12


Es war ein merkwürdiges Gefühl, zu wissen, daß es nun gleich ernst werden würde. Dabei konnte Delãny nur hoffen, daß der Informant heute im ›Einäugigen Bären‹ auf sie wartete und die Sache tatsächlich ohne weitere Verzögerung über die Bühne ging. Jede Stunde, die sie länger als unbedingt nötig in Constãntã blieben, brachte sie dem Kerker ein Stück näher - aber auf dem direkten Wege und nicht bei dem Versuch, die verbliebenen Dorfbewohner aus Borsã zu retten.

Andrej riß einen gut armlangen Streifen aus dem Gewand, das ihm Krusha geliehen hatte, und wickelte das Sarazenenschwert darin ein. Dann wandte er sich an Frederic.

»Laß mich nach deinem Hals sehen.«

Frederic legte die linke Hand auf den schmutzigen Verband an seinem Hals und wich kopfschüttelnd einen halben Schritt zurück. »Das ist nur ein Kratzer«, wiegelte er ab.

»Aber er muß weh tun.«

»Nicht sehr. Und ich bin nicht aus Zucker.«

Andrej seufzte, beließ es aber dabei. Frederic war viel zu stolz, um zuzugeben, daß er Schmerzen hatte. Nicht sehr vernünftig, aber in Anbetracht seines Alters verständlich. Außerdem war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu diskutieren.

Andrej deutete mit einer müden Kopfbewegung zur Tür: »Gehen wir.«

Um den Patrouillen des Herzogs und den Schergen des Inquisitors nicht in die Arme zu laufen, nahmen sie einen größeren Umweg in Kauf. Zwar gewährte ihnen die Kleidung, die Frederic gestohlen hatte, einen gewissen Schutz: Aber jetzt waren die Männer in Weiß und Orange direkt hinter ihnen her und würden nicht eine Sekunde zögern, sie anzugreifen, wenn sie sie als Mörder von Vater Domenicus erkannten. Hinzu kam, daß Andrej sich zunehmend unsicherer fühlte, je mehr sie sich dem Schloß näherten. Mit großer Wahrscheinlichkeit waren die beiden goldenen Ritter dort, sofern sie sich nicht an der Suche nach den Mördern des Inquisitors beteiligten - was Andrej allerdings bezweifelte -, und vor allem würde Maria auf dem Schloß weilen. Andrej wußte natürlich, wie unsinnig diese Vorstellung war, trotzdem mußte er sich plötzlich mit aller Macht des Gedankens erwehren, daß die junge Frau nur einen zufälligen Blick aus dem Fenster werfen mußte, um ihn zu erkennen und sein Auftauchen unverzüglich den Wachen zu melden.

Natürlich geschah das nicht, dennoch atmete Andrej erleichtert auf, als sie das Schloß - das eigentlich eher einer Trutzburg glich - endlich passiert hatten und in Richtung Hafens abbogen. Er schalt sich in Gedanken einen Narren, der sich benahm, als sei er das allererste Mal in einer gefährlichen Situation; aber tief in seinem Inneren fühlte er den wahren Grund seiner Verunsicherung.

Es war das Mädchen. Er hätte sie niemals so nahe an sich heranlassen dürfen. Maria hatte irgend etwas in ihm geweckt, das er lieber in sich begraben gelassen hätte.

Die Zahl der Patrouillen nahm zu, als sich Andrej und Frederic dem Hafengebiet näherten. Mehrmals mußten sie hastig die Richtung wechseln und in einer schmalen Gasse oder einem Hinterhof Schutz suchen, bis die unmittelbare Gefahr vorüber war. So kam es, daß sie erst zwei Stunden nach dem verabredeten Zeitpunkt den ›Einäugigen Bären‹ erreichten und den einfachen Schankraum betraten.

