4. Der Strom der Zeit

Weda Kong und Dar Weter standen auf der kleinen runden Plattform des Fluggleiters, der langsam über der endlosen Steppe dahinschwebte. Eine leichte Brise ließ das blühende, dicht stehende Gras unter ihnen hin und her wogen. In der Ferne weidete eine Herde schwarz-weißer Rinder, Nachkommen einer Kreuzung aus Yak, Hausrind und Büffel.

Dieser stabile, ebene Teil der Erdkruste mit seinen niedrigen Hügeln, stillen Flüssen und breiten Tälern, der einst Westsibirische Tiefebene genannt worden war, strahlte Weite und Ruhe aus.

Gedankenverloren betrachtete Dar Weter das Land, das vormals von unendlichen trostlosen Sümpfen und spärlichen Wäldern des sibirischen Nordens bedeckt war. Er erinnerte sich an das Bild eines alten Meisters, das sich ihm als Kind unauslöschlich eingeprägt hatte.

Über der Windung eines riesigen Stroms, die eine hohe Landzunge einschloss, stand inmitten weitläufiger Auen und Wiesen einsam eine vor Alter grau gewordene Holzkirche. Das schmale Kreuz auf der Kuppel glänzte schwarz unter niedrigen schweren Wolkenmassen. Auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche wogten die zerzausten Wipfel einiger Weiden und Birken im Winde. Ihre Zweige hingen so weit herab, dass sie beinahe die halb vermoderten, durch Zeit und Stürme umgefallenen Grabkreuze in dem frischen, feuchten Gras streiften. Jenseits des Stroms türmten sich riesige grauviolette Berge spürbar dichter Wolken. Der breite Strom warf einen unbarmherzigen eisigen Glanz auf alles Umliegende. Fern und nah war das Land in das Nass eines penetranten Herbstregens getaucht, wie er typisch war für diese kalten und rauen nördlichen Breiten. Und die gesamte Palette bläulicher, grauer und grüner Farben auf dem Gemälde erzählte von den Weiten unfruchtbaren Landes, wo der Mensch ein karges Leben führte, unter Kälte und Hunger litt und wo seine Einsamkeit, charakteristisch für jene längst vergangenen Zeiten menschlicher Unvernunft, so stark spürbar war.

Wie ein Fenster in eine ferne Vergangenheit war Dar Weter dieses Gemälde im Museum vorgekommen, wo es restauriert und von unsichtbarem Licht beleuchtet in der Tiefe eines durchsichtigen Schutzpanzers aufbewahrt wurde.

Jetzt blickte sich Dar Weter wortlos zu Weda um. Die junge Frau hatte eine Hand auf das Geländer der Plattform gelegt, stand mit geneigtem Kopf gedankenversunken da und beobachtete die sich im Winde biegenden hohen Grashalme. Eine Welle nach der anderen rollte langsam durch das silbern glänzende Federgras, während die runde Plattform des Fluggleiters in aller Ruhe über der Steppe schwebte. Plötzlich peitschten den Reisenden kleine, drückend heiße Wirbelwinde entgegen, ließen Wedas Haar und Kleid flattern und bliesen Dar Weter voller Übermut heiße Luft in die Augen. Aber der automatische Stabilisator schaltete schneller, als sie denken konnten, sodass die fliegende Plattform nur kurz erzitterte.

Dar Weter beugte sich über den Kursschreiber. Der Kartenstreifen, der ihren Flug wiedergab, bewegte sich rasch — am Ende waren sie schon zu weit nach Norden geraten? Längst hatten sie den sechzigsten Breitengrad überquert, die Mündung des Irtysch in den Ob passiert und näherten sich dem Hochland der sibirischen Tafelberge.

Nachdem die beiden Reisenden vier Monate lang bei den Ausgrabungen alter Hügelgräber in den glutheißen Steppen des Vorlandes des Altai-Gebirges gearbeitet hatten, waren sie längst an die Weitläufigkeit der Steppe gewöhnt. Die Altertumsforscher fühlten sich, als wären sie in jene Zeit zurückversetzt worden, da nur vereinzelte Trupps bewaffneter Reiter die südliche Steppe durchquerten.

Weda drehte sich um und wies stumm nach vorn. Dort, in den Strömen erhitzter Luft, schwebte eine gleichsam vom Boden losgelöste dunkle Insel. Einige Minuten später näherte sich der Fluggleiter einem kleinen Hügel, wahrscheinlich die Halde eines ehemaligen Bergwerks. Von den Grubenanlagen war außer dem mit wilden Kirschen dicht bewachsenen Hügel nichts übrig geblieben.

Die fliegende runde Plattform bekam plötzlich Schlagseite.

Dar Weter fasste Weda automatisch um die Taille und stürzte mit ihr auf die Seite der Plattform, die sich gehoben hatte. Für einen Sekundenbruchteil gewann der Fluggleiter sein Gleichgewicht zurück, um dann der Länge nach am Fuß des Hügels zu zerschellen. Die Stoßdämpfer fingen den Aufprall ab, und Weda und Dar Weter wurden auf den Abhang des Hügels, direkt in das Dickicht stechender Sträucher, geschleudert.

Nach kurzem Schweigen wurde die Stille der Steppe durch Wedas tiefes Lachen zerrissen. Dar Weter musste sich seine eigene erstaunte und zerkratzte Physiognomie vorstellen und stimmte in ihre ausgelassene Heiterkeit ein, glücklich darüber, dass sie unverletzt geblieben und der Unfall glimpflich ausgegangen war.

„Nicht umsonst ist es verboten, mit Fluggleitern höher als acht Meter zu fliegen“, sagte Weda Kong ein wenig außer Atem. „Jetzt ist mir klar…“

„Bei einer Panne stürzt die Maschine sofort ab, und dann kann man nur noch auf die Wirkung der Stoßdämpfer hoffen. Daran ist nun mal nichts zu ändern, es ist der Preis für geringes Gewicht, kleine Ausmaße und hohe Wendigkeit. Kann sein, dass wir beide hier und heute sogar einen noch höheren Preis für alle bereits glücklich verlaufenen Flüge zahlen müssen.“ Bei den letzten Worten klang seine Stimme gespielt gleichgültig.

„Wie das?“, fragte Weda, ernster geworden.

