Andrej hatte sein Versprechen gehalten und Marius, Barak und Frederics Vater sowie seinem Bruder ein christliches Begräbnis zuteil werden lassen. Ihre Kräfte hatten nicht ausgereicht, Gräber für mehr als zwanzig Tote auszuheben, so daß sie die Leichname der anderen Erschlagenen in den Hof hinausgetragen und verbrannt hatten. Das war sicher nicht das, was Bruder Toros ein christliches Begräbnis genannt hätte, aber das einzige, was sie noch für die Ermordeten tun konnten.
Während Andrej dastand - so nahe am Feuer, daß die Hitze auf seinem Gesicht schmerzte und sich seine Augenbrauen und Wimpern kräuselten - und eines der wenigen Gebete sprach, das er kannte, kamen ihm zum ersten Mal Zweifel daran, ob es so etwas wie einen allmächtigen Gott überhaupt gab.
Daß er allgegenwärtig und gütig war, daran glaubte er ohnehin schon lange nicht mehr. Das Leben hatte ihm zuviel genommen, und er hatte zuviel Leid und Willkür gesehen, um an einen gütigen - oder auch nur gleichgültigen - Gott glauben zu können. Nun aber begann er sich zu fragen, ob es so etwas wie eine allmächtige Wesenheit im Universum überhaupt gab, irgendwo in den Ödnissen zwischen den Sternen am Himmel, von denen Michail Nadasdy behauptet hatte, jeder einzelne sei eine Welt, so groß wie die ihre und möglicherweise von Menschen gleich ihnen bewohnt. Andrej glaubte das nicht. Und wenn er es geglaubt hätte, so hätte er es sich nicht vorstellen können. Seine Welt war viel kleiner als die, von der Michail Nadasdy erzählt hatte; selbst kleiner als die, in der Michail Nadasdy gelebt hatte. In Andrejs Welt war kein Platz für einen Gott, der grausam genug war zuzulassen, daß einem Kind wie Marius so etwas widerfuhr.
Trotzdem blieb er wie in stummem Gebet weiter reglos stehen, bis auch der Junge sein Gebet beendet hatte und die Hände herunternahm. Als Frederic mit einem gemurmelten Amen schloß, da bewegte er lautlos die Lippen, als spräche er dasselbe Wort, aber er wich seinem Blick aus, als sie sich herumdrehten und schweigend nebeneinander den Hof verließen. Es spielte in diesem Moment keine Rolle, was er glaubte. Nachdem er für seinen Sohn nichts mehr tun konnte, brauchte schließlich dieser Junge jedes bißchen Hilfe, das er bekommen konnte.
Die Plünderer hatten nicht alle Lebensmittelvorräte mitgenommen, so daß sie sich, bevor sie am nächsten Morgen aufbrachen, noch ein reichhaltiges Mahl gönnen und die Satteltaschen ihres Pferdes auffüllen konnten. Andrej hatte trotz intensiver Suche nichts mehr von Wert gefunden, was sie mitnehmen konnten. Er bedauerte das. Er wollte gewiß nicht selbst zum Plünderer werden, aber sie hatten möglicherweise einen langen Weg vor sich und mochten auf etwas angewiesen sein, das sie verkaufen oder eintauschen konnten. Die Eindringlinge waren jedoch gründlich gewesen. Andrej nahm an, daß sie einige Übung darin hatten, alles Wertvolle an einem Ort aufzuspüren.
Die beiden Delãnys brachen mit dem ersten Tageslicht auf und folgten den Spuren der Angreifer nach Süden, was nicht besonders schwer war. Alles in allem mußten es an die achtzig Menschen gewesen sein, die vor zwei Tagen aus dem Borsã-Tal aufgebrochen waren. Die Spuren würden noch nach einer Woche deutlich zu sehen sein. Sie mußten sich also nicht übermäßig beeilen.
Zu zweit auf einem Pferd kamen sie ohnehin nicht schnell voran. Frederic stieg nach einer Weile wieder ab und schlug vor, immer abwechselnd zu reiten, doch das erwies sich als unpraktisch, so daß Andrej es vorzog, ihn wieder in den Sattel zu heben und es dem Pferd zu überlassen, ein praktikables Tempo zu finden.
