›Der Einäugige Bär‹ entsprach so genau der Beschreibung, die Andrej von dem Wachposten bekommen hatte, daß er ihn auch ohne das unbeholfen gemalte Schild über der Tür gefunden und erkannt hätte. Die beiden Delãnys hatten weit über eine Stunde gebraucht, um den Hafen und damit die Straße zu erreichen, in der das Gasthaus lag, denn Andrej war sorgsam darauf bedacht gewesen, den Patrouillen auszuweichen, die in immer größerer Zahl aus dem Schloß strömten und die Straßen durchstreiften.
Trotzdem blieb Andrej in einigen Schritten Abstand zu dem niedrigen Fachwerkgebäude noch einmal stehen und sah sich aufmerksam um. Die Straße wirkte so heruntergekommen und ungastlich, wie er es nach der Beschreibung des Postens erwartet hatte. Die Häuser am Hafen waren allesamt kleiner, älter und vor allem schäbiger als die im westlichen Teil der Stadt; und die Menschen, die hier lebten, wirkten auf Andrej ärmlich und wenig vertrauenerweckend.
Andrej warf einen neuerlichen sichernden Blick in die Runde, schob das unheimliche Gefühl, aus den Schatten heraus belauert zu werden, endgültig auf seine unerklärliche Unsicherheit und betrat schließlich die Schenke.
Das Innere des ›Einäugigen Bären‹ erinnerte auf beinahe unheimliche Weise an das Gasthaus, in dem sie vor zwei Tagen gewesen und in dem Ansbert und Vranjevc ums Leben gekommen waren: Es gab einen großen, rechteckigen Raum mit nur wenigen Fenstern und einem Boden aus festgestampftem Stroh und Lehm. Die Theke bestand aus einer Anzahl leerer Fässer, auf die jemand mit entschieden mehr Begeisterung als Zimmermannskunst ein paar grobe Bohlen genagelt hatte, und auch die wenigen Stühle und Tische hätten ohne weiteres aus dem niedergebrannten Gasthaus stammen können.
Vielleicht sahen ja alle Spelunken in diesem Teil des Landes so aus, überlegte Andrej einfach, aber massiv genug, um auch die eine oder andere freundschaftliche Prügelei zu überstehen. Zumindest so lange sie nicht mit Brandpfeilen und ölgefüllten Tonkrügen ausgetragen wurde.
Obwohl der ›Einäugige Bär‹ fast bis auf den letzten Platz gefüllt war, entdeckte er die Brüder auf Anhieb - zumindest Krusha. Das Gesicht der zusammengekauerten Gestalt neben ihm verbarg sich hinter einem Tuch, das aus einer Art ungeschickt gewickeltem Turban hing und ihn fast wie einen Muselmanen aussehen ließ. Angesichts der augenblicklichen Expansionsgelüste der Türken und des damit wachsenden Widerstands gegen alle Muslime war es in Constãntã nicht ganz ungefährlieh, mit einem Turban auf dem Kopf durch die Stadt zu laufen. Doch immerhin entsprachen sein einfacher Überwurf und die bunte Schärpe, mit der dieser zusammengehalten wurde, der hier üblichen Kleidung.
Beim Näherkommen erkannte Andrej, daß sich seine geheime Befürchtung bewahrheitete. Es war nicht der Informant, der hier wie verabredet mit Krusha auf ihn warten sollte, sondern Sergé. Obwohl ihm die Verkleidung des Mannes etwas übertrieben vorkam, mußte er zugeben, daß er sie zu Recht trug: Die Stadtwache suchte nach dreisten Bandstiftern und würde sich deshalb Männer mit frischen Brandwunden nicht durch die Lappen gehen lassen.
Frederic und er steuerten auf den bis auf zwei Bierkrüge leeren Tisch zu, an dem die beiden angeblichen Gaukler saßen. Krusha blickte ihnen vollkommen ausdruckslos entgegen, während es in Sergés einzigem noch intakten Auge - hinter dem groben Schleierersatz war das so ziemlich alles, was man von seinem Gesicht erkennen konnten - erst ungläubig und einen Moment später voller Zorn aufblitzte.
