6. Die Legende der blauen Sonnen

Die Ärztin Luma Laswi und der Biologe Eon Tal kamen aus dem Schiffslazarett. Erg Noor stürzte auf sie zu.

„Was ist mit Nisa?“

„Sie lebt, aber…“

„Liegt im Sterben?“

„Vorläufig nicht. Sie leidet an einer sehr starken Lähmung. Sämtliche Rückenmarknervenstämme, der Parasympathikus, die Assoziations- und Gefühlszentren sind davon erfasst. Die Atmung ist außerordentlich langsam, aber stetig. Das Herz arbeitet — ein Schlag pro hundert Sekunden. Das ist nicht der Tod, sondern ein völliger Kollaps, der unbestimmte Zeit andauern kann.“

„Bewusstsein und starke Schmerzempfindung ausgeschaltet?“

„Ausgeschaltet.“

„Vollkommen?“ Der Blick des Kommandanten war streng und scharf, aber die Ärztin ließ sich nicht verwirren.

„Vollkommen!“

Erg Noor sah den Biologen fragend an. Dieser nickte bestätigend.

„Was gedenken Sie zu tun?“

„Sie bei gleichbleibender Temperatur, absoluter Ruhe und schwacher Beleuchtung beobachten. Wenn der Kollaps nicht weiter fortschreitet, dann — was macht es? — lassen wir sie bis zur Erde schlafen… Dort kommt sie dann ins Institut für Nervenströme. Die Verletzung stammt von einer Art Strom. Der Raumanzug war an drei Stellen aufgerissen. Gut, dass sie kaum geatmet hat!“

„Ich habe die Öffnungen bemerkt und sie mit meinem Pflaster zugeklebt“, sagte der Biologe.

Erg Noor fasste ihn in stummer Dankbarkeit über dem Ellbogen am Arm.

„Nur sollten wir von der erhöhten Schwerkraft so rasch wie möglich wegkommen…“, begann Luma. „Aber dabei wird nicht so sehr die Beschleunigung beim Start als vielmehr die Rückkehr zur normalen Schwerkraft gefährlich sein.“

„Ich verstehe: Sie haben Angst, der Puls könnte sich noch mehr verlangsamen. Aber er ist doch kein Pendel, das seine Schwingungen in einem verstärkten Gravitationsfeld beschleunigt?“

„Die Impulse des Organismus haben im Allgemeinen einen gleichbleibenden Rhythmus. Verlangsamt sich der Herzschlag um das Doppelte, das heißt, ein Schlag pro zweihundert Sekunden, dann wird das Gehirn nicht mehr ausreichend durchblutet, und…“

Erg Noor war so tief in Gedanken versunken, dass er die Umstehenden vergaß. Endlich kam er wieder zu sich und seufzte tief.

Seine Mitarbeiter warteten geduldig.

„Gäbe es die Möglichkeit, den Organismus einem erhöhten Druck in einer mit Sauerstoff angereicherten Atmosphäre auszusetzen?“, fragte der Kommandant vorsichtig und erkannte bereits am zufriedenen Lächeln von Eon und der Ärztin, dass sein Gedanke richtig war.

„Das Blut mit Sauerstoff bei erhöhtem Partialdruck sättigen — eine ausgezeichnete Idee. Natürlich werden wir alles tun, um einer Thrombose vorzubeugen, und dann macht ein Herzschlag pro zweihundert Sekunden nichts aus. Er wird sich später normalisieren…“

Eons weiße Zähne kamen unter dem schwarzen Schnurrbart zum Vorschein, und sein strenges Gesicht wirkte auf einmal jugendlich und ausgelassen fröhlich.

„Der Organismus bleibt zwar bewusstlos, aber am Leben“, sagte Luma erleichtert. „Lassen Sie uns die Druckkammer vorbereiten. Ich möchte die große Silikollhaube verwenden, die wir für die Sirda mitgenommen haben. Darin hat der Schwebesitz Platz, den wir für die Zeit des Abfluges in ein Bett verwandeln. Nach Aufhebung der Beschleunigung werden wir dann ein richtiges Bett für Nisa zurechtmachen.“

„Teilen Sie der Steuerzentrale mit, sobald Sie mit Ihren Vorbereitungen fertig sind. Wir wollen uns hier keine Minute länger als nötig aufhalten. Ich denke, wir alle haben genug von der Finsternis und der Schwere dieser schwarzen Welt…!“

Jeder von ihnen lief in eine der Schiffskabinen, wobei sie, so gut sie konnten, gegen die Last des schweren Planeten ankämpften.

Die Abflugsignale hallten wie eine Siegesmelodie durch das Schiff.

Mit einem noch nie empfundenen Gefühl absoluter und grenzenloser Erleichterung ließen sich die Besatzungsmitglieder in die Umarmung der weichen Landesessel fallen. Aber das Abheben von einem schweren Planeten war eine langwierige und gefährliche Angelegenheit. Die nötige Beschleunigung, um das Schiff der immensen Anziehungskraft des Planeten zu entreißen, lag für den menschlichen Organismus an der Grenze des Ertragbaren, und ein Fehler des Piloten konnte für alle den Tod bedeuten.

Unter dem ohrenbetäubenden Heulen der planetarischen Triebwerke steuerte Erg Noor das Sternenschiff auf einer Tangente dem Horizont zu. Die Gabeln, an denen die hydraulischen Sitze aufgehängt waren, gaben unter dem zunehmenden Druck immer mehr nach. Bald würden sie bis zum Anschlag hinuntergedrückt sein, und dann würden die zerbrechlichen menschlichen Knochen unter dem Druck der Beschleunigung wie auf einem Ambos zersplittern. Die Hände des Kommandanten, die auf den Knöpfen der Steueranlage lagen, wurden so schwer, dass er sie nicht mehr heben konnte. Aber die kräftigen Finger arbeiteten noch, und die Tantra flog langsam in einem gigantischen flachen Bogen immer höher aus der dichten Finsternis heraus in das durchsichtige Schwarz der Unendlichkeit. Erg Noor wandte seinen Blick nicht von dem roten Streifen des Horizontalausgleichers ab — er schwankte in labilem Gleichgewicht und zeigte an, dass das Schiff jederzeit, statt aufzusteigen, wieder in den Bogen hinabfallen konnte. Der schwere Planet wollte die Tantra noch nicht aus seinen Fängen entlassen. Erg Noor beschloss, die Anamesonmotoren einzuschalten, die imstande waren, das Sternenschiff von jedem Planeten loszureißen. Ihr klirrendes Vibrieren ließ das Schiff erzittern. Der rote Streifen stieg um zehn Millimeter über den Nullstrich. Noch ein klein wenig…

Durch das Periskop im oberen Sichtfeld sah der Kommandant, wie sich die Tantra mit einer dünnen Schicht bläulicher Flammen bedeckte, die zum Heck hin langsam abflossen. Die Atmosphäre war durchstoßen! In der Leere des Raumes strömten die restlichen elektrischen Ströme nach dem Gesetz der Supraleitfähigkeit direkt am Schiffsrumpf entlang.

Die Sterne liefen wieder zu Nadeln zusammen, und die Tantra flog, nachdem sie sich befreit hatte, immer weiter von dem schrecklichen Planeten fort. Von Sekunde zu Sekunde nahm die Last der Schwerkraft ab. Die Körper wurden immer leichter und leichter. Das künstliche Gravitationsgerät begann zu summen, und die normale irdische Gravitation schien nach den endlosen Tagen unter dem Druck des schweren Planeten unbeschreiblich gering. Die Besatzungsmitglieder sprangen aus ihren Sesseln. Ingrid, Luma und Eon führten die schwierigsten Passagen eines fantastischen Tanzes vor. Bald setzte jedoch die unausbleibliche Reaktion ein, und der Großteil der Besatzung fiel in einen kurzen Schlaf, in dem sie vorübergehende Entspannung fanden. Nur Erg Noor, Pel Lin, Pur Hiss und Luma Laswi blieben wach. Der vorläufige Kurs des Sternenschiffes musste berechnet werden, damit man in einem gigantischen, zur Rotationsebene des gesamten Systems des T-Sterns verlaufenden Bogen den Eis- und Meteoritengürtel des Systems umfliegen konnte. Erst danach würden sie das Schiff wieder auf seine normale Unterlichtgeschwindigkeit bringen und den endgültigen Kurs ausarbeiten können, was eine langwierige Aufgabe werden würde.

