14


Draußen mußte längst der nächste Tag angebrochen sein, aber vielleicht war es auch schon wieder Nacht. Andrej hatte keine Möglichkeit, das Verstreichen der Zeit nachzuvollziehen, denn sein Verlies hatte keine Fenster. Seit dieses Gebäude errichtet worden war, hatte die von Menschen willkürlich geschaffene Unterteilung des Tages in Stunden und Minuten in diesem Raum ebenso ihre Gültigkeit verloren wie der ewige Wechsel zwischen Tag und Nacht.

Das einzige Licht, das in unregelmäßigen Abständen Andrejs Kerker ein wenig erhellte, war ein rußiges rotes Flackern, das durch das vergitterte Fenster in der Tür zu ihm hereindrang. Es war aber nur manchmal da, mal für kurze Augenblicke, mal für Minuten. Andrej hatte es längst aufgegeben, irgendeine Regelmäßigkeit in diesem Aufflackern und Erlöschen erkennen zu wollen; und er hatte es auch aufgegeben, die Zeitspanne zu schätzen, die er schon in diesem Loch verbracht hatte. Sie bewegte sich zwischen vielen Stunden und wenigen Tagen - aber die genaue Zahl dieser Stunden und Tage war ihm inzwisehen gleichgültig geworden. So lange er keine Möglichkeit zur Flucht sah, brauchte er sich auch keine Gedanken darüber zu machen, wie lange er schon in seinem Gefängnis saß.

Und er sah keine Möglichkeit. Andrej bezweifelte, daß Ják Demagyar wußte, wen er hier eingekerkert hatte; doch der Herzog schien auf jeden Fall der Meinung zu sein, daß es sich bei seinem Gefangenen um einen äußerst gefährlichen Mann handelte. Andrej war nicht nur in das tiefste und sicherste Verlies des Schlosses gebracht worden, sondern man hatte ihn zusätzlich noch mit schweren Ketten an Händen und Füßen gefesselt und ihm einen eisernen Kragen angelegt, der durch eine kurze Kette mit einem eisernen Ring in der Wand verbunden war; diese Kette war so kurz, daß Andrej sich weder richtig setzen, geschweige denn aufrecht an die Wand gelehnt stehen konnte. Seine Glieder schmerzten angesichts der unbequemen Lage, und zusätzlich rumorte sein Magen; denn seit er hier unten war, hatte er weder etwas zu essen noch einen Schluck Wasser bekommen.

Plötzlich tauchte in dem rechteckigen, kaum handtellergroßen Fenster in der Tür wieder dieses flackernde rote Licht auf. Diesmal jedoch erlosch es nicht nach wenigen Sekunden, sondern wurde heller; gleichzeitig hörte er Schritte und Geräusche von Menschen, die eindeutig näherkamen. Womöglich ein Scharfrichter, der schon einmal Maß nehmen wollte. Andrej hatte sich schon mehrmals gefragt, auf welche Weise man ihn wohl hinrichten wollte. Das Enthaupten war eine beliebte Methode, aber wenn Vater Domenicus den Herzog vor seinem Tod noch davon überzeugt hatte, daß dieser Delãny ein Hexenmeister war, würde Herzog Demagyar sich gewiß eine langwierigere und schmerzvollere Todesart einfallen lassen. Andrej hatte gehört, daß man Hexen gerne verbrannte - auch eine hübsche Methode, doch bei weitem nicht einmal die grausamste, die er sich vorstellen konnte ...

Andrej verscheuchte diese unangenehmen Gedanken, richtete sich auf, so gut er konnte, und wandte seine Aufmerksamkeit ganz der Tür zu - auch wenn er das Gefühl nicht los wurde, daß die Besucher, die gleich zu ihm hereinkommen würden, wahrscheinlich nicht sehr viel angenehmer als seine Schreckensvisionen waren.