Die Delãnys ließen sich grußlos auf den beiden einzigen noch freien Stühlen nieder. »Da sind wir!« sagte Andrej herausfordernd. »Ich dachte, wir wären hier mit einem Informanten verabredet. Wo ist er?«
Die Brüder sahen ihn finster an. »Wir dachten schon, ihr kommt gar nicht mehr, man hätte euch verhaftet, oder ihr hättet es euch anders überlegt. Wieso kommt ihr so spät?« Sergé, dem bei seinen Worten das Tuch im Gesicht verrutschte, sah sie beide vorwurfsvoll an. Mit einer theatralischen Bewegung richtete er seinen Schleier wieder so her, daß außer einem Augenschlitz sein Gesicht verhüllt wurde.
»Weil wir den Wachen des Herzogs aus dem Weg gehen mußten. Wir sind heute morgen den goldenen Rittern über den Weg gelaufen, und dummerweise haben sie Verdacht geschöpft. Aber ich glaube nicht, daß sie uns wirklich erkannt haben«, fügte er schnell hinzu, als Sergés entsetzten Gesichtsausdruck bemerkte, »sonst hätten sie ganz anders reagiert. Sie haben mich mit langen Haaren und transsilvanischer Kleidung in Erinnerung - das ist mein Vorteil.«
»Ein schöner Vorteil«, schimpfte Sergé, »wenn sie dann dennoch Jagd auf dich machen!«
»Vielleicht haben sie uns auch nur für Diebe gehalten - was weiß ich.«
»Das wird ja immer schöner«, knurrte Sergé. »Was habt ihr bloß angestellt?«
»Nichts«, sagte Andrej rasch, aber aus irgendeinem Grund sah er plötzlich Marias Gesicht vor seinem inneren Auge. Er wollte Sergé schon von ihr berichten - doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Schließlich ging das die beiden Brüder nun wirklich nichts an.
»Es kann auch sein, daß die Aufregung in der Stadt weniger mit uns zu tun hat«, fuhr er fort.
»Weniger? Hat sie es denn nun - oder nicht?«
Andrej zuckte mit den Schultern. »Ich habe heute auf dem Markt ein paar Gesprächsfetzen aufgeschnappt. Die Menschen hier befürchten, die Türken könnten Constãntã auf die Liste ihrer nächsten Eroberungsfeldzüge gesetzt haben. Vielleicht hat der Herzog ja auch deshalb die Patrouillen verstärken lassen.«
Sergé griff sich automatisch an den Kopf und rückte seinen Turban zurecht. Er sah alles andere als glücklich dabei aus. »Hoffentlich halten sie mich nicht für einen dieser verdammten Muselmanen.«
Andrej warf ihm einen abschätzigen Blick zu. »Ich glaube kaum«, sagte er dann. »Sie werden dich eher für einen ganz gewöhnlichen Dieb halten.«
Sergé funkelte ihn mit seinem einen Auge wütend an, verkniff sich aber eine Antwort.
»Mein Informant hat mir ganz Ähnliches berichtet«, mischte sich nun Krusha ein. »Es heißt, die Türken sammeln sich ein paar Tagesritte weiter südlich von hier. Das ist auch der Grund, warum er die ganze Aktion auf Morgen verschieben mußte.«
»Was heißt das?« fragte Andrej überrascht. »Ich denke, wir wollten die Sache schnell hinter uns bringen?«
»Ja«, sagte Krusha ruhig. »Nur ist im Leben leider nichts gewiß. Aber keine Sorge«, fügte er schnell hinzu, als Delãny aufbegehren wollte, »im Prinzip bleibt alles beim alten. Ich habe immerhin in Erfahrung bringen können, daß die Gefangenen morgen nacht weggeschafft werden sollen.«
»Ja und?« sagte Frederic aufgebracht. »Wir können sie doch trotzdem schon heute befreien!«
»Du hast keine Ahnung, Grünschnabel«, sagte Sergé abfällig. »Glaubst du etwa, das sei ein Spaziergang? So etwas muß genauestens geplant werden. Was nutzt es uns, wenn wir zwar die Gefangenen finden, sie aber nicht aus der Stadt herausbekommen? Also halte dich raus, Kleiner, wenn Erwachsene miteinander reden.«
»Das heißt also, wir könnten auch noch in einem Türkenkrieg zwischen die Fronten geraten«, sagte Delãny betroffen.
