Uwe Neuhold Der Weg zum Futurokommunismus

„Es stimmt, die Erde ist die Wiege der Menschheit, aber der Mensch kann nicht ewig in der Wiege bleiben. Das Sonnensystem wird unser Kindergarten.“

Konstantin Ziolkowski

Am Morgen des 30. Juni 1908 kommt es in den Weiten Sibiriens zu einer gewaltigen Explosion. Sie entwurzelt Bäume im Umkreis von dreißig Kilometern und drückt Fenster in der 65 Kilometer entfernten Handelssiedlung Wanawara ein. Noch in mehr als 500 Kilometern Entfernung werden von Reisenden der Transsibirischen Eisenbahn heller Feuerschein, starke Erschütterungen und eine Druckwelle samt Donnergeräusch wahrgenommen. War es ein Asteroid, ein Komet oder vielleicht eine vulkanische Eruption? Internationale Wissenschaftler suchen seither nach den Ursachen dieses als „Tunguska-Ereignis“ in die Geschichtsbücher eingegangenen Geschehens.

Iwan Antonowitsch Jefremow erblickt zwei Monate zuvor in Wyriza bei St. Petersburg das Licht der Welt. Seine späteren Expeditionsreisen sollen ihn bis nach Sibirien führen. Und auch wenn er sich unseres Wissens nie direkt mit Tunguska befassen wird, wagen sich seine fantastischen Erzählungen in die unbekannten Regionen jenseits des Asteroidengürtels und weit entfernter Zeiten hinaus.

Er selbst wurde in eine von Umstürzen und Neuerungen geprägte Epoche geboren. Um die Jahrhundertwende begann der schmerzvolle Übergang des zaristischen Russland in eine technizistische Moderne: Rund um die Fabriken etablierten sich in den großen Städten Industrieproletariat und bürgerliche Mittelschicht. Man forderte nun seinen Anteil an den steigenden Staatseinnahmen und mehr Mitverantwortung für öffentliche Angelegenheiten. Unter politischer Freiheit wurde (noch) kein moralisches Ziel verstanden, sondern materielle Entfaltung und gerechte Besteuerung. Anders die „Intelligenzija“ — laut Pjotr Dmitrijewitsch Boborykin (1836–1921) jene gesellschaftliche Schicht von Menschen, die „klug, verständnisvoll, wissend, denkend und auf professionellem Niveau kreativ beschäftigt sind und zur Entwicklung und Verbreitung von Kultur beitragen“. Deren utopische Entwürfe passten ganz und gar nicht mehr zu einer vom Adel dominierten Lebenswelt. Da Zar Nikolaus II. es verabsäumte, die Mittelschicht verfassungsmäßig stärker einzubinden, flammte vereinzelt Terror auf, der durch die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg in die Revolution von 1905 mündete. Doch auch danach war der Zar nicht zu grundlegenden Reformen bereit und schaufelte sich sein späteres Grab, indem er das — notgedrungen genehmigte, aber weitgehend funktionslose — Parlament, die Duma, nach kurzer Zeit wieder auflöste.

Die Moderne spiegelte sich nicht nur im Sozialen, sondern vielmehr noch in der technologischen Entwicklung. So trafen etwa die Abhandlungen — aber auch fantastischen Erzählungen — des russischen Wissenschaftlers Konstantin Ziolkowski (1857–1935) auf einen sprunghaft ansteigenden Leserkreis. In seinen Arbeiten entwickelte er die theoretischen Grundlagen des Weltraumflugs und der modernen Kosmonautik — darunter Vorschläge für Ganzmetall-Luftschiffe, Raumstationen, Weltraumtürme, sogar einen Weltraumlift — und wurde damit zum Vorbild einer Heerschar künftiger Ingenieure und Erfinder.

In dieser Welt der russischen Weltraumtechnik, des italienischen Futurismus und der französischen „Voyages extraordinaires“ eines Jules Verne lernt ein Knabe namens Iwan Jefremow sehr früh das Lesen und verschlingt bereits mit sechs Jahren alles, was er an fantastischer Literatur in der Hausbibliothek seines Vaters findet. In Berdjansk am Asowschen Meer — wohin die Familie kurz zuvor zog — besucht er die Schule und liest in seiner Freizeit vor allem auch H. G. Wells, dessen Werk ihn besonders prägt. Beeinflusst wird der Jugendliche aber auch von den Schriften Alexander A. Bogdanows (1873–1928), einem Pseudonym von Aleksandr Malinovskij. Hier vollendet sich das Dreieck aus Technik, Forschung und gesellschaftlicher Utopie, dem wir in Jefremows späterem Werk begegnen. Denn Malinovskij ist niemand anderes als der Führer der russischen sozialdemokratischen Bewegung. Mit „Der rote Planet“ (Krasnaja Swesda, 1908) verfasste er zudem eine der ersten marxistischen Sozialutopien. Darin wird der Raumflug eines russischen Revolutionärs geschildert, der auf dem Mars eine „wahrhaft kommunistische“ Gesellschaft antrifft.

Zweck dieser Erzählung war natürlich Propaganda, doch Malinovskij/Bogdanow bereicherte sie nicht nur um feministische Aspekte, sondern auch um bemerkenswerte technische Voraussagen wie Computer, Atomenergie und künstliche Materialien. Damit nicht genug, stammt von ihm auch eine monumentale Theorie der „Weltorganisationsdynamik“, die sowohl als Systemtheorie, Krisen- und Katastrophentheorie, Theorie der Nachhaltigkeit und globale Kulturtheorie angesehen werden kann. All diese Themen finden wir später in Jefremows „Andromedanebel“ — und mehr noch: Bogdanow kann geradezu als Ideal für die dort geschilderten Wissenschaftler angesehen werden. Deren Streben nach höheren Zielen und ihre persönliche Opferbereitschaft decken sich mit Bogdanows Tätigkeit als Direktor des von ihm gegründeten Instituts für Bluttransfusionen: Dort leistete er nicht nur medizinische Pionierarbeit, sondern führte auch wissenschaftliche Selbstversuche zum Blutaustausch durch (an denen er 1928, wohl wegen einer infizierten Blutkonserve, starb). Sein Hauptanliegen war es, die Menschheit vor dem Unterschreiten eines kulturellen Standards zu bewahren. Eine weltweite Nivellierung und Anpassung nach unten suchte er literarisch wie politisch zu verhindern: Nie wieder durfte es zum Rückfall in Barbarei und Zivilisationslosigkeit kommen. Auch diese Prämissen haben ganz offensichtlich in Jefremows Werk Eingang gefunden.

Die eigentliche Tragödie des jungen Jahrhunderts bestand in dem Paradoxon, dass so viele europäische Wissenschaftler und Intellektuelle eine „Verbesserung des Menschen“ konzipierten — und dennoch machtlos (oder naiv) zusahen, wie sich der Kontinent in den Ersten Weltkrieg stürzte. Auch Russland erfasste bei dessen Ausbruch eine Welle des Patriotismus. Technisch war das Land auf der Höhe seiner Zeit und setzte bei den Kampfhandlungen erstmals kleine Raketen ein — basierend auf Raketengleichungen Ziolkowskis und Vorläufer der ab 1938 genutzten Katjuscha-Raketenwerfer (auch Stalinorgel genannt). Bestärkt wurde das Gefühl militärischer Überlegenheit durch anfängliche Erfolge gegen Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich. Als diese jedoch von zermürbenden Stellungskriegen abgelöst wurden, gab die Moral der Soldaten nach, und die russische Front brach zusammen. Unzufriedenheit in der Bevölkerung und eine trostlose Versorgungslage führten in der Hauptstadt St. Petersburg zu Demonstrationen der Arbeiter und Bauern. Nach blutiger Niederschlagung stürmten die Demonstranten den Winterpalast und zwangen den Zaren zum Abdanken. Während er mitsamt seiner Familie interniert (und später ermordet) wurde, kam eine provisorische bürgerliche Regierung an die Macht, begleitet von Arbeiterräten, den „sowjets“.

Diese republikanische Herrschaft wich jedoch schon kurz darauf der eigentlichen Zäsur der russischen Geschichte: der von Lenin, Trotzki und den Bolschewiki initiierten Oktoberrevolution. Der Aufstand verwandelte sich rasch in einen Bürgerkrieg zwischen Trotzkis bolschewistischer „Roten Armee“ und einer heterogenen Gruppe aus Konservativen, Demokraten, gemäßigten Sozialisten, Nationalisten und der aus Freiwilligen bestehenden „Weißen Armee“.