In ihren zerschlissenen, schlecht sitzenden Kleidern fielen sie in dieser Umgebung kaum auf; und das Schwert, das Andrej unter dem Hemd verborgen trug, war beileibe nicht die einzige Waffe, die in diesem Raum von ihrem Träger griffbereit gehalten wurde. Die Warnung des Torwächters hatte durchaus ihren Sinn gehabt, aber das war nicht das einzige Grund, warum heute die Spannung in der Gaststube fast körperlich spürbar war: Durch den Mord an Vater Domenicus, der wohl von einigen mit der Türkengefahr in Zusammenhang gebracht wurde, drohte das explosive Gemisch aus Alkohol, wilden Spekulationen und Aggressivität jeden Moment hochzugehen. Wenn die Männer hier auch nur eine Sekunde in Erwägung gezogen hätten, daß die gesuchten Täter sich unter sie mischen könnten, wäre ihr Leben wohl keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Andrej konnte sich nur zu gut vorstellen, daß der Herzog oder Maria ein beträchtliches Kopfgeld auf sie ausgesetzt hatten, das sich so mancher hier gerne verdienen würde.

Fast widerstrebend bahnten sich Andrej und Frederic einen Weg durch die eng stehenden Tische und Bänke. Die Spelunke war zum Bersten voll. Die Gespräche an den Tischen wurden laut und hitzig geführt, und immer wieder tauchten darin die Worte Mörder und Türken auf. Der Trubel hatte immerhin den Vorteil, daß die zwei Neuankömmlinge kaum eines Blickes gewürdigt wurden.

Wie Andrej vermutet hatten, saßen die beiden Brüder wieder an dem kleinen Tisch in der hintersten Ecke. Sergé verbarg sein Gesicht noch immer hinter seinem auffällig ungeschickt gewickelten Turban, und Krusha unterhielt sich aufgeregt mit einem fremden, wesentlich älteren Mann mit einem verwitterten Gesicht und grauem Haar, dessen schlichte, aber nicht ganz billige Kleidung nicht so recht hierher passen wollte.

Als sich Andrej und Frederic dem Tisch näherten, wurde das Gespräch schlagartig unterbrochen, und alle drei starrten ihnen mit zornigen Augen entgegen. Schweigend sahen sie zu, wie sich die beiden Delãnys auf die freien Stühle setzten.

»Du hast Nerven, Delãny«, zischte Sergé unter seinem Tuch hervor. »Wer bist du, daß du es wagst, hierherzukommen, nach allem, was du angerichtet hast? Bist du dumm oder einfach nur dreist?«

»Vor allem durstig«, antwortete Andrej. »Aus welch anderem Grund sollte ich wohl sonst in ein Gasthaus gehen?«

Krusha lachte leise, winkte dem Wirt und hob zwei Finger. Der grauhaarige Fremde schwieg währenddessen, als ginge ihn das Ganze nichts an. Doch seine Augen waren die ganze Zeit auf Andrej gerichtet, und sein Blick wurde von Sekunde zu Sekunde durchdringender.

»Außerdem waren wir verabredet, wenn ich mich richtig erinnere«, fügte Andrej nach einer kurzen Weile hinzu.

»Das war, bevor du den Pfaffen umgebracht und dem Herzog damit einen Vorwand geliefert hast, die ganze Stadt auf den Kopf zu stellen!« sagte Sergé noch immer erregt. »Du mußt völlig verrückt sein, jetzt noch herzukommen!«

Andrej blickte ihn nachdenklich an. »Neuigkeiten scheinen sich schnell herumzusprechen«, sagte er.

»Und um so schneller, je schlechter sie sind«, bestätigte Krusha. »Der Herzog hat einen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt, Delãny. Und zwar nur auf deinen Kopf, wenn du verstehst, was ich meine.« Er seufzte. »Fünfzig Pfund in Gold. Und keine Fragen.«

»Das ... ist eine Menge Geld«, murmelte Andrej überrascht.

»Ein Vermögen«, bestätigte Krusha. »Genug, um sogar mich in Versuchung zu führen ... Aber nicht genug, um mich meine beiden toten Brüder vergessen zu lassen.«

Andrej war nicht sicher, was er von der letzten Aussage halten sollte. Krusha war sicher der intelligentere der beiden überlebenden Brüder, aber das bedeutete natürlich nicht, daß er auch vertrauenswürdig war.