Krusha schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er bestimmt. »Wir wollen ja schließlich hier nicht Wurzeln schlagen. Wir erledigen, was zu tun ist, und sind verschwunden, ehe noch die ersten Krummsäbel vor den Stadttoren aufmarschieren.«
»Können wir denn heute nacht nicht wenigstens mit meinen Angehörigen Kontakt aufnehmen?« bohrte Frederic nochmals nach. »Dann wissen wir immerhin schon mal, wie es ihnen geht und ob ...«
»Nein!« zischte Krusha. »Wir müssen bis morgen warten. Ohne meinen Informanten läuft gar nichts.«
»Auch das noch«, fluchte Andrej, dem es gar nicht gefiel, von einem Unbekannten abhängig zu sein. »Am besten, man sieht uns bis dahin nicht mehr zusammen. Frederic und ich werden uns irgendein Rattenloch suchen, in dem wir solange unterschlüpfen können. Wann treffen wir uns morgen?«
»Zur gleichen Zeit wie heute«, flüsterte Krusha den beiden über den Tisch hinweg zu. »Verspätet euch aber nicht wieder!«
In diesem Moment kam der Wirt, um ihre Bestellung aufzunehmen. Sergé winkte ab und sagte ihm, daß seine Freunde nicht länger bleiben könnten. Andrej und Frederic warteten seine Erwiderung erst gar nicht ab, sondern standen unverzüglich auf und verließen ohne jede weitere Verzögerung das Gasthaus. Auf dem gleichen umständlichen Weg, der sie durch Dutzende kleiner Gassen zum Treffpunkt geführt hatte, kehrten sie wieder in ihr Versteck zurück. Delãny sah sich währenddessen immer wieder verstohlen um; es kam ihm so vor, als würden ihn in der Dunkelheit tausend Augen beobachten und genau ausspähen, was er vorhatte. Ob er es wollte oder nicht: In dieser Stadt fühlte er sich wesentlich befangener und unsicherer als unter freiem Himmel.
Und dazu hatte er auch allen Grund. Ganz Constãntã schien von einer merkwürdigen Unruhe ergriffen zu sein. Es waren nur noch wenige Menschen unterwegs, und die meisten Männer und Frauen, denen sie begegneten, wirkten nervös und angespannt - sie hetzten an ihnen vorbei, ohne ihnen auch nur einen Blick zu schenken. Andrej war das natürlich ganz recht. Und doch zuckte er jedes Mal zusammen, wenn er Schritte vernahm oder eine Bewegung in dem Halbdunkel zu erkennen glaubte. Seine Sinne waren aufs äußerste gespannt und darauf ausgerichtet, ihnen eine unangenehme Begegnung zu ersparen. Und tatsächlich mußten sie zweimal in eine Seitengasse ausweichen, um Männern aus dem Weg zu gehen, die das herzogliche Wappen auf ihren orangeweißen Uniformen trugen. Jedesmal schob seine Hand dabei die Schärpe zurück, die er so über den Griff des Sarazenenschwertes plaziert hatte, daß die Waffe damit halb verdeckt war - und keine neugierigen Blicke auf sich ziehen konnte -, sich aber dennoch blitzschnell ziehen ließ.
Andrej atmete erst auf, als sie das verlassene Haus wieder erreicht hatten, ohne einer Stadtwache in die Arme gelaufen zu sein. »Das wirft unsere Pläne erst einmal über den Haufen«, sagte er, nachdem sie in das Haus eingestiegen waren, »aber immerhin dürften wir für heute nacht hier sicher sein. Mach es dir bequem. Ich werde noch mal losziehen, um mich ein bißchen umzuhören. Vielleicht erfahre ich ja noch etwas Wichtiges. Außerdem werde ich versuchen, etwas Eßbares aufzutreiben.« Er fuchtelte mit dem alten, bereits gesprungen Tongefäß vor Frederics Nase herum, das er unter der schmalen Stiege gefunden hatte. »Und damit werde ich dir Wasser holen - damit du mir nicht noch verdurstest!«
»Ich warte doch nicht, bis du die Gnade hast, mir etwas zu trinken zu bringen«, sagte Frederic empört. »Ich bleibe auf keinen Fall allein hier.«
Als Andrej etwas erwidern wollte, fuhr der Junge noch lauter fort: »Ich komme natürlich mit. Ausgeruht habe ich mich vorhin schon. Du tust ja gerade so, als wäre ich ein kleiner Junge!«
Andrej seufzte. Es war Frederic anzuhören, daß es ihm überhaupt nicht behagte, hier allein in dem alten Gemäuer zurückzubleiben. Das war kein Wunder; in dieser für einen transsilvanischen Bauernjungen nicht nur fremden, sondern auch bedrohlichen Umgebung im Dunkeln allein zu sein, mochte für Frederic schon furchterregend genug sein, aber dann auch noch zu wissen, daß die gesamte herzogliche Wache einschließlich ein paar geheimnisvoller goldener Reiter hinter einem her war: das war zuviel.
