8


Constãntã war die mit Abstand größte Stadt, die Delãny jemals gesehen hatte. Michail Nadasdy hatte ihm von Städten erzählt, die hundertmal größer und tausendmal prachtvoller seien, deren Straßen angeblich mit Gold gepflastert seien und deren Türme so hoch seien, daß ihre Spitzen den Himmel zu berühren schienen. Aber er hatte niemals eine Stadt gesehen, die nennenswert größer als Rotthurn gewesen wäre, und die größte Menschenmenge, in der er sich jemals aufgehalten hatte, mochte gerade einmal fünfhundert Köpfe gezählt haben.

Constãntã erschlug ihn regelrecht. Die Stadtmauer erschien ihm höher als die himmelstürmenden Pyramiden, die er ebenfalls aus Michail Nadasdys Erzählungen kannte, und der Marktplatz, auf den sie gelangten, nachdem sie das gigantische Tor passiert hatten, war tatsächlich groß genug, um ganz Borsã und auch noch einen Teil des Schlosses aufzunehmen.

Er war schwarz vor Menschen.

Andrej versuchte erst gar nicht, sie zu zählen oder ihre Zahl auch nur zu schätzen. Dutzende von Marktständen und Karren waren zu einem engen, aber sinnreichen System schmaler Gassen aufgereiht, zwischen denen sich die Menschen in so dichten Trauben drängten, daß Andrej sich unwillkürlich fragte, wieso sie nicht erstickten oder von der sie umgebenden Menge zerquetscht wurden. Der Lärm war unbeschreiblich, und das Durcheinander von angenehmen, fremdartigen, aber zum Teil auch unangenehmen Gerüchen marterte seine Nase ebenso, wie die grellen Farben und das Chaos aus Bewegung seine Augen überwältigten.

»Ich wußte nicht, daß es so viele Menschen auf der Welt gibt!« sagte Frederic. Seine Stimme zitterte vor Staunen und Furcht. Auch Andrej flößte der Anblick der überfüllten Straßen Angst ein.

Schon als sie sich der Stadt genähert hatten, mußte sich Andrej eingestehen, daß es ein gewaltiger Fehler gewesen war, jahrelang das Leben eines Einsiedlers zu führen. Lange Zeit hatte er geglaubt, das zurückgezogene Leben allein mit Raqi würde ihm alles geben, was er jemals im Leben benötigte, aber das stimmte nicht, so glücklich diese Jahre auch gewesen sein mochten. Raqi war stets an seiner Seite gewesen und schließlich gestorben, als gerade ein neuer Lebensabschnitt beginnen sollte - nach der Geburt ihres zweiten Kindes hatten sie vorgehabt, die Berge zu verlassen und woanders ihr Glück zu versuchen, um später vielleicht sogar Marius zu holen und wieder bei sich aufzunehmen. Aber wenn er ehrlich war: Er wußte nichts von einem Leben ohne seine Frau und ohne seine Kinder. Vielleicht war es das gewesen, was Michail Nadasdy gemeint hatte, als er ihn warnte, sich zu ernsthaft mit einer Frau einzulassen.

Delãny schob diesen Gedanken beiseite. Diese Stadt machte ihm angst. Diese unvorstellbare Anzahl von Menschen war ihm nicht geheuer, aber im Moment hatten sie ein viel dringenderes Problem zu lösen. Eine ganze Menge davon, um genau zu sein ...

»Ich wußte schon, daß es so viele Menschen gibt«, antwortete Andrej mit einiger Verspätung auf Frederics Frage. »Ich wußte nur nicht, daß sie alle heute abend hierherkommen würden.«

Er lachte, doch Frederic hatte seine Antwort in all dem Lärm und Stimmengewirr entweder nicht verstanden, oder er begriff den Scherz nicht, denn er sah Andrej nur irritiert an und drängte sich gleichzeitig enger an ihn.

Nur den Bruchteil einer Sekunde war Andrej abgelenkt, da wurde er von jemand so unerwartet angerempelt, daß er fast das Gleichgewicht verloren hätte, gleichermaßen überrascht wie verärgert drehte er sich um, darauf gefaßt, es mit einem unangenehmen Zeitgenossen zu tun zu bekommen, der ihn absichtlich aus dem Weg hatte stoßen wollen. Doch zu seiner Überraschung sah er sich er einem jungen, hübschen Mädchen gegenüber, mit dunklen, über die Schultern wallenden Haaren, braunen Augen und vollen Lippen, die ihrem Gesicht etwas Verheißungsvolles verliehen.

»Ja?« fragte das Mädchen und zog in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen hoch.

»Ich, ich ...«, stammelte Andrej. Das, was er gerade noch hatte sagen wollen, war ihm komplett entfallen; dafür kamen ihm tausend Dinge in den Sinn, die er hätte sagen können: Wenn er nur in der Lage gewesen wäre, ein weiteres Wort hervorzubringen.

Auch sie verharrte einen kurzen Moment lang, und ihre Blicke trafen sich und verfingen sich in vollkommen unsinniger Weise ineinander. Es waren vielleicht nur ein, zwei Sekunden, aber sie kamen Andrej wie eine Ewigkeit vor. Er begriff nicht, was in ihm vorging, und schon gar nicht verstand er, warum ihm der Anblick dieser jungen Frau geradezu den Atem raubte - beinahe so, als hätte er noch nie ein attraktives weibliches Wesen gesehen.

Sie lächelte ihn scheu an und warf ihm ein kurzes »Entschuldigt bitte« zu, bevor sie von der Menschenmenge mitgerissen wurde und in ihr verschwand.

Frederic, der ein paar Schritte weitergeeilt war, bevor ihm klar wurde, das Andrej nicht mehr an seiner Seite war, drehte sich mit panisch suchenden Augen um und sah ihn erstaunt, ja fast vorwurfsvoll an.

