„Der atmosphärische Druck ist so unglaublich hoch, daß die sonst gültigen Regeln hier nicht anwendbar sind“, erklärte Raeker ihr. Er war selbst kein Physiker, hatte aber genau diese Frage in den vergangenen sechzehn Jahren oft genug beantworten müssen. „Die äußerst geringen Temperaturschwankungen beeinflussen weder das Volumen noch das spezifische Gewicht noch den Druck wesentlich. Geringe Druckschwankungen bedeuten aber gleichzeitig nur schwache Luftbewegungen, und selbst der Wechsel des Aggregatzustands von gasförmig zu flüssig beeinflußt das spezifische Gewicht so wenig, daß die Regentropfen trotz der hohen Schwerkraft wie Seifenblasen zu Boden schweben.“
„Vielen Dank, wenn ich wieder in der Schule bin, werde ich meinen Physiklehrer danach fragen“, sagte Easy lächelnd. „Sie haben vielleicht recht, aber damit ist noch nicht beantwortet, wie Nicks Gruppe uns erreichen soll, wenn wir im Meer treiben. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich wieder die alte Leier anstimme, obwohl Sie das Thema wechseln wollten.“
Raeker lachte laut — zum erstenmal seit Wochen.
„Ausgezeichnet. Nein, das wollte ich keineswegs; Sie haben nur zufällig eine Frage gestellt, die bisher fast jeder Besucher von mir beantwortet haben wollte, und ich habe ohne nachzudenken geantwortet. Sie haben sozusagen auf den Sprechknopf gedrückt. Was das andere Problem betrifft, können Sie es getrost mir überlassen. Ich unterhalte mich morgen früh mit Nick darüber — jetzt könnte er ohnehin nichts unternehmen.“
„Einverstanden“, meinte Easy. „Dann brauche ich mir also keine Sorgen darüber zu machen. Wie erkennen wir, daß wir auf dem Meer treiben?“
„Der Bathyskaph erreicht wieder die Oberfläche, wenn ein Teil des Wassers verdunstet. Vielleicht steigt er sogar gleich auf, wenn er das Meer erreicht, aber das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich weiß nicht, wie weit der Regen die Säure verdünnt.
Halten Sie die Augen offen und benachrichtigen Sie uns sofort, wenn eine Aufwärtsbewegung wahrnehmbar ist.“
„Wird gemacht. Das ist nicht schwer.“
Aber sie befanden sich noch immer dicht über dem Boden, als der Bathyskaph zum Stillstand kam. Irgend etwas hatte die Strömung so verringert, daß sie den riesigen Hohlkörper nicht mehr bewegen konnte.
Raeker vermutete, daß der Bathyskaph bereits das Meer erreicht hatte; ob diese Annahme zutraf würde sich allerdings erst in einigen Stunden herausstellen, wenn auf Tenebra der nächste lange Tag anbrach.
Dann begann das Schiff langsam nach oben zu schweben; die Bewegung verlief im Zeitlupentempo, so daß drei Stunden vergingen, bevor der Boden nicht mehr sichtbar war. Selbst dann hatten sie die Oberfläche noch nicht erreicht, aber Raeker war fest davon überzeugt, daß der Bathyskaph sich dort befand, wo er ihn vermutete, denn der Fluß war am Vortag wesentlich rascher ausgetrocknet. Er setzte sich mit Easy in Verbindung, beschrieb ihr, was er vorhatte, und wandte sich dann an Nick.
Zunächst erhielt er keine Antwort, aber ein Blick auf den Bildschirm zeigte, daß Nick und Betsey bei der Herde standen. Raeker setzte den Roboter in Bewegung und wiederholte den Anruf mit größerer Lautstärke. Beide Hirten wandten sich um, und Nick lief der Maschine entgegen. Raeker ließ sie weiterrollen, weil er am Fuß des Hügels etwas gesehen hatte, das er für seinen Versuch brauchte.
Nick kam heran und erkundigte sich, was geschehen sei.
„Ich erkläre es dir gleich“, antwortete Raeker.
„Holst du bitte einen Eimer aus dem Karren und kommst wieder hierher an den Teich?“
„Gern.“ Nick rannte den Hügel hinauf. Raeker hatte es absichtlich vermieden, den Roboter einen Eimer holen zu lassen, weil er es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, alle beweglichen Teile der Maschine nur in Notfällen zu benutzen.