Die Ärztin machte sich daran, Nisas Zustand zu überprüfen. Bald konnte sie alle mit der Nachricht beruhigen, dass die junge Frau die Rückkehr zur normalen Schwerkraft gut vertragen hatte und die Pausen zwischen den Pulsschlägen hundertzehn Sekunden betrugen. Bei einer Erhöhung der Sauerstoffzufuhr würde das keineswegs den Tod bedeuten. Als Therapiemaßnahme schlug Luma Laswi vor, das Thyratron, einen elektronischen Herzimpulsgeber, und Neurosekretionsstimulanzien anzuwenden.

Fünfundfünfzig Stunden lang winselten die Wände des Schiffes unter den Vibrationen der Anamesonmotoren, bis der Fahrtmesser endlich eine Geschwindigkeit von neunhundertsiebzig Millionen Kilometern in der Stunde anzeigte, was nahe an der Gefahrengrenze lag. Die Entfernung vom Eisenstern vergrößerte sich innerhalb von vierundzwanzig Erdenstunden um mehr als zwanzig Millionen Kilometer. Die Erleichterung, die alle dreizehn Reisenden nach den schweren Prüfungen — dem vernichteten Planeten, der verschollenen Algrab und schließlich der schrecklichen schwarzen Sonne — empfanden, war unbeschreiblich. Aber ihre Freude war nicht vollkommen, denn Nisa Krit, das vierzehnte Besatzungsmitglied, lag noch immer regungslos in einem abgeteilten Bereich der Krankenkabine und schwebte zwischen Schlaf und Tod…

Alle fünf Frauen auf dem Schiff — Ingrid, Luma, die Elektroingenieurin, die Geologin und die Lehrerin für rhythmische Gymnastik Ione Mar, die gleichzeitig auch für die Verteilung der Nahrungsmittel, den Funk und die Sammlung wissenschaftlichen Materials verantwortlich war, hatten sich wie zu einer antiken Bestattungszeremonie eingefunden. Sie hatten Nisas Körper zur Gänze entblößt, ihn mit den Speziallösungen TM und AS eingerieben und sie auf einen aus den weichsten Mittelmeerschwämmen handgewebten dicken Teppich gebettet. Der Teppich wiederum lag auf einer Luftmatratze unter einer Kuppel aus rosafarbenem Silikoll. Ein Präzisionsgerät, ein sogenannter Thermobarooxistat, konnte die erforderliche Temperatur, den Druck und die Luftzufuhr unter der dicken Haube jahrelang konstant halten. Weiche, gummigepolsterte Vorsprünge hielten Nisa in einer bestimmten Lage, die Luma Laswi einmal im Monat zu ändern beabsichtigte. Sie machte sich vor allem über abgestorbene oder wundgelegene Stellen Sorgen, die bei der absoluten Bewegungslosigkeit entstehen konnten. Deshalb beschloss Luma, Nisas Körper ständig beaufsichtigen zu lassen und verzichtete selbst in den ersten ein bis zwei Jahren des bevorstehenden Fluges auf einen längeren Schlaf. Nisas kataleptischer Zustand hielt an. Das Einzige, was Luma Laswi erreichen konnte, war eine Beschleunigung des Pulses auf einen Schlag pro sechzig Sekunden. So klein dieser Erfolg auch war, so ermöglichte er es doch immerhin, die für die Lungen auf Dauer schädliche Sauerstoffsättigung abzusetzen.

Vier Monate waren vergangen. Das Sternenschiff flog nun auf seinem endgültigen, exakt berechneten Kurs, der um das Gebiet der Meteoritenschwärme herumführte. Die Besatzung, schwer erschöpft von den erlebten Abenteuern und den kraftzehrenden Arbeiten auf dem Eisenstern, ließ sich in einen sieben Monate dauernden Schlaf versenken. Dieses Mal blieben nicht drei, sondern vier Personen wach — die Ärztin Luma Laswi und der Biologe Eon Tal hatten sich zu den beiden Diensthabenden Erg Noor und Pur Hiss gesellt.

Der Expeditionsleiter, der die schwierigste Lage gemeistert hatte, in die ein Sternenschiff der Erde je geraten war, fühlte sich einsam. Die ersten vier Jahre des Fluges zur Erde kamen ihm endlos vor. Er wollte sich keiner Selbsttäuschung hingeben: Er wusste, sie kamen ihm deshalb wie eine Ewigkeit vor, weil er nur auf der Erde eine Rettung seiner Nisa erhoffen konnte.

Lange schob er hinaus, was er unter anderen Umständen schon am Tag nach dem Abflug in Angriff genommen hätte — die Durchsicht der Stereofilme von der Parus. Erg Noor wollte die ersten Botschaften jener wunderbaren Welten, der Planeten des blauen Sterns am nördlichen Himmel der Erde, gemeinsam mit Nisa ansehen und anhören. Gemeinsam mit ihm hätte das Mädchen erleben sollen, wie die kühnsten romantischen Träume der Vergangenheit und Gegenwart — die Entdeckung neuer Sternenwelten, der künftigen Inseln der Menschheit, wahr wurden…

Obwohl die Filme vor achtzig Jahren in einer Entfernung von acht Parsec von der Sonne aufgenommen worden waren und im offenen Schiff auf dem schwarzen Planeten des T-Sterns gelegen hatten, waren sie in ausgezeichnetem Zustand. Der halbrunde Stereobildschirm trug die vier Besatzungsmitglieder der Tantra dorthin, wo hoch über ihnen die blaue Wega leuchtete.

Kurze Szenen wechselten einander ab — bald tauchte das blendend blaue Gestirn auf, bald sah man minutenlange zwanglose Aufnahmen vom Leben an Bord des Schiffes. Am Computer arbeitete der achtundzwanzigjährige Expeditionsleiter, der für den Posten erstaunlich jung war, während noch jüngere Astronomen Beobachtungen durchführten. Sie sahen, wie die Besatzungsmitglieder den obligatorischen Sport- und Tanzübungen nachgingen, worin sie es zu fast akrobatischer Vollkommenheit gebracht hatten. Eine leicht ironische Stimme erklärte, dass die Biologin auf dem gesamten Flug zur Wega den Sieg bei allen Wettkämpfen davongetragen habe. Und wirklich, dieses Mädchen mit dem kurzen flachsblonden Haar vollführte mit ihrem großartig trainierten Körper die schwierigsten Übungen und unglaublichsten Verrenkungen.

Beim Anblick der farbechten, leuchtenden und real wirkenden Bilder vergaß man beinahe, dass diese fröhlichen, energischen jungen Sternflieger schon vor langer Zeit von den abscheulichen Ungeheuern des Eisensterns verschlungen worden waren.

Die knappe Chronik des Expeditionslebens war rasch vorübergezogen. Die Lichtverstärker des Projektionsapparates begannen zu summen — das violett-blaue Gestirn strahlte so hell, dass selbst seine blasse Wiedergabe durch das Gerät die Zuschauer zwang, Schutzbrillen aufzusetzen. Der Stern, im Durchmesser und in der Masse fast dreimal so groß wie die Sonne, war eine kolossale, abgeplattete Kugel, die mit einer Äquatorialgeschwindigkeit von dreihundert Kilometern in der Sekunde wie wild rotierte. Eine unbeschreiblich helle Gaskugel mit einer Oberflächentemperatur von elftausend Grad und einer Korona von perlrosa Flammen, die sich in einem Umkreis von Millionen Kilometern erstreckten. Es schien, als zermalmten und erdrückten die Strahlen der Wega alles, was sich auf ihrem Weg befand, wenn sie wie mächtige, Millionen Kilometer lange Speere in den Raum hinausschossen. In der Tiefe ihres Strahlenscheins verbarg sich der Planet, der sich am nächsten zum blauen Stern befand. Aber dorthin, in dieses Meer der Flammen, vermochte kein Schiff der Erde oder ihrer Nachbarn im Großen Ring vorzudringen. Die visuelle Projektion wurde von einem gesprochenen Bericht über die durchgeführten Beobachtungen abgelöst, und auf dem Bildschirm tauchten fast gespenstisch anmutende Linien stereometrischer Zeichnungen auf, die die Stellung des ersten und zweiten Planeten der Wega zeigten. Die Parus hatte sich auch dem zweiten Planeten, der hundert Millionen Kilometer vom Stern entfernt war, nicht einmal nähern können.