Und Andrej täuschte sich nicht. Ein Schlüssel knarzte im Schloß, und kurz darauf öffnete sich die Tür. Er blinzelte und verzog das Gesicht, denn seine an tagelange Dunkelheit gewöhnten Augen wurden von dem grellen Licht einer Fackel gemartert. Zwei, vielleicht drei Gestalten traten in seine Zelle. Im Zwielicht konnte er sie im ersten Moment nur als verschwommene Schemen erkennen. Dann vernahm er eine sehr klare - und sehr zornige - Stimme: »Wer hat das getan?«

Andrej blinzelte die Tränen weg, die das Licht in seine Augen getrieben hatte, und blickte in das Gesicht Ják Demagyars. Die Augen des Herzogs funkelten vor Zorn, aber dieser Zorn galt nicht ihm.

»Ich hatte befohlen, den Gefangenen gut zu behandeln!« rief Demagyar in scharfem Ton. »Jetzt seht ihn euch an! Er ist mehr tot als lebendig! Und er stinkt zum Himmel!«

»Es ... es tut uns leid, Herr«, stammelte einer der beiden Soldaten in seiner Begleitung. »Aber wir dachten...«

»Wenn ich will, daß ihr denkt, dann sage ich es euch!« unterbrach ihn Demagyar. »Jetzt geh, und hol etwas zu essen für diesen Mann! Und Wasser und Seife! Ich will nicht, daß er wie ein Ziegenbock stinkt!«

Der Mann beeilte sich, rückwärts gehend die Zelle zu verlassen, und Andrej hörte, daß er zu rennen begann, kaum daß er draußen war.

Demagyar wandte sich an den zweiten Mann. »Laß uns allein!« befahl er.

Der Soldat zögerte. »Seid Ihr sicher, Herr? Er ... er ist gefährlich.«

Der Herzog schnitt eine verächtliche Grimasse. »Glaubst du, daß er seine Ketten aus der Wand reißt oder sich in einen Raben verwandelt, der mir die Augen auskratzt?« fragte er höhnisch. »Verschwinde! Ich rufe dich, wenn ich dich brauche!« Er streckte fordernd die Hand aus und ließ sich die Fackel geben. Auch dieser Soldat hatte es plötzlich sehr eilig, aus dem Verlies zu verschwinden. Herzog Ják Demagyar schien bei seinen Leuten nicht unbedingt für seine Langmut bekannt zu sein.

Demagyar kam näher, blieb jedoch in respektvollem Abstand stehen, als traue er Andrejs Ketten doch nicht in solchem Maße, wie er gerade noch behauptet hatte. Er schwenkte die Fackel hin und her, wechselte sie von der rechten in die mit einem sauberen weißen Verband umwickelte linke Hand und hielt sie etwas höher, als die Hitze der Flammen auf seinem Gesicht zu brennen begann.

»Es tut mir wirklich leid«, bemerkte er. »Ich wollte nicht, daß man Euch so behandelt, Delãny. Aber Ihr wißt ja, wie man sagt: Wenn du sicher sein willst, daß etwas in deinem Sinne erledigt wird, dann tu es selbst.«

»Eure Sorge um mich rührt mich zu Tränen«, entgegnete Andrej bitter. »Ich würde Euch umarmen, wenn ich könnte.«

Demagyars lachte. »Versteht mich nicht falsch, Andrej. Es bereitet nur wenig Vergnügen, einen bereits halbtoten Mann hinrichten zu lassen, das ist alles.«

Andrej schwieg. Was er wissen wollte, würde der Herzog ihm ohnehin nicht sagen.