»Wir müssen jedes unnötige Risiko vermeiden«, sagte er dennoch. »Wenn wir um diese Zeit zu zweit losziehen, fallen wir viel mehr auf, als wenn ich alleine gehe.«
Frederic wollte sich auch damit nicht zufrieden geben, aber schließlich wurde es Andrej zu bunt, und er unterbrach seine weiteren Einwände mit einer ärgerlichen Handbewegung. »Du wirst hier die Stellung halten und damit basta«, entschied er. »Und ich rate dir gut: Komm mir nicht die Quere! Es könnte sonst sein, daß du damit die Befreiung deiner Verwandten von vornherein zunichte machst.«
»Du willst mir drohen?« fragte Frederic gleichermaßen entsetzt wie halsstarrig.
»Ja, ich will dir drohen«, bestätigte Andrej. »Und ich will dir klarmachen, daß nicht du es bist, der hier die Spielregeln bestimmt: Es sind der Herzog, die goldenen Ritter, Vater Domenicus und auch die beiden Spießgesellen, denen wir uns anvertraut haben. Erst ganz zum Schluß kommen wir beide.«
Er drehte sich ohne ein weiters Wort um und verließ das baufällige Haus auf demselben Weg, auf dem sie es betreten hatten. Während er die schmale Gasse entlangschritt, die ihn über mehrere Abzweigungen zu den größeren Straßen bringen würde, versuchte er sich wieder zu beruhigen. Frederic hatte eine Art an sich, die ihm zunehmend auf die Nerven ging. Es gab keine Entscheidung, keine Handlung, die er nicht irgendwie kommentierte oder kritisierte. Dabei war es nicht ungefährlich, zu streiten, solange sie sich in Constãntã befanden. Ein unbedachtes Wort, eine zu laut erhobene Stimme - das konnte nicht nur die Stadtwache auf ihre Spur bringen, sondern sogar über Leben und Tod der gesamten noch lebenden Bevölkerung von Borsã entscheiden.
Wie von selbst war er in Richtung Marktplatz gegangen. Warum er ausgerechnet diesen Weg wählte, hätte er nicht einmal genau zu sagen vermocht. Er genoß es jedenfalls, daß er einmal allein sein konnte, ohne die Begleitung des aufsässigen Jungen, der keine Gelegenheit ausließ, um ihn in Rage zu bringen. Sobald er das alte Tongefäß, das er in der Hand trug, an einem der öffentlichen Brunnen mit Wasser gefüllt hatte, würde er es zurückbringen - um ihm seinen Inhalt bei der nächsten frechen Antwort über den Kopf zu schütten.
Er schlenderte durch die mäßig belebten Gassen - immer auf der Hut vor Uniformen und dem Geklirr von Waffen - und fand sich plötzlich an dem Ort wieder, wo er heute nachmittag dem Mädchen begegnet war. Der Marktplatz bot ihm um diese Zeit ein vollkommen anderes Bild als am hellichten Tag. Der Geruch, der über dem Platz lag, war eine übelriechende Mischung aus Abfällen, Kot, aber auch Obst- und Gemüseresten, wobei letztere durchaus noch eßbar sein konnten - bei ihm führte die Gesamtmischung jedoch erst einmal dazu, daß sich ihm der Magen umdrehte.
Obwohl die Sonne schon fast untergegangen war, herrschte noch reges Treiben auf dem Platz. Einige Marktschreier waren damit beschäftigt, die restlichen Waren für den nächsten Tag in Sicherheit zu bringen, andere machten sich auf den Weg zu ihrer Schlafstatt. Doch nicht wenige hatten es sich neben ihrer Ware auf dem gepflasterten Boden so bequem wie möglich gemacht, wohl um sich gleich früh morgens nicht das erste Geschäft entgehen zu lassen. Andrej vermutete allerdings, daß etliche unter ihnen eine schmale Pritsche in einer Herberge vorgezogen hätten, wenn sie sich diesen Luxus hätten leisten können.