Inmitten der Bürgerkriegswirren treffen wir wieder auf Iwan Jefremow: 1919 meldet er sich zu einer motorisierten Kompanie der Roten Armee. Vermutlich macht sich der Elfjährige (!) bei dieser Gelegenheit um ein Jahr älter und gibt an, 1907 geboren zu sein — andernfalls wäre er wahrscheinlich nicht in die Revolutionsstreitkräfte aufgenommen worden. 1907 galt in der späteren Sowjetunion jedenfalls als sein offizielles Geburtsjahr und wurde auch auf seinem Grabstein so angegeben.

Als „Sohn der Kompanie“ kommt Jefremow nach Perekop und nimmt dort an Gefechten gegen die Weißgardisten unter Baron Wrangel teil. Bei einem Artilleriebeschuss durch ein britisches Kanonenboot bei Otschakow wird er schwer verletzt und trägt infolge des Schocks für den Rest seines Lebens ein leichtes Stottern davon. Nach Kriegsende kehrt er nach St. Petersburg zurück und führt dort in Rekordzeit seine schulische Ausbildung zu Ende. 1922 beginnt er mit sechzehn Jahren eine Ausbildung zum Seemann an der Handelsmarineschule. Nach deren erfolgreichem Abschluss fährt er ab Mitte der 1920er-Jahre im Fernen Osten und auf dem Kaspischen Meer zur See, arbeitet als Taucher und schließt sich zoologischen Expeditionen an, bei denen er erste wissenschaftliche Erfahrungen sammelt. Bestimmte Ideen beginnen in ihm zu reifen…

Inzwischen waren die „Roten“ als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen und riefen 1921 die „Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik“ (RSFSR) aus. In raschen Schritten ging die Transformation des einstigen Zarenreiches voran: Am 30. Dezember 1922 einigte man sich auf den Zusammenschluss der Sowjetischen Sozialistischen Republiken zur „Sowjetunion“ und auf eine staatlich kontrollierte Wirtschaftspolitik. Die Sowjets (Räte) wurden zu Eigentümern von Boden und Produktionsmitteln erklärt, der Kommunismus erstmals zur Staatsform erhoben. Dies sollte umfassende Folgen für das Leben im ehemaligen Zarenreich haben, letztlich auch für die russische Literatur.

„Kommunismus“ (von lat. communis = gemeinsam) umfasst im Grunde alle politischen Lehren und Bewegungen, die eine Gütergemeinschaft sowie Gleichheit der Lebensbedingungen ihrer Mitglieder zum Ziel haben. Im weiteren Sinne bedeutet er eine klassenlose Gesellschaft, in der das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben wird. Ein gesellschaftliches Leben auf rationaler und gemeinschaftlich geplanter Basis also. Diese Ideen gab es lange vor Marx bereits bei Plato (in dessen Werk „Politeia“, 380 v. Chr.) und in Tommaso Campanellas „Der Sonnenstaat“ (1602). Die antike Polis und deren Demokratievorstellung galten auch als geistiges Fundament des Humanismus im 16. Jahrhundert. Folgenreich für dieses Denkgebäude war besonders der lateinische Bildungsroman „Utopia“ (1516) des englischen Staatsrechtlers Thomas Morus. Dieser bot — ohne es so zu nennen — eine Art Kommunismus als Gegenbild zur europäischen Feudalherrschaft. Entsprechende Gesellschaftsbilder wurden in der Realität durchaus auch von den urchristlichen Gemeinden, von mittelalterlichen Sekten oder im Jesuitenstaat in Paraguay (1609–1769) praktiziert. Die eigentliche kommunistische Idee als ausdrücklicher Gegenentwurf zur bestehenden Gesellschaftsordnung entstand jedoch erst infolge der Französischen Revolution durch François Noël Babeuf (1760–1797).

Karl Marx (1818–1883) erweiterte diese Vorgedanken — geprägt vom Kampf der Arbeiter in den ersten industriellen Fabriken — um ein philosophisch durchdachtes Fundament. Gemeinsam mit seinem engen Weggefährten Friedrich Engels (1820–1895) postulierte er, dass aus dem Kapitalismus — einer Wirtschaftsordnung, in der sich Kapitalisten und Arbeiterklasse (Proletariat) als Gegner gegenüberstehen — der Kommunismus nur durch eine revolutionäre Übergangsgesellschaft hervorgehen könne. Erst in einer „Diktatur des Proletariats“ würden die sozialen Missstände des Laissez-faire-Liberalismus sowie das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die damit einhergehende Ausbeutung aufgehoben. Im Zuge dieser Theorie wurden frühsozialistische Gleichheits- und Demokratisierungsbestrebungen, die sich auch auf die Ökonomie erstreckten, als „utopischer Sozialismus“ zusammengefasst.

Interessanterweise bezeichnete Marx den Kommunismus auch als „Ende der Vorgeschichte der Menschheit“ (eine klare Vorgabe für die historischen Einschübe in Jefremows „Andromedanebel“). Denn erst in dieser Gesellschaftsform könnten die Menschen ihre Geschichte bewusst und selbstständig gestalten, statt von historischen Gesetzmäßigkeiten ihrer früheren Gesellschaftsformen hinterrücks bestimmt zu werden. Dass die Philosophen zur Verdeutlichung ihrer Ideen nicht nur auf die literarische Tradition der Utopie zurückgriffen, sondern einen entscheidenden Schritt darüber hinaus gehen wollten, zeigt die von Engels 1880 veröffentlichte Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“: Seiner Theorie nach sollten sich durch die Beseitigung des Privateigentums an den Produktionsmitteln nach und nach alle Klassengegensätze aufheben. Wie die klassenlose Gesellschaftsform des Kommunismus im Detail aussehen und funktionieren sollte, wurde jedoch weder von ihm noch von Marx vorgeschrieben, denn sie musste sich erst anhand konkreter gesellschaftlicher Entwicklungen und Widersprüche zeigen. Kein Wunder, dass sich neben Revolutionären, Politikern und Wissenschaftlern auch Utopisten an der Spekulation einer klassenlosen Zukunft beteiligten. Der Utopische Sozialismus war sich jedenfalls in der Zielvorstellung mit dem Kommunismus weitgehend einig. Auch wenn Marx und Engels ihre Definition dessen, was getan werden müsse, aus systematischen Analysen der menschlichen Geschichte und der ökonomischen Verhältnisse ableiteten, sprossen ihre Ideen aus demselben Humus wie die visionäre Literatur der Aufklärung. Kommunisten wie Utopisten erträumten eine gerechtere Gesellschaft ohne standesbezogene Ungleichheit und Ausbeutung.

Dennoch unterschied sich Marx’ Kommunismus soziologisch betrachtet schon in seinen Grundzügen vom ursprünglichen Sozialismus: So bezeichnete einer der ersten Soziologen, Ferdinand Tönnies, in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887) den Kommunismus als „empirische Kulturform“, die nur in überschaubaren Gemeinschaften möglich sei — hingegen gehe es in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen immer nur um den „Socialismus“. Da laut Tönnies zwar eine Gesellschaft aus Gemeinschaften hervorgehen kann, er den umgekehrten Prozess aber für unmöglich hielt, konnte für ihn aus Sozialismus niemals Kommunismus werden. Auch Max Weber sah Kommunismus ganz allgemein als „Vergemeinschaftung“ und nannte als Beispiele den „Familienkommunismus und Mönchskommunismus“.