Der Teich am Fuß des Hügels, den er erwähnt hatte, war wie alle anderen kreisrund und füllte nur einen geringen Teil des Bettes aus, das er nachts einnahm. Raeker vermutete seit Jahren, daß die zurückbleibende Flüssigkeit Schwefelsäure war, und hatte noch keine Tatsache entdeckt, die im Widerspruch zu seiner Theorie stand. Jetzt ließ er den Roboter hindurchrollen, um sicherzugehen, daß der Teich wirklich so seicht war, wie er aussah, und wartete dann, bis Nick mit dem Eimer zurückkam.
„Ist er auch dicht, Nick? Hält er Flüssigkeit, ohne zu lecken?“ Statt einer Antwort zog Nick den Ledereimer durch die Flüssigkeit, wartete einen Augenblick, bis die Tropfen abgelaufen waren, und hob ihn dann hoch. Der Eimer schien völlig dicht zu sein.
„Zufrieden?“ meinte Nick schließlich. „Warum ist das eigentlich wichtig? Wir brauchen dieses Zeug nie sehr weit zu transportieren; Teiche gibt es überall genügend.“
„Ich will es gar nicht in dem Eimer haben, Nick.
Jetzt kannst du ihn wieder ausleeren und einfach in die Flüssigkeit stellen.“ Nick gehorchte. Der schwere Henkel brachte den Eimer fast zum Kentern, und zehn oder fünfzehn Liter Schwefelsäure strömten hinein. Dies reichte aus, um den Boden so zu beschweren, daß der Eimer senkrecht bis fast zum Rand in dem Teich versank. Aber nicht weiter; Nick war verblüfft, denn er hatte erwartet, daß der Eimer sofort versinken würde.
„Ich fürchte, daß ich deine Erziehung etwas vernachlässigt habe“, stellte Raeker fest. „Andererseits ist es angesichts der Verhältnisse auf Tenebra entschuldbar, daß ich den guten alten Archimedes ausgelassen habe. Noch einmal, Nick, aber diesmal mit ein paar Steinen in dem Eimer.“
Da lose Steine auf Tenebra bestenfalls in Erdbebengebieten vorkommen, hatte Nick keine zur Verfügung; er füllte das untere Drittel des Eimers jedoch mit zerbrochenen Holzstücken und erreichte damit das gleiche Ziel. Diesmal schwamm der Eimer fast senkrecht und wies einen beträchtlichen Freibord auf.
„Mehr Holz, damit wir sehen, wann er zu sinken beginnt“, wies Raeker Nick an. Zur Überraschung aller Beteiligten konnte der Eingeborene den Eimer bis zum Rand mit Holz füllen, ohne daß er unterging. Allerdings hätte bereits eine kleine Welle genügt, um das herbeizuführen — Raeker demonstrierte diese Tatsache sofort. Auf seine Anweisung hin wirbelte Nick die Flüssigkeit mit allen vier Händen auf; die Wellen schlugen über den Rand des Eimers, der sofort versank.
„Glaubst du, daß du einen ähnlichen Behälter konstruieren könntest, der mehrere Leute vor dem Versinken bewahrt?“ fragte Raeker.
Nick war nicht davon überzeugt. „Vielleicht“, meinte er zögernd, „aber ich verstehe noch immer nicht, wie das alles funktioniert. Könntest du es mir nicht erklären? Welchen Zweck hätte denn ein Behälter dieser Art?“
Raeker nahm die Gelegenheit wahr, um Nick das Prinzip der Wasserverdrängung, Easys Berichte über das Erscheinen des Höhlenbewohners und seine eigene Theorie über die augenblickliche Lage des Bathyskaphen zu erklären. Nick begriff wie üblich rasch und überschlug sich fast vor Begeisterung.
„Jetzt verstehe ich alles!“ rief er begeistert aus.