„Ein tadelloses Funktionieren der Stabilisatoren setzt hoch komplizierte Mechanismen voraus. Ich fürchte, es wird ziemlich lange dauern, bis ich mich darin auskenne. Im schlimmsten Fall kommen wir von hier nur fort, wenn wir es wie unsere armen Vorfahren machen…“

Mit einem schalkhaften Glanz in den Augen streckte Weda die Hand aus, und Dar Weter zog die junge Frau mit Leichtigkeit hoch. Sie stiegen zu dem abgestürzten Fluggleiter hinab, rieben ihre Abschürfungen mit einer Heiltinktur ein und klebten die zerrissene Kleidung zusammen. Dar Weter suchte für Weda einen Platz im Schatten eines Strauches und machte sich selbst daran, die Ursachen der Havarie herauszufinden. Wie er vermutet hatte, war mit dem automatischen Stabilisator etwas nicht in Ordnung — der Blockierungsmechanismus hatte den Motor ausgeschaltet. Kaum hatte Dar Weter das Gehäuse des Gerätes geöffnet, als ihm klar wurde, dass eine Reparatur aussichtslos war — er hätte ewig gebraucht, um die komplizierte Elektronik zu verstehen. Mit einem Seufzer der Verärgerung streckte er seinen müden Rücken und schielte zu dem Strauch hinüber, an den sich Weda Kong vertrauensvoll anschmiegte. Die heiße Steppe war, so weit das Auge reichte, völlig menschenleer. Zwei Raubvögel kreisten langsam über dem wogenden bläulichen Dunst…

Die folgsame Maschine war zu einer toten Scheibe geworden, die hilflos auf dem trockenen Boden lag. Ein seltsames Gefühl der Einsamkeit und des Abgeschnittenseins von der übrigen Welt überkam Dar Weter.

Aber gleichzeitig hatte er nicht die geringste Angst. Sobald es Nacht wurde, würden sie mit dem bloßen Auge weiter sehen können und sicherlich irgendwo ein Feuer entdecken. Sie waren ohne Gepäck losgeflogen, hatten weder ein Sprechfunkgerät noch Taschenlampen oder Nahrung mitgenommen.

Früher konnte man in der Steppe umkommen, wenn man nicht genügend Vorräte an Nahrungsmitteln — und an Wasser! — mitführte, dachte der ehemalige Leiter der Außenstationen, während er seine Augen vor dem grellen Licht zu schützen versuchte. Er erblickte ein kleines Stück Schatten unter dem Kirschbaum neben Weda und streckte sich unbekümmert am Boden aus, wobei ihn die trockenen Grashalme durch die leichte Kleidung hindurch stachen. Das leise Rauschen des Windes und die drückende Hitze versetzten ihn in einen Dämmerzustand, in dem seine Gedanken nur langsam dahinflossen und Bilder aus längst vergangenen Zeiten eins nach dem anderen vor ihm auftauchten — in einer langen Reihe zogen antike Völker, Stämme und einzelne Menschen an ihm vorüber… Es war, als ob ein mächtiger Strom von rasch wechselnden Ereignissen, Gesichtern und Kleidungsstücken aus der Vergangenheit auf ihn niederging.

„Weter“, hörte er im Halbschlaf die geliebte Stimme rufen. Er erwachte und setzte sich auf.

Der rote Feuerball der Sonne berührte bereits den dunklen Horizont, und nicht das leiseste Lüftchen regte sich.

„Weter, mein Herr und Gebieter“, sagte Weda neckisch und verbeugte sich vor ihm wie einst die Frauen im antiken Asien. „Vielleicht beliebt es aufzuwachen und sich meiner zu erinnern?“

Nach einigen gymnastischen Übungen hatte Dar Weter endgültig den Schlaf abgeschüttelt. Weda stimmte seinem Plan zu, die Nacht abzuwarten. Die Dunkelheit überraschte sie bei einem hitzigen Gespräch über ihre kürzliche Arbeit. Plötzlich bemerkte Dar Weter, dass Weda fröstelte. Ihre Hände waren ganz kalt geworden, und er begriff, dass ihr leichtes Kleid nicht ausreichend Schutz vor der nächtlichen Kühle dieser nördlichen Breiten bot.

Die Sommernächte auf dem sechzigsten Breitengrad waren ziemlich hell, und es gelang ihnen, ein großes Bündel Reisig zu sammeln.

Laut knallte der elektrische Funke, den Dar Weter der starken Batterie des Fluggleiters entlockte, und bald spendete die helle Flamme eines Lagerfeuers den beiden wohltuende Wärme und ließ die Finsternis ringsum noch dunkler erscheinen.

Die zu einem Knäuel zusammengerollte Weda erblühte wiederum wie eine Blume im Sonnenlicht, und beide verfielen sie in eine Art hypnotische Nachdenklichkeit. Irgendwo tief in der Seele des Menschen hatte sich aus jenen Jahrtausenden, da das Feuer seine Hauptzuflucht und Rettung gewesen war, ein unauslöschliches Gefühl der Geborgenheit und Ruhe erhalten, das auch jetzt noch vom Anblick eines Feuer ausgelöst werden konnte, vor allem in den Stunden, wo der Mensch von Kälte und Dunkelheit bedrängt wurde…

„Was bedrückt Sie, Weda?“, brach Dar Weter das Schweigen.

„Mir ist die mit dem Tuch eingefallen“, antwortete Weda leise, ohne den Blick von den sich in Gold auflösenden Holzstückchen abzuwenden.

Dar Weter wusste sofort, wovon sie sprach. Am Tag vor ihrem Abflug hatten sie in der Steppe am Fuße des Altais einen großen Kurgan der Skythen geöffnet. In dem gut erhaltenen hölzernen Hügelgrab befand sich das Skelett eines greisen Häuptlings, umgeben von halb verschütteten Gebeinen von Pferden und Sklaven. Zu Füßen des mit Schwert, Schild und Panzer bestatteten alten Häuptlings lag das Skelett einer jungen Frau in zusammengekauerter Haltung. An ihren Schädel schmiegte sich ein seidenes Tuch, das wahrscheinlich einst straff um ihr Gesicht gewunden war. Das Tuch konnte trotz der Anwendung aller möglichen Kniffe nicht gerettet werden, doch ehe es zu feinem Staub zerfiel, gelange es, die Züge des wunderschönen Gesichts, das Jahrtausende zuvor auf dem Gewebe einen Abdruck hinterlassen hatte, zu reproduzieren. Das Tuch gab aber noch ein weiteres schreckliches Detail preis, nämlich den Abdruck der aus ihren Höhlen hervorgequollenen Augen der Frau, die zweifellos mit dem Tuch erwürgt und in das Grab ihres Ehemannes geworfen worden war, um ihn auf seinem Weg in das unbekannte Jenseits zu begleiten. Sie war nicht älter als neunzehn, er nicht jünger als siebzig Jahre gewesen, ein für die damalige Zeit sehr vorgerücktes Alter.

Dar Weter erinnerte sich an die heftige Diskussion, die nach dem Fund unter den jungen Mitgliedern von Wedas Expedition entbrannt war. War die Frau ihrem Gatten aus freien Stücken oder gezwungenermaßen in den Tod gefolgt? Weshalb? Wofür? Wenn es aufgrund einer großen innigen Liebe geschehen war, wie hatte man sie da töten können, anstatt sie als schönste Erinnerung an den Toten in der Welt der Lebenden zurückzulassen?

Dann schaltete sich Weda Kong in die Diskussion ein. Lange hatte sie mit brennenden Augen auf den dunklen Hügel des Kurgans gestarrt und versucht, geistig in die tiefsten Tiefen der Vergangenheit einzudringen.