Gewaltige Protuberanzen schossen aus der Tiefe des violetten Flammenmeeres, der Sternatmosphäre, hervor und reckten ihre alles verbrennenden Arme in den Raum. Die Energie der Wega war so groß, dass der Stern Strahlen der stärksten Quanten — Licht des violetten und unsichtbaren Teils des Spektrums — aussandte. Selbst in den durch einen dreifachen Filter geschützten Augen erweckte der Stern das unheimliche Gefühl von etwas Gespenstischem, eines fast unsichtbaren, aber lebensgefährlichen Phantoms… Wahre Stürme von Licht, die die Anziehungskraft des Sterns überwunden hatten, rasten vorüber. Ihr ferner Nachhall versetzte der Parus gefährliche Stöße und brachte sie ins Schwanken. Die Zähler für kosmische Strahlen und andere harte Strahlungen fielen aus. Im Innern des zuverlässig abgeschirmten Schiffes wuchs die Ionisierung auf ein gefährliches Maß an. Man konnte nur Vermutungen anstellen über das Toben der Strahlungsenergie, die sich außerhalb der Schiffswände in einem gewaltigen Strom in den Raum entlud sowie über die Quintillionen von Kilowatt nutzlos vergeudeter Energie.

Der Kommandant der Parus steuerte das Sternenschiff vorsichtig auf den dritten Planeten zu, einen großen, aber nur von einer dünnen, durchsichtigen Atmosphäre umgebenen Planeten. Offensichtlich hatte der Feuerodem des blauen Sterns die Schicht leichter Gase auf die Schattenseite des Planeten geblasen, wo sie sich als langer, schwach leuchtender Schwanz hinter dem Planeten dahinwand. Vernichtende Fluordämpfe, giftiges Kohlenmonoxid und die tödliche Dichte der Edelgase — in dieser Atmosphäre hätte nichts Irdisches auch nur für eine Sekunde überleben können.

Aus dem Innern des Planeten ragten scharfe Spitzen, Grate und gezackte Steilwände von Steinmassen empor, die bald das Rot frischer Wunden, bald das Schwarz eines tiefen Abgrundes annahmen. Auf von wilden Stürmen umtobten Lavaplateaus waren Risse und Schluchten zu sehen, die glühendes Magma und Adern blutroter Flammen ausspien.

Dichte Aschewolken stiegen in die Höhe, die auf der beleuchteten Seite strahlend blau, auf der Schattenseite undurchdringlich schwarz waren. Riesenhafte Blitze von einer Höhe von Tausenden von Kilometern zuckten nach allen Richtungen und zeugten von der elektrischen Sättigung der toten Atmosphäre.

Das furchterregende violette Gespenst der riesigen Sonne, der schwarze von der perlfarben glitzernden Korona halb verdeckte Himmel, und unten auf dem Planeten die blutroten kontrastreichen Schatten auf einem wilden Durcheinander von Felsen, glühenden Furchen, Windungen und Kreise, das ständige Funkeln grüner Blitze…

All das war von den Stereoteleskopen eingefangen und auf Filmen gebannt worden und entfaltete sich auf dem Bildschirm vor den Forschern mit leidenschaftsloser, übermenschlicher Präzision.

Aber hinter der Technik standen die lebendigen Gefühle der Reisenden — der Protest der Vernunft gegen diese Kräfte sinnloser Zerstörung und die Anhäufung träger Materie, die Erkenntnis der Feindseligkeit dieser Welt von tobendem, kosmischem Feuer. Die vier Besatzungsmitglieder der Tantra waren wie hypnotisiert von dem Schauspiel und wechselten zustimmende Blicke, als eine Stimme verlautbarte, die Parus steuere nun den vierten Planeten an.

Wenige Sekunden später tauchte unter den Kielteleskopen des Schiffes der letzte, äußere Planet der Wega auf, der ungefähr die Ausmaße der Erde hatte. Die Parus fiel plötzlich steil ab. Offensichtlich hatten die Reisenden beschlossen, unter allen Umständen den letzten Planeten zu erforschen, denn er war ihre letzte Hoffnung, eine wenn schon nicht wunderschöne, so doch wenigstens für das Leben geeignete Welt zu entdecken.

Erg Noor ertappte sich dabei, wie seine Gedanken um diese letzte Hoffnung kreisten. Wahrscheinlich hatten die Sternflieger der Parus genau dasselbe gedacht, während sie die Oberfläche des Planeten durch ihre starken Teleskope beobachteten.

Wenigstens für das Leben geeignet! In diesen Worten lag der Abschied von dem Traum von den wunderschönen Welten der Wega, von der Entdeckung einer Perle unter den Planeten in den Weiten des Universums, um dessentwillen Menschen freiwillig einer fünfundvierzig Jahre langen Gefangenschaft in einem Sternenschiff zugestimmt und für mehr als sechzig Jahre den heimatlichen Planeten verlassen hatten.

Aber zu dieser Erkenntnis kam Erg Noor noch nicht gleich, denn erneut ließ er sich von dem Schauspiel auf dem Bildschirm vor ihm hinreißen. Das Sternenschiff jagte über die Oberfläche des unermesslich fernen Planeten. Zum Leidwesen der Reisenden, derer, die umgekommen waren, und jener, die am Leben waren, stellte sich heraus, dass der Planet dem nächsten Nachbarn der Erde im Sonnensystem, dem Mars, ähnlich war. Dieselbe dünne durchsichtige Gashülle mit dem schwärzlich grünen, stets wolkenlosen Himmel, dieselbe ebene Fläche öder Kontinente mit zerfallenen Gebirgsketten. Der Unterschied bestand darin, dass auf dem Mars nachts beißende Kälte herrschte und die Tagestemperaturen einem jähen Wechsel unterlagen. Es gab dort gigantische Sümpfe, die wie seichte Lachen und beinahe vollkommen ausgetrocknet waren. Es regnete selten, gab nur selten Raureif, und Leben war nur in erstarrten Pflanzen und seltsamen trägen Erdwühlern zu finden.

Hier jedoch erwärmten die frohlockenden Flammen der blauen Sonne den Planeten so stark, dass er die Hitze der glühendsten Wüsten der Erde ausstrahlte. Wasserdämpfe stiegen in spärlichen Mengen in die obersten Schichten der Lufthülle auf, und die weiten Ebenen wurden lediglich von den Wirbeln der Hitzeströme überschattet, welche die Atmosphäre ununterbrochen in Turbulenz versetzten. Wie alle anderen Planeten der Wega rotierte auch dieser rasch. Die nächtliche Abkühlung ließ das Gestein in ein Meer aus Sand zerfallen. Orangefarbene, violette, grüne, bläuliche und blendend weiße Sandstreifen bedeckten große Teile des Planeten, die aus der Ferne wie Meere oder Dickichte fantastischer Pflanzen aussahen. Die zerfallenen Bergketten, höher als auf dem Mars, aber ebenso leblos, waren mit einer glänzenden schwarzen oder dunkelbraunen Kruste überzogen. Die blaue Sonne mit ihrer starken ultravioletten Strahlung hatte die Mineralien zerstört und die leichten Elemente verdunsten lassen.