Ob er nun wollte oder nicht: Angesichts der leeren Marktstände fing sein Magen laut zu knurren an. Möglichst unauffällig sah er sich nach etwas Eßbarem um. Wenn er noch etwas hätte kaufen können, hätte er den Großteil der wenigen Geldstücke, die in seiner Tasche klimperten, für ein Stück Brot und etwas Käse geopfert. Doch so blieb ihm nichts anderes übrig, als sich nach einem kostenlosen Nachtmahl umzusehen - etwas, was er unterwegs im Wald oder auf Feldern durchaus gewohnt war, was aber in den Städten wohl nicht ganz so üblich war; schließlich sprossen hier keine Pilze, Beeren oder eßbare Krauter aus dem Boden.
Dennoch hatte er Glück. Inmitten einer schmalen Gasse aus nun leeren Holzwagen stolperte er geradezu über ein paar gelbe Rüben und Kohlrabi, die mit ein paar Holzspänen zusammen weggekehrt worden waren. Sie sahen zwar nicht mehr sehr appetitlich aus, aber zumindest noch genießbar. Er wickelte seine Schätze in einen alten Leinenfetzen, den jemand achtlos fortgeschmissen hatte, und machte sich auf den Weg zu einem kleinen Rondell in der Nähe des Platzes, das ihm durch seine abgeschiedene Lage bereits heute morgen als ein halbwegs brauchbares Versteck aufgefallen war - außerdem befand sich in seiner Mitte ein Brunnen.
Das Bedürfnis, seinen brennenden Durst zu stillen, wurde übermächtig. Ohne seiner Umgebung noch die nötige Aufmerksamkeit zu schenken, hastete er zu dem vollkommen menschenleeren Rondell und trat an den Brunnen heran, um den an einer Kette befestigten Eimer hinabzulassen und Wasser zu schöpfen. Nachdem er seinen ersten Durst gestillt hatte, füllte er das Tongefäß, um noch einmal in Ruhe zu trinken - bevor er mit seinen gesammelten Schätzen wieder zu Frederic zurückkehren und sich seine ewigen Litaneien anhören mußte. Kein schlechtes Nachtmal, dachte er, vielleicht stimmt das den Jungen etwas friedlicher. In diesen Gedanken hinein legte sich fast sanft eine Hand auf seine Schulter.
In einer blitzschnellen Drehung wirbelte Andrej herum und zog zeitgleich sein Sarazenenschwert. Kampfbereit stand er da, auf alles vorbereitet - oder zumindest auf fast alles. Doch als er seinem Gegner in die Augen sah, kam er sich nur noch lächerlich vor.
Es war Maria, eingehüllt in ein weites Cape, die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, daß er sie nur an ihren fröhlich sprühenden Augen erkannte. »Ich ergebe mich«, rief sie gespielt ängstlich. »Glaube mir bitte, ich habe nichts bei mir, womit ich kämpfen könnte.«
Andrej war die Situation unendlich peinlich. Umständlich ließ er das Sarazenenschwert wieder in die Scheide gleiten. Eine leichte Röte machte sich auf seinem Gesicht breit, was nicht gerade dazu führte, daß er sich besser fühlte.
»Wo kommt Ihr denn her?« fragte er unsicher.
»Das hört sich aber nicht so an, als ob Ihr Euch freuen würdet, mich wiederzusehen«, erwiderte Maria. Mit einer raschen Bewegung zog sie sich die Kapuze vom Kopf, und ihr dunkelbrauner Haarschopf fiel ihr über die Schultern. In ihren Augen funkelte der Schalk. »Heute morgen habt Ihr ja richtig Reißaus vor mir genommen.«
»Das ... das hatte nichts mit Euch zu tun«, stammelte Andrej.
