13. Engel des Himmels

Mit angehaltenem Atem verfolgte Erg Noor die geschickten Handgriffe der Assistenten. Die Fülle von Geräten erinnerte an die Steuerzentrale eines Sternenschiffes, doch die Geräumigkeit des Saales mit seinen breiten bläulichen Fenstern verscheuchte sofort jeden Gedanken an einen kosmischen Flugkörper.

In der Mitte des Raumes stand auf einem Metalltisch eine Kammer aus dicken Rupholuzitplatten, einem Material, das sowohl infrarote Strahlen als auch sichtbare Strahlen durchließ. Ein Netz von Rohren und Leitungen umspann das braune Email des Wassertanks der Tantra, der noch immer die zwei schwarzen Medusen vom Planeten des Eisensterns gefangen hielt.

Eon Tal, aufrecht stehend, als mache er gerade irgendwelche gymnastischen Übungen, seinen gelähmten Arm aber noch immer in einer Schlinge, blickte aus einiger Entfernung auf die langsam sich drehende Trommel des Registriergerätes. Auf der Stirn des Biologen, über den breiten schwarzen Augenbrauen, standen kleine Schweißtropfen.

Erg Noor fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.

„Nichts. Nach den fünf Jahren des Fluges ist nur Staub übrig geblieben“, bemerkte der Sternfahrer mit heiserer Stimme.

„Wenn das stimmt, dann bedeutet das ein großes Unglück… für Nisa und mich“, sagte der Biologe. „Wir werden dann wahrscheinlich jahrelang experimentieren müssen, um die Art der Verletzung festzustellen.“

„Glauben Sie immer noch, dass die Tötungsorgane bei den Medusen und bei dem Kreuz gleich oder ähnlich geartet sind?“

„Nicht nur ich. Auch Grim Schar und die anderen sind zu dieser Überzeugung gekommen. Anfangs gab es allerdings die verschiedensten Meinungen. Ich bildete mir sogar ein, das schwarze Kreuz habe mit dem Planeten überhaupt nichts zu tun.“

„Das habe ich Ihnen, wenn Sie sich erinnern, ebenfalls gesagt. Ich hatte den Eindruck, als gehöre dieses Wesen zum Tellerschiff und bewache es. Aber wenn man ernsthaft überlegt, was hätte es für einen Sinn, die uneinnehmbare Festung von außen zu bewachen? Allein unser missglückter Versuch, die Spiralscheibe zu öffnen, hat schon die Unsinnigkeit eines solchen Gedankens bewiesen.“

„Ich hatte den Eindruck, dass das Kreuz überhaupt kein Lebewesen war!“

„Also ein Roboter, der zur Bewachung des Sternenschiffes aufgestellt worden war?“

„Ja. Jetzt habe ich natürlich eine andere Meinung. Das schwarze Kreuz ist doch ein lebendiges Wesen, eine Ausgeburt dieser Welt der Finsternis. Wahrscheinlich hausen diese Geschöpfe unten in der Ebene. Jedenfalls tauchte das Ungeheuer aus der Richtung der Felsspalten auf. Die Medusen dagegen, die viel leichter und beweglicher sind, leben auf dem Plateau, auf dem wir aufgesetzt hatten. Die Verbindung zwischen dem schwarzen Kreuz und der Spiralscheibe ist purer Zufall — unsere Schutzvorrichtungen sind bloß nie zu jenem fernen Winkel der Ebene vorgedrungen, der hinter der gigantischen Scheibe im Dunkeln lag.“

„Also ist es Ihre Überzeugung, dass das Kreuz und die Medusen mit denselben todbringenden Organen ausgestattet sind?“

„Ja! Bei Tieren, die unter denselben Bedingungen leben, müssen sich auch dieselben Organe herausgebildet haben. Der Eisenstern ist ein Gestirn, das Wärme und Elektrizität abgibt. Die gesamte dicke Atmosphäre des Planeten ist stark elektrisch geladen. Grim Schar glaubt, dass diese Tiere die Energie aus der Atmosphäre absorbieren und sie zu etwas Ähnlichem, wie unsere Kugelblitze es sind, komprimieren. Denken Sie nur an die Bewegung der braunen Funken entlang der Fühler der Medusen.“

„Auch das Kreuz hatte Fühler, aber keine…“

„Das hat in der Eile nur keiner bemerkt. Die Art der Verletzung an den Nervensträngen und die Lähmung des entsprechenden Nervensystems — darin sind wir uns einig — sind bei mir und Nisa genau dieselbe! Das ist der beste Beweis und unsere größte Hoffnung!“

„Hoffnung?“, fuhr Erg Noor auf.

„Selbstverständlich. Schauen Sie!“ Der Biologe zeigte auf die gleichmäßige Linie auf dem Registriergerät. „Die empfindlichen Elektroden, die in die Medusenfalle versenkt wurden, zeigen nichts an. Die Ungeheuer krochen mit ihrer ganzen Ladung an Energie hinein, die nach der Versiegelung des Tanks nirgendwohin entweichen konnte. Die Isolierschicht der kosmischen Lebensmittelbehälter ist wohl kaum durchlässig — nicht wie unsere leichten biologischen Raumanzüge. Überlegen Sie: Das Kreuz, das Nisa zum Verderben wurde, hat Ihnen keine Verletzung zugefügt. Sein Ultraschall drang zwar durch den Vollschutzanzug durch und lähmte Ihren Willen, die vernichtende Energie erwies sich jedoch als machtlos. Sie durchschlug nur Nisas Raumanzug, so wie die Medusen meinen durchschlugen.“

„Folglich muss die Kugelblitzladung, oder was es auch immer war, noch im Tank sein. Die Geräte zeigen aber nichts an…“

„Genau darin besteht auch die Hoffnung. Das heißt, die Medusen haben sich nicht in Staub aufgelöst. Sie…“

„Ich verstehe. Sie haben sich eingekapselt, sich mit einer Art Kokon umgeben.“

„Genau. Eine solche Anpassungsfähigkeit ist gerade unter jenen lebenden Organismen weit verbreitet, die für ihre Existenz ungünstige Zeiten überdauern müssen. Zum Beispiel die langen, eisigen Nächte auf dem schwarzen Planeten, die schrecklichen Stürme bei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Da diese Zeiten jedoch verhältnismäßig rasch vorübergehen, glaube ich, dass sich diese Medusen rasch enzystieren und ebenso rasch wieder aus diesem Zustand rückverwandeln können. Wenn diese Überlegung stimmt, dann werden wir die schwarzen Medusen ziemlich einfach wieder zu ihrem todbringenden Leben erwecken können.“

„Durch die Reproduktion der Temperatur, der Atmosphäre, der Lichtverhältnisse und anderer Bedingungen des schwarzen Planeten?“

„Ja. Es ist bereits alles berechnet und vorbereitet. Bald wird Grim Schar hier sein. Wir werden dann den Tank mit einem Neon-Sauerstoff-Stickstoff-Gemisch bei einem Druck von drei Atmosphären vollblasen. Doch zuerst müssen wir uns überzeugen, ob…“

Eon Tal beriet sich mit seinen beiden Assistenten. Eine Art Maschine wurde langsam an den braunen Tank herangerollt. Die Rupholuzitplatte an der Vorderseite wurde weggeschoben, sodass ein Zugang zu der gefährlichen Falle entstand.

Die Elektroden im Inneren des Tanks wurden durch Mikrospiegel mit zylindrischen Lampen ersetzt. Einer der Assistenten stellte sich an das Pult der Fernsteuerung. Auf dem Monitor erschien eine gewölbte Oberfläche, die mit einem körnigen Belag bedeckt war und das Licht der Lampe matt reflektierte — das war die Wandung des Tanks. Der Spiegel drehte sich leicht.

„Ein Durchleuchten mit Röntgenstrahlen wird schwierig sein, da die Isolierung zu stark ist“, begann Eon Tal zu erklären. „Deshalb müssen wir ein komplizierteres Verfahren anwenden.“

Der sich drehende Spiegel zeigte den Boden des Behälters und auf ihm zwei weiße Knäuel in der Form unregelmäßiger Kugeln mit löchriger, faseriger Oberfläche. Die Knäuel ähnelten den Früchten einer vor Kurzem gezüchteten Brotbaumart, die einen Durchmesser von siebzig Zentimetern erreichten.

„Schließen Sie das Televideofon an Grim Schars Vektor an“, wandte sich der Biologe an einen Assistenten.

Als der Wissenschaftler die allgemeinen Mutmaßungen bestätigt sah, kam er sofort ins Labor gelaufen. Kurzsichtig mit den Augen zwinkernd, was lediglich eine Angewohnheit und durchaus kein Sehmangel war, betrachtete er die vorbereiteten Apparaturen. Grim Schar hatte nichts von der typischen Ausstrahlung für berühmte Wissenschaftler, weder einen imponierenden Blick noch ein dominantes Wesen. Erg Noor fühlte sich an Ren Boos mit seinem schüchternen, jungenhaften Benehmen erinnert, das auch so gar nicht der Größe seines Geistes entsprach.

„Öffnen Sie die Schweißnaht!“, ordnete Grim Schar an.

Ein mechanischer Arm schnitt die harte Emailschicht durch, ohne den schweren Deckel von der Stelle zu rücken. Die Schläuche mit dem Gasgemisch wurden an die Ventile angeschlossen. Ein starker Infrarotstrahler ersetzte den Eisenstern.

„Temperatur… Schwerkraft… Druck… elektrische Ladung…“ Der an den Geräten stehende Assistent las die Werte ab.

Eine halbe Stunde später wandte sich Grim Schar zu den Sternfliegern um.

„Lassen Sie uns in den Ruheraum gehen. Es ist unmöglich, den Zeitpunkt des Erwachens dieser Kapseln vorauszusagen. Wenn Eon recht hat, wird es bald so weit sein. Die Diensthabenden werden uns verständigen.“

Das Institut für Nervenströme befand sich fernab der Wohnzone, am Rande eines Steppenreservats. Der Boden war nun, gegen Ende des Sommers, ausgetrocknet, und der Wind rauschte über die weite Steppe und trug den leichten Duft des ausgetrockneten Grases durch die sperrangelweit offen stehenden Fenster herein.

Die drei Forscher versanken in bequemen Sesseln und blickten schweigend durch die Fenster über die weit ausladenden Bäume auf den Dunstschleier des fernen Horizonts. Von Zeit zu Zeit schloss einer von ihnen die müden Augen, doch sie waren zu angespannt, als dass einer hätte eindösen können. Dieses Mal stellte das Schicksal die Geduld der Wissenschaftler nicht auf eine harte Probe. Keine drei Stunden waren vergangen, als der mit dem Labor direkt verbundene Bildschirm aufflammte. Der diensthabende Assistent war außer sich.

„Der Deckel bewegt sich!“

Einen Augenblick später waren alle drei im Labor.

„Schließen Sie die Rupholuzitkammer ab, und prüfen Sie, ob sie hermetisch verschlossen ist!“, ordnete Grim Schar an. „Stellen Sie dann in der Kammer die Planetenverhältnisse her!“

Ein leichtes Zischen der mächtigen Pumpen, ein Pfeifen der Druckregler erklang, während sich der durchsichtige Käfig mit der Atmosphäre des finsteren Planeten füllte.

„Erhöhen Sie die Feuchtigkeit und die elektrische Ladung“, fuhr Grim Schar fort.

Ein scharfer Ozongeruch wehte durchs Labor.

Es rührte sich nichts. Der Wissenschaftler warf stirnrunzelnd einen Blick auf die Geräte und überlegte, was er außer Acht gelassen haben könnte.

„Die Dunkelheit fehlt!“, ertönte plötzlich die klare Stimme Erg Noors.

Eon Tal machte sogar einen Luftsprung.

„Wie konnte ich das nur vergessen! Grim Schar, Sie waren ja nicht auf dem Eisenstern, aber ich…!“

„Die Polarisationsblenden!“, sagte der Wissenschaftler.

Das Licht erlosch. Im Labor brannten nur noch die Gerätelampen. Die Assistenten zogen Vorhänge vor das Schaltpult. Da und dort blinkten noch die Punkte der selbstleuchtenden Indikatoren.

Ein Hauch des schwarzen Planeten blies den Sternfahrern ins Gesicht und weckte in ihnen die Erinnerung an die schrecklichen und zugleich faszinierenden Tage ihres harten Kampfes.

Einige Minuten des Schweigens vergingen, das nur von den vorsichtigen Bewegungen Eon Tals gebrochen wurde, der den Infrarotschirm mit dem Polarisationsfilter abstimmte, um Lichtreflexe zu verhindern.

Ein schwaches Geräusch und dann ein schwerer Schlag — der Deckel des Wassertanks war in die Rupholuzitkammer gefallen. Das vertraute Aufblitzen der braunen Funken, und die Fühler eines schwarzen Ungeheuers erschienen am Rand des Wassertanks. Plötzlich machte es einen Satz in die Höhe, breitete sich wie eine dunkle Decke über die gesamte Rupholuzitkammer aus und stieß schließlich an den durchsichtigen Plafond. Tausende brauner Funken zuckten über den Körper der Meduse, die Decke blähte sich zu einer Kuppel, so als käme von unten her ein starker Wind. Dann stemmte sie sich mit ihren zu einem Bündel angehäuften Fühlern gegen den Boden der Kammer. Ebenfalls einem schwarzen Gespenst gleich, kroch das zweite Ungeheuer an den Rand des Tanks und flößte den Forschern mit seinen schnellen und geräuschlosen Bewegungen unwillkürlich Furcht ein. Aber hinter den starken Wänden der Versuchskammer und umgeben von ferngesteuerten Geräten, waren die Schreckgespenster des Planeten der Finsternis machtlos.

Die Instrumente maßen, fotografierten, bestimmten, zeichneten komplizierte Kurven und zerlegten die Struktur der Ungeheuer in verschiedenste physikalische, chemische und biologische Werte. Der menschliche Verstand fasste diese qualitativ verschiedenen Daten erneut zusammen, um die Struktur der unbekannten Schreckgespenster zu verstehen und sie sich zu unterwerfen.

Die Stunden vergingen wie im Fluge, und Erg Noor wurde sich ihres Sieges immer sicherer.

Eon Tal wurde immer fröhlicher und Grim Schar und seine jungen Assistenten immer lebhafter.

Schließlich trat der Wissenschaftler auf Erg Noor zu.

„Sie können ruhigen Herzens nach Hause gehen. Wir bleiben bis zum Schluss der Untersuchung. Ich möchte das sichtbare Licht noch nicht einschalten, denn hier können die schwarzen Medusen ihm nicht wie auf ihrem Planeten ausweichen. Und sie sollen uns doch auf alles, was wir wissen wollen, eine Antwort geben.“

„Und wann wird das der Fall sein?“

„In drei, vier Tagen werden wir alles erfahren haben, was bei dem derzeitigen Stand unseres Wissens nützlich ist. Aber schon jetzt haben wir eine ungefähre Vorstellung davon, wie ihre Lähmungsorgane funktionieren.“

„Und werden Sie Nisa heilen können?“

„Ja!“

Erst jetzt spürte Erg Noor, wie schwer die Last gewesen war, die er seit jenem schwarzen Tag beziehungsweise jener schwarzen Nacht — aber was spielte das noch für eine Rolle! — getragen hatte. Eine unbändige Freude überkam den ansonsten so zurückhaltenden Mann. Nur mit Mühe konnte er den sonderbaren Wunsch unterdrücken, Grim Schar in die Luft zu werfen, den kleinen Wissenschaftler durchzuschütteln und ihn zu umarmen. Erg Noor war über sich selbst verwundert, aber bald gelang es ihm, sich wieder zu beruhigen. Einen Augenblick später war er wieder genauso konzentriert wie immer.

„Ihre Untersuchung wird für eine künftige Expedition im Kampf gegen Medusen und Kreuze von größtem Wert sein!“

„Natürlich! Denn nun kennen wir den Feind. Aber wird denn nochmals eine Expedition in diese Welt der Schwere und der Finsternis stattfinden?“

„Ganz sicher!“

Ein warmer nördlicher Herbsttag dämmerte gerade herauf. Erg Noor schritt, ohne sich wie sonst zu beeilen, mit bloßen Füßen über das weiche Gras. Vor ihm am Rande des Waldes stand eine grüne Mauer aus Zedern, unterbrochen von bereits entlaubten Ahornbäumen, die wie dünne Rauchsäulen aussahen. Hier im Naturschutzpark griff der Mensch nicht in die Natur ein. In dem wirren Durcheinander hoher Gräser, ihren gemischten und widerspruchsvollen, angenehmen und kräftigen Düften lag ein eigener Liebreiz.

Ein kalter Bach versperrte Erg Noor den Weg, und er wich auf einen kleinen Pfad aus. Das Kräuseln des Windes auf dem sonnendurchfluteten Wasser schuf ein sich immer wieder auflösendes Netz aus goldenen welligen Linien über den bunten Kieselsteinen am Grund. Dünne Fäden von Moos und Tang trieben im Wasser, und unter ihnen huschten kleine blaue Schatten hin und her. Am Ufer neigten sich große violette Glockenblumen im Wind. Der Duft feuchter Wiesen und purpurroter Herbstblätter verhieß dem Menschen Freude an der Arbeit, da in einem verborgenen Winkel seines Herzens noch etwas vom Leben und Wirken des urzeitlichen Ackermannes nistete.

Eine Goldamsel ließ sich auf einem Zweig nieder und stieß einen spöttischen und selbstsicheren Pfiff aus.

Der klare Himmel über den Zedern färbte sich unter dem weit ausladenden Flügel einer Zirruswolke silbern. Erg Noor tauchte in das leicht bitter nach Zedernholz und Harz riechende Dunkel des Waldes ein, durchquerte diesen und stieg, sich den Tau vom bloßen Haupte wischend, einen Hügel hinan. Das Wäldchen, das die Nervenklinik umgab, war nicht sehr breit, und bald erreichte Erg Noor wieder den Hauptweg. Der Bach füllte nun eine Kaskade von Bassins aus Milchglas. Einige Männer und Frauen in Badeanzügen tauchten vor ihm auf und liefen zwischen bunten Blumenbeeten davon. Das herbstliche Wasser konnte wohl kaum warm sein, doch die Läufer sprangen lachend und einander durch Scherze ermutigend in eines der Bassins und schwammen fröhlich die Kaskade hinunter. Erg Noor musste unwillkürlich lächeln. In irgendeiner Fabrik oder Farm in der Umgebung war wohl gerade Mittagspause…

Noch nie war ihm, der den Großteil seines Lebens in engen Sternenschiffen zugebracht hatte, der heimatliche Planet so wunderbar erschienen. Erg Noor überkam eine tiefe Dankbarkeit gegenüber allen Menschen und gegenüber der irdischen Natur, die zur Rettung seiner rotlockigen Astronavigatorin — seiner Nisa — beigetragen hatte. Heute war sie ihm im Garten der Klinik zum ersten Mal entgegengelaufen! Nach der Konsultation mit den Ärzten wollten sie gemeinsam in ein Nervensanatorium im Polargebiet fahren. Seit es gelungen war, die paralytische Kette zu sprengen und die durch die Entladung der Fühler des schwarzen Kreuzes hervorgerufene beharrliche Hemmung in der Hirnrinde zu beseitigen, war Nisa völlig gesund. Nun musste sie nach diesem langen kataleptischen Schlaf nur noch ihre einstige Energie wiedergewinnen. Nisa lebte und war gesund! Welch ein Glück! Wie neu und unerwartet hell dieses Gefühl doch war, von dem sein Herz überquoll.

Auf einem Seitenweg sah er eine Frauengestalt schnell auf sich zukommen. Unter Tausenden hätte er sie erkannt! Es war Weda Kong. Weda hatte seine Gedanken früher ebenso sehr beschäftigt wie Nisa jetzt, bis sich herausstellte, dass ihre Lebenswege auseinanderstrebten. Erg Noor, dessen Denken in denselben Bahnen verlief wie die ihm so vertrauten Diagramme von Rechenmaschinen, stellte sich einen steilen, in die Höhe fliegenden Bogen — sein eigenes Streben — und den über dem Planeten schwebenden, in die Tiefen vergangener Jahrhunderte eindringenden Weg von Wedas Leben und Werk vor. Die beiden Linien liefen auseinander, bis sie weit voneinander entfernt waren.

Das ihm bis ins Detail vertraute Gesicht Weda Kongs verblüffte Erg Noor plötzlich durch seine Ähnlichkeit mit Nisa. Dasselbe schmale Gesicht mit den weit auseinanderliegenden Augen und der hohen Stirn, den langen, geschwungenen Brauen, demselben ironischen Lächeln um den großen Mund. Selbst die Nasen der beiden Frauen, schmale Stupsnasen mit sanfter Rundung, ähnelten einander wie die von Schwestern. Der einzige Unterschied war, dass Weda stets geradeaus und nachdenklich dreinblickte, während Nisa Krit ihren Kopf oft in jugendlichem Ungestüm störrisch zurückwarf.

„Weshalb dieser prüfende Blick?“, fragte Weda erstaunt.

Sie streckte Erg Noor beide Hände entgegen, und dieser drückte sie fest an seine Wangen. Weda zuckte zusammen und riss sich los. Der Sternfahrer lächelte schwach.

„Ich wollte ihnen, diesen Händen, die Nisa gesundgepflegt haben, danken… Sie… ich weiß alles! Jemand musste ständig bei ihr wachen, und Sie haben auf eine interessante Expedition verzichtet. Zwei Monate…“

„Ich habe nicht verzichtet, sondern bin zu spät gekommen, weil ich auf die Tantra warten wollte. Die Expedition war schon abgereist und außerdem — Ihre Nisa ist einfach prachtvoll! Wir ähneln einander vielleicht äußerlich, aber Nisa ist mit ihrem Drang in den Kosmos und ihrer Ergebenheit die wahre Freundin des Bezwingers des Kosmos und der Eisensterne.“

„Weda!“

„Ich scherze nicht, Erg! Sie wissen doch, dass dies noch nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze ist? Erst muss alles klar sein.“

„Mir ist auch so alles klar! Aber ich möchte Ihnen nicht meinetwegen, sondern wegen Nisa danken…“

„Sie brauchen mir nicht zu danken! Es wäre schwer für mich gewesen, wenn Sie Nisa verloren hätten…“

„Ich verstehe, glaube Ihnen aber nicht, weil ich Weda Kong kenne und weiß, dass sie nie so berechnend sein könnte. Und deshalb wird nichts meine Dankbarkeit schmälern.“

Erg Noor strich der jungen Frau über die Schultern und legte seine Hand in Wedas Armbeuge. Sie gingen auf dem menschenleeren Weg schweigend nebeneinander her, bis Erg Noor von Neuem zu sprechen begann:

„Und wer ist der Richtige?“

„Dar Weter.“

„Der ehemalige Leiter der Außenstationen? Sieh mal einer an…!“

„Erg, Sie sagen Worte, die nichts bedeuten. Ich erkenne Sie nicht wieder…“

„Ja, ich habe mich wahrscheinlich verändert. Aber ich kann mir Dar Weter nun einmal nur bei der Arbeit vorstellen und habe auch ihn immer für einen Träumer des Kosmos gehalten.“

„Das stimmt. Er träumt von der Welt der Sterne, ist zugleich aber auch fähig, die Erde wie ein urzeitlicher Ackermann zu lieben. Er ist ein gebildeter Kopf mit den kräftigen Händen eines einfachen Meisters.“

Erg Noor sah unwillkürlich auf seine schmächtige Hand mit den langen Fingern eines Mathematikers und Musikers.

„Wenn Sie wüssten, Weda, wie sehr ich jetzt die Erde liebe…!“

„Nach der Welt der Finsternis und dem langen Flug mit der gelähmten Nisa? Natürlich! Aber…“

„Sie glauben nicht, dass mir diese Liebe einen neuen Lebensinhalt schenken kann?“

„Kaum. Sie sind ein echter Held und dürsten deshalb nach Heldentaten. Sie werden auch diese Liebe dem Kosmos schenken, sie wie eine bis an den Rand volle Schale tragen und dabei ständig Angst haben, es könnte ein Tropfen davon auf die Erde fallen. Obwohl Sie es für dieselbe Erde tun!“

„Weda, im Mittelalter hätte man Sie auf dem Scheiterhaufen verbrannt!“

„Das habe ich schon einmal gehört… Da ist auch schon die Weggabelung. Wo haben Sie Ihre Schuhe gelassen, Erg?“

„Im Garten, als ich Ihnen entgegenging. Ich werde jetzt wohl umkehren müssen.“

„Auf Wiedersehen, Erg. Meine Aufgabe hier ist jetzt vollbracht, nun sind Sie an der Reihe. Wo werden wir uns wiedersehen? Vielleicht erst vor dem Abflug des neuen Sternenschiffes?“

„Nein, nein, Weda! Ich fahre mit Nisa noch für drei Monate in ein Sanatorium am Pol. Besuchen Sie uns dort! Und bringen Sie Dar Weter mit!“

„In welches Sanatorium? Ins ›Steinerne Herz‹ an der Nordküste Sibiriens? Oder nach Island ins ›Herbstlaub‹?“

„Für den nördlichen Polarkreis ist es schon zu spät. Man schickt uns in die südliche Hemisphäre, wo jetzt bald der Sommer anfängt. Ins Sanatorium ›Weiße Morgendämmerung‹ auf Grahamland.“

„Gut, Erg. Vorausgesetzt, Dar Weter reist nicht sofort zum Bau des neuen Satelliten 57 ab. Wahrscheinlich wird die Zusammenstellung des Materials noch einige Zeit in Anspruch nehmen…“

„Ein schöner Erdenmensch, Ihr Dar Weter — fast ein Jahr wird er am Himmel sein!“

„Spotten Sie nicht. Dieser Himmel ist sehr nahe im Vergleich zu den unvorstellbaren Weiten, die uns voneinander trennten.“

„Bedauern Sie es, Weda?“

„Weshalb fragen Sie, Erg? Jeder von uns besteht aus zwei Hälften: Die eine strebt nach Neuem, die andere hütet das Alte und freut sich, wenn sie zu ihm zurückkehren kann. Sie wissen das und wissen auch, dass eine Rückkehr niemals das ist, was sie verspricht.“

„Aber das Bedauern bleibt zurück… wie ein Kranz auf dem Grab eines geliebten Menschen. Geben Sie mir einen Kuss, meine liebe Weda…!“

Die junge Frau erfüllte gehorsam die Bitte, schob den Sternfahrer dann leicht zur Seite und eilte rasch auf die Hauptstraße zu, wo die Elektrobusse verkehrten. Ein automatisch betriebener Wagen hielt an. Noch lange sah Erg Noor Wedas rotes Kleid hinter der durchsichtigen Wand.

Und auch Weda blickte durchs Busfenster auf den reglos dastehenden Erg Noor zurück. Der Kehrreim eines Gedichtes aus der Epoche der Uneinigen Welt, das übersetzt und vor Kurzem von Ark Gir vertont worden war, ging ihr durch den Kopf. Dar Weter hatte ihn einmal auf einen zärtlichen Vorwurf ihrerseits hin zitiert:

Weder die Engel des Himmels

noch die Geister im Grund,

nein, sie vermochten es nie,

zu trennen mein Herz von dem

der bezaubernden Annabell Li!

Mit diesen Worten hatte einst in längst vergangenen Zeiten ein Mann den Kräften der Natur den Fehdehandschuh geworfen, nachdem sie ihm seine Geliebte genommen hatten. Es waren die Worte eines Mannes, der sich mit dem Verlust nicht abfinden und dem Schicksal keinen Tribut zollen wollte!

Der Elektrobus näherte sich der Abzweigung der Spiralstraße, und Weda stand noch immer am Fenster. Sich an dem polierten Geländer festhaltend, sang sie, von süßem Kummer überwältigt, leise ein Lied vor sich hin.

„Engel“ nannten früher die gläubigen Europäer die imaginären Himmelsgeister, die Sendboten des göttlichen Willens. Das Wort „Engel“ bedeutete im Altgriechischen auch „Bote“. Ein Wort, das vor Jahrhunderten in Vergessenheit geraten war…

Auf der Station angekommen, erwachte Weda aus ihren Gedanken, kehrte jedoch zu ihnen zurück, nachdem sie im Waggon Platz genommen hatte.

Boten des Himmels, des Kosmos — auch so könnte man Erg Noor, Mwen Maas und Dar Weter bezeichnen. Vor allem Dar Weter, wenn er am nahen irdischen Himmel sein würde, um den Satelliten wieder aufzubauen… Weda lächelte boshaft. „Aber das würde ja bedeuten, dass wir, die Archäologen, die Geister im Grund sind“, sagte sie laut und lachte, als sie sich selbst hörte. „Ja, genau, Engel des Himmels und Geister im Grund! Dar Weter wird allerdings kaum damit einverstanden sein…“

Die niedrigen Zedern mit ihren schwarzen Nadeln, eine eigens für die Subpolarzone gezüchtete kältebeständige Baumart, rauschten feierlich und gleichmäßig unter dem nicht abflauenden Wind. Die kalte, dichte Luft strömte wie ein rascher Fluss dahin und führte eine ungewöhnliche Sauberkeit und Frische mit sich, die ansonsten nur auf dem offenen Ozean oder im Hochgebirge zu finden war. Im Hochgebirge aber kam die Luft alsbald mit dem ewigen Eis in Berührung, wodurch sie trocken und leicht stechend wie Schaumwein wurde. Hier dagegen war der Atem des Ozeans wie eine sanfte Berührung, die den Körper mit einem feuchten Mantel umgab.

Das Hauptgebäude des Sanatoriums „Weiße Morgendämmerung“ reichte bis zum Meer hinunter und war terrassenförmig angelegt. Seine Glaswände erinnerten mit ihren rundlichen Formen an ehemalige Ozeanriesen. Tagsüber kontrastierte die blassrosa Färbung der Zwischenwände, Treppen und vertikalen Säulen stark mit den tragenden, dunklen, schokolade- und lilafarbenen Andesitfelsen, die von blaugrauen porzellanartigen Pfaden aus geschmolzenem Syenit durchbrochen waren. Doch jetzt, im späten Frühjahr, tauchte die Polarnacht alles in ihr eigenartiges weißes Licht, das aus der Tiefe des Himmels und des Meeres zu kommen schien, und glich die Farben einander an. Die Sonne war für eine Stunde hinter dem Hochplateau im Süden verschwunden. Von dort spannte sich ein herrliches Leuchten in hohem Bogen über den südlichen Teil des Himmels. Dies war der Widerschein der mächtigen Eismassen des antarktischen Festlandes, die sich auf dem hohen Kamm seiner östlichen Hälfte erhalten hatten. Sie waren durch den Menschen so weit zurückgedrängt worden, dass nur noch ein Viertel der ursprünglichen Gletschermassen übrig geblieben war. Die eisige weiße Morgendämmerung, nach der auch das Sanatorium benannt war, verwandelte die Umgebung in eine friedliche Welt matten Lichts ohne Schatten und Reflexe.

Vier Personen gingen langsam in dem silbernen Widerschein des porzellanartigen Pfads zum Ozean hinunter. Die Gesichter der Männer sahen aus, als wären sie aus grauem Granit gehauen, die großen Augen ihrer beiden Begleiterinnen, die vorausgingen, schienen abgrundtief und geheimnisvoll.

Nisa Krit, das Gesicht an den Kragen von Weda Kongs Pelzumhang geschmiegt, widersprach der Archäologin lebhaft. Weda sah das Mädchen, das ihr äußerlich so sehr ähnelte, leicht verwundert an.

„Mir scheint, das schönste Geschenk, das eine Frau ihrem Geliebten machen kann, ist, ihn neu zu schaffen und damit das Leben ihres Helden zu verlängern. Denn das kommt fast einer Unsterblichkeit gleich!“

„Die Männer urteilen, was uns betrifft, anders“, antwortete Weda. „Dar Weter hat mir einmal gesagt, dass er keine Tochter möchte, die seiner Geliebten sehr ähnlich wäre — für ihn wäre der Gedanke unerträglich, aus der Welt zu scheiden und sie allein, ohne den Mantel seiner Liebe und Zärtlichkeit, einem unbekannten Schicksal zu überlassen… Das sind Überbleibsel der Eifersucht und des Schutzinstinktes früherer Zeiten.“

„Und mir ist der Gedanke an eine Trennung von einem kleinen Lebewesen, meinem eigenen Fleisch und Blut, unerträglich“, fuhr Nisa gedankenversunken fort. „Es fast von der Brust weg zur Erziehung wegzugeben!“

„Ich verstehe Sie, bin aber nicht Ihrer Meinung“, sagte Weda finster, als habe das Mädchen eine empfindliche Stelle in ihrem Herzen berührt. „Eine der größten Aufgaben der Menschheit besteht in der Überwindung des blinden Mutterinstinktes. Und in der Einsicht, dass nur eine kollektive Erziehung der Kinder durch besonders ausgewählte und geschulte Personen den Menschen unserer Gesellschaft hervorbringen kann. Heute gibt es die beinahe wahnsinnige Mutterliebe früherer Zeiten nicht mehr. Jede Mutter weiß, dass ihr Kind von der gesamten Welt zärtlich behandelt wird. Und so ist auch die instinktive Liebe der Wölfin verschwunden, die vor allem auf der tierischen Angst um ihre Kleinen beruhte.“

„Ich verstehe das“, sagte Nisa. „Aber nur mit meinem Verstand.“

„Und ich bin zur Gänze davon überzeugt, dass das größte Glück — einem anderen Wesen Freude zu bereiten — nun für jeden Menschen jedes Alters möglich ist. Das, was in früheren Gesellschaften nur für Eltern, Großmütter und Großväter und vor allem für Mütter möglich war… Wozu unbedingt die ganze Zeit bei dem Kleinen verbringen? Das ist doch auch ein Überbleibsel aus jener Zeit, da das Leben der Frauen gezwungenermaßen sehr beschränkt war und sie nicht bei ihren Geliebten sein konnten. Sie jedoch werden, solange Sie sich lieben, beisammen sein…“

„Ich weiß nicht, aber manchmal überkommt mich das unbändige Verlangen, ein kleines, ihm ähnliches Wesen in meiner Nähe haben zu wollen, dass ich die Hände fest zusammenpressen muss… Und… nein, ich weiß überhaupt nichts…!“

„Es gibt die Insel der Mütter — Java. Dort leben alle Frauen, die ihre Kinder selbst großziehen möchten.“

„Oh, nein! Ich könnte keine Erzieherin werden, wie manche besonders kinderliebe Menschen. Ich fühle so viel Kraft in mir, schließlich war ich auch schon einmal im Kosmos…“

Weda war nun milder gestimmt.

„Sie sind die Verkörperung der Jugend, Nisa, und zwar nicht nur physisch. Wie alle jungen Menschen begreifen Sie nicht, wenn Sie auf Widersprüche im Leben stoßen, dass sie das Leben selbst sind, dass die Freude der Liebe zwangsläufig auch Ängste, Sorgen und Kummer mit sich bringt, und zwar umso mehr, je stärker die Liebe ist. Sie aber glauben, dass gleich alles verloren ist, wenn das Leben einmal hart zuschlägt…“

Bei den letzten Worten kam Weda plötzlich ein anderer Gedanke. Nein, die Jugend war nicht der einzige Grund für Nisas Unruhe und egoistisches Streben!

Weda hatte einen Fehler begangen, wie er vielen Menschen unterlief, nämlich zu glauben, dass die Wunden des Herzens gleichzeitig mit den Verletzungen des Körpers heilen. Keine Spur! Seelische Wunden können noch lange tief in einem gesunden Körper weiterschwären und plötzlich, mitunter aus unbedeutenden Gründen, wieder aufbrechen. So war es auch bei Nisa: Fünf Jahre lang war sie, wenn auch völlig bewusstlos, gelähmt gewesen, und diese Lähmung hatte jeder Zelle im Körper ihren Stempel aufgedrückt und darin die Erinnerung an die entsetzliche Begegnung mit dem Kreuz zurückgelassen, jenem schrecklichen Wesen, das Erg Noor beinahe getötet hätte.

Nisa erriet Wedas Gedankengänge und sagte mit dumpfer Stimme:

„Seitdem ich auf dem Eisenstern war, verfolgt mich ein eigenartiges Gefühl. Irgendwo in meinem Herzen herrscht eine beunruhigende Leere. Sie ist immer da, daneben kann ich mich freuen und mich stark fühlen, aber dieses Gefühl verschwindet deshalb nicht. Ich kann nur dagegen ankämpfen, indem ich mich zusammennehme und mich ihm nicht überlasse… Jetzt weiß ich, was der Kosmos für einen einsamen Menschen bedeutet, und verneige mich noch tiefer vor den ersten Helden der Sternenschifffahrt!“

„Ich glaube, ich verstehe Sie“, antwortete Weda. „Ich war einmal auf einer kleinen Inseln Polynesiens, mitten im Ozean. Dort überkommt einen in Stunden der Einsamkeit angesichts des Meeres eine unendliche Traurigkeit, gleich einem nostalgischen Lied, das sich in der Monotonie weiter Fernen verliert. Vielleicht ist es eine Erinnerung aus der fernen Vergangenheit, eine Erinnerung an die urzeitliche Einsamkeit seines Bewusstseins, die dem Menschen sagt, wie schwach und hilflos er einst in dem engen Gefängnis seiner Seele war. Die einzige Rettung ist gemeinsame Arbeit und gemeinsames Nachdenken. Kommt dann endlich ein Schiff, noch kleiner als die Insel, scheint der unermessliche Ozean schlagartig verändert. Eine Handvoll Kameraden und ein Schiff, das ist bereits eine Welt für sich, die erreichbaren und ihr angemessenen Fernen zustrebt. Und so ist es auch bei einem kosmischen Schiff, einem Sternenschiff. Dort sind Sie mit verwegenen und starken Kameraden zusammen! Doch allein im Kosmos zu sein“, Weda schauerte es. „Das kann, glaube ich, kein Mensch ertragen.“

Nisa schmiegte sich noch fester an Weda.

„Wie recht Sie haben, Weda! Deshalb möchte ich auch alles auf einmal…“

„Nisa, ich habe Sie sehr lieb gewonnen. Jetzt bin ich eher einverstanden mit Ihrem Entschluss… Erst schien er mir vollkommen verrückt.“

Nisa drückte, ohne ein Wort zu sagen, Wedas Hand und presste die Nase an die vom Wind kalte Wange der Freundin.

„Aber werden Sie auch durchhalten, Nisa? Es ist doch so unglaublich schwer!“

„Was soll denn so schwer sein, Weda?“, fragte Erg Noor, der ihre letzten Worte gehört hatte. „Haben Sie sich mit Dar Weter abgesprochen? Er versucht schon eine halbe Stunde lang mich zu überreden, meine Erfahrung als Sternfahrer an die Jugend weiterzugeben, anstatt eine Reise anzutreten, von der man nicht zurückkehrt.“

„Und hat er Sie überreden können?“

„Nein. Meine Erfahrung in der Sternenschifffahrt wird jetzt noch notwendiger gebraucht, um die Lebed an ihr Ziel zu bringen, dorthin…“ Erg Noor zeigte auf den hellen, sternlosen Himmel, wo unterhalb der Kleinen Magellanschen Wolke, unter dem Tukan und der Hydra der helle Achernar leuchten musste. „… auf einer Bahn, die noch kein Schiff der Erde oder des Rings geflogen ist.“

Als Erg Noor das letzte Wort aussprach, leuchteten hinter seinem Rücken die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne auf und fegten mit einem Male alles Geheimnisvolle der weißen Morgendämmerung hinweg.

Die vier Freunde hatten das Meer erreicht. Eine kalte Brise wehte ihnen entgegen, und schwere, schaumlose Wellen des stürmischen antarktischen Ozeans brandeten gegen das leicht abfallende Ufer vor ihnen. Weda Kong blickte neugierig auf das stahlblaue Wasser, das in der Tiefe rasch dunkel wurde und unter den Strahlen der tief stehenden Sonne den lila Farbton von Eis annahm.

Nisa Krit stand neben ihr in einem blauen Pelzmantel und gleichfarbiger runder Pelzmütze, unter der das dichte, dunkelrote Haar hervorquoll. Wie üblich warf das Mädchen ihren Kopf leicht in den Nacken. Dar Weters Blick, der sich erst an ihr weidete, wurde plötzlich finster.

„Weter, gefällt Ihnen Nisa nicht?“, rief Weda Kong mit übertriebener Empörung aus.

„Sie wissen, dass ich von ihr entzückt bin“, antwortete Dar Weter grimmig. „Doch in diesem Augenblick erschien sie mir so klein und zerbrechlich im Vergleich zu…“

„Zu dem, was mich erwartet?“, fragte Nisa herausfordernd. „Verlegen Sie jetzt Ihren Angriff von Erg auf mich…?“

„Daran habe ich überhaupt nicht gedacht“, entgegnete Dar Weter ernst. „Mein Unmut ist etwas ganz Natürliches. Ein wunderschönes Geschöpf meiner lieben Erde soll in den unermesslichen Tiefen des Kosmos mit seiner Finsternis und schrecklichen Kälte verschwinden. Das ist kein Mitleid, Nisa, sondern Kummer über einen Verlust.“

„Es geht Ihnen genauso wie mir“, stimmte Weda zu. „Nisa, ein heller Funken des Lebens und der eisige, leblose Raum!“

„Sehe ich aus wie eine zerbrechliche Blume?“, fragte Nisa. Ein merkwürdiger Ton in ihrer Stimme ließ Weda aufmerken.

„Wer liebt die Freude am Kampf gegen die Kälte mehr als ich?“ Und das Mädchen riss sich die Mütze vom Kopf, schüttete ihre roten Locken aus und warf auch den Pelzmantel fort.

„Was machen Sie da, Nisa?“, fragte Weda Kong, die als Erste ihre Absicht erriet. Sie stürzte auf die Astronavigatorin zu.

Doch Nisa sprang bereits auf einen vorstehenden Felsen, zog sich rasch aus und warf Weda ihre Kleider zu.

Die kalten Wellen schlossen sich über Nisa, und Weda zitterte, während sie sich das Gefühl eines solchen Bades vorzustellen versuchte. Nisa schwamm gleichmäßig durchs Wasser, durchschnitt die Wellen mit starken Armschlägen. Als sie auf den Kamm einer Welle gehoben wurde, winkte sie den an der Küste Zurückgebliebenen zu und forderte sie auf, ihr nachzufolgen.

Weda Kong sah ihr begeistert zu.

„Weter, Nisa ist nicht Ergs Freundin, sondern eher die eines Eisbären. Sie, als Mensch des Nordens, werden sich wohl nicht geschlagen geben wollen?“

„Ich stamme zwar aus dem Norden, ziehe aber persönlich warmes Wasser vor“, sagte Dar Weter kläglich und näherte sich nur widerwillig den eisigen Spritzern der Meeresbrandung.

Dann zog er sich aus, berührte das Wasser mit dem Fuß und stürzte sich jauchzend einer stahlblauen Woge entgegen. Mit drei gewaltigen Schlägen erreichte er den Kamm einer Welle und ging in der dunklen Tiefe der nächsten unter. Nur jahrelanges Training und ganzjähriges Baden ermöglichten es ihm, seinen Ruf zu retten. Plötzlich stockte sein Atem, und rote Ringe begannen vor seinen Augen zu tanzen. Mit ein paar hastigen Tauchern und Sprüngen bekam er wieder Luft. Dann schwamm Dar Weter zitternd und blau vor Kälte ans Ufer und rannte zusammen mit Nisa den Hang hinauf. Einige Minuten später genossen sie bereits die wohltuende Wärme ihrer Pelzmäntel und — stiefel. Auf einmal schien der eisige Wind sogar einen Hauch der Korallenmeere mit sich zu bringen.

„Je länger ich Sie kenne, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass sich Erg Noor bei seiner Wahl nicht geirrt hat“, flüsterte Weda. „Sie werden ihn wie kein anderer in schweren Stunden aufmuntern, erfreuen und seine Kräfte schonen können…“

Nisas Wangen, die jeglicher Sonnenbräune entbehrten, überzogen sich mit einem satten Rot.

Beim Frühstück auf der hohen, durch den Wind vibrierenden Kristallterrasse begegnete Weda einige Male dem nachdenklichen und zärtlichen Blick des Mädchens. Alle vier waren schweigsam, wie es Menschen vor einer langen Trennung sind.

„Bitter, wenn man sich von solchen lieben Menschen, die man gerade erst kennengelernt hat, gleich wieder trennen muss“, rief Dar Weter plötzlich aus.

„Vielleicht können Sie…“, begann Erg Noor.

„Mein Urlaub ist zu Ende. Es ist Zeit, in den Himmel zu steigen! Grom Orm erwartet mich.“

„Auch für mich wird es Zeit“, fügte Weda hinzu. „Ich werde in meine Erde, in eine vor Kurzem entdeckte Höhle, eine Schatzkammer aus der Ära der Uneinigen Welt, hinabsteigen.“

„Die Lebed wird Mitte nächsten Jahres startbereit sein, und in sechs Wochen beginnen wir mit dem Training“, sagte Erg Noor leise. „Wer leitet jetzt die Außenstationen?“

„Zurzeit noch Junius Antus, doch er will sich nicht von seinen Gedächtnismaschinen trennen, und der Rat hat die Kandidatur von Emb Ong, einem Ingenieur und Physiker von der F-Station auf Labrador, noch nicht bestätigt.“

„Kenne ich nicht.“

„Kaum einer kennt ihn, da er sich in der Akademie der Grenzen des Wissens mit den Fragen der Megawellenmechanik beschäftigt.“

„Was ist denn das?“

„Die mächtigen Rhythmen des Kosmos, gigantische Wellen, die sich langsam im Raum ausbreiten. In ihnen äußern sich zum Beispiel die Widersprüche kollidierender Lichtgeschwindigkeiten, die höhere relative Werte als die absolute Einheit ergeben. Aber das ist noch nicht zur Gänze erforscht…“

„Und Mwen Maas?“

„Schreibt ein Buch über Emotionen. Auch ihm bleibt wenig Freizeit. Die Akademie für Stochastik und Vorhersage der Zukunft hat ihn zum Berater für den Flug Ihrer Lebed ernannt. Sobald alles Material zusammengestellt ist, wird er sich von seinem Buch trennen müssen.“

„Schade! Es wäre ein wichtiges Thema. Es wird Zeit, dass die Realität und die Kraft der Welt der Emotionen endlich richtig erkannt werden“, äußerte sich Erg Noor.

„Ich fürchte nur, Mwen Maas wird kaum zu einer nüchternen Analyse fähig sein“, sagte Weda.

„So muss es auch sein, wenn etwas Gescheites herauskommen soll“, entgegnete Dar Weter und stand auf, um sich zu verabschieden.

„Bis zum nächsten Mal! Beeilt euch mit eurer Arbeit, sonst sehen wir uns nicht mehr“, sagte Nisa, und Erg nickte. Die beiden streckten den Freunden zum Abschied die Hände entgegen.

„Wir sehen uns noch“, versprach Dar Weter überzeugt. „Im schlimmsten Fall in der Wüste El Homra, vor dem Abflug.“

„Vor dem Abflug“, wiederholten die Sternfahrer.

„Gehen wir, mein himmlischer Engel“, sagte Weda Kong und hakte Dar Weter unter, wobei sie so tat, als bemerkte sie die Falten zwischen seinen Brauen nicht. „Gewiss haben Sie doch die Erde sicherlich schon satt?“

Breitbeinig stand Dar Weter auf dem schwankenden Fundament des noch kaum befestigten Gerüsts und blickte nach unten, in den schrecklichen Abgrund zwischen der zerrissenen Wolkendecke. Dort war die Oberfläche der Erde sichtbar. Ihre Riesenhaftigkeit mit den geschlängelten grauen Konturen der Kontinente und den dunkelvioletten der Meere war sogar aus einer Entfernung, fünfmal so groß wie ihr Durchmesser, noch spürbar.

Dar Weter erkannte die Umrisse, die ihm von Kindheit an durch Satellitenaufnahmen vertraut waren. Da war die gewölbte Linie mit den sie durchkreuzenden dunklen Gebirgsstreifen. Zur Rechten glitzerte das Meer, und direkt unter seinen Füßen lag ein schmales Gebirgsvorland. An diesem Tag hatte er Glück: Die Wolken hatten sich genau über jenem Teil des Planeten geteilt, wo Weda zurzeit lebte und arbeitete. Dort, am Fuße der vertikalen Terrassen eines stahlgrauen Berges, lag irgendwo die alte Höhle, die in weiträumigen Etagen in die Tiefe der Erde hinunterreichte. Dort wählte Weda aus den stummen und verstaubten Zeugen vergangenen menschlichen Lebens jene Fragmente historischer Wahrheit aus, ohne die man weder die Gegenwart ganz verstehen noch die Zukunft voraussehen konnte.

Dar Weter lehnte sich über das Geländer einer Wellblechplattform aus Zirkoniumbronze und sandte in Gedanken einen Gruß hinunter zu dem vage angenommenen Punkt, der sich im genau in diesem Moment unter den Schwingen von unerträglich hell leuchtenden Zirruswolken verbarg, die aus Westen herangekrochen kamen. Die Finsternis der Nacht verwandelte sich in eine vom Licht der Sterne übersäte Mauer. Die Wolkenschichten rückten wie übereinanderhängende gigantische Flöße vor. Unter ihnen, in dem immer dunkler werdenden Abgrund, rollte die Erdoberfläche unter die Mauer der Finsternis, so als würde sie für immer im Nichts verschwinden. Ein sanftes Zodiakallicht hüllte die Schattenseite des Planeten ein und sandte sein Leuchten in das Dunkel des Weltraums.

Über der Tagseite des Planeten breitete sich eine blaue Wolkendecke aus, die das starke Licht der stahlgrauen Sonne reflektierte. Jeder, der ohne Dunkelfilter auf die Wolken geblickt hätte, hätte sein Augenlicht verloren, genauso wie derjenige, der außerhalb der schützenden, tausend Kilometer dicken Erdatmosphäre in die Sonne geschaut hätte. Die kurzwelligen harten Strahlen der Sonne — Ultraviolett- und Röntgenstrahlen — ergossen sich in einem mächtigen Strom, der alles Leben tötete. Dazu kamen noch häufige Schauer von kosmischen Teilchen und die ständige Strahlung des Van-Allen-Gürtels. Auch aufleuchtende Novae sandten tödliche Strahlen in den Raum. Nur die zuverlässigen Raumanzüge bewahrten die Weltraumarbeiter vor dem Tod.

Dar Weter warf die Sicherungsleine auf die andere Seite und rutschte auf einem Stützbalken der leuchtenden Kelle des großen Bären entgegen. Ein gigantisches Rohr war in voller Länge des künftigen Satelliten befestigt worden. An seinen beiden Enden erhoben sich spitze Dreiecke, an denen die riesigen Scheiben der Magnetfeldstrahler befestigt waren. Wenn erst einmal die Batterien montiert wären, die die blaue Strahlung der Sonne in elektrischen Strom verwandelten, dann würde man auf die Leine verzichten und sich mithilfe von Richtlamellen auf Brust und Rücken entlang den Feldstärkelinien bewegen können.

„Wir möchten auch nachts arbeiten“, ertönte plötzlich die Stimme Kad Laits, eines jungen Ingenieurs, in Dar Weters Helm. „Der Kommandant der Altai hat versprochen, uns Licht zu geben.“

Dar Weter blickte nach links und nach unten, wo mehrere aneinandergebundene Transportraketen wie schlafende Fische dalagen. Über ihnen, unter dem flachen Schirm — einem Schutz gegen Meteoriten und die Sonnenstrahlung —, schwebte die aus Blechen der Innenverkleidung provisorisch zusammengebaute Plattform, auf der alle von den Raketen angelieferten Teile gelagert und montiert wurden. Dort schwärmten die Arbeiter wie schwarze Bienen umher, die zu Glühwürmchen wurden, sobald die reflektierende Oberfläche ihrer Raumanzüge etwas aus dem Schatten des Schutzschirmes trat. Ein Netz von Trossen verband die gähnenden schwarzen Öffnungen an den Seiten der Raketen miteinander. Dort hatte man die Verkleidung der Raketen abgenommen, um besonders große Einzelteile auszuladen. Weiter oben, direkt über dem montierten Gerüst, machte sich eine Gruppe von Menschen in sonderbaren, mitunter lustigen Posen, an einer riesigen Maschine zu schaffen. Allein der Ring aus Berylliumbronze mit Borazonüberzug hätte auf der Erde gut tausend Tonnen gewogen. Hier hing die ganze Last brav neben dem Metallskelett des Satelliten an einem dünnen Seil, und ihre Aufgabe war es, die Integralgeschwindigkeiten des Erdumlaufes all dieser noch nicht montierten Einzelteile auszugleichen.

Die Menschen arbeiteten flink und sicher, nachdem sie sich an die fehlende, das heißt, besser gesagt, an die geringfügige Schwerkraft gewöhnt hatten. Diese geschickten Arbeiter sollten jedoch bald durch neue ersetzt werden. Länger andauernde physische Arbeit unter den Bedingungen der Schwerelosigkeit führte zu einer Störung des Blutkreislaufes, die chronisch werden und die Betroffenen bei ihrer Rückkehr auf die Erde zu Invaliden machen konnte. Deshalb arbeitete niemand länger als hundertfünfzig Arbeitsstunden auf dem Satelliten und kehrte erst auf die Erde zurück, nachdem er sich auf der Zwischenstation, die in einer Höhe von neunhundert Kilometern über dem Planeten kreiste, erholt und im Palast der Äußeren Atmosphäre im Karakorum-Gebirge einer ärztlichen Regravitierung unterzogen hatte.

Als Leiter des Baus versuchte Dar Weter jede physische Belastung zu vermeiden, so gerne er auch dann und wann mit angepackt hätte, um die eine oder andere Arbeit zu beschleunigen. Er musste hier, in einer Höhe von siebenundfünfzigtausend Kilometern, mehrere Monate ausharren.

Einer Nachtschicht zuzustimmen bedeutete eine weitere Verkürzung des Aufenthaltes seiner jungen Freunde und eine vorzeitige Anforderung der nächsten Schicht. Das zweite, für den Bau zur Verfügung stehende Planetenschiff Baryon stand in der Ebene von Arizona bereit, wo Grom Orm an den Fernsehbildschirmen und Pulten der Registriermaschinen saß.

Dar Weter konnte sich diese Gelegenheit, die Montagezeit zu verkürzen, nicht entgehen lassen. Sobald die Arbeiter sein Einverständnis erhalten hatten, liefen sie von der Montageplattform in alle Richtungen auseinander und begannen, ein noch komplizierteres Netz von Trossen zu ziehen. Das Planetenschiff Altai, das den Bauarbeitern als Unterkunft diente und reglos an einem Ende des Stützbalkens hing, machte inzwischen die Halteleinen los, die seine Einstiegsluke mit dem Gerüst des Satelliten verbanden. Lange, grelle Flammen schossen aus dem Triebwerk hervor. Der riesige Rumpf des Schiffes drehte sich lautlos und schnell. Nicht das geringste Geräusch war in der Leere des interplanetaren Raumes zu vernehmen. Mit wenigen Triebwerksdrehungen brachte der erfahrene Kommandant das Schiff in eine Höhe von vierzig Metern über der Baustelle und drehte die Landescheinwerfer in Richtung der Montageplattform, ohne diese jedoch einzuschalten. Zwischen dem Schiff und dem Gerüst wurden erneut Trosse gespannt, und das ganze Gebilde aus verschiedensten Objekten, die im Raum hingen, erlangte wieder eine relative Stabilität, während es nach wie vor die Erde mit einer Geschwindigkeit von ungefähr zehntausend Kilometern pro Stunde umkreiste.

An der Verteilung der Wolkenmassen erkannte Dar Weter, dass die Baustelle nun über das antarktische Gebiet der Erde hinwegflog und folglich bald in den Erdschatten eintreten würde. Die technisch perfektionierten, heizbaren Raumanzüge konnten den eisigen Hauch des Weltraumes nicht zur Gänze abwehren, und wehe dem Weltraumreisenden, der mit der Energie seiner Batterien nicht haushielt! Vor einem Monat war der Montagebaumeister ums Leben gekommen, als er sich vor einem plötzlichen Meteoritenregen in dem kalten Rumpf einer offenen Rakete versteckte, ohne mit ausreichender Energie versorgt zu sein… Ein anderer Ingenieur war von einem Meteoriten erschlagen worden — solche Unfälle ließen sich nicht mit Sicherheit voraussagen, beziehungsweise verhindern. Der Bau von Satelliten forderte stets Opfer — und wer würde das Nächste sein? Die Gesetze der Stochastik, die zwar für solche einzelnen Staubkörner, wie es die Menschen waren, nur beschränkt anwendbar waren, legten nahe, dass es ihn, Dar Weter, mit größter Wahrscheinlichkeit als Nächsten treffen würde… denn er befand sich am Längsten von allen hier, auf dieser Höhe, die allen Unbilden des Kosmos ausgesetzt war… Doch eine vorlaute, innere Stimme sagte Dar Weter, dass seiner prächtigen Person nichts passieren könne. So unsinnig diese Zuversicht für einen mathematisch denkenden Menschen auch war, so ließ sie ihn nicht los und half ihm, ruhig über die Balken und Gitter des ungesicherten Gerüsts in der Leere des schwarzen Himmels zu balancieren.

Auf der Erde wurden Montagearbeiten mithilfe spezieller Maschinen durchgeführt, die man Embryotekte nannte, weil sie nach dem Wachstumsprinzip eines lebenden Organismus arbeiteten. Natürlich war die molekulare Struktur eines lebenden Organismus, die sich durch den kybernetischen Erbmechanismus ergibt, unvorstellbar komplizierter, da sie nicht nur dem physikalisch-chemischen Ausleseprinzip, sondern auch der noch nicht erforschten Wellenrhythmik unterlag. Lebende Organismen wuchsen jedoch nur unter den Bedingungen warmer Lösungen aus ionisierten Molekülen, während Embryotekte für gewöhnlich in polarisierten Strömen, im Licht oder im Magnetfeld arbeiteten. Die Markierungen und Schlüssel, die mit radioaktivem Thallium auf den zu montierenden Einzelteilen aufgetragen wurden, erteilten den Maschinen genaue Anweisungen, sodass die Montage mit einer für nicht Eingeweihte verblüffenden Genauigkeit und Geschwindigkeit vonstatten ging. Hier, in solcher Höhe, gab es keine solchen Maschinen, ja, und konnte es sie auch nicht geben. Der Satellit wurde nach einer altmodischen Bauweise gebaut, von den Händen lebendiger Menschen. Ungeachtet aller Gefahren war die Arbeit so interessant, dass sie Tausende von Freiwilligen anlockte, die sich nichts mehr wünschten, als in den interplanetaren Raum zu fliegen. Die psychologischen Prüfungsstellen kamen kaum nach, alle Bewerber auf ihre Tauglichkeit zu prüfen.

Dar Weter erreichte die Fundamente der Sonnenmaschinen, die in einem Fächer rund um die Riesenbüchse mit dem Gerät für künstliche Gravitation lagen, und schloss seine Rückenbatterie an die Eingangsklemme des Prüfstromkreises an. In seinem Helmsprechgerät erklang eine einfache Melodie. Daraufhin schloss er parallel eine Glaslamelle an, auf der ein Schema in feinen Goldlinien aufgetragen war. Wieder ertönte dieselbe Melodie. Er drehte an zwei Reglern und brachte damit die Zeitpunkte in Übereinstimmung. Er überzeugte sich davon, dass weder in der Melodie noch in der Toneinstellung Differenzen vorhanden waren. Somit war ein wichtiger Teil der künftigen Maschinen tadellos montiert. Nun konnte die Anlage der Radiations-Elektromotoren instand gesetzt werden. Dar Weter streckte seine vom langen Tragen des Raumanzuges müden Schultern und bewegte den Kopf hin und her. Die Bewegung ließ die Halswirbel knirschen, die von der starren Haltung im Helm steif geworden waren. Glücklicherweise hatte Dar Weter sich als widerstandsfähig gegenüber Psychosen erwiesen, die unter den außerhalb der Erdatmosphäre arbeitenden Menschen weit verbreitet waren — die ultraviolette Schlafkrankheit und die infrarote Tobsucht —, ansonsten hätte er seine ehrenvolle Mission nicht zu Ende führen können.

Bald würde die erste Verkleidung montiert werden, die die Arbeiter endlich vor dem deprimierenden Gefühl der Einsamkeit im offenen Kosmos bewahren würde, jenem Gefühl von grenzenlosem Alleinsein über einem Abgrund, der weder Himmel noch Boden kannte!

Von der Altai löste sich eine kleine Rettungsrakete, die wie ein Pfeil an der Baustelle vorbeischoss. Es war dies eine Bugsierrakete, die zu den automatischen Transportraketen geschickt wurde, die auf einer genau bestimmten Höhe haltgemacht hatten. Sie kam gerade zur rechten Zeit! Das im Raum schwebende Häufchen aus Raketen, Menschen, Maschinen und Material tauchte in die Nachtseite der Erde ein. Die Bugsierrakete kam mit drei langen, blau glänzenden, fischförmigen Geschossen im Schlepptau zurück. Jede einzelne dieser Raketen wog auf der Erde, den Brennstoff nicht mitgerechnet, hundertfünfzig Tonnen.

Die Raketen wurden neben ihresgleichen rund um die Montageplattform abgestellt. Dar Weter gelangte mit einem Sprung auf die andere Seite des Gerüsts, wo sich eine Gruppe von Technikern versammelt hatte, um die Entladung zu überwachen. Die Männer diskutierten gerade über den nächtlichen Einsatzplan. Dar Weter stimmte der Einteilung zu, bestand aber darauf, dass jeder Arbeiter seine Batterien durch neue ersetzen müsse, die eine Beheizung der Raumanzüge sowie die Versorgung der Lampen, Luftfilter und Sprechfunkgeräte mit Strom über dreißig Stunden ohne Unterbrechung garantierten.

Dann versank die gesamte Baustelle in nächtliches Dunkel, so, als falle sie auf den Meeresgrund; nur das warme, aschgraue Zodiakallicht, das von durch Gase in den oberen Schichten der Atmosphäre zerstreuten Sonnenstrahlen herrührte, beleuchtete noch lange das bei hundertachtzig Grad Kälte erstarrte Skelett des künftigen Satelliten. Nachts wirkte sich die Supraleitfähigkeit noch störender aus als tagsüber. Die geringste Abnützung der Isolation von Geräten, Batterien oder Akkumulatoren hüllte die benachbarten Gegenstände in das blaue Leuchten des direkt auf der Oberfläche entlangfließenden Stroms, der nicht in die gewünschte Richtung gelenkt werden konnte.

Gleichzeitig mit der tiefen Finsternis des Kosmos setzte stärkerer Frost ein. Die Sterne leuchteten wie strahlend helle blaue Nadeln. Das unsichtbare und unhörbare Flirren der Meteoriten schien nachts besonders unheimlich. An der Oberfläche der dunklen Erdkugel, unten in den Strömungen der Atmosphäre, leuchteten verschiedenfarbige Wolken elektrischen Lichts auf, Funkenentladungen von gigantischer Länge oder Streifen zerstreuten Lichtes von einer Länge von Tausenden von Kilometern. Dort unten, in den obersten Schichten der Lufthülle, tobten Orkane, stärker als jeder Sturm auf der Erde. Lebhafte Energiebewegungen wiederholten sich in der von den Strahlen der Sonne und des Kosmos gesättigten Atmosphäre und erschwerten die Verbindung zwischen der Baustelle und dem heimatlichen Planeten.

Plötzlich war in der von Finsternis und ungeheurer Kälte umgebenen kleinen Welt eine Veränderung eingetreten. Dar Weter begriff nicht sofort, dass sich die Scheinwerfer des Planetenschiffs eingeschaltet hatten. Die Dunkelheit wurde noch schwärzer, die strahlend hellen Sterne verloren ihren Glanz, die Plattform und das Gerüst hingegen hoben sich in dem grellen weißen Licht stark ab. Einige Minuten später verringerte die Altai die Spannung. Das Licht wurde gelb und weniger intensiv. Das Planetenschiff sparte mit dem Strom seiner Akkumulatoren. Wie am Tage begannen sich die Quadrate und Ellipsen der Verkleidungsbleche, die Gitter der Verstrebungen, die Zylinder und Rohre der Reservoirs zu bewegen und fanden allmählich ihren Platz auf dem Skelett des Satelliten.

Dar Weter tastete nach einem Querbalken, bekam die rollengelagerten Griffe auf dem Tragseil zu fassen und schwang sich mit einem Ruck nach oben. Kurz vor der Luke des Planetenschiffs drückte er auf die im Griff eingebaute Bremse und blieb noch gerade rechtzeitig stehen, um nicht gegen die geschlossene Tür anzurennen.

In der Luftschleuse wurde nicht der normale, irdische Druck aufrechterhalten, um den Luftverlust bei dem ständigen Ein- und Ausgehen der vielen Menschen zu verringern. Deshalb ging Dar Weter, ohne den Raumanzug abzustreifen, in die zweite, provisorisch eingerichtete Hilfsschleuse und legte dort Helm und Batterien ab.

Um den vom Tragen des Raumanzugs müden Körper etwas zu entspannen, trat Dar Weter fest auf dem Innendeck des Schiffes auf, wobei er die Rückkehr zur Hälfte der normalen Schwerkraft genoss. Das künstliche Gravitationsgerät des Planetenschiffes arbeitete ohne Unterbrechung. Wie ungemein wohltuend war es, sich wieder wie ein Mensch mit festem Boden unter den Füßen zu fühlen und nicht wie eine leichte Fliege in der schwankenden und unsicheren Leere herumzutorkeln! Das warme Licht und die angenehm temperierte Luft, der bequeme Sessel verlockten dazu, sich auszustrecken und zu entspannen. Dar Weter erfuhr am eigenen Leib einen Genuss, wie ihn seine Vorfahren gekannt hatten und von dem er bisher nur staunend in alten Romanen gelesen hatte. Nach einer langen Wanderung durch kalte Wüsten, feuchte Wälder oder vereiste Berge traten die Menschen in ihr warmes Heim, ihr Haus, ihre Erdhütte oder ihre Jurte. Und damals wie heute trennten den Menschen dünne Wände von der riesigen, gefährlichen und feindseligen Außenwelt, Wände, hinter denen er Wärme und Licht fand, sich ausruhen, frische Kräfte sammeln und Pläne schmieden konnte.

Dar Weter widerstand der Verlockung durch Sessel und Buch. Er musste eine Verbindung mit der Erde herstellen — die nächtliche Beleuchtung der Baustelle hätte bei den Beobachtern im Observatorium, die den Bau verfolgten, Alarm auslösen können. Außerdem musste er ihnen mitteilen, dass der Austausch der Bauhelfer vorzeitig stattfinden müsste.

Heute klappte die Verbindung ausgezeichnet — Dar Weter sprach nicht in verschlüsselten Signalen mit Grom Orm, sondern über das Televideofon, das wie in allen interplanetarischen Schiffen sehr leistungsfähig war. Der ehemalige Vorsitzende war zufrieden mit den Neuigkeiten und machte sich unmittelbar nach dem Gespräch mit Dar Weter an die Zusammenstellung der neuen Besatzung und die Bereitstellung zusätzlicher Bauteile.

Als Dar Weter die Steuerzentrale der Altai verließ, durchquerte er die Bibliothek, die in einen Schlafsaal mit Stockbetten entlang den Wänden umgebaut worden war. Auch Kajüten, Kantinen, die Küche, die seitlichen Korridore und der vordere Triebwerksraum waren mit zusätzlichen Betten versehen worden. Das in eine stationäre Basis verwandelte Planetenschiff war überfüllt. Mit leicht schlurfendem Schritt folgte Dar Weter den mit braunen und angenehm warmen Plastikfliesen ausgelegten Korridor und schlug nachlässig die hermetischen Türen auf und zu.

Er dachte an die Sternflieger, die Jahrzehnte in solchen Schiffen verbrachten, ohne die geringste Hoffnung, sie vor Ablauf der mörderisch langen Frist verlassen und die Außenwelt wiedersehen zu können. Er lebte nun den sechsten Monat hier und verließ täglich die engen Räume, um in der bedrückenden Weite der interplanetaren Leere zu arbeiten. Und schon sehnte er sich nach seiner lieben Erde, ihren Steppen, Meeren und den vor Leben überquellenden Zentren des Wohngürtels. Erg Noor, Nisa und weitere zwanzig Besatzungsmitglieder der Lebed würden jedoch zweiundneunzig abhängige Jahre oder hundertvierzig irdische Jahre, wenn man die Rückkehr auf den heimatlichen Planeten mitrechnete, in einem Sternenschiff verbringen müssen. Keiner von ihnen würde so lange leben! Ihre Leichname würden dort, in der unermesslichen Ferne, auf den Planeten des grünen Zirkoniumsterns verbrannt und beerdigt werden…

Oder vielleicht würde ihr Leben auch schon während des Fluges zu Ende gehen; in diesem Fall würden sie in ein Raketengrab verladen und in den Kosmos hinausgeschossen… So waren einst die Totenschiffe seiner fernen Vorfahren mit toten Kriegern an Bord aufs Meer hinausgefahren. Aber Helden wie Erg und Nisa, die eine lebenslängliche Kerkerhaft in einem Schiff auf sich nahmen und ohne jede Hoffnung auf Rückkehr auszogen, hatte es in der Menschheitsgeschichte noch nie gegeben. Nein, er hatte wohl nicht ganz recht. Weda würde ihn dafür rügen! Wie konnte er die namenlosen Kämpfer für Gerechtigkeit und Freiheit des Menschen in alten Zeiten vergessen, die noch weit Schlimmeres auf sich genommen hatten — lebenslängliche Haft in feuchten Verliesen und qualvolle Folterungen. Ja, diese Helden waren noch stärker und würdiger gewesen als seine Zeitgenossen, die sich auf den großartigsten Flug in den Kosmos, auf die Erforschung ferner Welten vorbereiteten!

Und er, Dar Weter, der seinen heimatlichen Planeten noch kein einziges Mal für längere Zeit verlassen hatte, war im Vergleich zu ihnen nur ein Zwerg und keineswegs ein Engel des Himmels, wie ihn seine unendlich liebe Weda Kong spöttisch zu nennen pflegte!

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