Die hellen, sandigen Ebenen schienen Flammen zu sprühen. Erg Noor erinnerte sich, dass Schriftsteller und Künstler im Altertum, zu einer Zeit also, da anders als jetzt nur wenige Menschen Wissenschaftler gewesen waren, von Menschen anderer Planeten geträumt hatten. Sie hatten sie sich als Lebewesen ausgemalt, die sich an ein Leben unter erhöhter Temperatur gewöhnt hatten. Diese poetische und schöne Vorstellung hatte den Glauben an die Allmacht der menschlichen Natur gestärkt — Menschen auf feuersprühenden Planeten der blauen Sonnen, die ihre Erdenbrüder willkommen hießen…! Einen großen Eindruck auf viele, darunter auch auf Erg Noor, hatte ein Gemälde aus dem östlichen Zentrum des südlichen Wohngürtels ausgeübt: der verschwommene Horizont einer Ebene feuerroten Sandes, ein grau leuchtender Himmel und darunter gesichtslose menschliche Gestalten in Hitzeschutzanzügen, die unglaublich scharf umrissene schwarzblaue Schatten warfen. Sie waren in sehr dynamischen und Verwunderung ausdrückenden Posen vor einer Metallkonstruktion erstarrt, die fast bis zur Weißglut erhitzt war. Daneben stand eine entblößte Frau mit aufgelösten roten Haaren. Ihre helle Haut strahlte in dem gleißenden Licht noch stärker als der Sand, und lila- und himbeerfarbene Schatten betonten jede Linie ihrer hohen und wohlgeformten Gestalt, die wie ein Symbol für den Sieg des Lebens über die Kräfte des Kosmos dastand.

Ein kühner, aber vollkommen irrealer Traum, der allen Gesetzen der biologischen Entwicklung widersprach, die nun, in der Ära des Großen Rings, weit besser erforscht waren als zu der Zeit, da das Bild entstanden war.

Erg Noor zuckte zusammen, als ihm auf dem Bildschirm die Planetenoberfläche entgegenstürzte. Der unbekannte Pilot ließ die Parus tiefer gehen. Sandkegel, schwarze Felsen, Ablagerungen grün leuchtender Kristalle huschten ganz nahe an ihm vorüber. Das Sternenschiff zog planmäßig von Pol zu Pol seine Spiralen um den Planeten. Keine Anzeichen von Wasser oder wenigstens von primitivstem pflanzlichem Leben. Und immer wieder diese Hoffnung: Wenigstens für das Leben geeignet…!

Dann stellte sich ein banges Gefühl der Einsamkeit, der Verlorenheit des Sternenschiffes in den leblosen Weiten, in der Macht des blauen Flammensterns ein… Erg Noor konnte die Hoffnung derjenigen nachempfinden, die den Film aufgenommen und den Planeten wenigstens nach vergangenem Leben abgesucht hatten. Wie gut kannte doch jeder, der einmal zu öden, leblosen Planeten ohne Wasser und Atmosphäre geflogen war, dieses angespannte Suchen nach vermeintlichen Ruinen, Überresten von Städten und Bauten, die man in Spalten und in den Details lebloser Felsen, in den Steilwänden toter Gebirge zufällig zu finden hoffte.

Schnell jagte der verbrannte, von tobenden Wirbelstürmen aufgewühlte, jeglichen Schatten entbehrende Erdboden dieser fernen Welt über den Bildschirm. Erg Noor, der einen alten Traum in Brüche gehen sah, versuchte sich vorzustellen, wie es zu einer so falschen Vorstellung von den verbrannten Welten des blauen Sterns hatte kommen können.

„Unsere Erdenbrüder werden enttäuscht sein, wenn sie das erfahren“, sagte der Biologe leise und rückte näher an den Kommandanten heran. „Seit Tausenden von Jahren blicken Millionen von Erdenmenschen auf die Wega. In den Sommernächten des Nordens richten alle jungen, verliebten und träumenden Menschen ihren Blick zum Himmel. Im Sommer steht die Wega, in hellem Blau aufleuchtend, fast im Zenit — wie soll man da seinen Blick nicht an ihr weiden? Bereits vor einem Jahrtausend wussten die Menschen ziemlich viel über die Sterne. Aber aufgrund eines merkwürdigen Gedankenganges vermuteten sie nicht, dass sich in der Nähe eines fast jeden langsam rotierenden Sterns mit starkem Magnetfeld Planeten bildeten, genauso wie fast jeder Planet in unserem Sonnensystem Trabanten aufweist. Sie wussten nichts von diesem Gesetz, träumten aber von Brüdern auf anderen Welten, insbesondere auf der Wega, der blauen Sonne. Ich erinnere mich an Übersetzungen wunderschöner Gedichte aus einer der alten Sprachen über Halbgötter auf dem blauen Stern.“

„Ich träume von der Wega seit dem letzten Funkspruch der Parus“, sagte der Kommandant, zu Eon Tal gewandt. „Nun ist klar, dass der jahrtausendealte Traum von fernen und wunderbaren Welten mir und vielen klugen und ernsthaften Menschen den Blick vernebelt hat.“

„Wie verstehen Sie den Funkspruch der Parus jetzt?“

„Ganz einfach. ›Die vier Planeten der Wega sind völlig leblos. Es gibt nichts Schöneres als unsere Erde. Welch ein Glück, zurückkehren zu dürfen!‹“

„Sie haben recht!“, rief der Biologe. „Weshalb ist uns das nicht früher eingefallen?“

„Vielleicht ist es ja jemandem eingefallen, nur uns nicht, den Sternfliegern und wahrscheinlich auch dem Rat nicht. Aber trotzdem gereicht es uns am Ende zur Ehre, denn nur kühne Träume und nicht Skepsis aufgrund von Enttäuschungen tragen im Leben den Sieg davon!“

Auf dem Bildschirm ging der Flug um den Planeten zu Ende. Nun folgten Aufzeichnungen der automatischen Station, die zur Untersuchung der Verhältnisse an der Planetenoberfläche abgeworfen worden war. Dann war eine heftige Explosion zu hören — eine geologische Bombe wurde abgeworfen. Eine gigantische Wolke von Mineralteilchen stieg bis zum Sternenschiff empor. Pumpen, welche den Staub in die seitlichen Filter der Ansaugkanäle zogen, begannen aufzuheulen. Einige Proben von Mineralstaub aus dem Sand und den Bergen des verbrannten Planeten füllten die Reagenzgläser aus Silikoll, und Luft aus den obersten Schichten der Atmosphäre strömte in die Quarzballons. Die Parus begab sich auf ihren dreißig Jahre dauernden Heimflug, den zu vollenden ihr jedoch nicht beschieden war. Nun würde die Tantra der Menschheit all das überbringen, was mit so großer Anstrengung, Geduld und Wagemut von den umgekommenen Reisenden errungen worden war…

Die restlichen Aufzeichnungen — sechs Spulen mit verschiedensten Beobachtungen — würden von den besten Astronomen der Erde ausgewertet und das Wichtigste davon über den Großen Ring gesendet werden.

Keiner verspürte den Wunsch, sich die Filme über das weitere Schicksal der Parus — ihren harten Kampf bei der Reparatur des Schadens und gegen den T-Stern — anzusehen, keiner wollte die tragische letzte Tonspule anhören. Die eigenen Erlebnisse waren noch zu frisch in Erinnerung. Die Durchsicht wurde auf das nächste Erwachen der gesamten Besatzung verschoben. Die von den starken Eindrücken erschöpften Forscher zogen sich bis auf den Kommandanten in ihre Kabinen zurück, um zu schlafen.

Allein in der Steuerzentrale, dachte Erg Noor nicht mehr an seinen zerstörten Traum. Er versuchte den Wert dieser bitteren Informationssplitter zu ermessen, die diese zwei Expeditionen — seine und die der Parus — unter solchen Anstrengungen und Opfern der Erde überbringen würden. Oder waren die Errungenschaften nur aufgrund der herben Enttäuschung so bitter?