Ein weiterer Unterschied: Während die Kommunisten und Utopisten — nicht zuletzt auch Iwan Jefremow — die Rolle der Frau in der Gesellschaft neu definieren oder zumindest hinterfragen wollten, ging keine der frühsozialistischen Vorstellungen von einer Gleichheit der Geschlechter aus. Von Robert Owen (dem Begründer des britischen Genossenschaftswesens) bis zu den deutschen Räterepubliken 1918 setzten sie stets die traditionelle Familie als Basis der Gemeinschaft voraus. Auch Betriebe und Militäreinheiten bestanden in ihrer Vorstellung praktisch nur aus Männern. Die ungleiche Rolle der Frau wurde erst bei Marx und Engels zum sozialistischen Thema. Sie glaubten, mit Abschaffung des Kapitalismus und dem Ende der Klassengesellschaft würde auch die Unterdrückung der Frau enden, so wie die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen überhaupt. Folgerichtig bekannten sie sich bereits im „Manifest der kommunistischen Partei“ (1848) zur Aufhebung der Familie durch freie Liebe sowie zur Aufhebung der „Stellung der Weiber als bloße Produktionsinstrumente“ und setzten anstelle der „Ausbeutung der Kinder durch ihre Eltern“ eine gemeingesellschaftliche Erziehung der Jugend. Wie Michael Schmidt-Salomon in seinem Buch „Hoffnung Mensch“ schreibt, sei für Marx und Engels der Kommunismus eben deshalb ein „vollendeter Humanismus“ gewesen, weil nur er eine wahrhaft humane Gesellschaft hervorbringen könne, in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Dies sind wiederum genau die Parameter jener zukünftigen Gesellschaft, wie sie uns Iwan Jefremow präsentiert.

Doch die Philosophen und Autoren hatten sich zu früh gefreut: Die entstehenden realsozialistischen Staaten lösten ihre Versprechen nur teilweise ein. Die Geschlechter wurden zwar in der Produktion gleichgestellt, sodass Frauen gleiche Arbeitsrechte, Löhne und Aufstiegschancen erhielten. Im Alltag und in den Privathaushalten waren sie jedoch weiter den alten patriarchalen Strukturen unterworfen. In realistischer Betrachtungsweise unterschied somit auch Lenin — nachdem er sich erfolgreich an die Spitze der neu gegründeten Kommunistischen Partei Russlands (später KPdSU) gesetzt hatte — zwischen einer niederen und höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft: Erstere bezeichnete er im Sinne Marx’ als Sozialismus (Diktatur des Proletariats), die zweite als Kommunismus (klassenlose Gesellschaft). Der sozialistischen Phase ordnete er die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und Entlohnung nach Leistung zu, der kommunistischen das Bedürfnisprinzip. Dass der „wahre Weg“ auch innerhalb der Bolschewiken umstritten war, zeigte sich insbesondere nach Lenins Tod in einem erbitterten Nachfolgekampf, bei dem sich Josef Stalin gegen Leo Trotzki durchsetzte. Lenin selbst hatte testamentarisch noch vor Stalins Despotie gewarnt, doch die Dinge nahmen ihren Lauf, und der Realsozialismus verwandelte sich allmählich in ein Synonym für Unterdrückung und Ungleichheit.

Dass Lenin nach seinem Tod 1924 einbalsamiert und in einem Mausoleum öffentlich ausgestellt wurde, ist eine reizvolle — wenngleich etwas willkürliche — Gedankenbrücke zurück zum Autor von „Andromedanebel“: Denn just in dem Jahr, als man den großen Führer für die Ewigkeit zurechtmacht, beginnt sich Jefremow eingehender für Paläontologie und die Entstehung von Fossilien zu interessieren. Er bekommt sogar einen Studienplatz an der Staatlichen Universität Sankt Petersburg. Zwar erringt er dort keinen Abschluss, nimmt aber ab Mitte der 1930er-Jahre an mehreren paläontologischen Expeditionen teil, die ihn in die Wolgaregion, den Ural und nach Zentralasien sowie nach Sibirien führen. Er wird daraufhin einer der leitenden Mitarbeiter des Paläontologischen Institutes (PIN) und gelangt schließlich doch noch zu akademischen Ehren, als er 1935 ein externes Examen am Leningrader Bergbauinstitut besteht und 1941 in Biologie promoviert. Der ehemalige Revolutionskämpfer macht wissenschaftliche Karriere in dem Staat, den er mit erkämpfte.

Was war seither politisch in der Sowjetunion geschehen? Josef Stalin hatte die Alleinherrschaft der KPdSU ab 1924 zur unumschränkten Macht ohne gesellschaftliches Korrektiv ausgebaut und die „linke Opposition“ um Leo Trotzki und Lew Borissowitsch Kamenew entmachtet. Dazu bediente er sich (wie bereits der zaristische Geheimdienst oder auch Lenin im Bürgerkrieg) des Terrors durch den Staatssicherheitsdienst. Zwangsumsiedlungen, Zwangsarbeitslager („Gulags“), ethnische Säuberungen und das Betreiben eines Personenkults pervertierten die einstige kommunistische Philosophie, festigten jedoch seine Diktatur.

Eine ab 1928 durchgeführte zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft inklusive der bekannten „Fünfjahrespläne“ erreichte zum einen, dass der Staat in den Besitz der Ernteerträge kam (ungeachtet furchtbarer Hungersnöte floss das Geld großteils in Export, Industrialisierung und Rüstung). Zum anderen machte die Kollektivierung aus mittellosen Landwirten billige Zwangsarbeiter für den industriellen Aufbau. Stalins scharfe Abgrenzung gegen alle Kräfte, die die Führungsrolle der Sowjetunion ablehnten, machte auch vor einstigen Weggefährten nicht Halt: Trotzki wurde im Exil ermordet, die europäischen Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ beschimpft.

Viele russische Schriftsteller und Gelehrte jener Tage verfielen der industriellen Aufbruchsstimmung, gerade die vom Futurismus begeisterten Intellektuellen sahen ein Zeitalter unbeschränkter technischer Möglichkeiten heraufziehen. Selbst der Weltraum schien im Einklang mit dem Sozialismus zu marschieren: So interpretierte etwa Konstantin Ziolkowski ein von ihm 1928 entdecktes Sternsystem am nächtlichen Himmel als drei kyrillische Buchstaben mit der Bedeutung: „Die Außerirdischen kennen ihre Freunde.“

Tatsächliche Aliens hätten wohl wenig Entzücken über das geäußert, was sie in der Sowjetunion erblickten: Ihre „Freunde“ brachten sich dort gegenseitig um. Von 1936 bis 1938 erreichte Stalins Säuberungspolitik ihren grausamen Höhepunkt. Nun wurden selbst die Oktoberrevolutionäre als mögliche innenpolitische Gegner verbannt und ermordet, darunter die Führungsspitze der Roten Armee. Dass es 1939 zum berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt kam, war auch dem Umstand geschuldet, dass der sowjetische Machthaber ungestörte Zeit zur militärischen Reorganisation im eigenen Land gewinnen wollte. Obwohl sich Stalin und Hitler wie vereinbart Polen untereinander aufteilten, währte der Pakt nur bis 1941, als das Deutsche Reich in der Sowjetunion einfiel. Der „Große Vaterländische Krieg“ begann, in dem die Rote Armee Millionen Soldaten verlieren sollte.

Hier taucht nun erneut Iwan Jefremow — inzwischen mit Doktortitel — als kleine Figur im Weltgeschehen auf: Nach dem Angriff Nazi-Deutschlands will er in den aktiven Militärdienst zurückkehren, wird jedoch in den Ural entsandt, wo er kriegswichtige Defensivaufgaben übernehmen soll. Er nutzt die Zeit dort für paläontologische Forschungen, die er in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre im Rahmen weiterer Expeditionen fortsetzt. Sie führen ihn unter anderem in die Wüsten der Mongolei; seine dort gewonnenen Erkenntnisse über die Entwicklung der Arten fasst er später in seinem Sachbuch „Straße der Winde“ (1955) zusammen.

Mitten im Krieg, als sich die Gräber mit gefallenen Soldaten füllen, entwickelt Jefremow jene wissenschaftliche Theorie, die ihn über Literaturkreise hinaus auch heute noch berühmt macht: die Fossilisationslehre oder Taphonomie (von griech. taphos = Grab). In seinem 1950 veröffentlichten Buch „Taphonomie“ zeigt er detailliert, wie und warum sich aus den Kadavern gestorbener Tiere mit der Zeit Fossilien bilden. Er wird dadurch zum Begründer einer neuen geowissenschaftlichen Disziplin und erwirbt sich internationales Renommee, unter anderem mit Voraussagen, die später auf einer Expedition in die Wüste Gobi bestätigt werden.