»Für einen Mann, der ohne einen Schluck Wasser seit zwei Tagen an eine Wand gekettet ist, seht Ihr erstaunlich gut aus«, fuhr Demagyars nach einer Weile fort. Er sagte das nicht ohne Hintergedanken, das spürte Andrej. Demagyars wußte mit ziemlicher Sicherheit nicht, wer sein Gefangener wirklich war - welchen Grund die drei goldenen Ritter und Vater Domenicus wirklich gehabt hatten, das Borsã-Tal heimzusuchen: Ihm würden sie es wohl kaum auf die Nase gebunden haben. Aber der Herzog hegte offenbar den Verdacht, daß Andrej irgendein Geheimnis zu verbergen hatte. Zumindest mußte er spüren, daß er es nicht nur mit einem einfachen transsilvanischen Barbaren zu tun hatte.

»Wir Delãnys sind zäh«, antwortete Andrej. »Es ist nicht leicht, uns umzubringen.«

»Ja, das habe ich auch gehört.« Der Herzog zuckte mit den Schultern. Die Fackel in seiner Hand zitterte und ließ eine Armee winziger roter Lichtreflexe über die Wände ausschwärmen. »Aber ich werde mein möglichstes tun.«

»Warum?« fragte Andrej ruhig.

»Warum ich Euch hinrichten lasse?« Demagyar blinzelte, als überrasche ihn diese Frage wirklich, lachte aber zugleich leise. »Immerhin habt Ihr versucht, mich zu bestehlen, Delãny. Und Ihr habt einen meiner Soldaten getötet.« Er blickte auf seine bandagierte Hand und fügte in aufrichtig klingendem Bedauern hinzu: »Er war ein guter Mann. Es wird nicht leicht sein, ihn zu ersetzen. Zuverlässige Männer sind heutzutage schwer zu finden.«

»Liebt Ihr solche grausamen Spiele einfach nur, oder gibt es einen tieferen Grund, weshalb Ihr Euch selbst bestehlt und Eure eigenen Soldaten umbringt?«

Demagyar versuchte seine Überraschung zu verbergen, aber Andrej entging keineswegs der rasche, fast erschrockene Blick, den er zur Tür hin warf, ehe er antwortete. »Wenn es einen Grund gäbe«, sagte er dann, »so wäre es nicht sehr klug von mir, ihn Euch zu verraten, nicht wahr?«

Also gibt es einen Grund, dachte Andrej; und er hatte sogar eine ungefähre Vorstellung, wie dieser Grund beschaffen sein mochte, auch wenn er diese Gedanken nicht präzise zu formulieren vermochte.

»Warum seid Ihr dann gekommen, Herzog?« erkundigte er sich spöttisch. »Nur um Euch zu überzeugen, daß es mir schlecht geht?«

»Eigentlich könnt Ihr Euch doch gar nicht beklagen, Delãny«, antwortete Demagyar. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin gekommen, um Euch davon in Kenntnis zu setzen, daß Euer Prozeß in zwei Stunden beginnen wird.«

»Mein... Prozeß?«

»Ihr scheint wirklich eine schlechte Meinung von mir zu haben«, seufzte Demagyar. »Natürlich bekommt Ihr einen fairen Prozeß.«

»Unter Eurem Vorsitz, vermute ich. Und das Urteil steht gewiß schon fest.«

»Selbstverständlich«, antwortete Demagyar trocken und deutete auf seine verletzte Hand. »Allein für den Angriff auf den Herzog von Constãntã ist Euch der Tod gewiß, Delãny. Ich könnte Euch nicht einmal retten, wenn ich es wollte. Es gibt Gesetze, an die auch ich mich halten muß.«

»Wie bedauerlich.«

Demagyar ließ sich von Andrejs sarkastischer Bemerkung nicht aus der Ruhe bringen. »Trotzdem bin ich hier, um Euch ein Angebot zu unterbreiten«, fuhr er fort. »Ihr werdet sterben, aber es liegt an Euch, ob es ein schneller und schmerzloser Tod sein wird oder ob Euer Sterben Stunden dauert oder vielleicht sogar Tage.«

»Ich nehme die Tage«, versuchte Andrej abermals sein Gegenüber zu provozieren. »Ich bin genußsüchtig, wißt Ihr?«

»Ihr wißt nicht, wovon Ihr sprecht«, erwiderte der Herzog ernst. »Mein Scharfrichter ist ein Meister seines Fachs. Und er genießt, was er tut.«

»Was wollt Ihr?« fragte Andrej. Er war kein Feigling, aber er war auch nicht verrückt.