Erg Noor dachte zum ersten Mal an den wunderbaren Planeten Erde als einen unerschöpflichen Schatz kultivierter und wissbegieriger menschlicher Wesen, befreit von schweren Sorgen und von den Gefahren der Natur oder der primitiven Gesellschaft. Leid, Suche, Misserfolge, Fehler und Enttäuschungen — prägende Zustände der Menschheit in der Vergangenheit — hatten auch in der Ära des Großen Rings nicht aufgehört zu existieren, aber sie waren auf eine höhere Ebene verlagert worden, in den Bereich der kreativen Tätigkeit in der Wissenschaft, Kunst und Architektur. Wissenschaft und schöpferische Arbeit hatten die Erde von den Schrecken des Hungers, der Überbevölkerung, von infektiösen Krankheiten und schädlichen Tieren befreit, hatten die Erschöpfung der fossilen Brennstoffe, den Mangel an nützlichen chemischen Elementen und den vorzeitigen Tod und Gebrechlichkeit des Menschen verhindert. Und auch die Bruchstücke an Wissen, welche die Tantra nun mitbrachte, würden einen Beitrag zu jener mächtigen Lawine von Ideen leisten, die mit jedem Jahrzehnt einen Fortschritt beim Aufbau der Gesellschaft und bei der tieferen Erkenntnis der Natur ermöglichten!

Erg Noor öffnete den Safe mit dem Bordjournal der Tantra und nahm die Schachtel mit dem Splitter vom Tellerschiff des schwarzen Planeten heraus. Das schwere Stück himmelblauen Metalls lag flach auf seiner Hand. Erg Noor wusste, dass es auf seinem heimatlichen Planeten und dessen Nachbarn im Sonnensystem und auch auf den nahegelegenen Sternen kein solches Metall gab. Diese Stück barg eine weitere und neben der Nachricht von der ausgestorbenen Sirda wahrscheinlich die wichtigste Information, die sie der Erde und dem Ring überbringen würden…

Der Eisenstern war der Erde sehr nah, und ein Besuch des schwarzen Planeten durch eine speziell vorbereitete Expedition würde nach den Erfahrungen der Parus und der Tantra nicht mehr so gefährlich sein, ganz gleich, was für schwarze Kreuze und Medusen in seiner endlosen Finsternis auch verborgen sein mochten. Sie hatten das Tellerschiff an einer unglücklichen Stelle geöffnet. Hätten sie mehr Zeit gehabt, ihr Vorhaben zu durchdenken und zu planen, so hätten sie erkannt, dass das gigantische spiralenförmige Rohr ein Teil vom Antriebssystem des Sternenschiffs sein musste.

Von Neuem tauchten in der Erinnerung des Expeditionsleiters die Geschehnisse des letzten verhängnisvollen Tages auf, wieder sah er Nisa, wie sie sich schützend über ihn warf, nachdem er in der Nähe des Ungeheuers hilflos niedergestürzt war. Ihr jugendliches Empfinden, das die heroische Ergebenheit antiker irdischer Frauen und die aufgeschlossene besonnene Kühnheit der neuen Ära in sich vereinte, hatte nur kurze Zeit erblühen können…

Pur Hiss war lautlos hinter dem Kommandanten aufgetaucht, um ihn abzulösen. Erg Noor verließ die Steuerzentrale durch die benachbarte Kabine mit Bibliothek und Labor, begab sich jedoch nicht in die Schlafräume, sondern öffnete die schwere Tür der Krankenkabine.

Das diffuse Licht eines irdischen Tages schimmerte auf den Silikollschränken mit den Arzneien und Instrumenten, spiegelte sich auf dem Metall des Röntgenapparates, der Herz-Lungen-Maschine und des Beatmungsgerätes wider. Der Expeditionsleiter schob den schweren Vorhang zur Seite und trat in das Halbdunkel. Das matte, mondgleiche Licht nahm in dem rosafarbenen Kristall des Silikolls eine warme Tönung an. Die beiden Thyratronstimulatoren, die für den Fall eines plötzlichen Kollapses eingeschaltet waren, klickten kaum hörbar; sie garantierten das Schlagen des gelähmten Herzens. Die in dem rosafarben silbrigen Licht unter der Haube reglos daliegende Nisa schien in einen ruhigen, süßen Schlaf versunken zu sein. Viele Generationen gesunden, reinen und wohlgenährten Lebens hatten die geschmeidigen und kräftigen Linien des weiblichen Körpers — der herrlichsten Schöpfung des kraftvollen irdischen Lebens — zu höchster ästhetischer Vollendung gebracht. Die Menschen wussten längst, dass ihr Schicksal vom Wasserreichtum ihres Planeten bestimmt war. Das Wasser hatte das üppige pflanzliche Leben begünstigt, was wiederum riesige Vorräte an freiem Sauerstoff geschaffen hatte. Daraufhin hatte sich tierisches Leben in einer Sturzflut über die Erde ergossen und sich in Hunderten Millionen von Jahren immer mehr vervollkommnet, bis schließlich ein denkendes Wesen — der Mensch — entstand. Die gigantische historische Empirie von der Entwicklung des Lebens auf den Planeten zahlloser Welten hatte gezeigt: Je mühsamer und länger der blinde evolutionäre Weg der Auslese war, desto vollkommenere Formen entwickelten die höherdenkenden Wesen, desto größer war ihre Zweckmäßigkeit und Anpassungsfähigkeit an die Bedingungen der Umwelt und die Erfordernisse des Lebens, jene Zweckmäßigkeit, die man schließlich Schönheit nennt.

Alles Lebendige bewegt und entwickelt sich spiralförmig. Erg Noor stellte sich diese imposante Spirale des allgemeinen Aufstiegs, angewandt auf das Leben und die menschliche Gesellschaft, bildhaft vor. Zum ersten Mal erkannte er mit verblüffender Deutlichkeit, dass diese aufsteigende Spirale umso enger gewunden war und folglich der Evolutionsprozess umso genormter verlief und umso ähnlichere Formen schuf, je schwieriger die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Organismen als biologische Maschinen und je mühseliger der Entwicklungsweg der Gesellschaft waren.

Seine Jagd nach den wunderbaren Planeten der blauen Sonne war ein Irrtum gewesen, und auch Nisa hatte er etwas Falsches gelehrt. Der Sinn eines Fluges zu neuen Welten lag nicht in der Suche und Entdeckung irgendwelcher unbewohnter, durch Zufall entstandener Planeten, sondern musste ein wohldurchdachtes schrittweises Vorrücken der Menschheit über den gesamten Milchstraßenarm, ein Siegeszug des Wissens und der Schönheit des Lebens sein — so wie Nisa…

Von plötzlicher tiefer Schwermut überwältigt, sank Erg Noor vor Nisas Silikollsarkophag in die Knie. Das Mädchen atmete lautlos, ihre Wimpern warfen lilafarbene Schatten auf den unteren Rand der fest geschlossenen Lider, und das Weiß ihrer Zähne schimmerte durch die leicht geöffneten Lippen. An der linken Schulter, am Ellbogen und am Halsansatz waren blassblaue Flecke zu sehen — jene Stellen, an denen der unheilvolle Strom sie getroffen hatte.

„Träumst du etwas, erinnerst du dich im Schlaf an irgendetwas?“, fragte Erg Noor in einem Ausbruch größter Qual und tiefsten Kummers; er fühlte, wie sein eigener Wille zu Wachs zerschmolz, wie schwer ihm das Atmen fiel und wie es ihm die Kehle zuschnürte.

Der Expeditionsleiter presste seine ineinander verschränkten Hände zusammen, während er versuchte, Nisa seine Gedanken mitzuteilen, seinen leidenschaftlichen Wunsch, sie zu Leben und Glück erwacht zu sehen. Vor Anstrengung liefen seine Finger blau an. Das rotlockige Mädchen aber blieb regungslos liegen, wie eine perfekte Statue, erschaffen nach lebendigem Vorbild aus rosafarbenem Marmor.