Sie sprachen sehr wenig an diesem Tag. Frederic starrte die meiste Zeit mit leerem Blick vor sich hin und schlief ein paarmal im Sattel ein. Einmal wäre er dabei fast vom Pferd gestürzt, aber Andrej weckte ihn trotzdem nicht. Der Junge brauchte vor allem Zeit, um das Erlebte zu verarbeiten, und Schlaf half, die Zeit zu verkürzen.
Er wünschte, er wäre auch so glücklich dran gewesen. Nachdem Raqi und seine Tochter gestorben waren, hatte er geglaubt, nichts könnte ihn mehr erschüttern. Das war ein Irrtum gewesen. Es gab immer eine Steigerung des Grauens, und er hatte gestern eine erlebt: Der Tod seines Sohnes hatte die Wand seiner betäubenden Trauer eingerissen und ein so tiefes Entsetzen in ihm ausgelöst, daß er sich am liebsten gleich in sein Schwert gestürzt hätte.
Aber bevor er solch selbstzerstörerische Gedanken weiter verfolgte, hatte er noch eine Kleinigkeit zu erledigen.
Sie rasteten auf einer Waldlichtung, aßen von den mitgebrachten Vorräten und tranken Wasser aus einem Bach. Und sie mieden vor allem die Nähe menschlicher Ansiedlungen. Solange er nicht wußte, was in Borsã wirklich geschehen war, konnte er keinem Menschen trauen.
In der zweiten Nacht schlief Frederic besser. Er wurde noch immer von Alpträumen geplagt und schrak mehr als einmal schreiend hoch, aber dazwischen gab es auch Phasen, in denen er vollkommen ruhig dalag und schlief. Einmal - wenn auch nur für einen flüchtigen Moment - glaubte Andrej sogar die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht zu erkennen.
Während er den schlafenden Jungen betrachtete, überkam ihn ein Gefühl von sonderbarer Vertrautheit, ja, fast Zärtlichkeit. Das Schicksal hatte ihm einen Sohn genommen, einen Jungen, den er kaum gekannt aber nichtsdestoweniger geliebt hatte. Doch im gleichen Moment hatte ihm das Schicksal einen Sohn geschenkt - keinen leiblichen zwar, aber vielleicht einen, mit dem er so vertraut werden konnte, wie Michail nach einigen Jahren mit ihm vertraut gewesen war. Wenn das Leben einen Sinn hatte, hatte Raqi einmal gesagt, so den, es weiterzugeben. Wozu für eine bessere Welt kämpfen, wenn es niemanden gab, der darin leben konnte? Nun, jetzt hatte er jemanden.
Andrej verscheuchte den Gedanken. Er war melancholisch. Und er war ganz eindeutig nicht in der Verfassung, über so etwas nachzudenken. Außerdem war es mehr als ungewiß, ob er und Frederic mehr als ein paar Tage zusammenblieben.
Sie hatten noch eine Stunde, bis die Sonne aufging, aber Andrej spürte, daß er ohnehin keinen Schlaf mehr finden würde. Er stand auf, ging ein paar Schritte und zog schließlich sein Schwert. Um auf andere Gedanken zu kommen, aber auch, um der Kälte zu trotzen, entfernte er sich etwas von dem Schlafenden und absolvierte ein paar Schwertübungen.
Am Anfang war er nicht gut, er spürte es selbst; seine Bewegungen waren steif und ungelenk. Es war Wochen her, daß er das letzte Mal mit der Waffe geübt hatte, aber er hatte das Gefühl, als seien es schon Monate. Er brauchte lange, bis er spürte, wie seine gewohnte Geschmeidigkeit zurückkehrte, und noch länger, bis sich die noch viel wichtigere innere Ruhe und Ausgeglichenheit einstellte.