»Nur eine Auskunft. Vater Domenicus ... der Inquisitor. Wer ist er?«

»Ich fürchte, ich ... verstehe nicht«, sagte Andrej stockend.

»Spielt nicht den Dummkopf.« Demagyar schien in der Tat verärgert. »Ihr wißt genau, was ich meine. Domenicus ist ... war kein gewöhnlicher Inquisitor. Der lange Arm Roms reicht für gewöhnlich nicht bis hier; wir halten es eher mit den Kirchenvätern von Byzanz und dem Patriarchen von Konstantinopel, dessen Verhältnis zum Vatikan - sagen wir einmal - etwas gespannt ist. Es muß für unseren allseits geschätzten König also einen triftigen Grund geben, der Inquisition zu gestatten, hierher zu kommen und nach Belieben Leute abzuschlachten.«

»Vater Domenicus hat er es offensichtlich erlaubt«, sagte Andrej.

»Ja, und ich frage mich, warum. Was ist an einem Tal in Transsilvanien so Besonderes, daß der König es zuläßt, daß Soldaten aus einem fremden Land ein ganzes Dorf auslöschen?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Vielleicht hat er es ja gar nicht gewußt.«

Der Herzog schüttelte nachdenklich den Kopf. »Daran habe ich auch schon gedacht, aber die Papiere des Inquisitors sind in Ordnung. Mehr als das. Ich kann es nicht beweisen, aber es hat den Anschein, als wären Domenicus und seine unheimlichen Begleiter im direkten Auftrag des Vatikans hier. Und daß sie nicht längst abgereist waren, ehe Ihr hier eintraft, spricht dafür, daß sie auf Euch gewartet haben. Ein etwas übertriebener Aufwand, um einen einzelnen Mann und einen Jungen umzubringen, meint Ihr nicht auch, Delãny?«

»Diese Arbeit werdet Ihr ihnen ja nun abnehmen, nicht wahr?« fragte Andrej. Seine Ketten klirrten leise. »Aber warum sollte ich Euch helfen, selbst wenn ich es könnte? Ich habe keine Angst vor dem Tod. Und Schmerz vergeht.«

»Und wenn ich Euch mein Wort gebe, den Jungen am Leben zu lassen?«

»Frederic?« Es gelang Andrej nicht ganz, das Entsetzen in seiner Stimme zu verbergen. »Ihr habt ihn?«

»Was habt Ihr erwartet?« fragte Demagyar in einem Ton ehrlicher Verblüffung. »Ihn und auch diese beiden Narren, die geglaubt haben, mich berauben zu können. Sagt mir, warum der Inquisitor wirklich nach Transsilvanien gekommen ist, und der Junge bleibt am Leben.«

»Er hat Domenicus getötet«, erinnerte Andrej den Herzog.

»Und?« Demagyar machte eine wegwerfende Geste mit der freien Hand. »Er hat mir damit einen Dienst erwiesen. Also? Was ist das große Geheimnis des Borsã-Tals?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß.

Demagyars Gesicht verfinsterte sich. »Dann tut es mir leid. In diesem Fall kann ich nichts mehr für Euch tun.«

Er starrte Andrej noch einen Moment lang an und machte keinen Hehl daraus, daß er fast verzweifelt darauf wartete, daß Andrej es sich doch noch überlegen und antworteten würde; und ebensowenig verhehlte er seine Enttäuschung, als das nicht geschah. Schließlich drehte er sich mit einem angedeuteten Achselzucken zur Tür und verließ ohne ein weiteres Wort die Zelle.

Andrej blieb allein in der Dunkelheit zurück. Vielleicht hatte er gerade seinen letzten Fehler begangen.

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