„Das Schiff treibt auf dem Meer, wo es keiner erreichen kann, deshalb hast du uns gezeigt, wie man sich dort bewegt. Mit diesem großen Eimer, den wir bauen sollen, könnten wir hinausfahren und das Schiff auf die andere Seite ziehen, wo Swift uns nicht belästigt. Wir fangen sofort mit dem Bau an — am besten kümmern wir uns gleich um das nötige Leder…“
„Langsam, Nick! Meere — selbst so kleine wie auf Tenebra — überquert man nicht so einfach. Außerdem müssen wir noch einen anderen Punkt berücksichtigen. Was passiert, wenn ihr in diesem — äh — Eimer nachts unterwegs seid?“
Nick überlegte kurz. „Warum können wir nicht Holz und Fackeln mitnehmen?“
„Natürlich könnt ihr das; aber damit ist das Problem noch nicht gelöst. Wie verändert sich das Meer nachts?“
„Es steigt; aber würde der Eimer dieser Bewegung nicht ebenfalls folgen?“
„Wahrscheinlich nicht. Während das Meer steigt, verringert sich seine Dichte sehr rasch, und ich fürchte, daß es schon bald danach über den Rand des Eimers schlagen würde — und du hast eben gesehen, was dann passiert.“
„Richtig“, stimmte Nick zu. Er schwieg eine Minute lang nachdenklich, dann sprach er wieder so begeistert wie zuvor. „Augenblick, jetzt weiß ich, was wir tun müssen! Der Eimer sinkt, weil er sich mit Flüssigkeit füllt, wodurch er nicht mehr leichter als die Flüssigkeit ist, die er verdrängt — richtig?“
„Genau.“
„Was passiert also, wenn wir statt des Eimers einen völlig geschlossenen Luftsack haben? Wenn er dicht schließt, kann keine Flüssigkeit hinein, selbst wenn sie noch so hoch steigt.“
„Aber wenn die Flüssigkeit nicht mehr schwerer als Luft ist?“
„Das wäre nicht weiter schlimm, denn wenn ein Teil des Wassers am nächsten Morgen verdampft, schwimmt der Luftsack wieder oben.“
„Aber nur unter der Voraussetzung, daß er tatsächlich völlig dicht schließt. Ich möchte nicht, daß ihr alle euer Leben nachts auf dem Meer riskiert, obwohl deine Idee mit dem Luftsack wirklich gut ist. Vielleicht wäre es besser, ein Schiff aus vielen Luftsäcken zu bauen, damit es schwimmfähig bleibt, selbst wenn einige undicht werden.“
„Das finde ich auch. Aber warum sollen wir nachts nicht auf dem Meer bleiben? Vielleicht wird es Nacht, bevor wir das andere Schiff über das Meer geschleppt haben.“
„Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ihr arbeitet tagsüber daran und kommt nachts an das Ufer zurück.“
„Und wie steht es mit Swift?“
„Das ist meine Sorge. Willst du das Abkommen nicht einhalten, das wir ihm angeboten haben?“
Nick dachte nach. „Doch, wenn er tatsächlich einverstanden ist. Aber wenn einer seiner Späher gestern das Schiff entdeckt hat, stammt die Idee zu einer eigenen Suche vielleicht von ihm.“
„Ich glaube noch immer, daß die Entdeckung ein Zufall war. Wenn deine Auffassung richtig ist, können wir uns später noch genügend Sorgen in dieser Richtung machen. Easy will mit Swift verhandeln, sagt sie. Habe ich recht, junge Dame?“
„Natürlich.“
„Magst du Swift?“ fragte Nick sie überrascht. „Ich kann nicht vergessen, daß er zwei meiner Freunde umgebracht hat.“
„Ich bin ihm noch nie begegnet“, erklärte Easy ihm.
„Er hätte euer Dorf nicht so brutal überfallen dürfen, aber vielleicht ist ihm nur nichts Besseres eingefallen, um das zu bekommen, was er haben wollte. Wenn du dich nicht ganz dumm anstellst, Nick, kannst du ihn dazu bringen, daß er tut, was dir gefällt — und daß er sich dabei noch einbildet, das Ganze sei seine Idee gewesen.“
„Unmöglich!“ rief Nick aus.
„Warte nur, bis Swift wieder auftaucht“, antwortete das Mädchen so zuversichtlich, daß selbst ihr Vater verblüfft war. „Dann wirst du schon sehen, was ich meine.“
Rich beugte sich zu Raeker hinüber und flüsterte:
„Hoffentlich wird die junge Dame dort unten nicht allzu selbstsicher. Ich gebe zu, daß sie Nick nur das beibringt, was ich ihr immer gepredigt habe; trotzdem bleibt abzuwarten, ob sie das alles in die Tat umsetzen kann. Schließlich ist dieser Swift weder Mensch noch Drommianer!“
Raeker zuckte mit den Schultern. „Vielleicht kommt sie nie in die Verlegenheit. In der Zwischenzeit ist es bestimmt besser, wenn sie selbstsicher ist, statt ständig vor Angst zu zittern.“
„Wahrscheinlich haben Sie recht.“ Rich sah wieder auf den Bildschirm und beobachtete seine Tochter, die sich noch immer angeregt mit Nick unterhielt.
Raeker hörte einige Minuten lang amüsiert zu und schlug dann vor, Easy solle Nick lieber alles erzählen, was sie vom Bootsbau wußte, denn damit konnte der Eingeborene mehr anfangen. Das Mädchen stimmte sofort zu und begann mit seinem Vortrag.