»Soso«, machte Maria. »Ihr habt also Geheimnisse. Laßt mich raten: Es geht um eine Frau, habe ich recht?«
»Nein.« Delãny schüttelte so schnell den Kopf, als ob er sie nachhaltig überzeugen wollte. »Es hatte nichts mit einer Frau zu tun. Jedenfalls nicht in dem Sinne, den Ihr meint.«
»Aha«, spottete Maria und zog die Stirn kraus, was den schalkhaften Ausdruck in ihrem Gesicht verstärkte. »Wie habe ich es denn gemeint?«
»Eh ... ich weiß nicht«, stotterte Andrej unglücklich, während er spürte, daß sein Gesicht langsam die Farbe einer reifen Tomate annahm. »Heute morgen ging es jedenfalls um Frederics Verwandte.«
»Seine Verwandten müßten doch eigentlich auch die Ihren sein, wenn ich mich nicht täusche«, lächelte Maria zuckersüß.
»Äh ... ja. Natürlich.« Andrej spürte, wie ihm immer heißer wurde. »Aber ich habe sie lange nicht mehr gesehen.«
»Soso. Und was seht Ihr jetzt?« Maria trat einen halben Schritt näher heran und stellte sich auf die Zehenspitzen.
»Ich«, krächzte Andrej. Sein Herz schlug ihm bis zum Halse. »Ich sehe...«
»Ja?« forderte ihn Maria mit heiserer Stimme auf. »Was seht Ihr?«
Andrej Gedanken - oder was davon noch übrig war - überschlugen sich. »Seid Ihr«, brachte er schließlich mühsam hervor, »seid Ihr um diese Zeit etwa alleine unterwegs?«
Maria legte den Kopf schief, und ihr erwartungsvolles Lächeln wurde um eine Nuance kühler. »Ihr sprecht wie mein Bruder. Den habe ich aber zu Hause gelassen. Sonst hätte ich mich Euch so nicht nähern und Euch nicht überraschen dürfen. Ich habe mir gedacht, nein, ich wußte, daß ich Euch hier wiedersehen würde. Wo habt Ihr Euren kleinen Neffen gelassen?«
»Der ist in unserer Unterkunft«, antwortete Andrej, während er spürte, wie ihm ein Schweißtropfen die Stirn herunterrann. »Bei unseren Freunden.«
Maria öffnete nun auch noch die Knöpfe ihres Capes und setzte sich auf den Rand des Brunnens. Sie stützte sich rechts und links mit den Armen auf dem Brunnen ab und beugte sich leicht nach vorne, was ihr Dekollete noch mehr betonte. Der Ansatz ihres Busen hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Andrej konnte ihr Verhalten nun beim besten Willen nicht mehr als zufällig deuten. Es hatte schon vor Raqi zwei, drei Gelegenheiten gegeben, bei denen er mit einem drallen Bauernmädchen im Heu verschwunden war, nachdem sie ihm schöne Augen gemacht hatten. Aber das hier - das war anders.
Das war der komplette Wahnsinn.
Wie hypnotisiert kam Andrej immer näher und sagte mit leicht belegter Stimme: »Das solltet Ihr lieber nicht machen.«
»Was sollte ich lieber nicht machen, Fremder?« fragte Maria und sah ihm treuherzig entgegen. »Ist es etwa verkehrt, dem tiefsten, innersten Gefühl zu folgen? Ist es etwa verkehrt, dem Schicksal etwas auf die Sprünge zu helfen?«
»Ich ... nein.« Andrej dachte an die Stadtwachen, die hier irgendwo in der Gegend herumlungern mochten. Er dachte an die Gefahr, in der er schwebte, wenn man ihn entdeckte ... ihn, den Hexer, der doch im Moment selbst das Gefühl hatte, geradewegs verhext zu werden.
»Es ist nur so«, begann er hilflos, »ich bin doch nur ein einfacher Mann aus einem abgelegenen transsilvanischen Dorf.«
»Und was hat das damit zu tun?« fragte Maria lächelnd, während sie sich noch ein Stück weiter vorbeugte. »Sind transsilvanische Männer keine richtigen Männer - oder was wollt Ihr mir damit sagen?«
»Doch ... natürlich«, antwortete Andrej hilflos - und einen Herzschlag lang war er nahe dran, aufzuspringen und vor dieser jungen, fordernden und verheißungsvollen Frau wegzulaufen wie vor einem überlegenen Feind. Doch dann brach die Wahrheit aus ihm heraus, ohne daß er sie aufzuhalten vermochte: »Es könnte sein ... daß ich im Begriff bin, mich ... mich in Euch zu verlieben.«
»Und was ist dabei, wenn zwei Menschen sich lieben oder im Begriff sind, sich ineinander zu verlieben? Ist das nicht das Normalste der Welt? Du ... Ihr gefallt mir nun einmal besonders gut - als ob Ihr das noch nicht gemerkt hättet.« Maria ließ ihr glockenhelles Lachen erklingen.