„Versuchen Sie, diese Menschen zu verstehen. Die Weiten der Steppen waren für sie tatsächlich grenzenlos. Die einzigen Fortbewegungsmittel, die sie kannten, waren Pferde, Kamele und Ochsen. Diese gigantischen Weiten hier wurden von einzelnen Gruppen viehzüchtender Nomaden bewohnt, die nicht nur keinerlei Gemeinsamkeit hatten, sondern sogar in erbitterter Feindschaft lebten. Hass und Groll stauten sich von Generation zu Generation auf; jeder Fremdling war ein Feind, jeder andere Stamm eine legitime Beute, die Herden und Sklaven versprach, das heißt, es waren Menschen, die wie Vieh unter dem Druck der Knute arbeiteten. Eine solche Gesellschaftsordnung bedeutete auf der einen Seite eine ungeheure, uns gänzlich unbekannte Freiheit für den Einzelnen, was seine kleinen Freuden und Wünsche anging, und auf der anderen Seite eine unglaubliche Beschränktheit im Umgang der Menschen miteinander, eine erschreckende Engstirnigkeit. Bestand eine Völkerschaft oder ein Stamm aus einer kleinen Zahl von Menschen, die in der Lage waren, sich von der Jagd und dem Sammeln von Früchten zu ernähren, so lebten diese freien Nomaden in ständiger Angst vor Überfällen, Versklavung oder Vernichtung durch ihre kriegslüsternen Nachbarn. War aber ein Staat isoliert und besaß eine große Bevölkerung, die eine starke Militärmacht zu schaffen imstande war, dann mussten die Menschen für den Schutz vor militärischen Überfällen ebenfalls mit ihrer Freiheit bezahlen, da sich in solchen mächtigen Staaten stets Despotie und Tyrannei entwickelten. So war es im alten Ägypten, in Assyrien und Babylonien.

Die Frauen, vor allem die schönen, waren im Altertum Beute und Spielzeug der Mächtigen. Sie konnten ohne den Schutz des Mannes nicht existieren und waren ihm voll und ganz unterworfen.

Das eigene Streben und der Wille der Frau bedeuteten so wenig, so unendlich wenig, dass angesichts eines solchen Lebens… wer weiß… der Tod vielleicht noch das kleinere Übel zu sein schien…“

Das laute Knacken eines brennenden Zweiges brachte Dar Weter wieder in die Wirklichkeit zurück. Gleichsam als Reaktion auf seine Gedanken rückte Weda ein Stück näher, stocherte langsam im Feuer und verfolgte dabei die bläulichen Flammen, die an dem verkohlten Holz entlangzüngelten.

„Wie viel Geduld und Tapferkeit war in jenen Zeiten notwendig, damit der Mensch er selbst blieb, den Mut nicht verlor, sondern im Leben etwas erreichte!“, sagte Weda Kong leise.

„Mir scheint, dass wir uns das Leben des Altertums allzu hart vorstellen“, entgegnete Dar Weter. „Ganz abgesehen davon, dass die Menschen an ihre Lebensweise gewöhnt waren, brachte diese Ungeordnetheit auch viele abwechslungsreiche Zufälle mit sich. Der Wille und die Kraft des Menschen entlockten auch diesem Leben Augenblicke romantischer Freude, ähnlich wie Stahl auf grauem Stein Funken schlägt.“

„Ich kann nicht verstehen, weshalb unsere Vorfahren erst so spät das einfache Gesetz begriffen, nach dem das Schicksal der Gesellschaft nur von ihnen selbst abhängt“, sagte Weda. „Es ist doch selbstverständlich, dass eine Gesellschaft dem moralisch-ideologischen Entwicklungsstand ihrer Mitglieder entspricht, der wiederum von den ökonomischen Bedingungen abhängt.“

„Ja, und dass der wissenschaftliche Aufbau einer Gesellschaft in seiner vollendeten Form nicht nur eine quantitative Anhäufung von Produktivkräften, sondern eine qualitative Stufe in der Entwicklung ist — uns erscheint das heute so logisch“, antwortete Dar Weter. „Genau wie das Begreifen der dialektischen Interdependenz, der Tatsache, dass neue menschliche Beziehungen ohne einen neuen Menschen genauso unvorstellbar sind wie der neue Mensch ohne diese neuen ökonomischen Bedingungen. Als die Menschheit diese Zusammenhänge begriff, machte man die Erziehung, die physische und geistige Entwicklung des Menschen zur Hauptaufgabe der Gesellschaft. Wann war es schließlich noch mal so weit?“

„In der ÄUW, der Ära der Uneinigen Welt, am Ende des Zeitalters der Spaltung, bald nach der ZWR, der Zweiten Großen Revolution.“

„Gut, dass es nicht später war! Bei all der vernichtenden Kriegstechnik…“

Dar Weter verstummte und drehte sich unwillkürlich zu der dunklen Waldlichtung um, die zwischen Lagerfeuer und Hügelabhang lag. Das Stampfen schwerer Hufe und ein keuchender Atem waren ganz in der Nähe zu vernehmen. Erschrocken sprangen die beiden Reisenden auf.

Ein riesiger schwarzer Stier stand plötzlich vor dem Feuer. In seinen boshaft rollenden Augen flackerte der blutrote Widerschein der Flammen. Schnaufend und mit den Hufen in der trockenen Erde scharrend setzte das Ungeheuer zum Angriff an. In dem schwachen Lichtschein wirkte der Stier unglaublich riesig, sein gesenkter Kopf glich einem Granitblock, hinter dem sich der hohe Widerrist wie ein Berg von Muskeln auftürmte. Nie zuvor waren Weda oder Dar Weter der todbringenden bösen Kraft eines Tieres so unmittelbar gegenübergestanden. Einem Wesen, dessen Unverstand nicht mit Verstand beizukommen war.

Weda presste fest die Hände an die Brust und stand regungslos da, gleichsam hypnotisiert von der Erscheinung, die plötzlich aus dem Dunkel aufgetaucht war. Dar Weter stellte sich, einem starken Instinkt gehorchend, dem Stier in den Weg, um Weda zu schützen, so wie es schon seine Vorfahren Tausende und Abertausende Male getan hatten. Mit dem Unterschied, dass die Hände des Menschen der neuen Ära unbewaffnet waren.

„Weda, nach rechts…“, stieß er gerade noch hervor, ehe das Tier auf sie zustürzte.