Kurze Zeit später wurde sie von Aminadorneldo an das Bullauge gerufen und kam zurück, um zu berichten, daß der Bathyskaph die Oberfläche erreicht hatte. „Wir sind weiter von der Küste entfernt, als Sie angenommen haben, Doktor Raeker“, berichtete sie.
„Selbst die stärksten Scheinwerfer reichen kaum bis an das Ufer. Ich kann keine Einzelheiten erkennen, aber anscheinend sind der eigentlichen Küste mehrere kleine Inseln vorgelagert.“
„Sieht ›Mina‹ mehr?“
„Nein“, antwortete Easy wenige Sekunden später.
„Er sieht überhaupt etwas schlechter als ich, habe ich festgestellt.“
„Aha. Wahrscheinlich können Sie nicht feststellen, ob der Bathyskaph sich bewegt?“
„Das Meer ist völlig still, so daß wir nicht den geringsten Anhaltspunkt haben. Sonst ist hier nichts zu sehen — außer einigen seltsamen Lebewesen, die wie riesige fliegende Quallen über uns schweben. Jetzt bewegen sie sich gemeinsam auf die Küste zu, aber daraus ist keine Eigenbewegung zu erkennen.“
„Das spielt eigentlich keine große Rolle“, sagte Raeker. „Beobachten Sie von Zeit zu Zeit Ihre Umgebung und sprechen Sie weiter mit Nick, wenn Sie Lust dazu haben. Er und Betsey geben sich alle Mühe, aber bevor die anderen zurück sind, können sie nicht viel unternehmen. Wahrscheinlich kommen sie erst morgen abend wieder — also in fünf bis sechs Tagen nach Ihrer Rechnung.“
„Danke, Doktor Raeker. Wir werden uns bis dahin bestimmt nicht langweilen.“ Der Biologe ließ sich zufrieden in seinen Sessel sinken, nachdem er das Mikrophon ausgeschaltet hatte. Alles schien wie geplant zu verlaufen; vielleicht etwas langsamer, als er gehofft hatte, aber doch so rasch, wie unter diesen Verhältnissen zu erwarten war. Diese Überlegung mußte seinen Gesichtsausdruck beeinflußt haben, denn ein anderer erriet völlig zutreffend, was er eben gedacht hatte.
„So, dann sind Sie also mit sich zufrieden, Sie Mensch!“ Der Sprecher brauchte sich nicht vorzustellen. Raeker versuchte sich zu beherrschen, aber seine Anstrengung hatte nicht unbedingt den gewünschten Erfolg.
„Nicht völlig, Councillor…“
„Warum nicht völlig? “ erkundigte sich Aminadabarlee mit schriller Stimme. „Weshalb sollten Sie überhaupt Grund zur Zufriedenheit haben? Was haben Sie denn bisher erreicht?“
„Ziemlich viel, finde ich“, antwortete Raeker einigermaßen überrascht. „Wir wissen ungefähr, wo Ihr Sohn steckt, und werden die Rettungsmannschaft innerhalb der nächsten acht oder zehn Tage dorthin dirigieren…“
„In acht oder zehn Tagen! Und dann müssen Sie die Eingeborenen erst zu Elektroingenieuren ausbilden, wobei Sie nur hoffen können, daß die Kontakte in dem lächerlichen Bathyskaphen in der Zwischenzeit nicht bis zur Unkenntlichkeit korrodiert sind.
Wie lange dauert Ihrer Meinung nach die eigentliche Rettung noch?“
„Diese Frage kann ich nicht ohne weiteres beantworten“, sagte Raeker so vorsichtig wie möglich.
„Wie Sie eben so richtig gesagt haben, muß erst festgestellt werden, welches Ausmaß die Beschädigungen erreicht haben. Ich weiß, daß die Warterei nicht angenehm ist, aber schließlich haben die beiden Kinder es jetzt bereits vier Wochen dort unten ausgehalten, ohne…“
„Sind eigentlich alle Menschen völlig vertrottelt?“
erkundigte sich der Drommianer. „Sie haben doch eben gehört, daß mein Sohn nicht so gut wie Councillor Richs Tochter sieht.“
„Richtig, aber diese Feststellung erschien mir nicht bemerkenswert“, gab Raeker zu.