»Wo bleibst du? Du siehst aus, als wäre dir ein Geist begegnet«, sagte er zu Andrej.

Andrej sah dem Mädchen kopfschüttelnd nach, wurde abermals angerempelt und entschloß sich nun, Frederic an die Hand zu nehmen und an den Straßenrand zurückzuweichen.

Die beiden waren staunend stehengeblieben, nachdem sie das Tor durchschritten hatten, während auf der Straße ein emsiges Kommen und Gehen herrschte. Trotz der gewaltigen Zahl von Menschen, die unentwegt durch das Stadttor hinausgingen oder hereinkamen, erregten sie womöglich Aufsehen. In den ersten Minuten, die sie in der Stadt zugebracht hatten, war ihm Krushas Warnung, daß nach ihnen gesucht werde, geradezu lächerlich vorgekommen. Wer wollte in diesem Gedränge einen einzelnen Menschen ausfindig machen? Aber möglicherweise galt das nur so lange, wie sie sich nicht anders als der Rest dieser gewaltigen Menschenmenge verhielten.

»Glaubst du, daß wir das Gasthaus finden?« fragte Frederic. Er mußte fast schreien, um sich über das Stimmengewirr hinweg mit seinem Begleiter zu verständigen. Andrej zuckte zur Antwort nur mit den Schultern.

Das Gasthaus war eindeutig die falsche Formulierung. Andrejs Blick flog über das bunte Durcheinander von Marktständen, aufgespannten Schirmen und Stoffdächern und über die Fassaden der Häuser, die den Marktplatz umgaben. Keines von ihnen hatte weniger als drei Stockwerke. Viele Fassaden waren mit aufwendigen Schnitzereien oder Steinmetzarbeiten verziert, die Dächer mit gleichmäßig gearbeiteten Holzschindeln gedeckt, manche auch mit Schiefer- oder Tonziegeln. Constãntã mußte eine unvorstellbar reiche Stadt sein - und sie war vor allem unvorstellbar groß. Es mußte hier mindestens ein Dutzend Gasthäuser geben.

»Versuchen wir es«, sagte er.

»Und wie?«

Andrej hob hilflos die Schultern. Sie würden sich durchfragen müssen, aber er war nicht einmal sicher, ob es auf diesem mit Menschen überfüllten Platz überhaupt ein Durchkommen gab. Und sie hatten nicht alle Zeit der Welt. Krushas Vorschlag, getrennt in die Stadt zu gehen und sich erst dort zu treffen, war ihm am Morgen vernünftig erschienen. Jetzt aber fragte er sich, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war. Wenn sie zu spät zu der Verabredung kamen oder das fragliche Gasthaus gar nicht fanden, waren die Überlebenden aus Borsã praktisch verloren. Krusha hatte mit seinen Informationen gegeizt, ihm aber glaubhaft versichert, daß die Gefangenen noch in dieser Nacht weggebracht werden sollten.

Er drehte sich hilflos einmal im Kreis, bedeutete Frederic mit einer Geste, sich nicht von der Stelle zu rühren, und ging zum Tor zurück. Vorhin, als sie die Stadt betreten hatten, waren sie von dem Posten am Tor kaum eines Blickes gewürdigt worden. Bestimmt machte der Mann sich nicht die Mühe, sich auch nur eines der zahllosen Gesichter einzuprägen, die tagtäglich an ihm vorbeizogen.

Außerdem schien er seine Aufgabe nicht sonderlich ernst zu nehmen. Er hatte sich gelangweilt auf seinen Speer gestützt und fühlte sich ganz offensichtlich gestört, als Delãny auf ihn zukam. In seinem orangerot und weiß gestreiften Waffenrock wirkte er überdies eher lächerlich als respekteinflößend, zumindest in Andrejs Augen.

»Bitte verzeiht die Störung«, begann Andrej.

Der Posten richtete sich ein wenig auf, machte sich aber nicht einmal die Mühe zu antworten, sondern bedachte den Fremden nur mit einem abschätzend-verächtlichen Blick.

»Mein Neffe und ich sind zum ersten Mal in der Stadt«, begann Andrej. »Wir waren hier mit meinen Brüdern verabredet, aber ich fürchte ...«

Er sprach bewußt nicht weiter, sondern ließ den Satz mit einem hilflosen Achselzucken und einem dazu passenden Gesichtsausdruck unbeendet ausklingen. Die Reaktion seines Gegenübers fiel so aus, wie Andrej gehofft hatte: Die Verachtung in den Augen des Uniformierten wurde noch größer, und er antwortete mit einer Art von Harne in der Stimme, die oft mit erstaunlichem Großmut einhergeht.

»Und jetzt siehst du zum ersten Mal in deinem Leben eine Stadt mit einer Mauer drumherum und mehr als zehn Häusern und würdest dir vor Angst am liebsten in die Hosen pinkeln, wie?« fragte er spöttisch.

Andrej zuckte mit den Schultern und setzte ein verlegenes Gesicht auf. »Sie ist... sehr groß«, gestand er. »Ich habe nicht mit so vielen Menschen gerechnet. Und wir haben nur noch eine Stunde Zeit, um das Gasthaus zu finden.«

»So, so.« Der Mann stemmte sich an seinem Speer in die Höhe und warf einen vollkommen überflüssigen, nachdenklichen Blick an Andrej vorbei in die Stadt hinein. Vielleicht suchte er nach dem Neffen, von dem Andrej gesprochen hatte; möglicherweise war dessen Erwähnung ein Fehler gewesen.

»Weißt du wenigstens den Namen des Gasthauses, in dem ihr euch verabredet habt, mein Freund?«

» ›Zum Einäugigen Bären‹ «, antwortete Andrej.