Jefremow erkennt, dass sich der Prozess der Fossilwerdung über geologisch lange Zeiträume in bestimmten Phasen vollzieht: Tod, Zersetzung, Einbettung ins Erdreich, Entgasung und schließlich Diagenese bzw. Metamorphose. Je nach Umgebung finden diese Phasen mitunter wiederholt oder in ihrer Reihenfolge vertauscht statt. So kann ein Organismus sofort nach seinem Tod eingebettet werden oder durch die Einbettung überhaupt erst zu Tode kommen (etwa in Eis, Treibsand oder Bitumen). Auch kann der Kadaver lange nach der Einbettung wieder freigelegt werden, dann verwesen und schließlich erneut eingebettet werden. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Gletscherleiche „Ötzi“, die nach Jahrtausenden der Einbettung vom Eis freigegeben und in der frischen Luft sofort von Mikroorganismen befallen wurde. Hätte man sie nicht gefunden, wären ihre Knochen eventuell wieder ins aufgetaute Erdreich gesunken und irgendwann zu Stein fossiliert worden.

Für seine Arbeit bekommt Jefremow 1952 den Stalin-Preis verliehen (was durchaus als Indiz für seine damalige Konformität mit dem herrschenden System gewertet werden kann). Wir erkennen in Iwan Jefremow einen wissbegierigen Forscher, der nicht nur gelernt hat, methodisch vorzugehen, sondern auch gewaltige Zeiträume zu überblicken. Während aber von seinen über hundert wissenschaftlichen Arbeiten bis heute nur die wenigsten aus dem Russischen übersetzt und außerhalb von Gelehrtenkreisen bekannt sind, erreichten seine literarischen Texte schon bald ein weitaus größeres Publikum.

Seine erste nicht-wissenschaftliche Arbeit, „Die Begegnung über der Tuscarora“, erscheint 1944. Er lässt darin (wie auch in fast allen folgenden Werken) Erkenntnisse und Ereignisse aus seinem regen Expeditionsleben einfließen. Zu seiner Popularität sollte auch beitragen, dass er häufig Voraussagen macht, die sich später bewahrheiten: etwa der Fund von Diamanten in Jakutien, den er in „Der Diamentenschlot“ (1944) vorwegnimmt. Desgleichen die Beschreibung der Holografie in „Der Schatten der Vergangenheit“ (1945) sowie der in „Am See der Berggeister“ (1944) vorhergesagte Großfund von Quecksilbererz im Süd-Altai. Jefremow macht aber auch vor gewagteren Spekulationen nicht halt, indem er seine paläontologischen Interessen um archäologische erweitert. So vermutet er 1956 etwa das mythische Atlantis im Mittelmeerraum:

„Dort, sowohl an den Küsten als auf den Inseln des Mittelmeers, müssen wir nach der Wiege aller großen Zivilisationen des Altertums Ausschau halten, wie jenen von Ägypten und Atlantis. Wo müssen wir nach Atlantis suchen — im Osten oder im Westen dieser großen Zone mediterraner Kulturen? Die Antwort liefern uns die Überbleibsel der alten Zivilisationen Süd- und Mittelamerikas, die viel mit jenen Ägyptens gemeinsam haben und welche offensichtlich ihre Existenz einem Kontakt mit dem westlichen Ausläufer der Zone mediterraner Kulturen verdanken. Ich habe den Eindruck, dass es nicht im Geringsten notwendig ist, zu erwägen, dass die Existenz einer Insel im Atlantik den Zusammenhang zwischen den mediterranen und den amerikanischen Kulturen erklärt.“

Sowohl in wissenschaftlicheren wie auch spekulativeren frühen Werken zeigt sich Jefremows Intention für das literarische Schreiben ganz deutlich: das aus der Forschung übertragene, stetige Ringen nach Wissen, die Suche nach Antworten auf irdische (und überirdische) Phänomene. Sein Drang nach Wahrheit erscheint anfangs noch unverdächtig und mit der herrschenden Linie vereinbar — nach wie vor gilt intellektuelles Wissen im Sowjetreich zumindest für die Eliten als erstrebenswertes Ziel. Gleichzeitig zeichnet sich schon damals der inhärente Widerspruch ab zwischen den gewünschten, allseitig gebildeten Bürgern einerseits und einem Staat andererseits, der nichts stärker fürchtet als selbstständig denkende Menschen.

Nachdem die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts in der Science-Fiction noch von Pioniergeist und den Segnungen zukünftiger Technik geprägt waren, brachte die Zäsur des Zweiten Weltkrieges zahlreiche literarische Dystopien hervor. Nur wenige westliche Werke wagten sich noch an utopische Weltentwürfe, etwa B. F. Skinners „Walden II“ (1948) oder später Ursula K. Le Guins „Planet der Habenichtse“ (1974). Ganz anders im Osten: Die im Weltkrieg siegreiche UdSSR und ihre wissenschaftlich-technischen Vorsprünge schienen ein goldenes Zeitalter des Kommunismus einzuläuten.

War das sowjetische Raketenprogramm schon allein durch Ziolkowskis Vorarbeit dem amerikanischen weit voraus gewesen, brachte die aus Nazi-Deutschland erbeutete Rakete A4 (auch „V2“ genannt) nach 1945 einen weiteren wichtigen Impuls. Begleitet von einer Reihe deutscher Ingenieure wurde die Großrakete in Empfang genommen, analysiert, nachgebaut und sukzessive in Präzision, Nutzlast und Reichweite verbessert. Während in den USA der frühere Leiter des deutschen Raketenprogramms, Wernher von Braun, die weitere Entwicklung leitete, schickte die Sowjetunion die deutschen Techniker nach getaner Arbeit wieder nach Hause. Das gewonnene Wissen nutzte man unter anderem zum Start der ersten Interkontinentalrakete R-7 im Jahr 1953. Auch politisch war Rot auf dem Vormarsch: In der Nachkriegszeit etablierten sich in den Staaten Osteuropas stalinistische Regime, der sogenannte Ostblock definierte sich als territoriales Gegenmodell zum „kapitalistischen“ Westen. Das änderte sich auch nach dem Tod Stalins 1953 nicht, obwohl der neue Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow eine groß angelegte „Entstalinisierung“ einleitete. Das „neue“ System eines Marxismus-Leninismus bestimmte nun weitgehend die Politik der Sowjetunion und der Ostblockstaaten.

Wie eng Politik, Kriegstechnologie und Raumfahrt zusammenhingen, zeigt auch der kuriose Umstand, dass die Identität des führenden Kopfes des russischen Raumfahrtprogramms erst nach dessen Tod 1966 bekannt gegeben werden sollte: Sergei Koroljow — ein Visionär, der, ähnlich wie von Braun, seine Faszination für die Erforschung des Weltraums anfangs hinter militärischen Großprojekten verstecken musste. Die sowjetische Raumfahrt war von Beginn weg anders organisiert als die amerikanische: Die US-Raketenentwicklung wurde auf die Streitkräfte von Heer, Marine und Luftwaffe aufgeteilt (so befand sich etwa von Brauns Redstone-Entwicklung in Konkurrenz zu einem Marineprogramm). Erst später entstand mit der NASA eine eigene Behörde für zivile Raumfahrt. In der UdSSR hingegen schuf man mit den „Kosmischen Streitkräften“ (Wojenno-Kosmitscheskije Sily, WKS) sofort eine eigene Teilstreitkraft sowohl für militärische als auch zivile Entwicklung (erst mit der Gründung der russischen Föderation 1992 ging diese in die zivile Raumfahrtagentur ROSKOSMOS über).

Die R-7 galt als herausragende Ingenieursleistung Koroljows, da sie besonders einfach und damit zuverlässig funktionierte. Mit nur kleinen Variationen wurde sie die weltweit am häufigsten eingesetzte Trägerrakete und wird bis heute bei Sojus-Raumschiffen und Progress-Transportern verwendet. Mit einer R-7 startete am 4. Oktober 1957 auch Sputnik 1, der erste Erdsatellit. Eine Sensation, die weltweit Begeisterung für die Raumfahrt weckte, in den westlichen Ländern jedoch zum sogenannten Sputnik-Schock führte: Die Sowjetunion beherrschte den Luftraum und konnte ihre Atomraketen vielleicht schon als Nächstes auf jedes westliche Land herunterregnen lassen. Vorläufig beließ es die UdSSR bei friedlichen Missionen und demonstrierte ihre Überlegenheit, indem sie noch 1957 mit Sputnik 2 das erste Lebewesen in die Umlaufbahn schickte: die Hündin Laika. Der Westen war technologisch gedemütigt, der Weltraum für den Kommunismus geöffnet.