Andrejs spürte eine Art der Erregung in sich, die ihm gleichzeitig wie ein Verrat ein Raqi vorkam, auf der anderen Seite aber alles in ihm hinwegschwemmte, was an Verstand, Zurückhaltung und Vorsicht in ihm war. Er wußte, daß es verkehrt war, sich auf das gleichzeitig verführerische und teuflische Spiel Marias einzulassen, er wußte, daß er für sie nicht mehr als Zeitvertreib sein konnte, ein Nervenkitzel, den sie auszukosten gedachte in einem ansonsten wahrscheinlich sehr bequemen, aber ereignislosen Leben.
Aber es war ihm egal.
Mit einem letzten Schritt war er bei ihr. Seine Hände fanden wie eigenständige Wesen ihren Weg, glitten über ihren Rücken, während er sie gleichzeitig an sich zog. Jeden Moment erwartete er, daß sie ihn zurückwies, daß sie um Hilfe schrie, so lange und so laut, bis die Stadtwache kam und ihn als lüsternen Frauenverführer festnahm, nur um kurz darauf zu entdecken, daß ihr Fang noch viel fetter war als erwartet und daß es Vater Domenicus anstehen würde, über ihn zu richten. Während er schon ihren bebenden und gleichermaßen fordernden Körper in den Händen hielt, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß sie nur ein hinterhältig böses Spiel mit ihm spielte, das letztlich nur darauf abzielte, ihn in die Falle der goldenen Ritter zu locken.
Aber dem war nicht so.
Wie ausgehungert preßte er sie an sich, überschüttete ihre Wangen mit seinen unbeholfenen und doch fordernden Küssen. Zu seiner Verblüffung erwiderte sie seine Begierde: Sie nahm sein Gesicht in die Hände und zog ihn sanft zu sich, und ihre Lippen trafen sich in einem nicht endenwollenden Kuß. Es ging alles viel schneller, als es eigentlich sollte, es war eine Selbstverständlichkeit in der Art, wie sie sich berührten, die all seine Hemmungen mit sich fortriß und es ihm unmöglich machte, sich gegen diesen plötzlichen Ausbruch der Leidenschaft zu wehren.
Ihre Körper wurden eins, schienen miteinander zu verschmelzen. Seine Hand streichelte ihre Schulter, wanderte langsam, aber sehr zielstrebig zu ihren Brüsten. Zu schnell, zu schnell, zu schnell... Unter seiner Berührung schien ihr gesamter Körper zu beben, und es war diese Resonanz, die es ihm unmöglich machte, mit dem aufzuhören, was er begonnen hatte. Er hatte mittlerweile längst vergessen, wo er sich befand, hatte vergessen, daß jederzeit jemand vorbeikommen konnte, um Zeuge dieses leidenschaftlichen Schauspiels zu werden.
Sein Mund wanderte ihren Hals entlang, während sie und er gleichzeitig den Ausschnitt ihres kostbaren Kleides weiter nach unten schoben, wie in geheimem Einverständnis. Schließlich fanden seine fordernden Lippen wie von selbst zu ihren Brüsten, strichen sanft über die Rundungen, bevor sie zu ihren Brustwarzen vorstießen, die sich jetzt keck aus dem Kleiderausschnitt hervorschoben. Seine Zunge stieß weiter vor und liebkoste die rosafarbenen Spitzen ihrer Brust, die sich ihm steil und hart entgegenreckten. Ihre Hände streichelten ihm sanft über den Kopf, den Hals entlang und ließen sich auf seinem Rücken nieder. In einer innigen Umarmung rutschten sie langsam vom Brunnenrand hinab auf den harten Boden. Die Welt um sie herum geriet vollkommen in Vergessenheit. Was war schon die Welt, im Gegensatz zu dem, was ihnen gerade widerfuhr?