»Eine Spelunke«, meinte der Torwächter. »Selbst für einen Mann wie dich kaum der richtige Ort, wie mir scheint. Hast du Geld?«

»Nicht viel«, antwortete Andrej. »Warum?«

»Oh, keine Angst, ich will nichts davon«, sagte der Wächter. »Ich wollte dir nur raten, gut darauf achtzugeben. Dort, wo du hinwillst, treibt sich eine Menge Gesindel herum. Wenn deine Brüder dort verkehren, solltest du über deine Familie nachdenken.« Er seufzte. »Aber was geht mich das an... ? Es ist leicht zu finden. Ihr müßt den Markt überqueren, und dann folgt ihr der Straße bis zum Schloß. Dort biegt ihr rechts ab, bis ihr zum Hafen kommt. Jeder dort kennt den ›Einäugigen Bären‹. Aber seht zu, daß ihr bis zum Einbruch der Dämmerung wieder aus dieser Gegend verschwunden seid.«

Andrej war verwirrt. Trotz des unüberhörbaren Spotts registrierte er auch eine Gutmütigkeit, die er von einem Soldaten im Dienste des Herzogs zuallerletzt erwartet hatte. Er wollte sich bedanken, doch in diesem Moment ging eine erstaunliche Veränderung mit dem Posten vonstatten: Er richtete sich kerzengerade auf und wirkte plötzlich kein bißchen gelangweilt mehr, sondern angespannt, fast schon sprungbereit. Seine Augen wurden schmal, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der zwischen Erschrecken und unterdrücktem Zorn schwankte. Im allerersten Moment dachte Andrej, der Uniformierte hätte erkannt, wer vor ihm stand, aber dann wurde ihm klar, daß er gar nicht ihn anstarrte, sondern einen Punkt irgendwo hinter seinem Rücken. Andrej drehte erschrocken den Kopf - und fuhr heftig zusammen.

Hinter ihnen war plötzlich eine Gruppe von zehn, zwölf Reitern aufgetaucht. Die Männer sprengten in scharfem Tempo heran, ohne auch nur die mindeste Rücksicht darauf zu nehmen, daß die Straße voller Menschen war. Die meisten trugen die gleichen orange und gelb gestreiften Waffenröcke wie der Mann vor ihm, aber einer von ihnen war in einen dunkelroten Samtumhang gehüllt, zu dem er einen übergroßen Hut mit breiter Krempe trug. Die beiden Reiter zu seiner Rechten und Linken trugen schwarze Mäntel, unter denen es mitunter goldfarben aufblitzte.

Andrej mußte nicht einmal in ihre Gesichter sehen, um zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Nachdem Sergé einen der drei goldenen Ritter nach dem Wirtshausbrand erstochen hatte und drei minus eins zwei ergab, war wahrscheinlich auch der hünenhafte Mann unter ihnen, mit dem er seinen ersten wirklichen Kampf auf Leben und Tod ausgefochten hatte. Es konnte natürlich auch sein, daß in Constãntã noch weitere goldene Ritter stationiert waren und daß die heutige Leibwache des Inquisitors aus ihm gänzlich unbekannten Männern bestand - wenn das so war, dann mußte er sich warm anziehen.

Ohne zu zögern drehte er sich wieder herum und starrte zu Boden. Das war eine ebenso hilflose wie unsinnige Reaktion: In einer solchen Masse von Menschen würde dem Inquisitor und seinen Schergen ein einzelner Mann wohl kaum auffallen. Im Gegenteil, erst durch sein Verhalten brachte er sich in Gefahr, die Aufmerksamkeit der Stadtwache auf sich zu lenken. Hastig korrigierte er seinen Fehler - zu hastig, wie eine ärgerliche Stimme in seinem Inneren bemerkte - und hob den Kopf, nicht viel, sondern so, daß es der demütigen Haltung eines Mannes gleichkam, der sich auf keinen Fall mit den falschen Leuten anlegen wollte.

Und tatsächlich - das Wunder geschah. Der Reitertrupp jagte vorbei, ohne auch nur sein Tempo zu mindern, und das bedrohliche Gefühl in seinem Inneren schwand mit jedem Meter, den er sich von ihm entfernte.

Andrej widerstand der Versuchung, den Reitern nachzublicken, als sie dicht hinter ihm durch das Tor sprengten, aber er registrierte trotzdem aus den Augenwinkeln, wie einer der beiden goldenen Ritter den Kopf hob und einen suchenden Blick in die Runde warf. Vielleicht hoffte er, ihn hier irgendwo zu entdecken. Vielleicht hatten ihn die jahrelangen Kämpfe auch nur vorsichtig werden lassen; aber möglicherweise hatte Andrej sein Entkommen auch einem viel banaleren Umstand zu verdanken - nämlich dem, daß ihn der Brand im Gasthaus seiner langen Haare und eines Großteils seiner Kleidung beraubt hatte. Mit seinem fast kahlen Schädel und gehüllt in das beinahe orientalisch anmutende Gewand, das Krusha ihm geliehen hatte, hätte vermutlich selbst Frederic Schwierigkeiten gehabt, ihn aus einiger Entfernung zu erkennen; noch dazu von hinten und inmitten einer größeren Menschenmenge.

Er bemühte sich, nicht hörbar aufzuatmen, als der Reitertroß durch das Tor verschwunden war und in der Menschenmenge untertauchte - zwar in langsamerem Tempo als zuvor, aber angesichts der überfüllten Straße noch immer viel zu schnell. Bis die Reiter ihr Ziel erreicht hatten, würde es eine Menge blauer Flecke und Rippenbrüche geben, wenn nicht Schlimmeres.

»Wer ... war das ?« fragte er zögernd.

Der Posten starrte noch einige Sekunden lang aus eng zusammengekniffenen Augen in die Richtung, in die die Reiter entschwunden waren, ehe er Andrejs Frage beantwortete.