Die Ärztin Luma Laswi betrat leise das Schiffslazarett und spürte schon auf der Türschwelle, dass noch jemand anwesend war. Als sie vorsichtig den Vorhang zur Seite schob, sah sie den knienden Kommandanten, starr wie ein Denkmal jener Millionen von Männern, die von ihren Geliebten Abschied nehmen mussten. Es war nicht das erste Mal, dass sie Erg Noor hier antraf, und ihr Herz zog sich vor Mitleid zusammen. Erg Noor erhob sich mit finsterem Blick. Luma ging rasch auf ihn zu und flüsterte ihm besorgt ins Ohr:

„Ich muss mit Ihnen sprechen.“

Erg Noor nickte, schob sich am Vorhang vorbei und trat mit zugekniffenen Augen in den vorderen Teil des Schiffslazaretts. Er setzte sich nicht auf den Sessel, den ihm Luma anbot, sondern blieb an ein pilzförmiges Bestrahlungsgerät gelehnt stehen. Luma Laswi baute sich in ihrer vollen, aber nicht eben überwältigenden Größe vor ihm auf, um für das bevorstehende Gespräch größer und imposanter zu erscheinen. Aber der bohrende Blick des Kommandanten ließ ihr keine Zeit, sich die Worte zurechtzulegen.

„Sie wissen, dass die moderne Neurologie den Entstehungsprozess von Emotionen in der bewussten und unbewussten Sphäre der Psyche erforscht hat“, begann sie unsicher. „Das Unterbewusstsein lässt sich durch hemmende Medikamente beeinflussen, und zwar über die älteren Sphären des Gehirns, welche die chemische Regulierung des Organismus, darunter auch die des Nervensystems und teilweise der höheren Nerventätigkeit, steuern.“

Erg Noor zog die Augenbrauen hoch. Luma Laswi fühlte, dass sie zu ausführlich und langatmig sprach.

„Ich wollte damit sagen, dass die Medizin über eine Möglichkeit verfügt, jene Gehirnzentren zu beeinflussen, welche starke Emotionen steuern. Ich könnte…“

Erg Noor schien zu verstehen und drückte es in einem flüchtigen Lächeln aus.

„Sie möchten auf meine Liebe einwirken“, fragte er rasch, „und mich so davor bewahren, dass ich leide?“

Die Ärztin nickte.

Erg Noor streckte ihr dankbar die Hand entgegen und nickte ablehnend.

„Ich gebe meinen Gefühlsreichtum nicht auf, ganz gleich, wie sehr ich auch darunter leide. Leid führt, wenn es nicht die Kräfte übersteigt, zum Verstehen, und Verstehen zu Liebe, und so schließt sich der Kreis. Sie meinen es gut, Luma, aber es ist nicht nötig!“

Der Kommandant verschwand wie üblich mit raschen Schritten durch die Tür.

Die Elektroingenieure und Mechaniker waren in größter Eile — wie es sonst nur während einer Havarie vorstellbar war — damit beschäftigt, in der Steuerzentrale und in der Bibliothek die Videofonbildschirme für Erdsendungen einzurichten. Das Sternenschiff befand sich endlich, nach dreizehn Jahren, in einer Zone, wo es die von der Atmosphäre zerstreuten Radiowellen des Weltnetzes der Erde empfangen konnte.

Die Stimmen, Töne, Formen und Farben des heimatlichen Planeten gaben den Reisenden neuen Mut, verursachten in ihnen aber gleichzeitig Ungeduld und machten die lange Dauer des kosmischen Fluges schier unerträglich.

Das Sternenschiff rief den künstlichen Satelliten 57 über die übliche Welle für kosmische Fernflüge und wartete stündlich auf eine Antwort dieser starken Sendestation, welche als einzige Verbindung zwischen der Erde und dem Kosmos diente.

Schließlich erreichten die Rufsignale des Sternenschiffes die Erde.

Die gesamte Besatzung war wach und blieb an den Empfangsgeräten sitzen. Es war wie eine Rückkehr zum Leben nach dreizehn irdischen oder neun abhängigen Jahren, in denen es keine Verbindung mit der Heimat gegeben hatte! Die Besatzung lauschte heißhungrig den Sendungen der Erde, nahm teil an der Erörterung neuer, wichtiger Fragen über das Weltnetz, die, wie üblich, von jedermann gestellt werden konnten.

So setzte ein durch Zufall aufgefangener Vorschlag des Bodenkundlers Cheb Ur unter den Besatzungsmitgliedern eine sechs Wochen währende Diskussion und komplizierte Berechnungen in Gang.

„Beraten Sie über den Vorschlag von Cheb Ur!“, donnerte die Stimme der Erde. „Jeder, der sich damit schon beschäftigt oder auf diesem Gebiet gearbeitet hat, alle, die ähnliche Gedanken oder Einwände haben, sollen ihre Meinung äußern!“ Die übliche Formel, die zu breiter Diskussion aufforderte, löste Freude unter den Reisenden aus. Cheb Ur hatte im Rat für Sternenschifffahrt den Vorschlag eingebracht, die erreichbaren Planeten der blauen und grünen Sterne systematisch zu erforschen. Seiner Meinung nach handelte es sich dabei um Welten mit gewaltiger energetischer Ausstrahlung, die solche mineralischen Zusammensetzungen, die unter irdischen Bedingungen träge sein mochten, chemisch zum Kampf mit der Entropie stimulieren, das heißt, zum Leben erwecken könnte. Bestimmte Lebensformen aus Mineralien, die schwerer als Gas waren, würden unter den hohen Temperaturen und der blindwütigen Strahlung von Sternen der höchsten Spektralklassen aktiv werden. Cheb Ur war der Überzeugung, dass der Misserfolg der Expedition zum Sirius, wo man keinerlei Spuren von Leben entdeckt hatte, zu erwarten gewesen sei, da es sich bei dem rasch rotierenden Stern um einen Doppelstern ohne starkes Magnetfeld handelte. Niemand bestritt die Ansicht von Cheb Ur, dass Doppelsterne nicht zu den Urhebern kosmischer Planetensysteme gezählt werden konnten, aber der Kern des Vorschlages stieß bei der Besatzung der Tantra auf heftigen Widerspruch.

Die Astronomen der Expedition, mit Erg Noor an der Spitze, verfassten einen Bericht und sendeten in ihrer Eigenschaft als jene Forscher, die als Erste die Wega auf dem von der Parus aufgenommenen Film gesehen hatten.

Die Menschen auf der Erde lauschten mit Begeisterung der Stimme von dem sich nähernden Sternenschiff.

„Die Tantra spricht sich gegen die Entsendung einer von Cheb Ur vorgeschlagenen Expedition aus. Die blauen Sterne strahlen tatsächlich eine so gewaltige Menge von Energie pro Oberflächeneinheit ihrer Planeten aus, dass Leben aus schweren Verbindungen denkbar wäre. Aber jeder lebendige Organismus ist ein Filter und ein Damm von Energie, der dem zweiten Gesetz der Thermodynamik oder Entropie dadurch entgegenwirkt, dass er Strukturen schafft und einfache Mineral- und Gasmoleküle weitgehend kompliziert. Solche komplizierten Strukturen können nur im Verlaufe eines langwierigen historischen Entwicklungsprozesses, also folglich nur bei einer lang anhaltenden Konstanz der physikalischen Bedingungen entstehen. Und eben diese konstanten Bedingungen gibt es auf heißen Sternen nicht, da dort jede komplizierte Verbindung in Ausbrüchen und Wirbeln stärkster Strahlung rasch zerstört wird. Dort gibt es nichts, was lange besteht oder bestehen könnte, ungeachtet dessen, dass die Mineralien dort eine sehr stabile Kristallstruktur mit einem kubischen Atomgitter bilden.

Nach Meinung der Tantra wiederholt Cheb Ur lediglich die einseitigen Überlegungen der alten Astronomen, welche die Dynamik der Planetenbildung nicht kannten. Jeder Planet verliert seine leichten Stoffe, die in den Raum hinausgetragen und zerstreut werden. Besonders hoch ist der Verlust an leichten Elementen bei der starken Erhitzung und dem starken Strahlungsdruck von blauen Sonnen.“

Die Tantra zählte eine Reihe von Beispielen auf und schloss mit der Behauptung, der Prozess der Gewichtszunahme der Planeten der blauen Sterne lasse keine Entstehung von Lebensformen zu.

Der Satellit 57 leitete die Einwände der Wissenschaftler des Sternenschiffs direkt an das Observatorium des Rates weiter.

Schließlich war der Augenblick gekommen, auf den Ingrid, Ditra und Kay Ber sowie alle anderen Expeditionsteilnehmer mit größter Ungeduld gewartet hatten. Die Tantra begann die Unterlichtgeschwindigkeit zu reduzieren, passierte den Eisgürtel des Sonnensystems und näherte sich der Raumstation auf dem Triton. Von jetzt an war keine so hohe Geschwindigkeit mehr notwendig. Theoretisch hätte die Tantra die Erde von diesem Satelliten des Neptuns aus mit einer Geschwindigkeit von neunhundert Millionen Kilometern pro Stunde in weniger als fünf Stunden erreichen können. Aber die Beschleunigung des Sternenschiffs hätte so viel Zeit in Anspruch genommen, dass das Schiff über die Sonne hinausgeschossen wäre und sich von ihr weit entfernt hätte, wäre es vom Triton aus gestartet.

Um das kostbare Anameson nicht zu vergeuden und die Schiffe nicht mit umfangreicher Ladung zu beschweren, flog man innerhalb des Sonnensystems mit ionenbetriebenen Planetenschiffen. Ihre Geschwindigkeit lag bei Flügen zu den inneren Planeten unter achthunderttausend Kilometern und bei Flügen zu den äußersten, am weitesten entfernten Planeten bei zweieinhalb Millionen Kilometern in der Stunde. Der Flug vom Neptun bis zur Erde dauerte für gewöhnlich zweieinhalb bis drei Monate.

Der Triton war ein riesiger Satellit, im Ausmaß nur ein wenig kleiner als der dritte und vierte Satellit des Jupiters — Ganymed und Kallisto — oder der Planet Merkur. Deshalb besaß er eine dünne Atmosphäre, die zum Großteil aus Stickstoff und Kohlenmonoxid bestand.

Erg Noor setzte das Sternenschiff auf dem Landeplatz am Pol des Tritons auf, der in einiger Entfernung von den breiten Kuppeln des Stationsgebäudes lag. Am Rande eines Hochplateaus blinkten in der Nähe eines von unterirdischen Gebäuden durchlöcherten Abhangs die Fenster des Quarantänesanatoriums. Hier, in vollkommener Abgeschiedenheit von allen anderen Menschen, mussten die Reisenden fünf Wochen in Quarantäne verbringen. Während dieser Zeit untersuchten erfahrene Ärzte ihre Körper, um sicherzugehen, dass sich auch ja keine neuen infektiösen Bakterien eingenistet hatten. Die Gefahr war zu groß, als dass man irgendwelche Ausnahmen hätte zulassen können. Jeder, der auf anderen, sogar auf unbewohnten Planeten gelandet war, musste sich dieser Prozedur unterziehen, ganz gleich, wie lange er sich anschließend im Sternenschiff aufgehalten hatte. Auch das Schiffsinnere wurde von den Wissenschaftlern des Sanatoriums untersucht, bevor die Station die Erlaubnis zum Weiterflug zur Erde erteilte. Planeten wie die Venus und der Mars sowie einige Asteroiden, die der Mensch längst erobert hatte, verfügten über eigene Quarantänestationen, in denen die Reisenden vor ihrem Abflug untersucht wurden.

Der Aufenthalt im Sanatorium war leichter zu ertragen als im Sternenschiff. Dort gab es Labore, Konzertsäle, kombinierte Bäder aus Elektrizität, Musik, Wasser und Wellenschwingungen. Die Sternflieger konnten in leichten Raumanzügen Spaziergänge in die Berge und in die Umgebung des Sanatoriums unternehmen. Und schließlich gab es die Verbindung mit dem heimatlichen Planeten, zwar nicht ununterbrochen, aber es war doch tröstlich zu wissen, dass eine Mitteilung die Erde in fünf Stunden erreichte.

Der Silikollsarkophag mit Nisa wurde unter allen nur möglichen Vorsichtsmaßnahmen ins Sanatorium gebracht. Erg Noor und der Biologe Eon Tal verließen als Letzte die Tantra. Sie schritten leichtfüßig aus, trotz der Gewichte, die sie angelegt hatten, um wegen der geringen Schwerkraft auf dem kleinen Planeten nicht unversehens Luftsprünge zu machen.

Die Scheinwerfer, die den Landeplatz eben noch von allen Seiten beleuchtet hatten, erloschen. Der Triton drehte sich zur von der Sonne beleuchteten Tagseite des Neptuns. So düster das vom Neptun reflektierte graue Licht auch war, der Riesenspiegel des Planeten, der sich lediglich dreihundertfünfzigtausend Kilometer entfernt vom Triton befand, zerstreute die Finsternis und schuf auf dem Satelliten eine helle Dämmerung, ähnlich der Frühjahrsdämmerung in den nördlichen Breiten der Erde. Der Triton umkreiste den Neptun in der entgegengesetzten Richtung zur Rotation des Planeten, das heißt, von Osten nach Westen, einmal in ungefähr sechs irdischen Tagen, sodass seine Tagphase zirka siebzig Stunden dauerte. In dieser Zeit drehte sich der Neptun viermal um seine eigene Achse, und nun zog der Schatten des Satelliten gerade über die neblige Scheibe.

Fast gleichzeitig erblickten der Kommandant und der Biologe ein kleines Schiff, das weit entfernt vom Rande des Plateaus stand. Es war keines jener Sternenschiffe mit verdicktem Heck und hohen Stabilisationsflügeln. Dem äußerst spitzen Bug und schlanken Rumpf nach zu urteilen war es ein Planetenschiff, seine Konturen jedoch unterschieden sich von einem solchen durch einen dicken Ring am Heck und einem langen spindelförmigen Aufbau.

„Noch ein Schiff in Quarantäne?“, fragte Eon. „Hat der Rat vielleicht seine Gewohnheit geändert?“

„Sie meinen, keine neue Sternenexpedition zu entsenden, ehe die letzte nicht zurück ist“, sagte Erg Noor. „Wir haben zwar unseren Flugplan eingehalten, aber der Bericht, den wir von der Sirda senden sollten, kam zwei Jahre zu spät.“

„Vielleicht ist es eine Expedition zum Neptun?“, sagte der Biologe.

Sie hatten den zwei Kilometer langen Weg zum Sanatorium bald zurückgelegt und stiegen zu einer breiten, mit rotem Basalt eingefassten Terrasse hinauf. Die winzige Scheibe der Sonne, die vom Pol des sich langsam drehenden Satelliten aus zu sehen war, leuchtete nur wenig heller als die anderen Sterne am schwarzen Himmel. Es herrschten hundertsiebzig Grad unter null, trotzdem fühlte sich diese Kälte dank der heizbaren Raumanzüge nicht stärker als die eines irdischen Polarwinters. Riesige Schneeflocken aus gefrorenem Ammoniak oder Kohlenmonoxid trieben langsam durch die windstille Atmosphäre, verliehen der Gegend eine beschauliche Ruhe und erinnerten stark an irdischen Schneefall.

Erg Noor und Eon Tal blickten wie hypnotisiert auf die Schneeflocken, so wie es ihre Vorfahren in gemäßigten fernen Breiten getan hatten, für die der erste Schnee stets das Ende der Landarbeit bedeutete. Für die beiden Männer kündigte dieser ungewöhnliche Schnee das Ende ihrer Strapazen und Reise an.

Der Biologe reichte dem Kommandanten, einer unbewussten Regung folgend, die Hand.

„Unsere Abenteuer sind zu Ende, und es ist Ihnen zu verdanken, dass wir unversehrt geblieben sind.“

Erg Noor wehrte schroff ab.

„Sind wir alle unversehrt? Und wem habe ich meine Unversehrtheit zu verdanken?“

Eon Tal ließ sich nicht beirren.