Und genau in dieser Zeit höchsten Selbstbewusstseins erscheint 1957 Iwan Jefremows „Andromedanebel“. Zuerst als gekürzter Vorabdruck in der Zeitschrift Technika — Molodjoschi („Technik — der Jugend“), dann die vollständige Ausgabe 1958 als Buch. Dass der Text zuerst in einem Jugendmagazin publiziert wird, ist kein Zufall. Populärwissenschaftliche Zeitschriften wie „Wissen ist Kraft“ (Snanie-sila) oder „Wissenschaft und Leben“ (Nauka i schisn) sind nicht nur höchst beliebt im Volk, sondern werden von Partei und Staat auch ganz bewusst unterstützt. Das Interesse an Zukunft wird zentral gefördert, Träumen ist erlaubt, solange es sich auf ferne oder dereinstige Welten bezieht. Wie Matthias Schwartz in seiner Studie „Die Erfindung des Kosmos“ ausführt, entsteht im Russland der 1950er-Jahre aus diesem Geist auch das Genre der „Wissenschaftlichen Fantastik“ (Nautschnaja Fantastika — kurz NF), im Gegensatz zu und nicht immer kongruent mit dem westlichen Begriff der Science-Fiction. Die NF lässt verborgene Anteile der verdrängten Wünsche und Ängste der Stalin-Ära sichtbar werden, indem sie „das Geheimnis in eine andere Welt als Unheimliches transformiert“. Begeistert werden die fantastischen, bisweilen esoterischen Schilderungen der Magazine von einer jungen, technikbegeisterten Leserschaft verschlungen, die zu Tausenden auch an Preisausschreiben für NF-Kurzgeschichten und — Lyrik teilnimmt. Die NF trifft nicht nur den Nerv den Zeit, sondern formt ihn auch mit.

Eingebettet in diese euphorische Stimmung sieht nun Jefremow in seinem Roman ganz folgerichtig eine kommunistische Zukunft der gesamten Menschheit vorher, die die Sterne besucht und die Erde in ein Paradies verwandelt hat. Sie hat nicht nur Wissenschaft, Kunst und Pädagogik optimiert, sondern ist auch Teil eines „Großen Ringes“ verschiedener kosmischer (natürlich ebenfalls kommunistischer) Zivilisationen. Ganz ähnlich wie Ziolkowski geht auch Jefremow davon aus, dass andere raumfahrende Völker im All Freunde der Menschen sein müssen, da technisch-wissenschaftlicher Fortschritt ohne ethische Weiterentwicklung nicht denkbar sei.

Obwohl Jefremow also zahlreiche technische Entwicklungen schildert, geht der Text weit über die Zurschaustellung von Gimmicks hinaus: Kaum jemals zuvor entwarf ein Autor einen derart weit gespannten Bogen vom „Dunklen Zeitalter“ der Menschen bis ins Jahr 3000; noch nie zuvor wurden so detailliert alle Bereiche einer menschlichen Gesellschaft der Zukunft beschrieben.

Breiten Raum gibt er der Darstellung freiwilliger, schöpferischer Arbeit und des Strebens nach Erkenntnis. Sogar eine neue wissenschaftliche Disziplin erfindet er: die bipolare Mathematik. In der Kunst wiederum lässt eine Synthese von Musik, Farbe und Bewegung ungewöhnliche und beeindruckende Kunstwerke im Rahmen „multimodaler Konzerte“ entstehen. Auch das Zusammenleben der Menschen interessiert Jefremow: die Struktur der Gesellschaft, die Rechtsprechung, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, Eltern und Kindern. Eine literarisch gekonnte Entwicklung der Charaktere gelingt ihm weniger gut: Vereinzelt auftretende Konflikte werden — meist in wohlüberlegter, deklamatorischer Sprache — durch Diskussionen und klärende Gespräche überwunden. Emotionen werden weitgehend unterdrückt, Geschehnisse sachlich geschildert. Jefremows Stil entspringt seinem wissenschaftlichen Verstand, weniger dem Herz des einstigen Revolutionärs. Natürlich erklärt sich die „langweilige“ Sprache des Romans aus dem Umstand heraus, dass sich die geschilderte Gesellschaft praktisch alle Konflikte abgewöhnt hat — im Vergleich dazu brauchen heutige Romane besonders konfliktreiche Dialoge, um Spannung und damit große Leserschaft zu erreichen.

Bei aller Systemtreue Jefremows beinhalten gerade die schillerndsten Passagen des Romans schon den Keim späterer Kritik an den Herrschenden: Auf der zukünftigen Erde kann jeder Bürger und jede Bürgerin auf alle wichtigen Entscheidungen direkten Einfluss nehmen; Fragen und Probleme werden — als hätte der Autor Facebook vorausgesehen — im weltumspannenden Informationsnetz diskutiert; politische Entscheidungen sind wahrhaft demokratisch, da von der gesamten Weltbevölkerung getragen und nicht vom Zentralkomitee einer Einheitspartei.

Auch die Arbeit wird nicht von zentraler Stelle zugeteilt, sondern kann frei gewählt werden, sofern man die nötige Qualifikation besitzt. Ein Wechsel der Arbeitsstelle oder der Beginn einer Ausbildung sind jederzeit möglich. Die Arbeitsvermittlung berät dabei, aber befiehlt nicht. Männer und Frauen sind tatsächlich gleichberechtigt, nicht nur in den Parteistatuten. Es gibt keine Reisebeschränkungen, der Wohnort kann unproblematisch nach Belieben gewechselt werden. Man ist frei von Konsumzwang — allerdings freiwillig und nicht auf Verordnung. Jede und jeder hat uneingeschränkten Zugang zu Kultur und Informationen — nicht nur zu den vom Staat als „ungefährlich“ klassifizierten. In der Tat beschreibt Jefremow eine Erfüllung des sozialistischen Traums, wie ihn die reale kommunistische Politik niemals verwirklichte.

„Andromedanebel“ wird in kurzer Zeit zu einem der meistverkauften sowjetischen Romane und für viele Sowjetbürger zu einem Idealbild der zukünftigen Gesellschaft. Im Gegensatz zu anderen Vertretern der sowjetischen NF geht Jefremow allerdings nicht davon aus, dass sich die kommunistische Gesellschaft plötzlich und rasch entwickeln wird. Er sieht einen langen und mühevollen Weg voraus: Erst durch eine entsprechende Erziehung des Menschen und zielgerichtete Entwicklung seiner Persönlichkeit kann das Ziel überhaupt erreicht werden. Denn der Autor ist Realist genug, um zu merken, dass jede noch so kommunistische Zukunftsgesellschaft einen kleinen Schönheitsfehler aufweist: die „mangelhafte“ geistig-moralische Grundausstattung des Homo sapiens.

Kenner der Antike, der er ist, greift Jefremow auf Platons radikale Ideen vom idealen Staat zurück und setzt bei der ersten Lebensphase des Menschen an: Frauen geben ihre Kinder schon in sehr frühem Alter in die Hände von Lehrern, um sich selbst wieder vollständig der Arbeit widmen zu können und sicherzustellen, dass jeder neue Erdenbürger ein konformer Teil des Kollektivs wird. Selbstverständlich lernen die Kinder mit Eifer und Freude; alle paar Jahre werden sie — weit entfernt von den Eltern — an verstreute Orte der Welt zu anderen Lehrern geschickt. Ebenso besitzt das spätere, regelmäßige Wechseln des Arbeitsplatzes einen subtilen Zwang: Es darf kein Zustand der Routine und Nachlässigkeit entstehen. Zu diesem Zweck wird auch verhindert, dass die Bürger tiefere Freundschaften oder ein stabiles soziales Umfeld entwickeln — also doch kein Facebook-Effekt (oder vielleicht ist dies sogar die wahre Absicht heutiger „sozialer Medien“, wer weiß).