»Die Leibgarde des Herzogs«, sagte er, »zusammen mit diesem verdammten Pfaffen!«

Andrej blickte den Mann fragend und gleichzeitig überrascht an. Der Reiter im roten Samt war Vater Domenicus gewesen? Er hatte ihn sich sehr viel älter und von vollkommen anderem Habitus vorgestellt - insbesondere aufgrund von Frederics Bericht über die Vortülle im Borsã-Tal. Er hatte einen alten, grausamen Kirchenfürsten erwartet, aber der Begleiter der beiden goldenen Ritter war keinen Tag älter als fünfunddreißig und von sportlicher, schlanker Statur. Und er hatte das Gesicht eines Kriegers - hart, aber auf eine eigentümliche Weise gutaussehend.

»Mögt Ihr ... die Kirche nicht?« fragte er zögernd - ein Fehler, wie er im gleichen Moment begriff, in dem er die Worte aussprach; denn als ihn der Posten jetzt ansah, lag ein mißtrauischer Ausdruck in seinen Augen.

Aber nur für einen Moment, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Doch. Aber ich schlage drei Kreuze, wenn dieser verdammte Inquisitor wieder dort ist, wo er hingehört. Seit er und seine drei seltsamen Begleiter in der Stadt sind ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende, so, als wäre ihm erst jetzt bewußt geworden, mit wem er sich unterhielt - einem vollkommen Fremden nämlich, von dem er nicht wissen konnte, ob er wirklich das war, wonach er aussah, und wohin er sich als nächstes wenden und mit wem er reden würde.

»Verschwinde jetzt«, sagte er. »Ich habe zu tun. Und du solltest dich sputen, wenn du rechtzeitig im ›Einäugigen Bären‹ sein willst.«

Andrej bedankte sich mit einem Kopfnicken und eilte zu Frederic zurück. Er fand den Jungen nicht dort, wo er ihn zurückgelassen hatte. Die Reiter hatten Spuren auf der Straße hinterlassen: Andrej sah mehrere Männer und Frauen, die schreckensbleich geworden waren und die Hände gegen ihre Arme und Rippen preßten, und genau dort, wo er Frederic erwartete, hockte ein Greis auf dem Boden und hielt mit schmerzverzerrtem Gesicht seinen Knöchel, der offensichtlich gebrochen war.

Andrej s Gesicht verdüsterte sich vor Zorn. Für ihn selbst war ein gebrochener Knöchel schon hinderlich genug, aber dennoch eine Verletzung, die irgendwann wieder verheilen würde. Für den Alten aber konnte dies das Ende bedeuten. Selbst wenn der Knochen wieder zusammenwuchs, ohne daß er zum Krüppel wurde, war es durchaus denkbar, daß er im nächsten Winter verhungerte oder erfror, weil er seiner Arbeit nicht hatte nachgehen können. Was waren das für Menschen, die so rücksichtslos mit dem Leben anderer umgingen?

Andrej beantwortete sich diese Frage selbst: Die gleichen Menschen, die ein Haus mit einem Dutzend Unbeteiligter in Brand setzten, um einen einzelnen Mann und einen Jungen zu töten oder in ihre Gewalt zu bringen.

Andrej sah sich suchend nach Frederic um. Er hatte dem Jungen eingeschärft, sich nicht von der Stelle zu rühren, doch genau das hatte er offensichtlich getan. Gerade als Andrej zornig zu werden drohte, tauchte Frederic aus einer wenige Schritte entfernten Gasse auf. Er war leichenblaß und kam heftig gestikulierend auf ihn zu.

»Andrej!« sprudelte er los. »Ich habe sie gesehen! Sie waren hier, und ...«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Delãny und warf ihm einen fast beschwörenden Blick zu. »Nicht so laut!«

»Nein, du verstehst nicht!« Frederic senkte die Stimme, sprach aber nicht weniger aufgeregt weiter. »Ich meine nicht die beiden goldenen Reiter! Der Mann bei ihnen! Das war...«

»Vater Domenicus«, fiel ihm Andrej ins Wort. »Der Mann, der Barak und deinen Bruder Toras gefoltert hat.«

Frederic war verwirrt. »Woher weißt du das?«

»Der Mann am Tor hat es mir gesagt«, antwortete Andrej. »Aber ich glaube, ich hätte mir das auch selbst zusammenreimen können.« Er brachte Frederic, der etwas erwidern wollte, mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Er hat mir auch den Weg zum ›Einäugigen Bären‹ erklärt. Es ist ziemlich weit. Wir sollten uns lieber beeilen. Krusha wird nicht erfreut sein, wenn wir zu spät kommen.«

Frederics Reaktion erschreckte ihn. In den Augen des Jungen blitzte es trotzig auf, und für einen ganz kurzen, aber unglaublich intensiven Moment wurde dieser Trotz zu purem Haß, der sich gegen niemand anderen als gegen Andrej richtete - wenn auch wahrscheinlich aus keinem anderen Grund als dem, daß er das erste Ziel war, das sich Frederic bot.

»Ist das alles, was dich interessiert?« zischte er. »Diese beiden dahergelaufenen Diebe? Ich habe dir gesagt, daß ich den Mann gesehen habe, der meinen Vater und die anderen umgebracht hat! Er kann noch nicht weit sein! Wir können ihn einholen!«

Andrej warf einen raschen Blick in die Runde, ehe er antwortete. Frederic hatte laut genug gesprochen, um noch in etlichen Schritten Entfernung verstanden zu werden. Gottlob schien aber niemand seinen Worten besondere Bedeutung beizumessen. Er erwiderte nichts, sondern ergriff Frederic plötzlich hart bei den Schultern, drehte ihn herum und stieß ihn grob vor sich her.