„Ich bin sicher, man wird Nisa retten können! Die Ärzte hier wollen unverzüglich mit der Behandlung beginnen. Sie haben bereits Anweisungen von höchster Stelle — von Grim Schar, dem Leiter des Laboratoriums für allgemeine Lähmungserscheinungen — erhalten.“

„Weiß man schon, was es ist?“

„Vorläufig noch nicht. Aber es ist klar, dass Nisa von einer Art Starkstrom verletzt wurde, der die chemische Struktur der Nervenstränge des vegetativen Nervensystems verändert hat. Wenn wir dahinterkommen, wie man seine außergewöhnlich lange Wirkung aufheben kann, dann wird das Mädchen geheilt werden. Haben wir denn nicht auch den Mechanismus lang anhaltender psychischer Paralysen entdeckt, die jahrhundertelang als unheilbar galten? Hier handelt es sich um etwas Ähnliches, nur von einem äußeren Erreger hervorgerufen. Wenn man erst Versuche an meinen mitgebrachten Gefangenen machen kann, ganz gleich, ob sie leben oder nicht, dann werde ich auch bald meinen Arm wieder gebrauchen können!“

Beschämt runzelte der Expeditionsleiter die Stirn. Über seinem Kummer hatte er vergessen, wie viel der Biologe für ihn getan hatte. Peinlich für einen erwachsenen Menschen! Er ergriff die Hand des Biologen, und beide Wissenschaftler drückten ihre gegenseitige Sympathie durch die uralte Geste des männlichen Händedrucks aus.

„Glauben Sie, dass die Tötungsorgane der schwarzen Medusen und dieses kreuzförmige Monster von derselben Art sind?“, fragte Erg Noor.

„Ich bin ganz sicher. Meine Hand liefert einen handfesten Beweis dafür“, sagte der Biologe, ohne das zufällig sich ergebende Wortspiel zu bemerken. „In der Ansammlung und Umwandlung von elektrischer Energie äußerte sich die gemeinsame Anpassung dieser schwarzen Wesen, der Bewohner eines an Elektrizität reichen Planeten. Es sind die reinsten Raubtiere, aber worin ihre natürliche Beute besteht, wissen wir vorläufig noch nicht.“

„Aber können Sie sich erinnern, was mit uns allen passierte, ehe Nisa…“

„Das ist etwas anderes. Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich denke, das Auftauchen des schrecklichen Kreuzes wurde von einem Infraschall von größter Stärke begleitet, der unser Bewusstsein ausschaltete. In dieser schwarzen Welt sind auch die Töne schwarz und unhörbar. Das fremde Wesen unterdrückte unser Bewusstsein durch Infraschall und wandte dann eine Art von Hypnose an, die stärker war als jene der heute ausgestorbenen Riesenschlangen, zum Beispiel der Anakonda. Genau das hätte uns beinahe das Leben gekostet, wenn Nisa nicht…“

Der Expeditionsleiter sah zur fernen Sonne auf, die jetzt auch auf der Erde schien. Die Sonne war die ewige Hoffnung des Menschen. Das war sie schon seit prähistorischer Zeit, als die Menschheit noch inmitten der schonungslosen Natur ihr armseliges Dasein fristete. Die Sonne war die Verkörperung der hellen Kraft der Vernunft, die die Finsternis und die Ungeheuer der Nacht verjagt. Ein Funke freudiger Hoffnung nistete sich in Erg Noors Bewusstsein ein, der für den Rest der Reise sein steter Begleiter wurde.

Der Leiter der Triton-Station suchte Erg Noor im Sanatorium auf. Die Erde rief den Expeditionsleiter, und das Erscheinen des Stationsleiters in den verbotenen Quarantäneräumen bedeutete das Ende der Isolierung, die Möglichkeit, den dreizehn Jahre dauernden Flug der Tantra zu Ende zu bringen. Der Expeditionsleiter kehrte noch gesammelter als sonst zu seinen Gefährten zurück.

„Wir fliegen noch heute ab. Ich wurde gebeten, sechs Leute von dem Planetenschiff Amat mitzunehmen, das zur Erschließung neuer Erzvorkommen auf dem Pluto hier zurückgelassen wird. Wir nehmen die Expeditionsteilnehmer und das bereits gesammelte Material an Bord.

Diese Leute haben ein gewöhnliches Planetenschiff umgebaut und eine äußerst kühne Tat vollbracht. Unerschrocken drangen sie auf den Grund der Hölle, durch die dicke, aus Neon und Methan bestehende Atmosphäre des Pluto. Sie flogen in Ammoniakstürmen, ständig der Gefahr ausgesetzt, in der Finsternis an den riesigen, eisenharten Eiszapfen zu zerschellen. Es gelang ihnen, ein Gebiet mit kahlem Gebirge ausfindig zu machen. Das Rätsel des Pluto ist endlich gelöst: Der Planet gehört nicht zu unserem Sonnensystem, sondern wurde von ihm während der Wanderung der Sonne durch die Galaxis eingefangen. Deshalb ist auch die Dichte des Pluto weitaus höher als die anderer ferner Planeten. Die Forscher entdeckten seltsame Mineralien aus einer völlig fremden Welt und, was noch wichtiger ist, auf einem der Hochplateaus fanden sie Spuren fast zur Gänze zerstörter Bauten, Zeugen einer unvorstellbar alten Zivilisation. Die von den Forschern gewonnenen Ergebnisse müssen natürlich noch überprüft werden. Auch die These, dass Baumaterialien vernünftig bearbeitet worden seien, verlangt noch nach Beweisen… Aber dennoch ist das eine erstaunliche Leistung. Ich bin stolz darauf, dass unser Sternenschiff diese Helden zur Erde bringen darf, und brenne vor Ungeduld zu hören, was sie zu erzählen haben. Ihre Quarantänezeit ist vor drei Tagen abgelaufen…“ Erg Noor, ermüdet von dem langen Reden, verstummte.

„Aber da besteht doch ein ernsthafter Widerspruch!“, rief Pur Hiss.

„Widerspruch ist die Mutter der Wahrheit!“ Gleichmütig hielt Erg Noor dem Astronomen das alte Sprichwort entgegen. „Es ist Zeit, die Tantra startklar zu machen!“

Das erprobte Sternenschiff hob mit Leichtigkeit vom Triton ab und jagte in hohem Bogen senkrecht zur Ebene der Ekliptik davon. Die Erde direkt anzufliegen war unmöglich: Jedes Schiff würde zugrunde gehen in dem breiten Gürtel von Meteoriten und Asteroiden — Bruchstücke des explodierten Planeten Phaeton, der einstmals zwischen Mars und Jupiter existierte und von der Anziehungskraft dieser Giganten des Sonnensystems auseinandergerissen worden war.

Erg Noor erhöhte die Beschleunigung. Er wollte die Helden nicht in den vorgesehenen zweiundsiebzig Tagen auf die Erde bringen, sondern beschloss, unter Einsatz der enormen Kraft des Sternenschiffs und bei einem minimalen Verbrauch an Anameson den Heimatplaneten in fünfzig Stunden zu erreichen.

Eine Sendung der Erde drang durch den Raum zum Sternenschiff — der Planet gratulierte zum Sieg über die Finsternis des Eisensterns und die Finsternis des eisigen Pluto. Speziell zu Ehren der Tantra und der Amat komponierte Romanzen und Symphonien erklangen.

Der Kosmos dröhnte nur so unter den Siegesmelodien. Auch die Stationen auf dem Mars, der Venus und den Asteroiden riefen das Schiff und fielen jubelnd in den allgemeinen Chor der Huldigung der Helden ein.

Tantra, Tantra“, meldete sich schließlich die Stimme des Kontrollturms des Rates. „Landung frei auf El Homra!“

Das zentrale Kosmodrom befand sich in einer ehemaligen Wüste in Nordafrika, und das Sternenschiff raste durch die vom Sonnenlicht überflutete Erdatmosphäre auf sein Ziel zu.

Загрузка...