Die durchtrainierten Körper der beiden Reisenden konnten an Schnelligkeit glücklicherweise mit dem unglaublich behänden Stier mithalten. Der Riese raste an ihnen vorbei und krachte in das Dickicht des Gebüschs, während Weda und Dar Weter in die Dunkelheit flohen und sich unversehens auf Höhe des Fluggleiters wiederfanden. Abseits des Feuers war die Nacht bei Weitem nicht mehr so dunkel, und Wedas Kleid war zweifellos weithin zu sehen. Der Stier hatte sich bereits wieder aus dem Gebüsch befreit. Beherzt warf Dar Weter seine Begleiterin leicht in die Höhe, sie machte einen Salto und landete auf der Plattform des Fluggleiters. Während das Tier wieder mit stampfenden Hufen auf sie zukam, schwang sich Dar Weter neben Weda auf die Maschine. Flüchtig blickten sie einander ins Gesicht, und Dar Weter konnte unverhohlene Begeisterung in Wedas Miene lesen. Die Motorhaube stand offen, seit er versucht hatte, hinter das komplizierte Konstruktionsschema der Maschine zu kommen. Nun nahm er all seine Kraft zusammen, riss das Ausgleichskabel vom Geländer der Plattform los, steckte das blanke Ende unter die Feder des Hauptanschlusses und schob Weda vorsichtshalber etwas beiseite. Im selben Moment verfing sich der Stier mit einem Horn im Geländer, und der Fluggleiter schwankte unter dem starken Ruck. Darauf steckte Dar Weter das Ende des Kabels in die Nase des Tiers. Ein gelber Blitz, ein dumpfer Schlag, und der rasende Stier lag flach auf dem Boden.

„Sie haben ihn getötet!“, rief Weda empört.

„Ich glaube nicht, die Erde ist ja trocken!“, entgegnete der spitzfindige Held mit zufriedenem Lächeln.

Und gleichsam als Bestätigung seiner Worte fing der Stier leise zu brüllen an, erhob sich und rannte, ohne sich umzusehen, in unsicherem Trab davon, so als wäre er sich seiner Schmach bewusst. Die Reisenden kehrten ans Feuer zurück. Eine neue Ladung Reisig brachte die fast erloschenen Flammen wieder zum Lodern.

„Mir ist nicht mehr kalt“, sagte Weda. „Lassen Sie uns auf den Hügel steigen.“

Vom Gipfel des Hügels konnten sie ihr eigenes Lagerfeuer nicht sehen, dafür bildeten die matt leuchtenden Sterne am nördlichen Sommerhimmel neblige Kugeln am Horizont.

Im Westen war überhaupt nichts zu sehen, im Norden, an den Abhängen der Hügel, flackerte, kaum merklich, eine Kette von Lichtern, im Süden, ebenfalls in weiter Ferne, leuchtete der helle Stern eines Beobachtungsturmes der Viehzüchter.

„Zu dumm, wir werden die ganze Nacht hindurch laufen müssen…“, brummte Dar Weter.

„Nein, sehen Sie dort!“ Weda zeigte nach Osten, wo plötzlich vier quadratisch angeordnete Lichter aufleuchteten. Bis dorthin waren es höchstens ein paar Kilometer. Sie prägten sich die Richtung anhand der Sterne ein und stiegen wieder zum Feuer hinab. Weda Kong blieb kurz vor den matten Flammen des verkohlten Holzes stehen, als versuche sie sich an etwas zu erinnern.

„Leb wohl, du liebes Haus…“, sagte sie nachdenklich. „Die Nomaden haben wahrscheinlich ständig in solchen unsicheren und provisorischen Unterkünften gelebt. Heute bin ich tatsächlich einmal eine Frau aus jener Zeit.“

Sie drehte sich zu Dar Weter um und legte ihm zutraulich den Arm um den Hals.

„Ich spürte, wie sehr ich Schutz brauchte…! Ich habe mich nicht gefürchtet, nein! Aber irgendeine trügerische Ergebenheit angesichts der Macht des Schicksals schien…“

Weda verschränkte die Hände im Nacken und streckte geschmeidig ihren Körper vor dem Feuer. Eine Sekunde später war der verschleierter Blick verschwunden, und ihre Augen hatten wieder den alten, übermütigen Glanz angenommen.

„Nun gut, führen Sie mich… mein Held!“ Der Ton ihrer tiefen Stimme war irgendwie geheimnisvoll und zärtlich.

Das Rascheln kleiner wilder Tiere und die gellenden Rufe der Nachtvögel erfüllten die helle, vom Duft der Gräser geschwängerte Nacht. Weda und Dar Weter tasteten sich langsam vorwärts, um nicht in ein unsichtbares Loch oder einen Spalt in der trockenen Erde zu fallen. Die rispenartigen Halme des Steppengrases streiften ihre Knöchel. Dar Weter blickte sich jedes Mal sorgfältig prüfend um, sobald in der Steppe dunkles Strauchwerk zu sehen war.

Weda lächelte insgeheim.

„Vielleicht hätten wir die Batterie und das Kabel mitnehmen sollen?“

„Sie sind ja so leichtsinnig, Weda“, entgegnete Dar Weter gutmütig. „Weit mehr, als ich gedacht hätte!“

Die junge Frau wurde plötzlich ernst.

„Ich habe mich allzu stark von Ihnen beschützt gefühlt…“

Und dann begann Weda über die anstehenden Aufgaben ihrer Expedition zu sprechen oder, besser gesagt, laut nachzudenken. Die erste Etappe der Arbeiten an den Kurganen in der Steppe war abgeschlossen, ihre Mitarbeiter kehrten zu ihrer früheren Beschäftigung zurück oder suchten sich eine neue. Nur Dar Weter hatte sich noch keine neue Aufgabe gesucht. Er war frei und konnte der geliebten Frau folgen. Nach allem, was sie gehört hatten, kam Mwen Maas mit seiner Arbeit gut voran. Aber selbst wenn es Schwierigkeiten gäbe, würde der Rat Dar Weter nicht so bald wieder auf den früheren Platz berufen. In der Ära des Großen Rings hielt man es nicht für sinnvoll, Menschen zu lange auf ein und demselben Arbeitsplatz festzuhalten. Das Wertvollste — die schöpferische Eingebung — ließ nach. Daher konnte man höchstens nach einer sehr langen Pause wieder zu seiner früheren Beschäftigung zurückkehren.

„Finden Sie unsere Arbeit nicht nebensächlich und eintönig, nachdem Sie sechs Jahre lang mit dem Kosmos in Verbindung standen?“ Wedas klare aufmerksame Augen suchten seinen Blick zu erhaschen.

„Ihre Arbeit ist keineswegs nebensächlich und alles andere als eintönig“, entgegnete Dar Weter. „Es stimmt, dass sie mich nicht in jene Anspannung versetzt, an die ich mich gewöhnt habe. Und vielleicht werde ich mit der Zeit sehr ausgeglichen und zu ruhig, so als ob man mich mit blauen Träumen kurierte!“

„Mit blauen…?“, fragte Weda zurück, und ihr stockender Atem sagte Dar Weter mehr, als ihm die in der Dunkelheit nicht sichtbare Röte ihrer Wangen hätte sagen können.