»Ja, das ist alles, was mich interessiert«, zischte er, leise, aber so scharf, daß es einem Schreien gleichkam. »Diese beiden dahergelaufenen Diebe stellen nämlich im Moment die einzige Möglichkeit dar zu erfahren, wo deine Mutter und die anderen gefangengehalten werden! Was zum Teufel willst du? Rache - oder das Leben deiner Familie retten?«

Frederic riß sich los und funkelte ihn an. »Ich wollte, ich hätte ein Schwert!« erwiderte er. »Ich wollte, ich wäre erwachsen und müßte mich nicht herumkommandieren lassen!«

Andrej riß endgültig der Geduldsfaden. Er packte Frederic erneut bei den Schultern, riß ihn herum und schüttelte ihn so heftig, daß die Zähne des Jungen aufeinanderschlugen.

»Jetzt hör mir mal zu!« sagte er wütend. Er schrie fast. »Wenn du glaubst, es sei so leicht, ein Leben zu nehmen, dann täuschst du dich! Du willst ein Schwert? Bitte! Du kannst meines haben. Meinetwegen geh hin und versuche, diesen Mann umzubringen! Vielleicht gelingt es dir ja sogar! Er wird kaum damit rechnen, von einem Kind angegriffen zu werden! Und dann?«

»Wie ... meinst du das?« fragte Frederic irritiert.

»Selbst wenn es dir gelingt«, fuhr Andrej fort, »und selbst wenn du in all der Aufregung und dem Durcheinander entkommen solltest - was dann? Glaubst du, es wäre damit getan, einem Mann ein Schwert ins Herz zu stoßen? Das ist es nicht! Er stirbt nämlich nicht einfach, weißt du? Er wird weiterleben, in dir!« Er hob die Hand und stieß Frederic so hart mit Mittel- und Zeigefinger vor die Stirn, daß es den Jungen schmerzen mußte. »Du wirst sein Gesicht sehen, jedes Mal, wenn du die Augen schließt. Er wird dir im Schlaf erscheinen. Er wird dich in deinen Träumen heimsuchen, und er wird dich fragen, warum du ihm das Leben genommen hast! Für lange, sehr lange Zeit. Vielleicht für den Rest deines Lebens!«

Frederic starrte ihn an, und Andrej las etwas in seinen Augen, das ihn noch mehr schockierte als der aus Schmerz geborene Haß, der kurz zuvor in ihnen gewesen war. Frederic verstand nicht, was er ihm zu sagen versuchte. Schlimmer noch: Es war ihm vollkommen gleichgültig. Möglicherweise tat Andrej ihm unrecht. Vielleicht war Frederic einfach zu jung, um zu begreifen, welch himmelweiter Unterschied darin lag, einen Mann in Selbstverteidigung zu töten oder ihn kaltblütig umzubringen. Dennoch wußte Andrej einen Augenblick lang selbst nicht, ob er nun Angst um oder vor Frederic haben sollte. Vielleicht kamen alle Worte, die er sagen konnte, längst zu spät; vielleicht hatte das Grauenvolle, das Frederic mit anzusehen gezwungen worden war, seine Seele schon zerstört; vielleicht konnte der Junge gar nicht mehr anders, als ebenso hart und gnadenlos zu fühlen und zu handeln wie seine Peiniger.

Und vielleicht war das allein schon Grund genug, Vater Domenicus und die zwei noch verbliebenen goldenen Ritter zu töten, die mit ihm im Borsã-Tal gewesen waren - und jeden weiteren goldenen Ritter, sofern ihm noch mehr von ihrer Sorte über den Weg liefen.

»Das ist eine wirklich eigenartige Methode, einem Kind Respekt vor dem Leben beizubringen«, bemerkte eine Stimme hinter ihm.

Andrej richtete sich zornig auf und fuhr herum. »Was mischt Ihr Euch...«

Er sprach nicht weiter. Er wußte nicht, was oder wen genau er erwartet hatte - aber hinter ihm stand die junge, dunkelhaarige Frau, mit der er vorhin im Menschengewirr bereits zusammengestoßen war. Inmitten der dichtgedrängten Menge hätte sie eigentlich wie verloren wirken müssen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Sie war kaum größer als Frederic und trug ein dunkelgrünes Samtkleid, das ihre schlanke Statur betonte, aber sie wirkte nicht verwundbar. Es war schwer in Worte zu fassen ... irgend etwas Kraftvolles ging von ihr aus. Möglicherweise lag es an ihren Augen, die ihn fröhlich und ohne jegliche Scheu - wie die eines Kindes - anblickten und die dennoch viel zu alt und viel zu wissend waren für das geradezu kindliche Gesicht, in das sie eingebettet waren. Oder war es die Selbstsicherheit, mit der sie ihr dunkles Haar trug, das in offenen Locken bis weit über die Schultern hinabfiel? Oder gar der zierliche, juwelenbesetzte Dolch an ihrem Gürtel?

Andrej wurde sich des Umstandes bewußt, daß er die junge Frau auf eine Art und Weise anstarrte, die leicht als unziemlich, zumindest aber als unhöflich angesehen werden konnte. Er flüchtete sich in ein verlegenes Lächeln. »Verzeiht«, sagte er. »Ich wollte nicht...«

»Ich sollte um Verzeihung bitten«, unterbrach ihn die Dunkelhaarige. »Ich habe eigentlich kein Recht, mich einzumischen ... aber Ihr versteht nicht viel von Kindern, oder? Ist das Euer Sohn?«

»Nein«, antwortete Andrej verwirrt.

»Nein, es ist nicht Euer Sohn, oder nein, Ihr versteht nichts von Kindern?« fragte die Fremde lachend.