»Soll ich wieder gehen?« fragte er.

»Nein«, antwortete Krusha. Der Wirt kam und stellte zwei nur halb gefüllte Krüge mit dünnem Bier auf den Tisch, die Krusha sofort bezahlte. Sie warteten, bis sich der Mann wieder entfernt hatte, dann fuhr Krusha fort: »Ich gebe zu, wir haben nicht mehr damit gerechnet, daß du kommst. Andererseits haben wir eine Abmachung. Du willst doch sicher immer noch deine Leute befreien?«

»Wäre ich sonst hier?« Andrej warf einen fragenden Blick auf den Grauhaarigen, aber Krusha versuchte ihn mit einer raschen Geste zu beruhigen.

»Ják ist vertrauenswürdig«, sagte er. »Keine Angst. Du kannst offen reden.«

Andrej trank einen Schluck Bier. Es schmeckte noch dünner, als es aussah, aber das machte nichts. Was er jetzt vor allem brauchte, war ein klarer Kopf.

»Es tut mit leid, daß ...« Er zögerte einen winzigen Augenblick, gerade lange genug, um zu dem Schluß zu kommen, daß Krusha nicht alle Einzelheiten zu wissen brauchte. »... der Zwischenfall auf dem Marktplatz passiert ist.«

»Du nennst es einen Zwischenfall, einen persönlichen Gast des Herzogs und hohen Abgesandten der Kirche umzubringen?« krächzte Sergé.

»Bedauerst du seinen Tod?« erkundigte sich Andrej in fast freundlichem Tonfall.

»Nein, überhaupt nicht«, antwortete Krusha an Stelle seines Bruders. »Aber er macht alles schwieriger. Eure Tat bringt den Herzog in eine unangenehme Lage - und das gerade jetzt, wo er unter Umständen schon bald auf Verbündete angewiesen ist, falls die Türken wirklich angreifen. Er wird alles in seiner Macht Stehende tun, um eurer habhaft zu werden. Das Risiko, mit euch gesehen zu werden, ist gestiegen.«

»Und damit auch der Preis, den ihr für eure Hilfe verlangt«, vermutete Frederic.

»Er hat sich verdoppelt, fürchte ich«, bestätigte Krusha die Vermutung des Jungen ohne jegliche Regung in seiner Stimme.

Andrej hatte Mühe, den Gedanken des angeblichen Schaustellers zu folgen. »Verbessere mich, wenn ich etwas Falsches sage«, sagte er. »Aber wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir noch gar nicht über die Summe gesprochen, die du für deine Hilfe verlangst.«

Krusha grinste. »Du erinnerst dich richtig, Delãny.«

»Wie also kannst du sie verdoppeln?«

Krusha trank einen gewaltigen Schluck von seinem Bier, ehe er antwortete. »Streiten wir nicht über Kleinigkeiten«, bemerkte er lächelnd und deutete auf den Grauhaarigen. »Ják hat zuverlässige Informationen, was den Aufenthaltsort eurer Leute angeht - und auch ihr weiteres Schicksal.«

»Und was verlangt er dafür?« fragte Andrej.

»Nur einen Anteil von dem, was wir verlangen«, sagte Krusha.

Andrej mußte sich beherrschen, um nach außen hin wenigstens noch halbwegs ruhig zu bleiben. Krusha genoß es in vollen Zügen, ihn auf die Folter zu spannen. »Und was verlangt ihr« fragte Andrej mit erzwungener Ruhe nach.

»Nicht viel, wenn man bedenkt, was du dafür bekommst und welches Risiko wir dafür eingehen. Nur das, was sich in der Schatztruhe des Herzogs befindet.«

Andrej blinzelte ungläubig. »Was?«

»Die persönliche Schatztruhe des Herzogs«, wiederholte Krusha. »Es heißt, sie sei gut gefüllt. Und noch um etliches besser, seit sich der Inquisitor als Gast auf dem Schloß aufhält. Aber keine Sorge«, fügte er mit einem humorlosen Lächeln hinzu, »es dürfte wiederum nicht so viel sein, daß ein kräftiger Bursche wie du nicht in der Lage wäre, es zu tragen.«

»Ihr seid ja wahnsinnig«, sagte Andrej leise, aber aus tiefster Überzeugung.