„Als Nächstes werde ich eine alte Höhle untersuchen“, unterbrach sie sich selbst. „Aber erst muss sich wieder eine Gruppe freiwilliger Archäologen zusammenfinden. Bis dahin fahre ich zu den Meeresausgrabungen, Freunde haben mich um Hilfe gebeten.“

Dar Weter hatte verstanden, und sein Herz klopfte vor Freude. Aber im nächsten Augenblick verbarg er seine Gefühle in einem fernen Winkel seines Herzens.

„Sie meinen die Ausgrabungen der im Meer versunkenen Stadt südlich von Sizilien?“, fragte er gelassen. „Ich habe wunderbare Funde von dort im Atlantispalast gesehen.“

„Nein, zurzeit graben wir an der Küste des östlichen Mittelmeeres, des Roten Meeres und an den Küsten Indiens. Wir suchen nach Kulturschätzen im Meer, angefangen von solchen der kretisch-indischen Kultur bis zum Beginn des Mittelalters.“

„Ach, so viel verstehe ich“, sagte Dar Weter nachdenklich, während er die fahlweiße Ebene weiter absuchte. „Sie meinen die Dinge, die die Bewohner dieser Inseln der Zivilisation beim Ansturm der frischen, unwissenden und sorglosen Barbaren versteckten und häufig sogar im Meer versenkten. Wissen Sie, Weda, ich kann auch die Zerstörung der alten Kultur verstehen, zu einem Zeitpunkt, als die antiken Staaten, einst stark durch ihre Verbundenheit mit der Natur, außerstande geworden waren, die Welt zu verändern und gegen die immer schrecklicher werdende Sklaverei und die parasitäre Oberschicht anzukämpfen.“

„Und die Menschen tauschten die antike Sklaverei gegen den Feudalismus und die religiöse Blindheit des Mittelalters ein“, fiel Weda ein. „Aber Sie klingen so zögerlich, was ist Ihnen noch nicht klar?“

„Ich weiß einfach nicht, was ich mir unter der kretisch-indischen Kultur vorstellen soll.“

„Sie kennen die neuesten Forschungsergebnisse nicht. Spuren dieser Kultur findet man heute über ein riesiges Gebiet verstreut, das von Amerika über Kreta, den Süden Mittelasiens und Nordindien bis nach Westchina reicht.“

„Ich hätte nie geglaubt, dass es in so uralten Zeiten bereits Verstecke für Kunstschätze gegeben hat, wie wir sie von Karthago, Griechenland und Rom kennen.“

„Fahren Sie mit mir, und Sie werden sehen“, sagte Weda leise.

Dar Weter ging schweigend neben ihr her. Sie kletterten auf einen sanft ansteigenden Hügel. Als sie die Rückseite des Tafelbergs erreicht hatten, blieb Dar Weter plötzlich stehen:

„Danke für die Einladung, ich fahre mit…“

Weda wandte den Kopf etwas ungläubig zu ihm um, aber im Halbdunkel der nördlichen Nacht waren die Augen ihres Begleiters dunkel und undurchdringlich.

Als sie den Bergrücken hinter sich gelassen hatten, schienen die Lichter bereits ganz nahe zu sein. Die Lampen befanden sich unter polarisierenden Hauben und zerstreuten das Licht nicht, weshalb ihnen die Siedlung weiter entfernt vorgekommen war, als es tatsächlich der Fall war. Das konzentrierte Licht deutete darauf hin, dass hier nachts gearbeitet wurde. Das Getöse einer Hochspannungsleitung wurde immer stärker. Umrisse durchbrochener Balken glänzten silbern unter dem blauen Licht hoch hängender Lampen. Das Aufheulen einer Warnsirene veranlasste die beiden zum Stehenbleiben — der Absperrroboter hatte sich eingeschaltet.

„Vorsicht, links halten!“, brüllte es aus einem unsichtbaren Lautsprecher. „Kommen Sie den Masten nicht zu nahe!“

Sie gingen folgsam auf eine Gruppe fahrbarer weißer Häuschen zu.

„Schauen Sie nicht zu dem Feld hinüber!“, fuhr der besorgte Roboter fort.

An zwei Häuschen gingen gleichzeitig die Türen auf, und zwei Lichtstrahlen kreuzten sich auf dem finsteren Weg. Eine Gruppe von Männern und Frauen begrüßte die Wanderer herzlich, obschon sie sich über die derart primitive Fortbewegungsart, dazu noch bei Nacht, zu wundern schienen.

Die enge Duschkabine mit sich kreuzenden Strömen aromatischen Wassers, das mit Sauerstoff angereichert war, und dem prickelnden Spiel winziger elektrischer Ladungen auf der Haut war ein Ort stiller Freuden.

Erfrischt trafen sich die Reisenden bei Tisch wieder.

„Weter, mein Lieber, wir sind auf Arbeitskollegen gestoßen!“

Weda goss ein eisig kaltes, goldfarbenes Getränk in schmale Gläser, die sofort beschlugen.

„Gleich zehn Stärken auf einmal!“, sagte Dar Weter fröhlich und langte nach seinem Glas.

„Siegreicher Torero, Sie sind in der Steppe verwildert“, protestierte Weda. „Ich überbringe Ihnen interessante Neuigkeiten, und Sie denken nur an Essen und Trinken!“

„Hier soll es Ausgrabungen geben?“, fragte Dar Weter zweifelnd.

„Ja, nur keine archäologischen, sondern paläontologische. Man untersucht Fossilien aus dem Perm, und zwar direkt vor Ort — die Funde sind zweihundert Millionen Jahre alt. Ich komme mir direkt erbärmlich vor mit unseren paar Jahrtausenden…“

„Man untersucht sie an Ort und Stelle, ohne sie auszugraben? Wie ist denn das möglich?“

„Das habe ich noch nicht rausbekommen.“

Ein dürrer Mann mit gelbem Gesicht, der mit ihnen am Tisch saß, mischte sich in das Gespräch.

„Unsere Gruppe hat hier gerade eine andere abgelöst“, sagte er. „Die erste Gruppe hat die Vorbereitungen getroffen, und wir beginnen jetzt mit der Durchleuchtung.“

„Mit harter Strahlung?“, mutmaßte Dar Weter.

„Wenn Sie nicht zu müde sind, dann würde ich Ihnen empfehlen zuzuschauen. Morgen verlegen wir die Anlage auf einen anderen Platz, wo es bei Weitem nicht so interessant ist.“

Weda und Dar Weter stimmten erfreut zu. Ihre freundlichen Gastgeber erhoben sich vom Tisch und führten sie ins Nachbarhaus. Dort hingen in Nischen Schutzanzüge mit jeweils einem Geigerzähler darüber.

„Die Ionisierung unserer starken Röhren ist sehr groß“, sagte eine große, leicht gebeugte Frau, als wollte sie sich entschuldigen. Sie half Weda in den festen Anzug und den durchsichtigen Helm und befestigte auf ihrem Rücken Taschen mit Batterien.