Andrejs Verwirrung wuchs mit jedem Augenblick. Es waren nicht so sehr ihre Worte, es war vielmehr die bloße Anwesenheit der jungen Frau, die ihn zunehmend verlegener machte. Daß er wie vorhin keinen vernünftigen Satz zustande brachte, lag nicht nur an ihrem ungewöhnlichen Aussehen oder an ihrem noch ungewöhnlicheren Auftreten. Seine Augen konnten sich von ihrer fast zerbrechlich zu nennenden Statur nicht losreißen, und er spürte ein vollkommen unverständliches Verlangen, sie nicht gehen zu lassen, nicht noch einmal. Das Begehren, sie einfach in die Arme zu nehmen und nie wieder loszulassen, erschreckte ihn selbst über alle Maßen, schien es ihm doch nicht nur vollkommen deplaziert, sondern auch wie ein Verrat an Raqi.

Ihre Brust hob und senkte sich, ihr Atem ging schneller und unregelmäßig und eine zarte Röte auf ihren Wangen zeigte Andrej, daß es ihr womöglich ähnlich erging wie ihm - oder daß sie sich über alle Maßen über den Burschen ärgerte, der sie so unverhohlen anstarrte. Dennoch: Sie erwiderte seinen Blick so offen und frei, daß er nicht anders konnte, als sich in ihren dunklen Augen zu verlieren, die ihm wie zwei abgrundtiefe Bergseen vorkamen, gleichermaßen tief wie rein.

»Beides«, brachte Andrej schließlich mit belegter Stimme hervor und durchbrach damit die knisternde, kaum noch zu ertragenen Pause. »Aber...«

»Dann laßt Euch gesagt sein, daß man ein Kind nicht mittels Angst erziehen sollte«, fuhr sie befangen fort.

»Furcht ist ein schlechter Lehrmeister.« Die letzten Worte flüsterte sie fast.

»Ich habe keine Angst«, sagte Frederic mit Trotz in der Stimme.

»Natürlich nicht.« Sie lachte leise. »Kein richtiger Junge hat vor irgend etwas Angst. Wie ist dein Name, kleiner Held?«

»Frederic«, antwortete Frederic mißtrauisch. »Aber ich bin schon lange nicht mehr klein.« Seine Augen verengten sich. »Warum wollt Ihr das überhaupt wissen?«

»Oh, entschuldige, ich wollte dich nicht beleidigen. Ich weiß nur gerne, mit wem ich rede. Mein Name ist Maria. Und wie heißt Ihr?« fragte sie an Delãny gewandt.

»Andrej«, antwortete Delãny. »Frederic ist mein ... mein Neffe.« Die Worte klangen nicht einmal in seinen eigenen Ohren überzeugend. Was war nur mit ihm los? Das letzte Mal, daß er so auf einen Menschen reagiert hatte, war, als er Raqi kennengelernt hatte.

Allein dieser Gedanke versetzte ihm einen tiefen Stich. Irgendeinen Menschen - ganz gleich, wen - mit seiner geliebten Raqi zu vergleichen, bedeutete einen Verrat an ihrer Liebe.

»Ich ... es tut mir leid«, sagte er unbehaglich. »Aber wir sind ein wenig in Eile. Wir haben eine Verabredung und ... und noch einen weiten Weg vor uns.«

»Und zweifellos hat Euch Eure Mutter den guten Rat gegeben, Euch nicht von fremden Frauen ansprechen zu lassen«, fügte Maria mit übertrieben gespieltem Ernst hinzu. Dann lachte sie - ihre Stimme war so hell und klar wie der Klang einer gläsernen Glocke - und streckte Frederic die Hand entgegen. »Hast du vielleicht noch genug Zeit, dir von mir eine Zuckerstange schenken zu lassen, Frederic?«

Der Junge war nun vollends verwirrt - und Andrej kaum weniger. Sie lebten nicht in einer Zeit, in der eine Frau einen fremden Mann einfach auf offener Straße ansprach, nicht einmal, wenn es sich um eine so ungewöhnliche Frau wie diese Maria handelte. Aber das allein war es nicht. Irgend etwas an ihrer bloßen Anwesenheit erschreckte ihn so sehr, daß er am liebsten auf der Stelle davongerannt wäre.

Und wahrscheinlich hätte er das auch getan, wäre da nicht dieser sonderbare Ausdruck auf Frederics Gesicht gewesen. Der Junge wirkte immer noch erschrocken und verunsichert, aber da war auch noch etwas anderes.

»Es tut mit leid«, wollte Andrej die Unterhaltung beenden, »aber wir ...«

Doch Frederic sagte: »Gerne«, als hätte er Delãnys Worte überhaupt nicht gehört.

Maria ließ erneut dieses helle, glockenhafte Lachen ertönen, in dem eine deutliche Spur von - wenn auch gutmütigem - Spott mitschwang. Ihre Augen funkelten.

»Frederic!« sagte Andrej streng.

»So herzlos könnt Ihr nicht sein, Andrej«, versuchte Maria ihn umzustimmen, »einem Kind eine Zuckerstange zu verweigern, das zum ersten Mal in seinem Leben in der Stadt ist und noch nie einen richtigen Markt gesehen hat.«

»Woher wißt Ihr das ?« fragte Andrej mißtrauisch.

Maria lachte erneut. »Es steht euch in den Gesichtern geschrieben.« Sie streckte wieder die Hand nach Frederic aus und machte mit der anderen eine auffordernde Geste.

Frederic hob den Arm, um ihre Bewegung zu erwidern, drehte sich dann aber halb zu Andrej herum und warf ihm einen flehenden Blick zu. Seine Gesichtszüge entgleisten schlagartig, als er in Andrej s Richtung sah.

Wie erstarrt stand er da und sah über die Köpfe der vielen Menschen hinweg. Im ersten Moment glaubte Andrej, Domenicus sei mit seinem Gefolge zurückgekehrt, und der Junge sei im Begriff, eine Dummheit zu begehen, würde sich vielleicht mit einem Aufschrei auf den Mörder seiner Familie stürzen, ohne die unausweichlichen Konsequenzen zu bedenken. Dennoch zwang sich Delãny dazu, nicht panisch herumzufahren, sondern nur leicht den Kopf zu drehen, so daß er aus den Augenwinkeln in dieselbe Richtung blicken konnte, in die Frederic so entsetzt starrte.

Es waren nur zwei Reiter, die ihre Tiere im leichten Schrittempo durch die Menge lenkten, und im ersten Moment wollte Andrej schon aufatmen - bis er sie erkannte. Sein Herz schien einen Moment auszusetzen und dann mit schmerzhafter Wucht weiterzuhämmern, als er die zwei Silhouetten gewahrte. Es waren die beiden goldenen Ritter, die ihn in dem Wirtshaus aufgespürt hatten, und er konnte sich nur zu lebhaft vorstellen, was sie mit ihm anfangen würden, wenn sie auf ihn aufmerksam wurden. Sie ritten sehr langsam, fast gemächlich, so, als suchten sie jemanden - er wußte nur zu gut, wen -, und er spürte fast körperlich die Bedrohung, die von ihnen ausging.

Während Andrej die zwei aus den Augenwinkeln weiter zu beobachten versuchte, wandte er sich wieder Maria zu. »Ich will ja kein Spielverderber sein«, sagte er hastig und ohne das Entsetzen vollständig aus seinem Gesicht drängen zu können. »Aber heute haben wir wirklich keine Zeit dafür. Vielleicht ein anderes Mal?«

Marias Gesicht war anzusehen, daß sie die unerwartete Wendung des Gespräches enttäuschte und daß sie nicht begriff, was plötzlich mit ihm los war. Doch darauf konnte er nun wirklich keine Rücksicht mehr nehmen. Das Gespräch mit der jungen Frau hatte für ihn plötzlich und unerwartet eine ganz andere Bedeutung bekommen: Die Ritter ließen ihre Blicke ganz unverhohlen über die Menge schweifen, aber sie würden auf der Suche nach einem Mann und einem Jungen sein und nicht damit rechnen, daß sich die beiden Gesuchten in ein Gespräch mit einer jungen Schönheit vertieft hatten.

»Oh nein, das könnt Ihr mir doch nicht antun«, sagte Maria hilflos. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie Andrej und Frederic vollkommen kampflos davongehen lassen. »Wollt Ihr wirklich so herzlos sein, mich hier einfach stehenzulassen?«

Andrej versuchte zu lächeln, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. Es fehlte noch, daß er die junge Frau in Gefahr brachte, weil sie zusammen mit ihm gesehen wurde. »Es tut mir leid«, stieß er hervor, »aber wir müssen leider weiter. Vielleicht will es das Schicksal, daß wir uns unter günstigeren Umständen wiedersehen?«

Er wartete keine Antwort ab, packte Frederic am Arm und zog ihn hinter sich her. Maria blieb nun ihrerseits nichts anderes übrig, als den Jungen loszulassen, den sie bis zu diesem Zeitpunkt immer noch am Arm ergriffen hatte. Ihrem Gesicht war deutlich anzusehen, daß sie darüber nicht sehr glücklich war und daß sie nicht begriff, was plötzlich in Andrej gefahren war. Sie rief ihnen noch etwas hinterher, doch Delãny konnte ihre Worte nicht verstehen; sie wurden von den auf- und abschwellenden Marktgeräuschen verschluckt.

Es wurde höchste Zeit. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte Andrej das Aufblitzen eines goldenen Brustpanzers. Er beschleunigte sein Tempo, ohne auf Frederic Rücksicht zu nehmen, und zog ihn regelrecht hinter sich her. Ein weiterer Blick bestätigte seine Befürchtung. Die goldenen Ritter lenkten nun ihre Pferde quer über den Marktplatz und strebten, ohne auf die Marktbesucher Rücksicht zu nehmen, in ihre Richtung.

»Sie sind auf uns aufmerksam geworden«, zischte er Frederic zu. »Beeil dich, sonst haben sie uns gleich.« Nach diesen Worten mußte Andrej nicht mehr gegen den Widerstand des Jungen ankämpfen, ganz im Gegenteil hatte er nun Mühe, mit ihm mitzuhalten. Frederic schlängelte sich wie ein Aal durch die Menschenmenge.

So erreichten sie unbehelligt das andere Ende des Marktplatzes und liefen nun in eine schmale, mit Unrat und Abfällen übersäte Gasse hinein. Hier kamen sie endlich etwas schneller voran, obwohl sie immer noch von fliegenden Händlern und zum Markt strebenden Menschen behindert wurden. Andrej legte seine Hand auf den Griff seines Schwerts und schlug eine noch raschere Laufgeschwindigkeit an. Als sie das Ende der Gasse erreichten, hielten sie kurz inne, bogen dann aber, ohne weiter zu zögern, nach links ab und strebten mit schnellen Schritten auf eine weitere Gasse zu. Auf diese Weise wechselten sie noch zwei- oder dreimal die Richtung, wahllos und Stück für Stück langsamer werdend. Schließlich bewegten sie sich nur mehr genauso schnell wie alle anderen in ihrer Umgebung.

Das Pferdegetrappel ihrer Verfolger war jetzt schon eine ganze Zeit lang nicht mehr zu hören. Trotzdem war sich Andrej darüber im klaren, daß sich die Ritter nicht so schnell geschlagen geben würden. Vermutlich ritten sie jetzt nach und nach alle Gassen ab, um seiner doch noch habhaft zu werden. Er konnte nur hoffen, daß sie sich ihrer Sache nicht sicher waren und die Verfolgung nur pro forma aufgenommen hatten; andernfalls würde es in der Stadt gleich von Soldaten wimmeln, die ganz gezielt jedes Haus und jede Gasse nach ihnen absuchten - bis sie sie früher oder später aufgestöbert hatten.

So weit wollte es Andrej nicht kommen lassen. Nur ein knappes Dutzend Schritte entfernt gewahrte er eine schmale, aber einladend offenstehende Toreinfahrt, sah sich verstohlen um und steuerte darauf los.

Sie erreichten unbehelligt den Durchgang. Andrej stellte mit einem kurzen Blick fest, daß er zu einem kleinen, auf allen Seiten von mannshohen Mauern umschlossenen Hof führte, auf dem sich Berge von Unrat und kniehohe Stapel modernden Holzes auftürmten. Er trat rasch durch den gemauerten Bogen, blickte nach links und rechts und sah seinen ersten Eindruck bestätigt: Nicht nur der schmuddelige Hinterhof, sondern auch das dazugehörige Haus machten einen ebenso heruntergekommenen wie verlassenen Eindruck. Es gab nur eine einzige, aus morschen Brettern grob zusammengezimmerte Tür, die ins Haus hineinführte. Die fünf, höchstens sechs Fenster, die er von hier aus sehen konnte, waren ebenfalls mit Brettern vernagelt.

Andrej trat rasch auf die Tür zu, schloß für einen Moment die Augen und lauschte. Er konnte den Lärm vom Marktplatz und die Geräusche der Straße noch immer deutlich hören, aber aus dem Haus selbst drang nicht der mindeste Laut. Es mußte leerstehen.

Kurz entschlossen schob er die Hand durch einen Spalt in der Brettertür, packte zu und hätte fast das Gleichgewicht verloren, als das morsche Holz unter seinem Griff zerfiel. Ohne zu zögern, brach er die Tür vollends auf und zog Frederic mit sich ins Innere des Hauses.

Staubiges Zwielicht umfing sie, eine schon fast gespenstische Leere und unangenehme, modrige Gerüche, die beherrscht waren von einem scharfen, süßlichen Gestank, welcher verriet, daß in diesem Haus vor nicht allzu langer Zeit jemand gestorben war, den man nicht rechtzeitig beerdigt hatte. Vielleicht war das ja auch der Grund, weshalb das Gebäude ungenutzt blieb.

Andrej zog die halbverfallene Tür hinter sich zu, trat zu einem Fenster an der gegenüberliegenden Wand und spähte durch die fingerbreiten Lücken zwischen den Brettern, mit denen es vernagelt war. Er sah die Straße, auf der sie vor wenigen Augenblicken zu diesem Gebäude gekommen waren. Sie war noch immer voller Menschen, aber niemand schien das Verschwinden der beiden seltsamen Fremden in der Toreinfahrt bemerkt zu haben. Vielleicht war Constãntã einfach zu groß, als daß die Menschen zwei einsamen Passanten noch irgendwelche Beachtung schenkten, mochten diese auch noch so merkwürdig aussehen.

Frederic, der vollkommen erschöpft wirkte, sah sich kurz um und ließ sich erst dann im Schneidersitz auf den Fußboden nieder. Andrej folgte seinem Beispiel, jedoch nicht, ohne zuvor sein Schwert zu ziehen und es griffbereit neben sich zu legen. »Ruh dich ein wenig aus«, sagte er dann, »wir werden bis zum Einbruch der Dunkelheit hierbleiben.«

Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob ihr Versteck wirklich klug gewählt war. Wenn man sie hier aufspürte, würde es keine schnelle Fluchtmöglichkeit geben. Seine einzige Chance würde in einem solchen Fall dann darin bestehen, sich freizukämpfen - doch selbst, wenn ihm das gelänge: Wohin sollten sie sich anschließend wenden in dieser verfluchten Stadt, wenn erst einmal die Tore geschlossen waren und ihnen Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Soldaten auf den Fersen waren?

Schon nach ein paar Minuten fühlte er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Es war ganz eindeutig das Getrappel einiger weniger Pferde, das laut und bedrohlich von den Hauswänden widerhallte und von Reitern kündete, die sich dem Haus näherten. Andrej sprang geradezu auf. Öliger Schweiß stand auf seiner Stirn, und seine Hand, die das Sarazenenschwert hielt, zitterte leicht. Er spähte durch eine Lücke zwischen den Brettern in die Gasse, konnte aber nichts erkennen.

»Siehst du jemanden?« fragte Frederic mit zitternder Stimme.

»Still jetzt«, zischte Andrej. »Da sind sie.«

In dem schmalen Ausschnitt, den die Lücke zwischen den Brettern in die Wirklichkeit schnitt, sah er das Stück einer Pferdemähne, einen Stattelknauf, das gepanzerte Bein eines Ritters, eine Schwertscheide, die durch das Auf und Ab des Rittes leicht schwankte ... Seine Hand klammerte sich automatisch fester um den Griff seiner eigenen Klinge. Die zwei Männer in den goldenen Rüstungen ritten sehr langsam und schienen sich gründlich umzusehen. Andrej erwartete jeden Moment, einen Halteruf zu hören oder das Scharren eines Pferdehufes, das davon kündete, daß einer der Reiter sein Tier gezügelt hatte.

Aber nichts dergleichen geschah. Nach Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen, waren sie endlich - endlich! - vorbei. Andrej blieb noch eine ganze Weile in gespannter Haltung stehen, jederzeit darauf gefaßt, daß die beiden Reiter anhielten, um zurückzukehren und sich das verlassene Haus noch einmal genauer anzusehen. Doch dann verklang das Pferdegetrappel und ließ sie zurück in einem Versteck, das sie für den Moment gerettet hatte - und sich doch jederzeit als Todesfalle entpuppen konnte.

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