»Ich habe dich gesucht«, flüsterte Maria Andrej zärtlich ins Ohr. »Vom ersten Moment an, als ich dich sah, wußte ich, daß ich dich haben wollte. Ich weiß ja, es ist nicht schicklich, daß ich dir das sage, aber ...«
Weiter kam sie nicht. Andrej verschloß ihre Lippen mit einem Kuß und flüsterte ihr zu: »Mir geht es genauso. Irgend etwas ist mit uns geschehen ... Mir ist, als hättest du mich verzaubert.«
Das Geräusch leiser Schritte war zu vernehmen, und ein siedendheißer Schrecken durchfuhr ihn. Plötzlich wurde er sich wieder bewußt, wo er sich befand. Mit einem entsetzten Ruck stieß er Maria zurück und sprang auf; seine Hand fuhr wie von selbst zum Griff seines Schwertes, und er war auf alles gefaßt: Auf einen Hinterhalt, in den ihn Maria gelockt hatte, auf eine Patrouille der Stadtwache, die durch ihre lustvollen Laute auf sie aufmerksam geworden war, oder auf ein paar grobe Kerle, die zufällig vorbeigekommen waren und sich das Schauspiel zweier Liebender nicht entgehen lassen wollten, die alles um sich herum vergessen hatten.
Es war nichts von alledem.
»Frederic«, stöhnte Andrej gleichermaßen überrascht wie entsetzt, während seine Augen wachsam die Umgebung absuchten nach einem Hinweis, daß der Junge nicht allein wie ein Spukgespenst in der Nacht aufgetaucht war. »Was, um Gottes Willen, machst du denn hier?«
»Ich hatte ... ein Geräusch gehört«, stammelte Frederic.
»Hat dich jemand verfolgt?« fragte Andrej scharf.
»Nein.« Der Junge schüttelte unglücklich den Kopf. »Ich glaube nicht.«
»Hat dich jemand aus unserem Versteck vertrieben?«
Wieder schüttelte der Junge den Kopf. »Ich hatte nur ... Angst.«
Andrej atmete tief ein. Am liebsten hätte er diesen mißratenen Delãny an den Ohren gepackt und sie ihm mit einem kräftigen Ruck vom Kopf gerissen. »Warte dort, im Schatten des Hauses, an der Ecke auf mich«, herrschte er ihn an. »Ich komme gleich nach. Und wehe, du tust dieses eine Mal nicht das, was ich von dir verlange!«
Frederic brachte keinen Ton mehr hervor; offenbar hatte er begriffen, daß er zu weit gegangen war. Mit einem stummen Nicken gab er Andrej zu verstehen, daß er ihn verstanden hatte und tun würde, was von ihm verlangt worden war, wandte sich um und rannte mit schnellen, aber leisen Schritten davon.
Delãny drehte sich wieder zum Brunnen, um Maria die Situation so gut wie möglich zu erklären. Doch dort, wo sie sich gerade noch aneinandergeklammert hatten, lag jetzt nur noch der Leinenbeutel und sein umgekippter Wasserkrug: Sie selbst war verschwunden.
»Verflucht«, murmelte Andrej. Seine Gefühle waren ein einziges Durcheinander. Die sinnesverwirrende Erregung, die ihn noch gerade gepackt gehalten hatte, war einem Gefühl von Verlust und Sehnsucht gewichen. Gerade hatte er ihren lockenden Körper noch unter seinen Händen gespürt, und nun würde er sie vielleicht nie mehr wiedersehen. Zudem war er sich nicht darüber im klaren, wieviel sie noch von dem Gespräch mit Frederic mitbekommen hatte. Wenn er an ihrer Stelle gewesen wäre, würde er sich jetzt eine Menge Fragen stellen - beispielsweise, von welchem Versteck Andrej gesprochen hatte und warum er Angst hatte, daß sein Neffe verfolgt worden sein konnte.
Vielleicht war sie nach Frederics überraschendem Auftauchen aber auch so schnell und erschrocken verschwunden, daß ihr der Sinn von Andrejs schroffen Worten entgangen war. Er konnte es nur hoffen. Andernfalls konnte ihm die junge Frau, die ihn so nachhaltig verwirrt hatte, durchaus gefährlich werden. Ein kleiner Hinweis, den sie ihrem Bruder gab und der das Mißtrauen dieser gewiß hochgestellten Persönlichkeit erregte, mochte schon ausreichen, um eine Hetzjagd auf sie zu veranstalten - sei es, weil man ihn für den Brandstifter hielt oder für einen Auskundschafter der Türken.