In dem polarisierten Licht zeichnete sich jeder kleinste Hügel auf dem unebenen Steppenboden unnatürlich deutlich ab. Aus dem mit dünnen Latten eingezäunten quadratischen Feld drang ein dumpfes Stöhnen herüber. Die Erde hob sich, bekam Risse und fiel zu einem Trichter zusammen, aus dessen Mitte ein spitz auslaufender glänzender Zylinder auftauchte. Um seine polierten Wände wand sich ein spiralenförmiger Kamm, und am vorderen Ende drehte sich eine komplizierte Elektrofräse aus bläulichem Metall. Der Zylinder wälzte sich über den Rand des Trichters hinweg, machte kehrt, wobei an seinem hinteren Ende sich rasch drehende Schaufeln sichtbar wurden, und begann sich einige Meter abseits des Trichters von Neuem mit seiner blanken Spitze senkrecht in die Erde zu bohren.

Dar Weter bemerkte, dass der Zylinder ein doppeltes Kabel hinter sich herzog, wobei das eine isoliert und das andere aus blankem glänzenden Metall war. Weda zog ihn am Ärmel und zeigte nach vorne, auf einen Platz jenseits der Magnesiumumzäunung. Dort arbeitete sich ein zweiter Zylinder aus dem Erdreich hervor, wälzte sich mit derselben Bewegung nach links und verschwand wiederum in der Erde, als wäre er in Wasser eingetaucht.

Der Mann mit dem gelben Gesicht gab ihnen ein Zeichen, sich zu beeilen.

„Jetzt weiß ich, wer er ist“, flüsterte Weda, während sie versuchten, mit der vorausgeeilten Gruppe Schritt zu halten. „Das ist Liao Lan, der Paläontologe, der das Geheimnis der Besiedelung des asiatischen Festlandes im Paläozoikum enträtselt hat.“

„Ist er chinesischer Abstammung?“, fragte Dar Weter und rief sich das dunkle Aussehen der leicht schräg gestellten kleinen Augen des Wissenschaftlers in Erinnerung. „Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich seine Arbeiten nicht kenne.“

„Ich sehe schon, Sie kennen sich in der Paläontologie wenig aus“, bemerkte Weda. „In der Paläontologie anderer Sternenwelten sind Sie wahrscheinlich besser bewandert.“

Vor Dar Weters geistigem Auge zogen unzählige Formen von Leben vorüber: Millionen seltsamer Skelette in den Gesteinsschichten verschiedener Planeten — Denkmäler vergangener Zeiten, verborgen in den Formationen jeder bewohnten Welt. Denkmäler, geschaffen durch die Natur selbst und von ihr aufbewahrt bis zu dem Zeitpunkt, da ein denkendes Wesen entsteht, das nicht nur über die Fähigkeit, sich zu erinnern, verfügt, sondern auch imstande ist, Vergessenes wiedererstehen zu lassen.

Sie stiegen auf eine kleine Plattform hinauf, die auf einem steilen, durchbrochenen Halbbogen befestigt war. In der Mitte der Fläche befand sich ein großer Bildschirm. Alle acht Personen setzten sich in stiller Erwartung auf die niedrigen, im Halbkreis um den Bildschirm stehenden Bänke.

„Gleich sind die ›Maulwürfe‹ mit der Arbeit fertig“, begann Liao Lan. „Wie Sie sicherlich schon erraten haben, steppen sie die Gesteinsschichten mit dem blanken Kabel ab und weben so ein metallenes Netz. Die Skelette der ausgestorbenen Tiere lagern in porösem Sandstein in einer Tiefe von vierzehn Metern. Darunter, in siebzehn Meter Tiefe, ist die gesamte Fläche mit dem Metallnetz unterlegt, das an starke Induktoren angeschlossen ist. Auf diese Weise wird ein reflektierendes Feld geschaffen, das Röntgenstrahlen auf den Bildschirm wirft, auf dem dann die versteinerten Knochen sichtbar werden.“

Zwei große Metallkugeln drehten sich auf massiven Sockeln. Scheinwerfer erstrahlten, Sirenengeheul machte auf die Gefahr aufmerksam. Gleichstrom mit einer Spannung von einer Million Volt erfüllte die Luft mit der Frische von Ozon und ließ alle Anschlüsse, Isolatoren und Aufhäufungen in blauem Licht erstrahlen.

Scheinbar achtlos drehte und drückte Liao Lan auf die Knöpfe am Steuerpult. Der große Bildschirm wurde immer heller, und in seiner Tiefe zogen langsam undeutliche Konturen vorüber. Dann stockte die Bewegung, die verschwommenen Umrisse eines großen Flecks wuchsen fast bis auf Bildschirmgröße an und wurden schärfer.

Noch einige Handgriffe am Schaltpult, und vor den Zuschauern tauchte aus dem verschwommenen Licht das Skelett eines unbekannten Wesens auf. Breite, mit Krallen versehene Tatzen krümmten sich unter dem Rumpf, und ein langer Schwanz war zu einer Spirale eingeringelt. Besonders auffällig war die ungewöhnliche Dicke und Massigkeit der Knochen, an deren breiten gedrehten Enden Fortsätze für die Aufhängung der mächtigen Muskeln waren. Die kräftigen Vorderzähne in dem fest geschlossenen Rachen des Schädels schienen die Zuschauer anzugrinsen. Das Wesen wirkte von oben gesehen wie eine einzige schwere Knochenplatte mit einer unebenen, rissigen Oberfläche. Liao Lan änderte Tiefenschärfe und Vergrößerung, bis der ganze Bildschirm vom Kopf des vorsintflutlichen Reptils erfüllt war, das vor zweihundert Millionen Jahren an den Ufern eines einstmals hier verlaufenen Flusses sein Dasein gefristet hatte.

Die Schädeldecke bestand aus nicht weniger als zwanzig Zentimeter dicken Knochen. Über den Augenhöhlen standen Knochenfortsätze vor, ähnliche Vorsprünge verdeckten von oben die Schläfengruben und die konvexen Schädelwölbungen. Auf dem hinteren Teil des Schädels erhob sich ein großer Kegel mit der Öffnung eines riesigen Scheitelauges. Liao Lan gab einen lauten Seufzer der Begeisterung von sich.

Dar Weter starrte, ohne seinen Blick auch nur für eine Sekunde abzuwenden, auf das plumpe Knochengerüst der vorsintflutlichen Kreatur. Die zunehmende Muskelkraft hatte eine Verstärkung der Knochen bewirkt, die einer großen Belastung ausgesetzt waren, und dies erforderte wiederum eine weitere Verstärkung der Muskeln. Eine derartige, unmittelbare Abhängigkeit in archaischen Organismen hatte die Entwicklung einer Vielzahl von Tieren in eine ausweglose Sackgasse getrieben, bis endlich irgendeine wichtige physiologische Mutation es ermöglichte, die alten Widersprüche aufzuheben und eine neue Stufe der Evolution einzuleiten. Es schien unglaublich, dass sich solche Wesen unter den Vorfahren des Menschen mit seinem wunderbaren Körper befunden haben sollten, der ihm seine unglaubliche Beweglichkeit und Exaktheit der Bewegung verlieh.