„Drommianer sehen im allgemeinen wesentlich besser als Menschen, und mein Sohn hat immer ein normales Sehvermögen besessen. Wenn er jetzt schlechter sieht, kann er nicht ganz auf der Höhe sein; ich vermute, daß daran der dauernde Sauerstoffmangel schuld ist. Soweit ich informiert bin, haben Ihre Ingenieure in dieser Beziehung keinerlei Vorkehrungen getroffen.“
„Wahrscheinlich nicht, weil die Besatzung immer nur aus Menschen bestehen sollte“, gab Raeker zu.
„Ich sehe ein, daß wir etwas dagegen unternehmen müssen, Councillor; ich werde die Rettungsaktion nach Möglichkeit noch mehr beschleunigen. Zum Beispiel muß es einen Weg geben, Nick die Arbeit zu erläutern, die von seiner Gruppe erwartet wird. Ich werde in einer halben Stunde abgelöst, aber der nächste Wachhabende kommt bestimmt schon jetzt, wenn ich ihn darum bitte. Haben Sie sich schon mit Dromm wegen eines Arztes in Verbindung gesetzt? Unser Schiffsarzt zerbricht sich bereits seit Tagen den Kopf darüber, wie sich die Verpflegung der beiden Kinder verbessern läßt.“
„Ich habe einen Arzt angefordert“, antwortete der Drommianer, „aber seine Ankunft wird wahrscheinlich noch einige Tage auf sich warten lassen.“
Raeker hatte das Gefühl, einen guten Schachzug gemacht zu haben, indem er Aminadabarlee zu diesem Eingeständnis veranlaßte; leider trug diese Tatsache jedoch keineswegs dazu bei, das cholerische Temperament des Drommianers zu dämpfen. Im Augenblick mußte er sich geschlagen geben, aber sein unterdrückter Zorn konnte unter Umständen unangenehmer als seine sonst übliche hochmütige Art sein. Aminadabarlee zog sich in seine Privatkabine zurück — in der die „unfähigen“ menschlichen Ingenieure eine Klimaanlage installiert hatten, die reichlich Sauerstoff lieferte — und brütete dort weiter. Innerhalb der nächsten drei Stunden setzte er sich fünfmal mit seinem Heimatplaneten in Verbindung, um dringend einen Arzt anzufordern, der bereits längst unterwegs war.
Als der Drommianer den Raum verlassen hatte, ließ Raeker sich nicht vorzeitig ablösen; aber als der nächste Wachhabende erschienen war, machte er sich auf den Weg zu der Konstruktionsabteilung und erläuterte dort den Vorschlag, den er schon Aminadabarlee gemacht hatte. Sakiiro und seine Kollegen waren der Auffassung, daß ein Versuch nicht schaden könne; sie holten die Blaupausen aus den Schränken und überlegten gemeinsam, was Nick wissen mußte, um die Arbeit durchführen zu können.
Das nahm einige Stunden in Anspruch. Anschließend ging Raeker in seine Kabine zurück, um dort kurze Zeit zu schlafen. Als er wieder in dem Kontrollraum erschien, erhob der bisherige Wachhabende sich mit einem erleichterten Lächeln.
„Miß Rich hat etwas zu berichten“, sagte er, „aber sie will es nur Ihnen persönlich erzählen.“ Raeker zog die Augen brauen in die Höhe, ließ sich in seinen Sessel fallen und drückte den Sprechknopf seines Mikrophons.
„Ich bin hier, Easy“, sagte er. „Was ist denn geschehen?“
„Ich wollte es lieber gleich Ihnen erzählen, nachdem Sie gesagt haben, wir würden auf dem Meer nicht mehr weitertreiben“, antwortete das Mädchen sofort. „Aber jetzt bewegen wir uns schon seit vier oder fünf Stunden langsam auf die Küste zu.“
Raeker lächelte leicht. „Wissen Sie ganz bestimmt, daß die Küste nicht einfach näherrückt?“ fragte er.
„In der Zwischenzeit muß doch noch wesentlich mehr Wasser verdampft sein.“
„Ganz bestimmt nicht. Wir haben eine Landzunge beobachtet, und das Meer ist noch immer an der gleichen Stelle, während wir nähergekommen sind. Dieses Stück Küste unterscheidet sich in einer Beziehung deutlich von seiner Umgebung, so daß wir es gut im Auge behalten konnten, obwohl erst jetzt zu erkennen ist, was sich dort befindet.“
„Was befindet sich denn dort?“ fragte Raeker, der deutlich spürte, daß diese Frage erwartet wurde.
Easy bedachte ihn mit dem Blick, den Kinder für Erwachsene reservieren, die einen unverzeihlichen Fehler gemacht haben.
„Ungefähr fünfzig Eingeborene“, sagte sie.