Ob bewusst oder nicht, verfällt Jefremows Zukunftswelt dabei dem Denken totalitärer Staaten: Menschen zählen nur noch als Produktivfaktoren, nicht mehr als einzigartige, mit Gefühlen und persönlichen Bedürfnissen ausgestattete Individuen; sie werden als Mitglieder eines Insektenstaats betrachtet, dessen kollektives Fortkommen über dem des Einzelnen steht. Doch der Autor lässt immerhin Schlupflöcher: Auf der Insel Java etwa leben all jene Mütter, die ihre Kinder selbst erziehen wollen. Und für Bürger, die den Gedanken des Kollektivs nicht unterstützen (oder sich schwerer moralischer Verfehlungen schuldig gemacht haben), gibt es… nein, nicht das Arbeitslager, sondern die „Insel des Vergessens“. Hier leben die Verbannten — teils freiwillig — in altmodischen Rollenbildern als Fischer, Bauern und Viehzüchter. Ein Dasein, das im Rest des globalen Staates nicht nur als ineffizient und überholt, sondern als regelrecht anstößig gilt.

Aus futurokommunistischer Perspektive ist auch die Vergangenheit verpönt: Man spricht von ihr in abwertendem Ton (solange es sich nicht um die Antike handelt). Kopfschüttelnd erinnert man sich, über welch geringe Lebenserwartung die Menschen damals verfügten oder dass sie Möbel, Häuser und Schmuck für wertvoll hielten und alles daransetzten, sie zu erwerben. Was an Vergangenem vielleicht doch nicht so schlecht war, wird konsequent ignoriert — etwa die körperliche Autonomie des Individuums. Obwohl die neue Gesellschaft von Frieden und Einklang durchdrungen ist und nicht einmal mehr weiß, was „Waffen“ sind, oktroyiert ihr der globale Rat ganz ohne Skrupel ein Jahr lang Energieverzicht, nur um ein Raumschiff zum Andromedanebel schicken zu können, in dem wahrscheinlich intelligentes Leben existiert. Fortschritt um jeden Preis — ganz wie „damals“ in der realen Sowjetunion oder während Maos „großem Sprung nach vorn“ im kommunistischen China.

Charakteristisch ist denn auch Jefremows sprachlicher Drang nach „Fortschritt der Handlung“: Auch nach Krisensituationen werden Gefühlsregungen nur kurz angesprochen (oder analytisch auseinandergenommen), um gleich wieder im Duktus des allwissenden Erzählers mit technisch-gesellschaftlichen Beschreibungen fortzufahren. Die Leidenschaftslosigkeit dieser zukünftigen Welt äußert sich selbst in den Benennungen der Himmelskörper: K2-2N-88 oder NGR380 sind den Protokollen von Technokraten entnommen, nicht den Sehnsüchten einer raumfahrenden Menschheit, die den Planeten und Sternen einst Götter- und Heldennamen gab.

Diesen Drang zum Fortschritt sehen wir auch im Zeitrafferblick auf die sowjetische Raumfahrt: Galt sie seit dem Start von Sputnik 1 bereits als weltweit führend, baute sie den Vorsprung in atemberaubendem Tempo konsequent weiter aus und wurde vom Westen als immer stärkere Bedrohung wahrgenommen. Während die Weltwirtschaft 1958 ihre erste Rezession der Nachkriegszeit erlebte, verschärfte sich der Konflikt zwischen Ost und West zum „Kalten Krieg“. In einer Rede im Moskauer Sportpalast deutete Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow erstmals öffentlich das Übertragen sowjetischer Befugnisse aus alliierter Zeit auf die DDR an; die Berlin-Krise zog herauf und kulminierte in einem sowjetischen Ultimatum an die Westmächte.

Gleichzeitig breitete sich der Technik- und Rüstungswettlauf zwischen USA und UdSSR auch auf den Weltraum aus. Dem amerikanischen Apollo-Programm setzte Russland 1959 gleich mehrere Erfolge entgegen: mit Lunik 1 den ersten Raumflugkörper außerhalb des Erdorbits, mit Lunik 2 die erste unbemannte Mondlandung und mit Lunik 3 die ersten Bilder von der Mondrückseite. Im Jahr darauf kamen erstmals Tiere (die Hunde Belka und Strelka) lebend aus dem Orbit zurück. 1961 dann der größte Sprung: Die Sowjetunion schickte mit Juri Gagarin den ersten Menschen ins All und holte ihn nach einer erfolgreichen Erdumrundung unbeschadet wieder zurück. Wenig später gelang Kosmonaut Titow dieses Kunststück ein weiteres Mal. Menschen konnten also — wie von Visionären und Schriftstellern vorhergesagt — tatsächlich im Weltraum überleben.

Für die sowjetische Führung kamen diese Erfolge zwar unerwartet, doch man zögerte nicht, sie propagandistisch zu nutzen. Als auf dem 22. Parteitag der KPdSU im Oktober 1961 das neue Parteiprogramm versprach, der globale Kommunismus würde binnen zwanzig Jahren verwirklicht sein, dienten auch die Erfolge im Kosmos als Argumente. Dass die Zukunft der Menschheit kommunistisch sein würde, stand fest. Eine bemannte Mission zum Erdtrabanten oder sogar der Aufbau einer Mondstation schienen nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

Bei so viel Zukunftsbegeisterung dauert es nicht lange, bis Jefremows populärer Roman auch ins visuelle Medium übertragen wird. 1967 verfilmt ihn Jewgeni Scherstobitow unter dem Titel Tumannost Andromedy. Sergei Stoljarow tritt als Dar Weter auf und Wija Artmane verkörpert Weda Kong optimal. Der Regisseur nimmt Kürzungen vor und konzentriert sich auf die Erlebnisse der Tantra-Besatzung auf dem Eisenstern sowie auf die folgenreiche Sendung aus dem Epsilon-System im Sternbild Tukan. Der Film soll eigentlich der erste Teil einer Serie über das Leben in der Zukunft sein — doch die weiteren werden nie realisiert, denn nun nimmt das Leben des Iwan Jefremow eine entscheidende Wendung.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er sich in „Andromedanebel“ für seine ideale Gesellschaft auch antiker Vorbilder bedient: So müssen Jugendliche vor der Aufnahme in die Erwachsenenwelt erst zwölf „Herkulestaten“ vollbringen. Hochtrabende Gleichsetzungen mit mythologischen Geschöpfen sind in der Sowjetunion der 1950er- und 60er-Jahre nämlich an der Tagesordnung: So werden etwa die Astronauten Gagarin und Titow als Übermenschen, als Halbgötter präsentiert. Selbst als nach und nach die militärischen, wirtschaftlichen und technischen Erfolge ausbleiben, findet die Propaganda den passenden mythischen Vergleich: Helden, die immer nur das Beste wollen und darum mitunter auch etwas anstreben, das ihre Kräfte übersteigt. Genauso ergeht es Jefremow selbst: Er legt sich erstmals mit dem kommunistischen System an — und fällt in Ungnade. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, müssen wir ihn ein weiteres Mal kurz verlassen und uns den politischen Zeitläufen widmen.

Der unter Chruschtschow begonnene „neue“ Marxismus-Leninismus hatte seit den 1950er-Jahren weitgehend die Politik der Sowjetunion und der Ostblock-Staaten bestimmt und für ein — im Vergleich zur Stalinzeit — reformorientiertes, liberaleres Denken gesorgt. 1964 jedoch wurde Chruschtschow gestürzt, und als Nachfolger kam Leonid Breschnew an die Macht. Unter der neuen Führung wurde die Entstalinisierung kaum noch verfolgt, begonnene Reformen in Partei und Staat stoppte man oder nahm sie sogar wieder zurück.

Zum repressiveren Klima kamen — neben vielem anderen — auch technologische Misserfolge, vor allem in der (wie sich zeigen sollte wirtschaftlich so wichtigen) Computertechnik, aber auch in der Raumfahrt. Zwar setzte die Sowjetunion den Wettlauf zum Mond ohne Unterbrechung fort, indem sie die Erfolge der Lunik-Missionen mit dem Luna-Programm fortzusetzen trachtete. Für eine bemannte Mission fehlte es jedoch an passenden größeren Trägerraketen. Zudem war Raumfahrtvisionär Koroljow 1966 gestorben, und es gelang nicht, die verbliebenen Mittel und Fähigkeiten erfolgreich auf neue Aufgaben zu konzentrieren. So musste nach mehreren Fehlstarts die Arbeit an der gewaltigen N1-Rakete 1974 eingestellt und das bemannte sowjetische Mondprogramm sang- und klanglos beendet werden. Daran änderte auch nichts, dass mit dem Programm „Lunochod“ noch beachtenswerte Roboter-Missionen zum Mond angeschlossen wurden.