Dar Weter blickte auf die dicken Ausstülpungen über den Brauen, die ein Ausdruck der stumpfsinnigen Wildheit des Reptils der Permzeit waren, und dachte an die geschmeidige Weda mit ihren klaren Augen in einem intelligenten, lebhaften Gesicht… Was für ungeheure Unterschiede in der Organisation lebendiger Materie es gab! Unwillkürlich schielte er zu Weda hinüber und versuchte ihre Gesichtszüge unter dem Helm zu erkennen, und als er sich endlich wieder dem Bildschirm zuwandte, war das Bild bereits von einem anderen abgelöst worden. Der breite, parabolische, tellerflache Schädel einer Amphibie, eines urweltlichen Salamanders, war zu erkennen, dazu verurteilt, in dem warmen und dunklen Wasser eines Sumpfes der Permzeit auf der Lauer zu liegen, bis etwas Essbares in erreichbare Nähe kam. Ein rascher Ruck, der breite Rachen schnappte zu, und… von Neuem unendlich geduldiges, sinnloses Auf-der-Lauer-Liegen. Dar Weter war irgendwie verärgert, fühlte sich von den Zeugnissen der unendlich langwierigen und unerbittlichen Evolution des Lebens bedrückt. Er richtete sich auf, und Liao Lan, der ihm seinen Gemütszustand ansah, schlug ihnen vor, ins Haus zurückzukehren und sich auszuruhen. Weda mit ihrem unstillbaren Wissensdurst konnte sich nur mit Mühe vom Bildschirm losreißen. Sie bemerkte, dass sich die Wissenschaftler beeilten, die Geräte für die Elektronenfotografie und die simultane Tonaufzeichnung einzuschalten, um den starken Strom nicht sinnlos zu vergeuden.

Bald darauf lag Weda auf einem breiten Diwan im Gästezimmer der Frauenunterkunft. Dar Weter dagegen wanderte noch eine Weile auf dem glatt gewalzten Platz vor dem Haus auf und ab und versuchte in Gedanken seine Eindrücke zu ordnen.

Der nördliche Morgen hatte das am Vortag verstaubte Gras wieder taufrisch gewaschen. Der unerschütterliche Liao Lan war von der nächtlichen Arbeit zurückgekehrt und schlug vor, seine Gäste auf einer „Elfe“ — einem kleinen, batteriebetriebenen Auto — zum nächsten Flughafen zu bringen. Ungefähr hundert Kilometer südöstlich lag am Unterlauf des Trom-Jugan-Flusses ein Flugplatz für springende Flugzeuge. Weda bat, eine Funkverbindung zu ihrer Expedition herstellen zu dürfen, aber die Paläontologen hatten keinen ausreichend starken Funksender im Lager. Seit die Schädlichkeit von Radiostrahlen erkannt worden war und man strengere Vorschriften erlassen hatte — die nun schon seit Generationen galten —, benötigte man für die Übertragung von Nachrichten kompliziertere Anlagen, vor allem was Ferngespräche betraf. Außerdem war die Zahl der Sendestationen stark reduziert worden. Liao Lan beschloss, eine Verbindung zu dem nächsten Beobachtungsturm der Viehzüchter herzustellen. Diese Türme standen untereinander durch Richtfunk in Verbindung und konnten jede beliebige Nachricht an die Zentralstation in ihrem Gebiet weiterleiten. Eine junge Praktikantin, die sich erbot, die „Elfe“ zu lenken, um sie wieder zurückzubringen, schlug vor, auf dem Weg einen solchen Turm aufzusuchen: Dann könnten die Gäste selbst über das Televideofon sprechen. Dar Weter und Weda stimmen dem Vorschlag erfreut zu. Ein starker Wind trieb Staubwirbel über den Boden und zerzauste das dichte, kurz geschnittene Haar des Mädchens. Sie fanden kaum Platz in dem engen Dreisitzer — der massige Körper des ehemaligen Leiters der Außenstationen zwängte seine Begleiterinnen zusammen. Die feine Silhouette des Beobachtungsturmes hob sich zunächst kaum gegen den klaren blauen Himmel ab, aber schon nach kurzer Zeit blieb die „Elfe“ am Fuße des Turmes stehen. Weit auseinanderstehende Metallstreben trugen eine Plattform aus Plastik, unter der ebenfalls eine „Elfe“ geparkt war. In der Mitte der Plattform verliefen die Leitschienen eines Liftes. Eine winzige Kabine brachte sie einen nach dem anderen an der Wohnetage vorbei zur Spitze des Turms, wo sie von einem braun gebrannten, fast nackten jungen Mann begrüßt wurden. Aus der plötzlichen Verlegenheit ihrer sonst so selbstbewussten Fahrerin schloss Weda, dass die Findigkeit und Hilfsbereitschaft der jungen Frau tiefere Wurzeln hatte…

Das runde Zimmer mit seinen Kristallglaswänden schwankte merklich, und der leichte Turm summte eintönig wie eine straff gespannte Saite. Die Decke und der Fußboden des Zimmers waren in dunklen Farben gehalten. Entlang der Fenster standen schmale Tische mit Ferngläsern, Rechenmaschinen und Notizheften. Aus dieser Höhe von neunzig Metern konnte man ein riesiges Steppengebiet bis hin zur Sichtgrenze der Nachbartürme überschauen. Von hier aus wurden die Herden ständig überwacht und Buch über die Futtervorräte geführt. Wie grüne konzentrische Kreise lagen die Melkkarusselle in der Steppe, durch die das Milchvieh zweimal täglich getrieben wurde. Die Milch, die wie jene der afrikanischen Antilopen nicht sauer wurde, goss man in Container und fror sie an Ort und Stelle in unterirdischen Kühlkammern ein, wo sie sich sehr lange hielt. Weitergetrieben wurden die Herden mithilfe von „Elfen“, über die jeder Turm verfügte. Die Beobachter konnten sich während ihrer Dienstzeit mit anderen Dingen beschäftigen, deshalb war der Großteil von ihnen junge Leute, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen hatten. Der junge Mann brachte Weda und Dar Weter auf einer Wendeltreppe in die Wohnetage, die einige Meter tiefer zwischen zwei sich kreuzenden Streben frei schwebte. Die Wände des Raumes waren schalldicht, sodass die Reisenden von vollkommener Stille umgeben waren. Nur das ständige Schwanken erinnerte sie daran, dass sich der Raum in einer Höhe befand, die bei der geringsten Unvorsichtigkeit den Tod bedeuten konnte.