»Keineswegs«, entgegnete Krusha gelassen. »Wie ich schon sagte: Wir gehen ein gewaltiges Risiko ein, indem wir dir helfen. Unser Leben ist verwirkt, wenn man uns zusammen mit euch aufgreift. Hohes Risiko, hoher Preis.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber es ist natürlich deine Entscheidung.«

»Aber laßt Euch nicht zu viel Zeit damit«, fügte Ják hinzu. Es waren die ersten Worte, die er sprach, seit sich Andrej an den Tisch gesetzt hatte. Er hatte eine leise, aber sehr klare Stimme, die so gar nicht zu seinem verwitterten Gesicht paßte. »Eure Leute sollen noch in dieser Nacht fortgebracht werden.«

»Wohin?« fragte Andrej.

Ják lächelte und schwieg.

»Also?« fragte Krusha. »Hast du dich entschieden?«

»Habe ich denn eine Wahl?« antwortete Andrej dumpf.

»Nein«, sagte Krusha unumwunden. »Du wirst alles Nötige erfahren, sobald wir im Besitz der Schatztruhe sind. Wir verlangen nichts Unmögliches. Ják arbeitet im Schloß, er wird dich hineinschmuggeln, sobald die Sonne untergegangen ist. Und er wird dir auch den Weg zu den Gemächern des Herzogs zeigen. Alles, was du zu tun hast, ist, die Wachen auszuschalten und den Inhalt der Schatztruhe in zwei oder drei Lederbeutel umzufüllen, die du dann aus dem Fenster wirfst. Sergé und ich werden zur verabredeten Stunde draußen stehen, um sie aufzufangen.«

»Wir sind keine Diebe!« begehrte Frederic auf, aber Andrej brachte ihn mit einer unwilligen Geste zum Schweigen.

»Wenn es so einfach ist, warum tut ihr es dann nicht selbst?« fragte er.

»Niemand hat behauptet, daß es einfach wäre«, antwortete Krusha gelassen. »Außerdem: Warum ein unnötiges Risiko eingehen, wenn man die Arbeit anderen überlassen kann?«

Andrejs Gedanken rasten, schienen sich zugleich aber wie durch zähen Morast zu bewegen. Krushas Vorschlag gefiel ihm überhaupt nicht, und er roch zudem geradezu nach einer Falle. Aber wenn der Grauhaarige tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, blieb ihm gar keine andere Wahl.

»Und wer sagt mir, daß ich euch trauen kann?« fragte er, wobei er abwechselnd Krusha und Sergé anblickte.

»Niemand«, antwortete Krusha gelassen. »Aber wenn wir dich hätten verraten wollen, um in den Besitz des Kopfgeldes zu kommen, hätten wir das leichter haben können. Wie gesagt: Es ist deine Entscheidung. Die Gefangenen sollen eine Stunde nach Mitternacht weggebracht werden. Du hast also noch ein wenig Zeit, über unser Angebot nachzudenken.«

»Sagen wir, bis ich mein Bier ausgetrunken habe«, fügte Sergé hämisch hinzu. Krusha verdrehte unwillig die Augen, schwieg aber.

»Ihr habt den Schmerz über den Tod eurer Brüder anscheinend schnell überwunden«, bemerkte Andrej bitter.

»Keineswegs.« Krushas Blick wurde hart. »Einer der drei Mörder ist bereits tot, und auch die beiden anderen werden diese Stadt nicht lebend verlassen. Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.«

»Und hättest du den Pfaffen nicht getötet, dann hätte ich es getan«, fügte Sergé hinzu. Er hob seinen Bierkrug, leerte ihn in einem einzigen Zug und knallte ihn so wuchtig auf die Tischplatte, daß ihnen einige der anderen Gäste stirnrunzelnde Blicke zuwarfen. »Also?«

Andrej sah den Grauhaarigen an. »Wie komme ich ins Schloß hinein?«

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