Auch die verschiedenen Missionen zum Mars verliefen für die UdSSR überwiegend glücklos: Die Sonde Mars 1 startete zwar plangemäß im Jahr 1962 und erreichte den Planeten, konnte aber wegen technischer Probleme keine Daten liefern. Ein ähnliches Schicksal erlitten Mars 2 und 3, die 1969 starteten. Die 1973 abgesandten Sonden 4 bis 7 waren von Elektronikproblemen geplagt, nur Mars 5 lieferte immerhin eine Reihe von Fotos. Was den Ruf der Weltraummacht gegenüber der NASA noch aufrechterhielt, waren die Sonden zum sonnennahen Nachbarplaneten Venus: Zwischen 1965 und 1984 startete die Sowjetunion insgesamt fünfzehn Venera-Missionen, die überwiegend erfolgreich verliefen und zahlreiche Daten, Radarkartierungen und hochauflösende Fotos übermitteln konnten. Doch wie man es drehte und wendete: Spätestens seit dem erfolgreichen Apollo-Mondprogramm der Amerikaner war der Weltraum für die Sowjetunion wieder ein Stück weiter in die Ferne gerückt.

Noch schwerwiegender für den kommunistischen Führungsanspruch war jedoch die sowohl von außen (Kalter Krieg, Atomangst) als auch von innen einsetzende Kritik am existierenden System. Seit der Oktoberrevolution hatten die Menschen den realen Kommunismus ausreichend kennengelernt, um ihm — mehr oder weniger offen — gleich mehrere Punkte entgegenzuhalten.

Da wäre zum Ersten die fehlende Basisdemokratie: Wie schon Rosa Luxemburg und andere Intellektuelle gemahnt hatten, lähmte das noch von Lenin verhängte Partei- und Fraktionsverbot die gewünschte gesellschaftliche Teilnahme und Eigeninitiative der Arbeiter und gefährdete so den Aufbau des Sozialismus außerhalb der Parteikader.

Ein anderes Problem ergab sich aus der überbordenden Bürokratie. Durch die Isolierung Sowjetrusslands riss eine Bürokratenkaste die Macht zunehmend an sich, was zu einer — wie schon Leo Trotzki es formuliert hatte — „Entartung des Arbeiterstaates“ führte. Der strikte Zentralismus mit seiner von oben nach unten aufgebauten sowjetischen Kaderpartei erschien zudem — wie etwa Wolfgang Leonhard ausführte — strukturell unfähig, die Wirtschaftsprobleme des Landes zu lösen.

Ökonomen wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek wiesen zudem auf ein immanentes „Berechnungsproblem“ hin: Die Verteilung von Leistungen und Gütern war ihrer Meinung nach ohne eine freie Preisbildung kaum sinnvoll möglich, da sie keine Berechnungsbasis hätte und unmöglich die Interessen aller Individuen sinnvoll miteinander koordinieren und gegeneinander aufwiegen könne. Sichtbar wurde dies immer öfter in Versorgungsengpässen vor allem bei der Landbevölkerung, aber auch in den leeren Kaufhäusern der Städte.

Mitten ins Herz des Sowjetstaats zielte fundamentale Kritik, wie sie unter anderem von George Orwell, Irving Fetscher und Oskar Negt formuliert wurde: Stalins und Maos behaupteter „Marxismus-Leninismus“ sei in Wahrheit ein Bruch mit den ursprünglichen Ideen von Marx, Engels und Lenin: eine Perversion der einstigen Ideologie. Kritiker wie Karl August Wittfogel, Rudolf Bahro und auch Rudi Dutschke verschärften dies, indem sie den Gesellschaftsformen der Sowjetunion und Chinas vorwarfen, sie seien überhaupt kein Sozialismus/Kommunismus mehr, sondern nur noch eine bürokratisch erstarrte Form des asiatischen Despotismus.

Im Grunde kreisten die Vorwürfe um die totalitäre Herrschaftsform der Sowjetunion. So merkte Hannah Arendt an, diese lasse strukturell keine Demokratisierung zu und schalte die freie Entfaltung der Menschen ähnlich aus wie der Faschismus. Andererseits brachte der zunehmende Imperialismus der UdSSR ihr (auch seitens der Reformkommunisten und weltweiten Befreiungsbewegungen) die Kritik ein, sie lenke mit ihrem äußeren Expansionsdrang lediglich von inneren ökonomischen Schwächen ab und gefährde damit letztlich den Weltfrieden. Was die Sowjetunion schließlich in die Krise stürzen musste, war ihr innerer Widerspruch. Der Kommunismus als Gesellschaftskonzeption enthielt zwar ausgesprochen menschenfreundliche Ideale wie Überfluss, Abwesenheit von Zwang, Gemeinschaftssinn und dergleichen. Doch sagten seine Vordenker nichts darüber, wie die Koordination des Wirtschaftsprozesses unter kommunistischen Bedingungen konkret auszusehen hätte und unter welchen Bedingungen ein menschenfreundlicher Zustand erhalten werden sollte. Selbst Marx und Engels hatten das Koordinierungsproblem, abgesehen von vagen Hinweisen, nicht gründlich analysiert. So hoch die Erwartungen — auch der russischen Fantastik — an die künftigen Jahrzehnte und Jahrhunderte auch waren, deuteten die empirischen Erfahrungen mit kommunistischen und sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnungen immer stärker darauf hin, dass solche Systeme langfristig nicht funktionsfähig sind.

Dies dürfte im Kern auch daran liegen, dass zwischen dem Menschenbild eines nicht-egoistischen, ausschließlich gruppenbezogenen „Schwarmwesens“ und den bisherigen Erfahrungen über die Natur des Menschen eine eklatante Diskrepanz besteht. Gerade weil die sowjetischen Machthaber dies schon recht früh erkannten, setzten sie auf konsequente Umerziehung. Damit sollten zwar die konzeptionellen Mängel der kommunistischen Ordnung kompensiert werden, doch wo war die Grenze zwischen „konform“ und „abweichend“ zu ziehen? Auch hier führten letztendlich konzeptionelle und (seitens der Machtelite) menschliche Schwächen dazu, dass sich der prinzipiell humane Charakter des Kommunismus in sein Gegenteil verkehrte. Es ist — wie wir auch heute noch in vielen Weltgegenden sehen — eine Eigenart totalitärer Systeme, auf Kritik nicht etwa mit Öffnung zu reagieren, sondern mit noch stärkerer innerer Geschlossenheit. Was dazu führt, dass gerade die inneren Kritiker als Feinde des Systems betrachtet werden.

Hier nun also zurück zu Iwan Jefremow, dem einst von den Machthabern geschätzten russischen Patrioten. Mit der optimistischen Beschwörung kommunistischer Zukunft in „Andromedanebel“ hatte er noch ganz auf Parteilinie gelegen; auch die daran anknüpfende Erzählung „Das Herz der Schlange“ von 1959 (auch bekannt als „Begegnung im All“) war nicht verdächtig erschienen, konzentrierte sie sich doch auf naturwissenschaftliche Fragen wie die biochemische Entstehung hochentwickelter, menschenähnlicher Lebensformen im Weltraum.

Dann jedoch bringt er den dritten und letzten Teil dieses Themenzyklus heraus: „Die Stunde des Stiers“. Nach einem gekürzten Vorabdruck (wieder in der Zeitschrift Technika — Molodjoschi) im Jahr 1968 erscheint die vollständige Ausgabe 1970 — und weckt sofort Misstrauen seitens der Mächtigen. Schon ein halbes Jahr später wird das Buch aus den Bibliotheken entfernt und — auf Betreiben des damaligen KGB-Chefs und späteren Präsidenten Juri Andropow — jede Erwähnung verboten. Kurioserweise wird es selbst in Jefremows „Gesammelte Werke“ weder aufgenommen noch erwähnt. Erst 1988 wird der Roman (nach Protesten russischer und internationaler Autoren) wieder gewürdigt und aufgelegt — doch bis dahin ist Jefremows Ruf in der Sowjetunion längst beschädigt. Was hatte er da bloß geschrieben, um es sich derart mit seinen einstigen Gönnern zu verscherzen?