Ein anderer junger Mann arbeitete gerade an der Funkanlage. Die komplizierte Frisur und das grellfarbene Kleid seiner Gesprächspartnerin auf dem Bildschirm zeigten, dass er mit der Funkzentrale sprach — die Frauen, die in der Steppe arbeiteten, trugen leichte, kurze Overalls. Auf Wedas Bitte hin schaltete das Mädchen in der Zentrale zur Station des Expeditionsgebietes um, und wenig später erschien das traurige Gesicht und die kleine Gestalt von Miiko Eygoro, Weda Kongs Oberassistentin, auf dem Bildschirm. In ihren dunklen, leicht schräg gestellten Augen, wie die von Liao Lan, war freudige Verwunderung zu lesen, und der kleine Mund war vor Überraschung halb geöffnet. Aber einen Augenblick später sahen Weda und Dar Weter sich wieder dem leidenschaftslosen Gesicht der Vermittlerin aus der Zentrale gegenüber, das nichts außer sachliche Aufmerksamkeit ausdrückte. Dar Weter ging nach oben und fand die junge Paläontologin in ein lebhaftes Gespräch mit dem braun gebrannten jungen Mann vertieft vor. Er trat auf den Balkon hinaus, der den gläsernen Raum umgab. Die feuchte morgendliche Frische war längst einer drückenden Mittagshitze gewichen, die den Farben ihre Leuchtkraft genommen und alle Unebenheiten des Bodens verwischt hatte. Unter dem heißen klaren Himmel war weit und breit nur Steppe zu sehen. Dar Weter wurde wiederum von einer undefinierbaren Sehnsucht nach der rauen nördlichen Erde seiner Vorfahren gepackt. Seine Ellbogen auf die schwankende Balkonbrüstung gestützt, fühlte der ehemalige Leiter der Außenstationen mehr als je zuvor, in welchem Maße sich der Traum seiner Urahnen erfüllt hatte. Die raue Natur war durch Menschenhand weit nach Norden zurückgedrängt worden, und die belebende Wärme des Südens ergoss sich über die Ebenen, die einst unter einem kalten, wolkigen Himmel gefroren hatten.

Weda Kong trat in den Kristallraum und teilte der Praktikantin mit, dass der junge Funker sie weiterbringen werde. Mit einem langen, bedeutungsschweren Blick bedankte sich die junge Frau bei der Altertumsforscherin, während hinter der durchsichtigen Wand noch immer der breite Rücken des in Gedanken versunkenen Dar Weters aufragte.

„Sie denken nach?“, hörte er hinter sich fragen. „Vielleicht über mich?“

„Nein, Weda, ich habe über eine These der altindischen Philosophie nachgedacht. Sie besagt, dass die Welt nicht für den Menschen geschaffen wurde und dass der Mensch nur dann wirkliche Größe erreiche, wenn er den gesamten Wert und die Schönheit eines anderen Lebens begriffen habe, des Lebens der Natur und…“

„Sie haben Ihren Satz nicht beendet. Ich verstehe Sie nicht.“

„Ja, das stimmt. Ich würde meinerseits noch hinzufügen, dass es einzig und allein dem Menschen gegeben ist, nicht nur die Schönheit, sondern auch die Schattenseiten des Lebens zu verstehen. Und nur er besitzt die Fähigkeit zu träumen und die Kraft, das Leben zu verbessern.“

„Ich verstehe“, sagte Weda leise und fügte nach einer längeren Pause hinzu: „Sie haben sich verändert, Weter.“

„Natürlich habe ich mich verändert. Wenn man vier Monate lang mit einem einfachen Spaten schwere Steine und halb vermodertes Holz aus euren Grabhügeln ausgegraben hat, dann betrachtet man das Leben automatisch von einer anderen Seite. Die einfachen Freuden werden einem teurer…“

„Machen Sie sich nicht über mich lustig“, sagte Weda finster. „Ich meine es ernst. Als ich Sie kennenlernte, herrschten Sie über die gesamte Energie der Erde, sprachen mit fernen Welten… dort, in euren Observatorien, waren Sie fast so etwas wie ein übernatürliches Wesen, ein Gott, wie es die Vorfahren nannten! Aber hier, bei unserer einfachen Arbeit, wo Sie einer von vielen sind, da sind Sie…“ Weda verstummte.

„Was bin ich?“ Dar Weter blickte seiner Gesprächspartnerin neugierig ins Gesicht, um nicht den kleinsten Hinweis zu verpassen. „Habe ich an Größe verloren? Was hätten Sie wohl erst gesagt, wenn Sie mich gesehen hätten, bevor ich an das Institut für Astrophysik kam, damals, als ich als Fahrer auf der Spiralstraße arbeitete? Liegt darin denn weniger Größe? Oder als Mechaniker für Erntemaschinen in den Tropen?“

Weda lachte schallend auf.

„Ich muss Ihnen ein Geheimnis aus meiner Jugendzeit verraten. In der Schule des dritten Zyklus war ich in einen Fahrer der Spiralstraße verliebt — ich konnte mir damals nichts Imposanteres vorstellen… Da kommt übrigens der Funker. Gehen wir, Weter!“

Vor dem Start des springenden Flugzeugs musste der Pilot sich vergewissern, dass Weda und Dar Weter gesundheitlich in der Lage waren, die extrem hohe Geschwindigkeit einer solchen Flugmaschine zu ertragen. Er achtete penibel auf die Einhaltung der Vorschriften und unterzog sie einem doppelten Schnelltest, der in beiden Fällen positiv ausfiel. Endlich ließ er sie in die Kabine steigen, wo sie in den tiefen Sitzen im durchsichtigen Bug der Maschine, die einem riesigen Regentropfen glich, Platz nehmen durften. Weda fand es sehr unbequem, denn die Sitze fielen in dem aufwärts gerichteten Bug des Flugzeuges weit nach hinten zurück. Ein Signalgong ertönte, eine mächtige Feder katapultierte das Flugzeug fast senkrecht in die Luft. Weda wurde in den tiefen Sitz gepresst und fühlte sich dabei, als tauchte sie in eine zähe Flüssigkeit ein. Dar Weter drehte unter großer Anstrengung den Kopf zur Seite, um ihr aufmunternd zuzulächeln. Der Pilot schaltete den Motor ein. Ein Aufheulen, eine drückende Schwere in allen Gliedern, und das tropfenförmige Flugzeug schoss davon und beschrieb in dreiundzwanzigtausend Metern Höhe einen riesigen Bogen. Es schien, als wären nur einige Minuten vergangen, ehe die Reisenden mit zitternden Knien vor ihren Häusern in der Steppe am Fuße des Altais ausstiegen, der Pilot ihnen mit der Hand ein Zeichen gab und sie zum Wegtreten aufforderte. Dar Weter begriff, dass der Motor in diesem Fall schon auf dem Boden eingeschaltet werden musste, da es hier, anders als auf dem Stützpunkt, kein Katapult gab. Weda an der Hand gepackt, rannte er so schnell er konnte davon. Miiko Eygoro kam ihnen leichtfüßig entgegen, und die beiden Frauen umarmten sich wie nach einer langen Trennung.

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