Er übte eine halbe Stunde, dann war er vollkommen außer Atem und am ganzen Leib in Schweiß gebadet, trotzdem aber wieder von einer Stärke und Kraft erfüllt, die er viel zu lange nicht mehr gespürt hatte.
Als er sein Schwert einsteckte und sich herumdrehte, hatte Frederic sich aufgesetzt und sah ihn an. Andrej wußte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht zu deuten, aber er war nicht ganz sicher, ob er ihm gefiel.
»Wie lange siehst du mir schon zu?«
»So habe ich noch nie jemanden kämpfen sehen«, sagte Frederic beinahe andächtig.
»Ich hab' es von jemandem gelernt«, antwortete Andrej, »der in dieser Kunst in einer sehr fernen Stadt unterwiesen wurde.«
»In Rom?« fragte Frederic. »Oder in Venedig?«
»Oh nein«, antwortete Andrej. »Er erlernte es in einem Land, das viel weiter entfernt ist.«
»Weiter als Rom?« Frederic klang zweifelnd.
»Vielleicht wirst du es eines Tages einmal kennenlernen«, sagte Andrej achselzuckend. Dann machte er eine Handbewegung, mit der er das Thema abschloß. »Wenn du ohnehin schon wach bist, können wir auch weiterreiten.«
Frederic nickte, stand aber trotzdem nicht auf, sondern zog fröstelnd die dünne Decke, in die er sich zum Schlafen gewickelt hatte, enger um seinen Körper.
»Bringst du mir bei, so zu kämpfen?« fragte er.
Andrej sah ihn eine Sekunde lang schweigend an. »Wozu?« fragte er dann.
Frederic suchte nach einer Antwort, aber Andrej schnitt ihm mit einem Kopfschütteln das Wort ab, ging zu ihm und ließ sich neben den Jungen ins nasse Gras sinken.
»Dein Bruder und dein Vater - konnten sie mit dem Schwert umgehen?«
»Derek hat in einer großen Schlacht gekämpft«, sagte Frederic stolz. »Und mein Vater sogar in dreien. Er hat eine Menge Türken erschlagen.«
»Und darauf bist du stolz«, vermutete Andrej.
»Natürlich«, antwortete Frederic.
Andrej schwieg ein paar Sekunden. »Diese ... Feinde, die dein Vater und dein Bruder erschlagen habe«, fuhr er leise fort, »was meinst du - ob sie Familien hatten ? Frauen und vielleicht Söhne ... wie dich?«
Frederic sah ihn argwöhnisch an und sagte nichts.
»Wie hättest du dich gefühlt, wäre dein Vater von einer dieser Schlachten nicht mehr nach Hause gekommen?«
»Ich wäre zornig gewesen«, antwortete Frederic.
»Nur zornig? Nicht auch traurig und voller Kummer?«
»Natürlich!« antwortete Frederic. »Aber ...«
»Also, dann verrate mir, was gut daran ist, seine Feinde zu erschlagen«, fiel ihm Andrej ins Wort.
Für einen Moment starrte ihn Frederic einfach nur verwirrt an, aber dann machte sich jene Art von Trotz auf seinem Gesicht breit, zu dem nur Kinder imstande sind und gegen den zu argumentieren vollkommen sinnlos ist.
»Wenn es so ist, wie du sagst, wieso bist du dann ein so guter Schwertkämpfer?«
»Wer sagt dir, daß ich das bin?«
Frederic deutete mit einem Ausdruck von noch größerem Trotz in die Richtung, in der Andrej seine Schwertübungen absolviert hatte. »Du mußt ein großer Krieger sein.«
»Vielleicht bin ich das«, murmelte Andrej. »Aber das bedeutet nicht, daß ich Freude daran habe.« Er stand auf. »Ich sattle das Pferd. Geh zum Bach, und hol uns frisches Wasser. Danach reiten wir weiter.«
Frederic sah ihn noch einige Sekunden lang auf eine Art an, die Andrej beinahe erschreckte, und in seinen Augen glomm dabei etwas auf, das weit über kindlichen Trotz hinausging. Dann aber erhob er sich wortlos und ging, um Andrejs Befehl auszuführen.