Oberflächlich betrachtet gar nichts. Denn er kritisiert darin lediglich den chinesischen — wie er ihn nennt — „Ameisensozialismus“ (damals erlebt die Kontroverse zwischen Sowjetunion und „Rot-China“ gerade ihren Höhepunkt). Doch merkt man dem Text an, dass Jefremow über die Jahre hinweg offenbar seine Illusionen verloren hat, was den realen Kommunismus betrifft. Die sozialkritischen Aussagen im Buch lassen sich ohne Weiteres auf die UdSSR übertragen.

Die Handlung des Romans ist vordergründig unspektakulär: Einige Hundert Jahre nach den Ereignissen in „Andromedanebel“ lässt der Autor eine Schulklasse über die Frage diskutieren, ob neben dem Weg zur höchsten (kommunistischen) Gesellschaft auch andere Entwicklungen denkbar und zulässig seien. Davon angeregt organisiert der Lehrer einen Besuch beim Denkmal zu Ehren der Raumexpedition zum Planeten Tormans, danach sehen die Schüler einen Film über die damaligen Ereignisse: Die Raumfahrer treffen auf dem fremden Planeten zwei Gruppen an, die miteinander im Streit liegenden „Langlebigen“ und „Kurzlebigen“. Erst versuchen sie, beide von den Segnungen einer kommunistischen Gesellschaft zu überzeugen. Doch dabei tun sich schwerwiegende Fragen auf: Ist etwa der dortige Raubbau an der Natur tatsächlich nur dem maroden kapitalistischen System geschuldet? Und wäre die Unterdrückung systemgefährdender Informationen durch die Machthaber Tormans’ auch unter sowjetischen Verhältnissen denkbar? Schließlich erklären die erfolglosen Besucher von der Erde, sich nicht weiter einmischen zu wollen, damit die Tormansianer selbst ihren Weg in die Zukunft finden können.

Möglicherweise wären diese Gedanken durch das beschwichtigende Vorwort, in dem Jefremow mehrfach auf Lenin verweist, vom KGB noch toleriert worden. Doch das Buch enthält auch glasklar formulierte Passagen wie jene über das Erste Gesetz des Großen Rings (nichts anderes als ein Gesetz der Informationsfreiheit):

„Wer kann es überhaupt wagen, einem denkenden Wesen den Weg zur Welterkenntnis zu versperren? Die faschistischen Diktaturen aus der Vergangenheit der Erde und anderer Planeten haben ähnliche Verbrechen begangen und dadurch unvorstellbare Katastrophen herbeigeführt. Daher wird, wenn der Große Ring einen Staat findet, der seinen Bürgern das Recht auf Wissen verwehrt, dieser Staat zerstört. Dies ist der einzige Fall, der die Vollmacht zur Einmischung in die Angelegenheiten eines fremden Planeten gibt.“

Dass „Die Stunde des Stiers“ in der UdSSR verboten wird, verstärkt noch den darin sichtbaren Erkenntniswandel, den der Autor im Laufe seines Lebens durchlief. Doch müssen Schriftsteller keineswegs immer das heldenhafte Leben ihrer Protagonisten praktizieren: So wendet sich Jefremow nach dieser ernüchternden (und sicherlich einschüchternden) Erfahrung wieder der „Historical Fiction“ zu. Die Welt der alten Ägypter offenbart sich ihm in ihrer Mystik als Refugium, jene des antiken Griechenlands als wohltuender Hort der Demokratie. Entsprechend rückwärtsgewandt gilt sein letztes Werk, die Novelle „Tais von Athen“ (1972), den Eroberungszügen von Alexander dem Großen. Hier zeigt sich noch einmal Jefremows großes Talent, geschichtliche Ereignisse in einen übergeordneten Kontext zu setzen und mit Wissenschaft zu verbinden: So enthält diese Novelle auch eine hoch entwickelte Version jener „Inferno-Theorie“, deren Entwicklung er Jahrzehnte seines Lebens widmete und die auch Eingang in „Andromedanebel“ fand.

Die Theorie vom „Kreis des Infernos“ besagt im Kern, dass die Natur gegenüber dem Individuum völlig gleichgültig ist und darum zur höchsten Grausamkeit fähig. Sämtliche natürlichen Prozesse — auch sprunghafte Entwicklungen in der Gesellschaft — dienen demnach letztlich nur einer erhöhten Leidensfähigkeit der menschlichen Spezies. Darauf aufbauend sagt Jefremow vorher, dass unkontrollierter sozialer Fortschritt zu „negativer Selektion“ führen muss, die statt Darwins „Überleben des Angepasstesten“ eher den „Aufstieg des Schlimmsten“ zum Ziel hätte. Nur eine bewusste, kontrollierte und gutartige Anstrengung von uns allen kann diesen Teufelskreis durchbrechen.

Iwan Jefremow — den Brian W. Aldiss in seiner Geschichte der Science-Fiction „Der Millionen-Jahre-Traum“ einen der großen europäischen Schriftsteller seiner Zeit nennt — stirbt am 5. Oktober 1972 in Moskau. Kurz nach seinem Tod durchsucht der KGB die Wohnung des Autors und stellt allen Ernstes die Behauptung auf, er wäre als Kind vom englischen Geheimdienst ausgetauscht und zu einem britischen Spion erzogen worden. Der Vorwurf endet in einem posthumen Strafverfahren, das erst 1974 eingestellt wird.

1976 benennt der sowjetische Astronom Nikolai Tschernych den von ihm entdeckten Asteroid „(2269) Efremiana“ nach Iwan Jefremow.

Ein Arbeiter entdeckt 1977 bei der Goldgewinnung im nordostsibirischen Kolyma-Becken die hervorragend erhaltene Eismumie eines Wollhaarmammutkalbs. Diese wird — wie zahlreiche Mumien und Fossilien bis heute — nach den von Iwan Jefremow definierten Gesetzen der Taphonomie untersucht.

Auch die beiden 1988 gestarteten russischen Fobos-Sonden zur Erforschung des Marsmondes können ihr Ziel nicht erreichen. Jahre später muss auch die russische Mars 96-Sonde nach einem Fehlstart abgeschrieben werden. Nur die Venus-Missionen Vega 1 und 2, in deren Verlauf Landesonden auf der Venus abgesetzt werden, zeigen, dass die russische Raumfahrt technologisch weiterhin vorne mitspielt.

Mit dem Amtsantritt Michail Gorbatschows setzen „Glasnost“ und „Perestroika“ eine neue Reformwelle ein, die die ideologische Ausrichtung der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten grundlegend verändert. Das politische System des Ostblocks zerfällt, und 1991 hört die Sowjetunion auf zu existieren.

Den „real existierenden Sozialismus“ bewerten Postmarxisten als eine spezifische Form von Entwicklungsdiktaturen. Diese betreiben unter der Vorgabe (und im Glauben), eine sozialistische Gesellschaft zu errichten, lediglich eine „nachholende Industrialisierung“ auf dem Boden der warenproduzierenden Vergesellschaftung. Gegenwärtig berufen sich nur noch Kuba, Vietnam und Laos auf den Marxismus-Leninismus als offizielle Staatsdoktrin.

2011 kommt es unter dem Namen „Occupy Wall Street“ zu einer der größten Protestbewegungen in Nordamerika; vor allem junge Menschen drücken dabei ihre Sehnsucht nach einer verteilungsgerechten Gesellschaft aus. In der Zeit seit dem „Krieg gegen den Terror“ und einer weltweiten Wirtschaftskrise klingen sozialistische Ideen auch im Herzen des Kapitalismus verlockend. Ob nach fairer Aufteilung des Staatsvermögens gerufen wird oder Allmende und Gemeinwesen plötzlich attraktiv erscheinen: Nach Jahrzehnten des wirtschaftlichen Egoismus sehen offenbar immer mehr Menschen einen „sanften Kommunismus“ als Gegengewicht zur sozialen Sprengkraft einer ungehinderten wirtschaftlichen Globalisierung.

Was 1908 die rätselhaften Explosionen im sibirischen Tunguska ausgelöst hat, ist jedoch bis heute nicht restlos geklärt.

Uwe Neuhold ist als Ausstellungsgestalter und Schriftsteller tätig. In seinen Arbeiten beschäftigt er sich mit kultur- und naturwissenschaftlichen Themen.

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