19


Nachdem er sich offenkundig mit Abu Dun geeinigt hatte, war Ják Demagyar aufgebrochen, um seinen Gefangenen und deren Wächtern entgegenzugehen. Der Zeitpunkt, für den er seine Rückkehr zugesichert hatte, war längst verstrichen, aber noch war weder von ihm noch von den Verschleppten auch nur eine Spur zu sehen. Malthus und der schwarze Sklavenhändler zeigten mittlerweile deutliche Anzeichen von Nervosität, auch wenn sich zumindest der Goldene alle Mühe gab, seine wahren Gefühle zu unterdrücken.

Die beiden standen weit genug von Andrej entfernt, um ihn ihre Gespräche nicht mithören zu lassen, aber man mußte ihre Worte gar nicht verstehen, um zu erkennen, daß sie alles andere als Freundlichkeiten austauschten. Abu Dun gestikulierte wild, während sich Malthus auf kurze, wütende Gesten beschränkte.

Lange nach Ablauf der verabredeten Frist drangen endlich Geräusche von draußen herein: Hufgeklapper, Schritte und ein Rumoren, das auf die Ankunft einer größeren Menschenmenge schließen ließ. Einen Augenblick später wurde die Tür geöffnet, aber herein trat nicht Demagyar, wie Andrej und offensichtlich auch Malthus und Abu Dun erwartet hatten, sondern Maria in Begleitung der beiden anderen goldenen Ritter: Kerber und Biehler.

Biehler war tatsächlich der Mann, den Sergé erschlagen hatte. Er wies nicht einmal einen Kratzer auf.

»Also doch«, rief Maria, bevor Andrej auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte.

Malthus schaute fragend zu ihr hinüber und setzte zu einer Antwort an, aber die Schwester des Inquisitors ließ ihn nicht zu Wort kommen, sondern rauschte an ihm vorbei und steuerte auf Delãny zu.

»Bindet diesen Mann los!« befahl sie entschieden. »Auf der Stelle!«

Malthus tauschte einen fragenden Blick mit Kerber und Biehler, erntete von beiden aber nur ein Achselzukken.

»Habt Ihr mich verstanden, Malthus?« fragte Maria scharf. »Ihr sollt ihn losbinden!«

Als der Angesprochene nicht reagierte, zerrte und riß sie selbst an Andrejs Fesseln herum, gab dieses für sie aussichtslose Unterfangen aber bald wieder auf. Mit hochrotem Gesicht fuhr sie zu Malthus herum und herrschte ihn an: »Was ist los? Rede ich so undeutlich, oder seid Ihr plötzlich mit Taubheit geschlagen?«

»Bitte, Maria«, begann Malthus unbehaglich, »ich kann...«

»Ich habe Euch einen Befehl erteilt«, unterbrach ihn Maria. »Gehorcht! Sofort!«

Malthus trat ein paar Schritte auf sie zu, wich aber ihrem Blick aus. »Das kann ich nicht«, sagte er.

»Was soll das heißen?«

»Es wäre nicht im Sinne Eures Bruders«, erklärte Biehler an Malthus' Stelle.

»Nicht im Sinne ...?« Maria stockte und atmete tief durch, als wolle oder könne sie nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Dann fuhr sie gepreßt, aber mit beherrschterer Stimme fort: »Im Augenblick spreche ich im Sinne meines Bruders. Und ich befehle Euch, diesen Mann auf der Stelle loszubinden!«

»Nein«, sagte Biehler ruhig.

»Nein?«

»Nein«, bestätigte der Ritter.

»Bitte, versteht doch, Maria ...« Malthus' Stimme klang gequält. »Wir alle lieben und verehren Euch. Wir würden unser Leben für Euch geben, ohne zu zögern, aber die Befehle Eures Bruders waren eindeutig. Dieser Mann ist ein Hexer. Wir werden ihn seiner gerechten Strafe zuführen.«

»Ein Hexer.« Maria betonte das Wort sonderbar nachdrücklich und bedachte Andrej mit einem langen, sehr nachdenklichen Blick, ehe sie sich wieder zu Malthus herumdrehte.

»Und all diese Leute dort draußen?« fragte sie mit noch seltsamerer Betonung. »Sind das auch alles... Hexer?«

»Sie gehören zu ihm.« Der Goldene deutete auf Andrej. »Sein ganzes Dorf war mit dem Teufel im Bunde. Es war der Befehl Eures Bruders, sie gefangenzunehmen und nach Rom zu bringen, wo ihnen der Prozeß gemacht werden soll.«

»Nach Rom?« warf Andrej ein. »Nicht vielleicht eher nach Alexandria? Oder nach Akkad?« Er lachte hart.

»Seht Euch den Kapitän dieses Schiffes genau an, Maria. Für mich sieht er aus wie ein nubischer Sklavenhändler.«

Maria unterzog Abu Dun, der nur wenige Schritte von ihnen entfernt war, tatsächlich einer langen, eingehenden Musterung. Dann wandte sie sich wieder an Malthus und fixierte ihn mit einem eisigen Blick. »Ist das wahr?« fragte sie.

»Maria, Ihr werdet diesem Mörder und Satansbündner doch nicht glauben«, warf Kerber ein. »Er versucht seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen, mit allen Mitteln!«

Doch Maria würdigte den Leibwächter ihres Bruders keines Blickes, sondern starrte weiter Malthus an. »Ist das wahr?« fragte sie noch einmal.

»Wir folgen nur den Befehlen Eures Bruders«, beharrte Malthus.

»Die darin bestehen, Christen als Sklaven zu verkaufen?« Maria schnaubte vor Wut. »Ich glaube Euch kein Wort.«

»Diese Menschen sind keine Christen«, antwortete Malthus. »Und es war der Befehl Eures Bruders.«

»Was er im Moment leider nicht bekräftigen oder abstreiten kann«, erwiderte Maria grimmig. »Wie praktisch für Euch. Aber Ihr solltet genau überlegen, was Ihr tut. Noch ist mein Bruder nicht tot.«

»Und wir beten zu Gott, daß er den feigen Mordanschlag dieser Hexer überleben wird«, gab Malthus zurück. »Solange er jedoch am Leben ist und uns nicht selbst von seinen Befehlen entbinden kann, müssen wir tun, was er uns zuletzt aufgetragen hat. Es tut mir leid.«

»Ihr solltet an Bord gehen, Maria«, sagte Kerber.

Und Biehler fügte hinzu: »Euer Bruder ist bereits auf dem Schiff. Die ›Möwe‹ liegt zum Auslaufen bereit.«

»Ich gehe nirgendwo hin«, sagte Maria entschlossen. »Und ich lasse nicht zu, daß ...«

»Bitte zwingt uns nicht, Euch gewaltsam an Bord bringen zu müssen«, unterbrach sie Malthus. Aber wir würden auch das tun, fügte sein Blick hinzu.

Einige Augenblicke lang stand Maria reglos und wie erstarrt da, dann wandte sie sich Andrej zu, warf ihm einen langen hilflosen Blick zu, wirbelte mit einem Ruck herum und lief mit schnellen Schritten nach draußen. Kerber folgte ihr auf der Stelle, wenige Augenblicke darauf stürzte auch Biehler hinaus.

Abu Dun, der diese Szene schweigend aber mit offenkundigem Unverständnis verfolgt hatte, schüttelte den Kopf. »Unglaublich«, murmelte er. »Ihr Christen werft uns vor, wir seien Barbaren und ungebildete Wilde, aber ihr gestattet euren Weibern, auf eine Art mit euch zu reden, für die ich sie auf der Stelle töten würde.«

»Sie ist die Schwester unseres Herrn«, sagte Malthus. »Solange er lebt, sind wir ihr gleichen Respekt schuldig wie ihm.«

Abu Dun legte den Kopf auf die Seite. »Und wenn er nicht mehr lebt?«

»Ihr solltet zu Eurem Schiff gehen«, erwiderte Malthus kühl. »Ich nehme doch an, daß Ihr das Verladen der Sklaven überwachen wollt.«

Der Sklavenhändler runzelte die Stirn. Er wirkte leicht verärgert, sagte aber nichts, sondern schürzte nur verächtlich die Lippen; schließlich drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ging.

Malthus folgte ihm, blieb eine geraume Weile an der Tür stehen und blickte dem Sklavenhändler nach. Dann schüttelte er den Kopf, kam mit langsamen Schritten auf Andrej zu, zog sein Schwert und holte weit aus.

Malthus gewaltige Klinge schien sich in einen silbernen Blitz zu verwandeln, und Andrej spannte all seine Muskeln an. Doch statt ihm den Kopf von den Schultern zu trennen, sauste das Schwert haarscharf an seiner Schulter vorbei, schrammte an seinem Arm entlang, ohne ihm auch nur einen Kratzer zuzufügen, touchierte seine Hüfte und fetzte schließlich handlange Holzsplitter aus dem Boden. Als der Ritter das Schwert wieder hob und ein paar Schritte zurücktrat, fielen Andrejs Fesseln zerschnitten zu Boden.

Delãny wankte, geriet ins Stolpern, konnte sich aber mit einiger Mühe wieder fangen. Als er nach dem Sarazenenschwert greifen wollte, schüttelte Malthus den Kopf.

»Nicht so hastig, Delãny«, sagte er. »Ihr habt Stunden an diesem Pfahl gestanden. Wartet, bis Euer Blut wieder richtig fließt. Wärmt Eure Muskeln und macht sie geschmeidig. Oder habt Ihr es so eilig mit dem Sterben?«

Andrej blickte den hünenhaften Goldenen ungläubig an, aber Malthus nickte noch einmal zur Bekräftigung seiner Worte. Er meinte es ernst. Andrejs Zweifel verflogen. Wenn sein Gegner ihn hätte hinterrücks erschlagen wollen, hätte er wohl kaum seine Fesseln durchtrennt. Trotzdem ließ er Malthus keine Sekunde aus den Augen, während er sich ein paar Schritte von ihm entfernte.

In seinen Armen und Beinen prickelte es, zuerst sanft, dann heftiger, schließlich geradezu quälend. Malthus hatte recht: Andrej hätte in diesem Moment nicht einmal die Kraft aufgebracht, das Sarazenenschwert zu halten, geschweige denn, mit ihm zu kämpfen.

»Warum tut Ihr das?« Andrej begann damit, abwechselnd seine Handgelenke zu massieren und die Finger zu spreizen und zur Faust zu schließen. Doch zunächst schienen diese Lockerungsübungen ihm nicht zu helfen. Sein Blut strömte zum ersten Mal seit langer Zeit wieder frei durch die Adern, aber dieses Fließen erschien ihm fast noch unerträglicher als die Schmerzen, die er in den letzten Tagen ununterbrochen hatte ertragen müssen.

»Es macht nicht besonders viel Spaß, einen Gegner zu besiegen, der sich nicht wehren kann«, erklärte Malthus.

»Das meine ich nicht. Kerber. Biehler. Was habt Ihr mit diesen ... Verrückten zu schaffen? Ihr seid nicht wie sie.«

Der Goldene lachte leise. »Ihr habt recht, Delãny. Sie sind verrückt. Das Töten macht ihnen Spaß.«

»Euch etwa nicht?«

»Nur, wenn es sein muß. Die beiden sind verrückt, aber sie sind auch nützlich. Irgendwann werde ich sie töten. Aber das hat noch Zeit.«

»Nützlich?« wiederholte Andrej. »So wie Vater Domenicus, der unschuldige Menschen abschlachten läßt?«

»Irgendwann wird der Tag der Befreiung kommen«, entgegnete Malthus ernst. »Und es gibt viele von uns, viel mehr, als Ihr ahnt, Delãny.«

»Und Ihr laßt sie Euch von Domenicus und diesen beiden Wahnsinnigen vom Halse schaffen.«

»Jeder wählt seinen eigenen Weg, Delãny«, sagte Malthus. »Auch Ihr hättet das getan, wären wir uns nicht begegnet. Glaubt Ihr, ich würde Euch nicht verstehen? Ich war einmal wie Ihr. Auch ich habe mit dem Schicksal gehadert und geschworen, daß ich nicht so werden will. Ich wollte nicht töten müssen, um leben zu können. Es hat Jahre gedauert, bis ich den ersten von unserer Art getötet habe. Und noch sehr viel länger, bis ich begriff, daß es richtig war. Das Töten ist nun einmal unsere Bestimmung.«

»Ihr tötet, um länger leben zu können?« fragte Andrej. Er verstand noch nicht einmal ansatzweise, was hier vorging und von was Malthus die ganze Zeit über redete. »Ihr behauptet im Ernst, unverwundbar und unverletzlich zu sein?«

»Oh nein.« Der Ritter schüttelte entschieden den Kopf. »Wir sind sehr wohl verwundbar. Aber wenn man uns nicht auf die richtige Weise zu töten versteht - dann kommen wir wieder.«

»Teufelswerk«, murmelte Andrej, während ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken rann.

»Teufelswerk?« wiederholte Malthus, als habe er selber schon öfter über die Bedeutung dieses Wortes nachgedacht. »Wohl kaum. Ist Euch noch nie aufgefallen, wie sehr sich einzelne Menschen unterscheiden? Wir sind nur eine kleine Abweichung von dem, was die Menschheit unter normal versteht. Versteht mich recht: Wir kommen nicht aus der Hölle wieder. Wir werden verletzt, wir bluten wie jeder andere: Aber die Wunden schließen sich viel schneller und gründlicher als bei anderen Menschen - solange wir von einem ganz besonderen Lebenssaft gespeist werden.«

Ein ganz besonderer Lebenssaft - Andrej konnte sich nur zu gut vorstellen, was er damit gemeint hatte. All das, was er sich in seinen kühnsten Alpträumen zusammengeträumt hatte, war wahr - und nicht nur das. Die Wahrheit war tausendmal schlimmer, als er es sich je hatte vorstellen können. Malthus ließ ihn einen Blick hinter den Vorhang der Wirklichkeit werfen, und Andrej sah, was dahinter lauerte: der Wahnsinn, und etwas, gegen das alle Schrecken des Todes verblaßten. Es gab eine zweite Wirklichkeit hinter den Dingen, und wenn er erst einmal bereit war, das zu akzeptieren, dann waren die Folgerungen aus diesem Gedankengang schlichtweg entsetzlich.

All die Jahre, in denen ihn Michail Nadasdy trainiert hatte, hatte er ihn nie gefragt, warum er ihn überhaupt dieser Anstrengung unterzog. Er war nie auf die Idee gekommen nachzuhaken, was für einen Sinn es machen sollte, einen transsilvanischen Bauernsohn zu einem begnadeten Schwertkämpfer zu erziehen. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, daß Michail die besten Jahre seines Lebens damit verschwendete, ihn tagtäglich zu drillen, als würde irgendwann einmal das Leben seines Stiefsohns davon abhängen.

Er hatte deswegen nicht danach gefragt, weil er es die ganze Zeit über insgeheim gewußt hatte. Irgend etwas in ihm hatte von einem Erbe gewußt, das ihn zum Außenseiter machte - nicht einmal so sehr in Borsã, wo einige Menschen mehr oder minder mit dem Fluch dieses Erbes gestraft waren und damit in relativer Ruhe zu leben verstanden, nicht einmal in Transsilvanien, wo dieses Phänomen womöglich häufiger auftrat als im Rest der Welt -, sondern im Angesicht ganz normaler Menschen wie Maria.

»Ihr schweigt, als hättet Ihr endlich begriffen«, sagte Malthus. »Ich kann nur hoffen, daß es so ist. Es wäre mir furchtbar, wenn Ihr ohne das nötige Wissen in den Tod gehen würdet.«

»Ich habe überhaupt nichts begriffen«, antwortete Delãny gehässig. »Außer, daß Ihr der Mörder meines Sohnes seid.«

Malthus schwieg eine ganze Weile. »Es täte mir leid, wenn das alles ist, was Ihr verstanden habt«, sagte er schließlich. »Zumal es nicht die Wahrheit ist. Jedenfalls nicht in diesem Sinne.« Er beugte sich ein ganz kleines Stück vor. »Jeder von uns stirbt nach einer mehr oder minder normalen Lebensspanne - wenn er nicht zuvor zerstückelt, zerquetscht wird oder lichterloh verbrennt. Warum glaubt Ihr wohl, verbrennt man schon seit Anbeginn der Zeiten Menschen, die im Verdacht stehen, mit dem Bösen im Bunde stehen? Warum steinigt man Ketzer, bis ihr Körper zur Unkenntlichkeit zertrümmert ist? Warum vierteilt man Außenseiter, denen man ruchlose Verbrechen angehängt hat?«

»Ihr wollt damit sagen ...«, stammelte Andrej.

»Ich will damit sagen, daß uns die normalen Menschen durchaus häufig genug erkennen und erbarmungslos ausrotten, wenn sie unserer habhaft werden«, sagte Malthus bitter. »Sie kennen keine Gnade mit uns. Und sie würden uns noch viel bestialischer jagen, wenn sie unser Geheimnis kennen würden.«

»Welches Geheimnis?«

Der Ritter zögerte, und Andrej spürte den Zweifel, der Malthus daran hinderte, einfach draufloszureden. »Was soll es«, sagte er dann doch. »Ihr habt ein Recht zu wissen, zu welcher Art Ihr gehört.«

»Zu welcher Art gehöre ich denn?« fragte Delãny mit klopfendem Herzen.

»Ein Teil des Geheimnisses ist, daß man uns viel leichter töten kann, als selbst die wenigen Eingeweihten glauben: Ein gezielter Stich ins Herz genügt.«

So, wie er es sagte, war das bei weitem nur der kleinere Teil der Wahrheit. »Was gehört noch zu unserem Geheimnis?« fragte Delãny heiser.

Malthus lächelte traurig. »Wir leben zwar länger als andere - aber nicht ewig. Es sei denn ...«

»Es sei denn was?«

»Es sei denn, wir nähren uns vom Blut unserer eigenen Art. Es sei denn, wir töten einen der unseren - und laben uns an seinem Saft.«

Andrej starrte ihn fassungslos an. Sein Herz raste, und seine Hände zitterten, als hätte er soeben eine große Anstrengung vollbracht.

»Damit wir uns recht verstehen, Delãny«, sagte Malthus ruhig. »Es geht in unserem Kampf darum, wer am Ende die Kraft des anderen aufnehmen kann. Um einen weiteren Schritt in die Unendlichkeit zu tun.«

Andrej gab keine Antwort mehr. Jedes weitere Wort war sinnlos. Malthus war in der Tat anders als Kerber und Biehler. Zweifellos war er der Gefährlichste der drei - aber möglicherweise hatte er auch ein tragischeres Schicksal durchlitten als seine beiden Kumpane. Und er glaubte an das, was er Andrej gerade versucht hatte zu verdeutlichen. Irgendwann, vor sehr langer Zeit, mußte Malthus an der Erkenntnis dessen, was er für seine Bestimmung hielt, innerlich zerbrochen sein.

Auch der Ritter schien das Interesse an einem weiteren Wortgefecht verloren zu haben; er trat zwei oder drei Schritte zurück und ließ sein Schwert mehrmals spielerisch durch die Luft pfeifen. Andrej erschrak, als er sah, mit welcher Leichtigkeit Malthus die schwere Waffe handhabte. Sein Gegner war viel stärker als er, und wie gut er mit dem Schwert umzugehen verstand, hatte Andrej ja schon einmal am eigenen Leib erfahren. Zwar hatte er ihn damals fast besiegt, aber das war kaum mehr als Glück gewesen; wahrscheinlich hatte er seinen Sieg nur dem Umstand zu verdanken gehabt, daß Malthus ihn unterschätzt hatte. Ein zweites Mal würde ihm dieser Fehler gewiß nicht unterlaufen.

Andrej dehnte seine Lockerungsübungen nach und nach auf sämtliche Körperteile aus. Schließlich zückte er sein Schwert und führte zwei, drei erste Übungsschläge aus. Seine Muskeln waren noch nicht ganz so geschmeidig, wie er das gewohnt war - und vor allem, wie das gegen diesen Gegner notwendig war; trotzdem bewegte er sich absichtlich nicht so schnell, wie er das selbst in seinem jetzigen Zustand gekonnt hätte. Malthus beobachtete ihn aufmerksam. Andrej würde jeden noch so geringen Vorteil dringend brauchen, um gegen diesen Mann zu bestehen - allerdings glaubte er nicht wirklich, daß er den Mann besiegen konnte, dem auf dem Weg zur Unsterblichkeit jedes Opfer recht zu sein schien.

Denke nie über deine Chancen nach! flüsterte Michail Nadasdys Stimme ihm zu. Ergreife sie! Und wenn du keine hast, dann schaffe dir welche! Die meisten Kämpfe werden im Kopf entschieden!

... Und wenn du unterliegst, wirst du den Kopf selbst verlieren, fügte Andrej in Gedanken hinzu. Er lächelte, senkte das Schwert und stand fast eine Minute lang reglos und mit geschlossenen Augen da.

Als er die Lider wieder hob, waren alle Zweifel und alle Furcht verschwunden. Er war vollkommen ruhig und fühlte sich zugleich von einer großen Kraft erfüllt. Mit äußerster Konzentration absolvierte er drei verschiedene Angriffstechniken, dann senkte er das Schwert, wandte sich langsam zu seinem Gegner um und nickte ihm zu.

»Ich bin bereit«, sagte er.

»Eine bemerkenswerte Technik«, sagte Malthus. »Ich habe sie bisher nur einmal gesehen.«

»Und wo?«

»Bei einem Mann, der aus einem sehr fernen Land kam. Er war ein mächtiger Krieger. Ich habe ihn getötet«, antwortete Malthus. Und in derselben Sekunde griff er an.

Für einen Mann seiner Größe bewegte er sich unglaublich schnell. Ja, er schien heute noch schneller und noch beweglicher zu kämpfen, als während ihrer ersten Auseinandersetzung im Wald. Und anders als damals versuchte er nicht, Andrej mit seiner ausgefeilten Technik oder geschickten Finten zu überrumpeln, sondern er setzte ausschließlich auf seine Kraft und seinen massigen Körper - gepaart mit seiner unerwarteten Schnelligkeit eine geradezu mörderische Mischung.

Andrej blieb gar keine andere Wahl, als sich mit einem hastigen Satz in Sicherheit zu bringen und mehr schlecht als recht den wuchtigen Schwerthieb zu parieren, mit dem Malthus diese erste Attacke begleitete.

Schon der erste Treffer schlug ihm um ein Haar die Waffe aus der Hand, und er taumelte zurück. Den nächsten Angriff des Goldenen erahnte er mehr, als daß er ihn sah; diesen Schwerthieb konnte er erst im buchstäblich allerletzten Moment abwehren - allerdings um den Preis, daß er endgültig aus dem Gleichgewicht geriet und sich nur durch einen instinktiven Ausfallschritt vor dem Sturz schützen konnte.

Auf diese Blöße hatte Malthus nur gewartet. Er wirbelte mitten in der Bewegung herum, ohne dabei auch nur einen Deut langsamer zu werden. Sein Schwert prallte dicht über dem Handschutz gegen Andrejs Sarazenenschwert und riß dessen Arm in die Höhe; im selben Atemzug schmetterte er ihm die geballte Faust ins Gesicht. Andrej taumelte zurück, spie Blut und war für Bruchteile von Sekunden so gut wie blind. Dennoch gelang es ihm, Malthus' nächsten Hieb mit letzter Anstrengung noch abzublocken - aber der Fußtritt, den dieser Riese ihm nun versetzte, fegte ihm die Beine weg. Andrej schlug schwer auf dem Boden auf und rollte sich blitzschnell zur Seite; dann spürte er einen brennenden Schmerz, denn Malthus hatte ihm nachgesetzt und ihm mit einem weiteren Hieb eine tiefe Fleischwunde quer über der Brust zugefügt.

Der Ritter lachte, trat einen Schritt zurück und ließ kurz sein Schwert sinken. Er war nicht einmal außer Atem, während Andrej schon Mühe hatte, sich auf die Ellbogen zu stützen und seinen Körper einer Musterung zu unterziehen. Die Wunde in seiner Brust war nicht tief genug, um ihn nachhaltig zu schwächen. Aber Malthus hätte ihm bei dieser letzten Attacke leicht auch die Kehle durchtrennen oder ihn gleich enthaupten können.

Wahrscheinlich hatte er das nur deshalb nicht getan, weil ihm ein solch leichter Sieg keinen Spaß bereitete.

Andrej stemmte sich mühsam hoch, ergriff das Schwert fester und nickte seinem Gegner auffordernd zu. Malthus hob seine Waffe, salutierte spöttisch und deckte Andrej im nächsten Augenblick mit einem solchen Hagel von Hieben, Stichen und Finten ein, daß diesem Hören und Sehen verging. Diesmal hatte der Hüne seine Taktik geändert. Statt mit brutaler Gewalt auf ihn einzustürmen, überzog er ihn mit unglaublich schnellen, dabei aber äußerst präzise geführten Hieben; dabei verzichtete er bewußt darauf, das Gewicht seiner Waffe einzusetzen, sondern verließ sich einzig auf seine Schnelligkeit und seine perfekte Technik.

Und diese Technik war der seinen überlegen.

Andrej begriff dies nur allmählich - aber als er es begriff, war es wie ein Schock. Er mußte die unglaubliche Tatsache hinnehmen, daß er der Körperkraft seines Gegners genausowenig entgegenzusetzen hatte wie seiner Erfahrung. Andrej hatte von Michail Nadasdy sämtliche Techniken und Kunstgriffe gelernt, mit denen sein Lehrer im Laufe vieler Jahre die alte Fechtkunst der Sarazenen weiter und weiter verfeinert hatte. Und er hatte Andrej weismachen wollen, damit jedem nur denkbaren Gegner gewachsen zu sein. Daß das pure Übertreibung gewesen war, mußte er jetzt schmerzhaft erfahren.

Was nichts anderes hieß, als daß Andrej am Ende Malthus unterliegen würde. Und Malthus wußte das.

Auf seinem Gesicht erschien ein siegessicheres Lächeln, doch seine Aufmerksamkeit ließ deshalb keinen Sekundenbruchteil nach. Er trieb Andrej erbarmungslos vor sich her, und diesem blieb keine andere Wahl, als sich mit verzweifelten Paraden und Ausweichbewegungen zur Wehr zu setzen.

Trotzdem wurde er erneut getroffen.

Diesmal fegte Malthus Andrejs Sarazenenschwert mit einem kurzen, ansatzlosen Hieb zur Seite und trieb seinem Gegner die Klinge mit der nächsten Attacke in einer Abwärtsbewegung eine Handbreit tief in den Leib. Ein grausamer Schmerz explodierte in Andrejs Magen und breitete sich in Wellen in seinem ganzen Körper aus. Er krümmte sich, ließ das Sarazenenschwert fallen und sank auf die Knie. Andrej wartete auf den tödlichen Hieb - doch der blieb aus.

Statt den schon Bezwungenen zu enthaupten, wich Malthus zwei Schritte zurück, senkte seine Waffe und wartete, bis das Leben aufhörte in einem pulsierenden, dunkelroten Strom aus Andrejs Leib herauszuquellen.

Andrej griff mit seiner blutverschmierten Hand nach dem Sarazenenschwert und stemmte sich, auf die Klinge gestützt, schwerfällig wieder auf die Beine. Er wankte von einer Seite auf die andere, und seine Knie vermochten kaum das Gewicht seines Körpers zu tragen. Zum ersten Mal begriff er, daß das Erlernen einer überlegenen Kampfkunst allein nicht Unbesiegbarkeit bedeuten mußte. Sein Körper war noch nicht zerstörerisch getroffen worden; aber der Blutverlust schwächte ihn. Und diese Schwäche verflog weniger schnell als der Schmerz.

»Du bist gut, Delãny«, sagte Malthus ernst. »Anscheinend hattest du einen hervorragenden Lehrer. Aber eines hat er dir wohl nicht beigebracht: Versuche nie, deine robuste Natur als Waffe einzusetzen! Sie ist ein unzuverlässiger Verbündeter.«

Und ohne Vorwarnung griff er erneut an.

Und diesmal machte er ernst.

Andrej kam seinem Angriff einen Sekundenbruchteil zuvor, indem er sich nach hinten fallen ließ und nach Malthus' Knien trat, noch bevor seine Schultern den Boden berührten. Er traf, aber der Tritt reichte nicht aus, einen so großen und schweren Mann zu stoppen oder auch nur nennenswert aus dem Rhythmus zu bringen.

Immerhin brachte Delãny den Angreifer so weit aus dem Gleichgewicht, daß dessen nachgesetzter Schwerthieb Andrejs Hals verfehlte und statt dessen nur eine tiefe Scharte in den Boden der Lagerhalle riß.

Andrej sprang auf, stieß mit dem Schwert blind nach hinten und spürte, daß er irgend etwas getroffen hatte. Er vernahm ein schmerzerfülltes Grunzen, wendete sich mit einer instinktiven Bewegung um - und sah Malthus wie einen wütenden Stier auf sich losstürmen; es hatte den Anschein, als würde die tiefe Stichwunde in seiner Brust für Malthus gar nicht existieren.

Andrej versuchte erst gar nicht, diesen Angriff zu parieren ... Jeder Versuch, diesen tobenden Riesen aufhalten zu wollen, wäre einem Selbstmordversuch gleichgekommen. Statt dessen ließ sich Andrej abermals nach hinten fallen, verwandelte diesen Sturz aber mit größter Behendigkeit in einen Sprung, so daß er wieder auf den Beinen stand, als der Wütende auf ihn einhieb, ihn aber um Haaresbreite verfehlte. Im selben Atemzug holte Andrej aus, und die Klinge des Sarazenenschwertes fuhr tief in Malthus' Oberschenkel, gerade in der Sekunde, als dieser an ihm vorüberstürmte; der Ritter fiel mit einem gellenden Schmerzensschrei zu Boden.

Trotz der tiefen und heftig blutenden Wunde in seinem Schenkel war Malthus sofort wieder auf den Füßen. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, und es fiel ihm schwer, sich auf den Beinen zu halten. Doch als Andrej versuchte, diesen vermeintlichen Vorteil zu nutzen und den Angeschlagenen zu attackieren, empfing dieser ihn mit einer wütenden, dabei aber so gekonnten Schlagkombination, daß er größte Mühe hatte, den Hieben auszuweichen.

Andrej glaubte dennoch, daß sich der Ritter nicht mehr lange würde halten können. Schon nach ein paar Sekunden mußte er begreifen, daß das ein verhängnisvoller Irrtum war. Vollkommen gegen alle Regeln der Natur versiegte der Blutstrom aus Malthus' Bein von einem Moment auf den ändern. Obwohl Andrej wußte, was kommen würde, sah er ungläubig und vollkommen fassungslos zu, wie der Ausdruck von Schmerz von seinem Gesicht verschwand und sich der Goldene wieder zu seiner vollen Größe aufrichtete.

Das war unmöglich! Selbst nach Malthus' ausführlichen Erklärungen hatte Delãny immer noch nicht richtig begriffen, was seine Worte eigentlich bedeuteten; sein Gefühl hatte sich gegen den dahinterliegenden Sinn gesperrt. Andrej konnte nicht die Augen davor verschließen, daß auch bei ihm selbst Wunden schneller heilten als bei anderen Menschen - aber das hier war völlig anders. Kein Mensch konnte sich nach einer solchen Verletzung so schnell wieder fangen! Bei keinem Menschen konnte sich eine klaffende blutende Wunde so schnell wieder schließen!

Aber andererseits - es paßte zu seinen eigenen, unleugbaren und doch nie hartnäckig hinterfragten Erfahrungen. Es paßte dazu, daß ihm selbst Verletzungen viel weniger anhaben konnten als jedem anderen Menschen, den er kannte - von Frederic und Barak einmal abgesehen. Es paßte dazu, daß Bruder Toros ihn aus dem Borsã-Tal vertrieben hatte, als sei er der Leibhaftige. Es paßte dazu, daß die Kirche Vater Domenicus geschickt hatte, um die Delãnys für immer und alle Zeiten auszulöschen. Es paßte zu ihm und den goldenen Rittern, wie die linke zur rechten Hand paßte ...

Es war ein Augenblick, in dem alles in Andrej zusammenstürzte, sein ganzes Weltbild, sein Verständnis der Zusammenhänge, die sein Leben trieben, der Glaube, der ihn am Leben erhielt und ihm die Zuversicht gab, trotz allen erlittenen Schmerzes immer weiter und weiter zu machen. Für diesen ganz winzigen Augenblick nur begriff er die ganze und vollständige Wahrheit - dann entglitt sie ihm wieder und stieß ihn wieder hinaus in eine nicht minder bedrohliche Wirklichkeit.

»Du bist gut, Delãny«, sagte Malthus mit leicht zitternder Stimme. Die Wut in seinen Augen war geblieben. »Aber nun ist es genug. Ich habe keine Zeit mehr, weißt du? Mein Schiff läuft gleich aus.«

Es gelang Andrej, den nächsten Schwerthieb zu parieren, aber schon die bloße Wucht des Schlages ließ ihn zurücktaumeln.

Erneut wechselte Malthus seine Taktik. Jetzt griff er weniger ungestüm an und vertraute statt dessen auf eine Kombination aus ausgefeilter Technik und brutaler Kraft. Andrej wehrte seine Attacken zwar mühelos ab, aber jeder Schlag jagte rasch aufeinanderfolgende Wellen fürchterlich vibrierender Schmerzen durch seine Arme und Schultern. Mit jedem Angriff wurde Andrej müder. Schritt für Schritt wich er vor Malthus zurück, aber der Riese trieb ihn mit unerbittlicher Beharrlichkeit weiter in die Enge - und seine Hiebe verloren nichts von ihrer Wucht.

Andrej war der Verzweiflung nahe. Seit Beginn dieses Kampfes war er ausschließlich in der Defensive gewesen - und nach allem, was Michail Nadasdy ihn gelehrt hatte, war dies der sicherste Weg, einen Kampf zu verlieren. Aber Malthus gab ihm einfach keine Gelegenheit, selbst die Initiative zu ergreifen.

Wenn du schwächer bist als dein Gegner, hörte er erneut Michail Nadasdys Stimme in seinem Kopf, dann suche nach seiner Schwäche!

Aber dieser Kerl hatte keine Schwäche! Unerbittlich trieb er Andrej vor sich her, und jeder seiner Hiebe erschütterte diesen noch ein wenig stärker als der vorhergehende. Der Augenblick, in dem einer dieser mit brutaler Gewalt ausgeführten Angriffe seine Deckung durchbrechen und ihn schwer verletzen würde, war absehbar. Ein drittes Mal würde Malthus ihn gewiß nicht verschonen.

Andrej parierte einen weiteren Hieb und verletzte seinen Gegner dabei an der Hand - allerdings eher zufällig; zwar war die Wunde, die er ihm zufügte, nicht gefährlich, trotzdem aber mit Sicherheit schmerzhaft. Malthus grunzte, und erneut flammte mörderische Wut in seinen Augen auf. Seine nächste Attacke kam mit solcher Wucht, daß Andrej Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben.

Aber Andrej spürte: Selbst dieser Mann war besiegbar.

Er war weit davon entfernt zu triumphieren, aber er faßte immerhin wieder ein wenig Hoffnung. Neun Zehntel seiner Aufmerksamkeit waren nach wie vor nötig, um die immer ungestümer werdenden Angriffe des Goldenen abzuwehren - aber das übrige Zehntel seiner Gedanken beschäftigte sich unruhig mit der Frage, wie er diesen möglichen Schwachpunkt seines Gegners zu seinem Vorteil nutzen konnte. Er mußte Malthus wütend machen, denn ein wütender Gegner beging Fehler.

Als Malthus' Schwert das nächste Mal herabsauste, parierte Andrej den Hieb auf eine Art, die ihn fast den letzten Rest seiner noch verbliebenen Kraft kostete; nichtsdestotrotz wirkte diese Parade geradezu spielerisch. Delãny lachte laut. »Vielleicht habt Ihr recht, Malthus«, sagte er. »Es wird allmählich Zeit, mit diesen Albernheiten aufzuhören. Und ... wißt Ihr was? Im Gegensatz zu mir seid Ihr nicht gut. Nur groß und stark und alt. Zu alt. Aber nicht wirklich gut.«

Malthus antwortete nicht, aber seine Lippen verzogen sich zu einem schmalen, blutleeren Strich, und in seinen Augen loderte pure Mordlust auf. Er schlug mit solcher Gewalt zu, daß dieser Hieb Andrej bei einem Treffer vermutlich in zwei Teile gespalten hätte. Doch der Bedrängte wich im letzten Augenblick zur Seite und schraubte sich mit einer tänzelnden Bewegung um seinen Gegner herum. Allerdings verzichtete er darauf, Malthus an der Schulter zu verletzen, was er in dieser Situation gekonnt hätte. Statt dessen trat er ihm mit der ganzen ihm zur Verfügung stehenden Kraft in den Hintern und lachte ihm ins Gesicht, als der Hüne sich mit einem zornigem Knurren wieder zu ihm herumdrehte.

»Warum gebt Ihr nicht endlich auf, Malthus?« fragte Andrej provozierend, während er das Schwert spielerisch ein paarmal von der rechten in die linke Hand und wieder zurück wandern ließ. »Wer weiß, vielleicht lasse ich Euch ja sogar am Leben ... Es macht keinen besonderen Spaß, einen so ungeschickten Gegner wie Euch zu töten.«

Malthus brüllte wie ein verwundeter Stier, riß sein Schwert in die Höhe und stürmte mit der Unaufhaltsamkeit einer Naturgewalt auf ihn ein.

Andrej versuchte gar nicht erst, ihn aufzuhalten, sondern ließ sich auf die Knie fallen, packte das Sarazenenschwert mit beiden Händen und riß die Klinge im letzten Augenblick schräg nach oben, während er sich gleichzeitig zur Seite wegdrehte. Der rasiermesserscharfe Stahl drang beinahe ohne spürbaren Widerstand durch Malthus' Körper, durchtrennte seine Wirbelsäule und trat auf halber Höhe des Rückens wieder heraus.

Der Ritter erstarrte. Über seine Lippen kam einzig ein seufzender Laut, in dem Andrejs Empfinden nach vielleicht sogar ein Hauch von Erleichterung mitschwang. Seine Finger öffneten sich, das Schwert klirrte zu Boden, und der riesige Mann sank ganz langsam vor Andrej in die Knie.

Andrej hielt den Griff seiner Waffe noch immer mit beiden Händen fest umklammert. Er spürte, wie sich die Klinge weiter bewegte und unvorstellbare Verheerungen in Malthus Körper anrichtete. Blut lief über die Lippen des Riesen, er keuchte vor Schmerz, seine Augen waren trüb, und er zitterte am ganzen Leib. Andrej wollte diesem Mann keinen Schmerz zufügen. Er wollte niemandem Schmerz zufügen. Aber er hatte keine Wahl - und so bewegte er das Schwert weiter. Malthus stieß ein wimmerndes Keuchen aus, und ein weiterer Schwall tiefdunklen Blutes quoll über seine Lippen. Andrej verabscheute sich in diesem Moment selbst für das, was er tat, aber wenn er diesem Giganten auch nur die Spur einer Chance gab, würde er das mit seinem eigenen Leben bezahlen.

Obwohl er die Antwort im vorhinein wußte, fragte er dennoch: »Wenn ich dich leben lasse, wirst du dann gehen?«

»Keine ... Chance ... Delãny«, würgte Malthus hervor. »Wenn du ... mich verschonst... töte ich ... dich.«

»Dann läßt du mir keine Wahl.« In Andrejs Worten schwang ehrliches Bedauern mit.

»Töte ... mich«, hauchte Malthus. »Aber zuvor beantworte mir ... noch eine Frage.«

»Welche?«

»War ich ... wirklich ... dein erster?«

Andrej nickte.

»Dann wirst du ... gleich eine Überraschung erleben«, stöhnte Malthus. »Wir sehen uns, