Es würde wohl Mitternacht werden, bis sie Constãntã erreichten, und diese Nacht war schon jetzt viel kälter als die zurückliegenden. Seit einer Stunde konnten sie das Meer riechen, und die Temperaturen schienen mit jeder Meile, die sie sich der Küste näherten, weiter zu fallen. Der Winter war noch zu weit entfernt, als daß sie mit Schnee rechnen mußten, aber kalt genug dazu war es, zumindest nach Andrejs Empfinden.
Delãny wickelte sich zitternd enger in der Decke ein, die er um die Schultern geschlungen hatte, und wechselte auf die andere Seite des Pferdes, um auf diese Weise dem schneidenden Wind zu entgehen, der ihnen entgegenblies. Es half nichts. Er fror immer stärker, als käme die Kälte gar nicht von außen, sondern kröche aus seinem Inneren hervor.
Obwohl sie seit Einbruch der Dämmerung auf den Schutz des Waldes verzichtet hatten und auf der schlecht gepflasterten Straße reisten, die nach Constãntã und zur Küste führte, kamen sie viel langsamer voran, als Andrej erwartet hatte. Sie konnten es nach wie vor nicht riskieren, mit Menschen zusammenzutreffen; nun vielleicht weniger denn je. Frederic hatte die letzten Tage über kaum ein Wort gesprochen, und Andrej konnte einfach nicht voraussagen, wie er reagieren würde, wenn sie einem Fremden begegneten.
Er konnte nicht einmal mit Bestimmtheit vorhersagen, wie er reagieren würde.
Das Gespräch mit Draskovic hatte lange gedauert, und was Andrej erfahren hatte, das hatte ihn nicht nur mit einer Mischung aus Entsetzen und Zorn erfüllt, die noch jetzt in ihm wühlte, sondern ihn auch zutiefst erschüttert. Möglicherweise sogar mehr, als ihm zu diesem Zeitpunkt bewußt war.
»Wie weit ist es noch?« fragte Frederic leise.
Delãny sah den Jungen einen Augenblick lang besorgt und zugleich abschätzend an. Frederic hatte kaum noch mit ihm gesprochen, seit sie das kleine Tal verlassen hatten, aber heute war er besonders schweigsam gewesen. Seit Einbruch der Dunkelheit waren es überhaupt die ersten Worte, zu denen er sich herabließ. »Noch ein gutes Stück«, sagte er schließlich. »Zwei oder drei Stunden. Vielleicht auch mehr.«
Frederic zog mit der linken Hand die Decke zusammen, in die er sich ähnlich wie Andrej gewickelt hatte, und sah von der Höhe des Pferderückens nachdenklich auf ihn herab. Obwohl sie sich ganz nahe waren, reichte das Licht nicht aus, um den Ausdruck auf seinem Gesicht zu erkennen. Der Mond war zu einer schmalen Sichel zusammengeschmolzen, und ein guter Teil der Sterne am Himmel verbarg sich hinter schwarzen, tiefhängenden Wolken. Vielleicht war es gut, daß er Frederics Blick nicht genau sehen konnte. Der Junge hatte keinen Hehl daraus gemacht, daß er Draskovic am liebsten getötet hätte, und er verachtete Andrej dafür, daß dieser es nicht getan hatte.
»Wieso reiten wir so langsam?« fragte er nach einer Weile.
Weil wir ihnen zu nahe sind, dachte Delãny. Und weil ich nicht weiß, was ich tun soll, wenn wir sie tatsächlich einholen.
Er hütete sich, diesen Gedanken laut auszusprechen, aber Tatsache war, daß sie Vater Domenicus und seine Schergen leicht hätten einholen können, hätte er es wirklich gewollt. Ihr Vorsprung betrug höchstens noch eine Stunde, eher weniger. Allein seit Einbruch der Dunkelheit glaubte Andrej die Nähe anderer Menschen gespürt zu haben, zweimal mindestens; ganz schwach nur, wie den ersten Schimmer von nicht mehr ganz so tiefem Schwarz am Horizont, kurz bevor der Morgen zu grauen beginnt - mehr Ahnung als Wissen. Aber das Gefühl war dagewesen, und schließlich fand er auch Spuren, die auf eine größere Menschengruppe hinwiesen, die kurz vor ihm hier entlanggekommen war. Er hatte jedes Mal angehalten und hatte sich genauer umgesehen; das verdächtige Aufblitzen von Metall im letzten Sonnenlicht oder die Reflexion glatt polierten Zaumzeugs wären ihm wohl ebensowenig verborgen geblieben wie das Schnauben der Pferde und das Klirren von Waffen. Schließlich hatte er keine besondere Lust, in einen zweiten und diesmal sicher besser vorbereiteten Hinterhalt zu tappen.
»Du hast Angst«, sagte Frederic, als Andrej nicht auf seine Frage antwortete. Seine Stimme troff vor Verachtung.
»Ich bin müde«, sagte Andrej leise. »Genau wie du. Die Wunden, die ich mir im Kampf zugezogen habe, sind noch nicht vollständig verheilt...«
»Sie sind schneller verheilt, als sie es sollten«, sagte Frederic gehässig. »Zumindest ist damit bewiesen, daß du ein Delãny bist. Du wirst wahrscheinlich genauso lang leben wie Barak - bis dich jemand gewaltsam tötet!«
»Das könnte schneller passieren, als dir lieb ist«, sagte Andrej ärgerlich. »Ich fühle mich bei weitem noch nicht in der Lage, einen weiteren Kampf gegen so überlegene Gegner wie die goldenen Ritter durchzustehen. Zumal sie es uns beim nächsten Mal nicht mehr so leicht machen werden.«
»Du hast Angst«, beharrte Frederic. »Du bist kein großer Krieger, Andrej Delãny. Du bist nur ein Aufschneider, der gelernt hat, ein bißchen mit dem Schwert herumzufuchteln.«
Vielleicht hat er damit sogar recht, dachte Andrej. Er hatte Angst, wenn auch aus einem ganz anderen Grund, als Frederic annahm.
»Wir haben Zeit«, sagte er leise. Diese Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren nach nichts anderem als einer billigen Ausrede, und Frederic ließ sich nicht einmal zu einer Antwort herab. Trotzdem fuhr Andrej nach ein paar Sekunden fort: »Wir wissen, wohin sie wollen.«
»Wenn der Kerl die Wahrheit gesagt hat«, grollte Frederic. »Wahrscheinlich hat er gelogen, damit wir in eine Falle laufen.«
»Das glaube ich nicht.« Andrej schüttelte überzeugt den Kopf. Der Mann hatte Todesängste ausgestanden. Und er hatte geglaubt, was Andrej über den Teufel und seine Seele gesagt hatte. Ein Mensch in dieser Verfassung war nicht imstande zu lügen.
»Wir brauchen einen Platz für die Nacht«, sagte er, ganz bewußt das Thema, aber auch Tonfall und Lautstärke wechselnd. »So, wie wir aussehen, erregen wir zu großes Aufsehen.«
»Um diese Zeit?« Frederic schüttelte heftig den Kopf. »Niemand wird uns aufnehmen.«
»Niemand wird einen frierenden Mann und einen verletzten Jungen fortschicken, die mitten in der Nacht an die Tür klopfen«, widersprach Andrej. »Du brauchst frische Kleider und ein paar Stunden Schlaf - und ich auch«, fügte er etwas leiser hinzu. Vor allem aber brauchte er Zeit, um sich einen vernünftigen Plan zurechtzulegen und sich über vieles klar zu werden. Frederic schien seine Gedanken zu erraten; er widersprach zwar nicht, doch in seinen Augen blitzte es so zornig auf, daß Andrej es trotz der Dunkelheit deutlich sehen konnte. Die Verachtung des Jungen schmerzte. Viel stärker, als sie hätte sollen.
Sie versanken wieder in das gleiche, unangenehme Schweigen, in dem sie einen Großteil des Tages verbracht hatten. Die Kälte wurde immer schlimmer. Andrejs Zähne begannen zu klappern, und der Wind, der wie mit unsichtbaren Nadeln in seine Hände und sein ungeschütztes Gesicht biß, schien sich mit der Kälte in seinem Inneren zu vereinen, als wollte er alles Leben mit dem eisigen Feuer der Hölle aus ihm herausbrennen.
Eine gute halbe Stunde ritt Frederic schweigend neben ihm her. Wäre die Nacht klarer gewesen, dann hätten sie das Meer und vielleicht sogar Constãntã schon sehen können; so aber war alles, was Delãny von der Hafenstadt wahrnahm, ein blaßrosa Schimmer am Himmel. Es mußte wohl so sein, wie Michail Nadasdy behauptet hatte: Die großen Städte schliefen niemals. Andrej war über diese Erkenntnis jedoch nicht besonders erfreut. Ihre Chancen, unbemerkt in die Stadt zu kommen, sanken auf diese Weise dramatisch.
Frederic richtete sich plötzlich im Sattel auf und blickte konzentriert nach vorne, und erst als Andrej seinem Blick folgte, sah auch er den Lichtschein, der ein Stück vor ihnen am Wegesrand aufgetaucht war. Ein Haus, vielleicht auch ein kleines Gehöft, in dem trotz der späten Stunde noch Licht brannte.
Andrej blieb einen Moment lang stehen und horchte in die Nacht hinaus. Aber da war nichts; kein verdächtiges Geräusch, das auf die Anwesenheit von Menschen hinwies, die hier auf sie lauern mochten.
Trotzdem waren alle seine Sinne bis zum Zerreißen angespannt, als sie sich dem Gebäude näherten. Daß Domenicus mit seinen Leuten nicht hier war, bedeutete nicht, daß er nicht ein paar seiner Männer zurückgelassen hatte, die auf Frederic und ihn warteten. Der goldene Ritter hatte gesagt, daß sie sich wiedersehen würden, und dies war die einzige Straße, die von Norden her nach Constãntã führte. Draskovic hatte berichtet, daß sie die Gefangenen auf ein Schiff bringen würden, und Constãntã war der größte Hafen weit und breit: Eine aus transsilvanischer Sicht riesige Hafenstadt am Schwarzen Meer, auf die die Türken begehrlich blickten, konnte man von hier aus doch wichtige Handelswege ins Landesinnere und bis hoch zum Donaudelta und den Karpaten kontrollieren.
Wenn es eine Falle war, dann war sie so gut vorbereitet, daß er sie nicht erkennen konnte. Die Nacht blieb still. Niemand stürzte sich aus der Dunkelheit auf sie, und auch, als sie sich dem Gebäude selbst näherten, blieb alles ruhig.
Es war ein großes, offenbar vor noch nicht allzu langer Zeit errichtetes Gasthaus, an das sich noch mehrere andere, in der Dunkelheit allerdings nur schemenhaft zu erkennende Gebäude anschlössen. Durch die geschlossenen Fensterläden drang unverständliches Stimmengemurmel, und vor der Tür waren vier Pferde und zwei oder drei schlecht genährte Maulesel angebunden. Andrej unterzog insbesondere die Pferde einer schnellen, aufmerksamen Musterung, deren Ergebnis ihn jedoch beruhigte. Die Tiere sahen nicht so aus, als gehörten sie Kriegern.
Er band den Hengst neben den drei Mauleseln an, hob Frederic ohne viel Federlesens aus dem Sattel und überzeugte sich davon, daß sein mit eingetrocknetem Blut besudeltes Hemd vollkommen unter der Decke verborgen war, die sich der Junge umgeworfen hatte.
»Wenn wir hineingehen, überläßt du mir das Reden«, sagte er eindringlich.
Frederic starrte ihn trotzig an und preßte die Lippen aufeinander, aber er widersprach wenigstens nicht, und Andrej drehte sich wieder herum und betrat das Gasthaus.
Ein Schwall abgestandener Luft schlug ihm entgegen und ein Durcheinander von Gerüchen und Geräuschen - vor allem aber die behagliche Wärme eines Feuers, das in einem gewaltigen Kamin an der gegenüberliegenden Wand prasselte. Bedachte man die fortgeschrittene Stunde, dann hielt sich noch eine erstaunliche Anzahl von Gästen in der Herberge auf. Andrej schätzte, daß mindestens ein Dutzend Männer unterschiedlichen Alters an den einfachen Tischen saßen, sich lautstark unterhielten und tranken. Niemand schien daran Anstoß zu nehmen, daß Frederic und er noch zu so später Stunde hereinkamen. Die meisten Gäste sahen zwar kurz von ihrem Getränk auf oder unterbrachen ihre Unterhaltung, aber kaum einer schenkte ihnen mehr als einen flüchtigen Blick. Abgesehen von dem Wirt vielleicht, dessen Interesse aber wohl eher geschäftlicher Natur war. Nun, sie waren nicht mehr in Borsã, sondern in der Nähe einer großen Stadt, deren Einwohnerzahl in die Tausende ging. Wahrscheinlich verlief das Leben hier nach anderen Regeln als im Borsã-Tal.
Andrej bugsierte Frederic ins Haus, schloß mit der linken Hand die Tür hinter sich und deutete gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf den freien Tisch, der dem Kamin am nächsten war. Mittlerweile nahm kaum noch einer der Gäste von ihnen Notiz. Aber er konnte spüren, wie ihnen die mißtrauischen Blicke des Wirtes folgten, während sie zum Tisch gingen und sich daran niederließen.
Kaum hatten sie das getan, kam er auch schon hinter der Theke hervor und steuerte auf sie zu. Er war ein sehr großer, fast kahlköpfiger Mann mit schwieligen Händen und einem Gesicht, das älter aussah, als es wohl tatsächlich war. Er trug einfache Kleidung und darüber eine fettige Lederschürze.
»So spät noch unterwegs?« sagte er anstelle einer Begrüßung.
Andrej nickte. »Wir sind froh, daß wir Euer Gasthaus gefunden haben. Wir wollten nach Constãntã, aber der Weg scheint doch weiter zu sein, als wir geglaubt haben«, antwortete er, wobei er die Erschöpfung in seiner Stimme nicht einmal schauspielern mußte.
»Das geht vielen so«, sagte der Wirt. »Was kann ich für euch tun?«
»Ein Bier wäre nicht schlecht«, antwortete Andrej. »Und für meinen Bruder vielleicht ein Glas heiße Milch.«
»Ich nehme auch ein Bier«, protestierte Frederic.
»Ein Bier und eine Milch also«, sagte der Wirt ungerührt. »Könnt ihr denn auch bezahlen?«
Das unverhohlene Mißtrauen, das aus dieser Frage sprach, ärgerte Andrej.
Aber er verbiß sich die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag, griff statt dessen in die Tasche und zog einige der kleinen Münzen heraus, die sie Draskovic und dem toten Krieger abgenommen hatten. So vollkommen unberechtigt, wie es ihm im ersten Moment erschienen war, war das Mißtrauen des Mannes eigentlich gar nicht. Noch vor ein paar Tagen hätte er die bestellten Getränke nicht bezahlen können.
Der Mann steckte die Münzen ein und fragte: »Auch etwas zu essen?«
»Wenn in der Küche noch ein Feuer brennt, wäre das wunderbar«, antwortete Andrej. Er war nicht einmal besonders hungrig, aber Frederic brauchte etwas in den Magen. Ein nicht geringer Teil seiner niedergeschlagenen Stimmung rührte vielleicht von dem profanen Grund her, daß sie seit dem frühen Morgen nicht mehr als eine Handvoll Beeren zu sich genommen hatten.
»Kalter Braten und Kohl«, antwortete der Wirt. »Und bevor du fragst: Es ist kein Zimmer mehr frei, aber ihr könnt im Pferdestall schlafen. Es kostet nichts.«
»Danke«, antwortete Andrej überrascht. »Das nehmen ...«
»Wir müssen weiter«, fiel ihm Frederic ins Wort. »Wir haben versprochen, heute in der Stadt zu sein, hast du das schon vergessen?«
»Wir nehmen Euer Angebot gerne an«, sagte Andrej. Er warf Frederic einen scharfen Blick zu. »Es spielt keine Rolle, ob wir heute nacht oder morgen in aller Frühe ankommen.«
Der Wirt zuckte mit den Schultern und ging, um ihre Bestellung zu holen. Frederic spießte Andrej mit seinen Blicken regelrecht auf.
»Ihr kämt sowieso nicht in die Stadt, Junge.«
Andrej drehte sich umständlich auf dem harten Stuhl herum, um den Mann anzusehen, der sich in ihr Gespräch gemischt hatte. Es war einer der Gäste vom Nebentisch, ein Mann von etwa vierzig Jahren mit schulterlangem braunem Haar und in einer Kleidung, die für Andrej s Geschmack viel zu bunt war. Sein Gesicht wirkte exotisch, ohne daß Andrej genau sagen konnte, warum, und die Art, wie er sprach, ließ erkennen, daß er den hiesigen Dialekt nicht in der Kinderstube gelernt hatte. Aber er hatte ein freundliches, offenes Gesicht und Augen, denen man ansah, daß sie gerne und oft lachten.
»Wieso?« fragte Frederic.
Der Fremde griff nach seinem Bierkrug und nahm einen gewaltigen Schluck daraus, ehe er antwortete. »Sie schließen die Stadttore nach Einbruch der Dunkelheit«, sagte er. »Niemand kommt ohne einen Passierschein in die Stadt hinein oder aus ihr heraus. Habt ihr das nicht gewußt?«
»Nein«, antwortete Andrej. »Wir waren ... noch niemals hier.«
»Und wie es scheint auch noch in keiner anderen größeren Stadt, wie?« Der Mann lachte, und die drei anderen, die mit ihm am Tisch saßen, stimmten darin ein. Doch noch bevor Andrej entscheiden konnte, ob der Spott in ihren Stimmen nun verletzend war oder nicht, setzte er seinen Bierkrug ab und machte eine einladende Geste.
»Warum setzt ihr euch nicht zu uns?« fragte er. »Ihr seht aus, als könntet ihr ein paar Ratschläge gebrauchen - und wir sind begierig darauf, Fremde kennenzulernen, die interessante Geschichten zu erzählen haben.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin Ansbert. Das sind meine Brüder Vranjevc, Sergé und Krusha.«
Andrej zögerte einen Moment, griff dann aber nach der dargebotenen Hand und drückte sie. »Andrej Delãny«, antwortete er, »vom Borsã-Tal. Das ist mein Bruder Frederic.«
»Vom Borsã-Tal?« wiederholte Ansbert. »Ihr kommt aus Transsilvanien?« fügte Sergé fragend hinzu.
Andrej nickte und stand gleichzeitig auf, um am Nachbartisch Platz zu nehmen. Frederic war es seinem Trotz schuldig, noch einen Moment lang sitzen zu bleiben, schließlich folgte er ihm aber.
»Ja, wir kommen aus Borsã, einem Dorf, das an dem Fluß Brasan liegt«, sagte er. »Sagt jetzt nicht, ihr hättet noch nie was von diesem Fluß gehört.«
Er behielt die Gesichter Sergés und seiner drei Brüder scharf im Auge, während er dies sagte. Es war nicht ganz ungefährlich, sich unter seinem richtigen Namen vorzustellen - vor allem nach dem, was vor wenigen Tagen im Borsã-Tal passiert war -, aber er würde nichts in Erfahrung bringen, wenn er nicht zugleich auch bereit war, ein gewisses Risiko einzugehen. Auf den Gesichtern der drei Männer zeigte sich jedenfalls nicht die geringste Reaktion.
Ansbert schüttelte heftig den Kopf. »Ein Fluß namens Brasan?« wiederholte er. »Nie gehört.« Er lachte. »Aber jetzt sei nicht beleidigt, Delãny. Wir sind nicht aus der Gegend. Du könntest die größte Familie Transsilvaniens anführen oder sogar der Thronfolger der Walachei sein, und wir wüßten wahrscheinlich trotzdem nicht, wer du bist.« Er trank wieder von seinem Bier und musterte Andrej und Frederic über den Rand des schweren Tonkruges hinweg. »Aber du siehst nicht aus, als wärst du ein Thronfolger«, fügte er hinzu.
»Wie sehe ich denn aus?« erkundigte sich Andrej.
»Was wollt ihr in Constãntã?« fragte Sergé, ehe sein Bruder antworten konnte. Hinter der Frage steckte mehr als bloße Neugier, das spürte Andrej. Und plötzlich begriff er auch, daß die Männer Frederic und ihn nicht nur aus purer Freundlichkeit an ihren Tisch gebeten hatten. Sie verfolgten eine ganz bestimmte Absicht. Er wußte nur noch nicht, welche.
»Wir ... wollen meine Schwester besuchen«, antwortete er vorsichtig. »Sie hat vor fünf Jahren nach Constãntã geheiratet. Seither haben wir sie nicht mehr gesehen.«
»Ihr kommt aus Transsilvanien hierher, nur um einen Familienbesuch zu machen?« fragte Krusha. »Das ist ein weiter Weg.«
»Vater ist im letzten Frühjahr gestorben«, sagte Frederic plötzlich. »Jemand muß es Lugova sagen.«
Andrej unterdrückte den Impuls, dem Jungen einen überraschten Blick zuzuwerfen. Frederic hatte bis jetzt geschwiegen - aber das bedeutete ganz offensichtlich nicht, daß er nicht zugehört hatte. Vielleicht spürte er ja auch, daß mit diesen vier Männern irgend etwas nicht stimmte.
»Wißt ihr denn, wo eure Schwester wohnt?« fragte Sergé. »Constãntã ist eine ziemlich große Stadt, mein Junge. Du kannst eine Woche nach jemandem suchen, ohne ihn zu finden.«
»Oder auch zwei oder drei«, fügte Ansbert hinzu. »Vor allem jetzt.«
»Wieso jetzt?« fragte Andrej.
»Es ist Markt«, antwortete Ansbert. »Die Menschen strömen von überall her in die Stadt.« Er machte eine ausholende Geste. »Das ist auch der Grund, weshalb meine Brüder und ich in dieser Kaschemme logieren statt in einer Herberge, die uns angemessen wäre. Es gibt in ganz Constãntã kein freies Zimmer mehr.«
»Ist das auch der Grund, aus dem sie nachts die Stadttore schließen?« erkundigte sich Andrej.
Sergé starrte ihn mit einem Ausdruck von Überraschung an, der zu spontan war, um gespielt zu sein.
»Dieses Borsã muß wirklich sehr weit entfernt sein«, sagte er. »Ihr wißt anscheinend nicht, was in der Welt vorgeht.«
»Was geht denn vor?« fragte Andrej.
Sergé und sein Bruder tauschten einen vielsagenden Blick, bevor Ansbert antwortete. »Krieg, Delãny«, sagte er.
»Krieg?« fragte Andrej. »Wer gegen wen?«
»Irgendwer führt immer gegen irgendwen Krieg«, antwortete Ansbert achselzuckend. »Wer gegen wen ... das spielt doch keine Rolle mehr, oder?« Er zuckte die Achseln. »Noch ist er nicht ausgebrochen, aber man erzählt sich so einiges von der Türkengefahr. Schlechte Zeiten ziehen schlechte Menschen an, ist es nicht so?«
»Aber das ist manchmal nicht das Schlechteste, was einem passieren kann«, fügte Krusha hinzu.
Andrej sah aufmerksam von einem zum anderen. »Worauf wollt ihr hinaus?« fragte er geradeheraus.
Ansbert lachte. »Ich habe mich nicht in dir getäuscht, Delãny«, sagte er. »Du scheinst ein kluger Mann zu sein.«
Der Wirt kam und brachte ihre Bestellung: einen Krug Bier für Andrej, heiße Milch für Frederic und zwei Portionen kalten Braten und nicht minder kalten Kohl. Der bloße Anblick der Mahlzeit ließ Andrej das Wasser im Munde zusammenlaufen, obwohl sie im Grunde alles andere als appetitlich aussah.
Sie unterbrachen ihr Gespräch, bis der Wirt wieder außer Hörweite war. Frederic begann das Essen in sich hineinzuschaufeln, und auch Andrejs Magen ließ ein lautstarkes Knurren hören, was Ansbert zu einem leisen Schmunzeln verleitete. Delãny griff nach dem Messer und dem hölzernen Löffel, die ihm der Wirt neben den Teller gelegt hatte, fing aber noch nicht an zu essen.
»Jedenfalls nicht klug genug, um zu verstehen, was ihr von uns wollt«, sagte er.
Ansbert nippte an seinem Bier. »Warum kommt ihr nicht mit uns?« fragte er. »Du siehst nicht aus wie ein Schwächling. Meine Brüder und ich sind Schausteller. Wir können immer einen Mann gebrauchen, der zupacken kann und keine Angst vor Arbeit hat. Und für deinen Bruder finden wir auch eine Aufgabe.«
Für einen Moment konnte Andrej die Spannung, die zwischen den vier Brüdern in der Luft lag, fast mit den Händen greifen. Er wollte antworten, aber in diesem Moment ... hörte er von draußen das Klirren von Waffen und eine Stimme, deren fremdartiger Dialekt ihm nur zu bekannt vorkam.
Es war wie ein Schlag in den Magen. Andrej stockte für Sekundenbruchteile buchstäblich der Atem. Das Gefühl einer fremden, durch und durch bösartigen Präsenz schlug mit fast körperlicher Wucht über ihm zusammen, so schnell und brutal, daß er für die Dauer von zwei oder drei schweren Atemzügen nicht einmal in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, irgendwie zu reagieren.
Es wäre ohnehin zu spät gewesen.
Die Tür flog auf, und drei, dann vier und schließlich fünf Männer in schweren Wollmänteln und Helmen betraten den Gasthof. Andrej wußte sofort, daß sie zu seinen Verfolgern gehörten.
Der goldene Ritter, der ihn mit dem Bihänder fast erschlagen hatte, war nicht dabei.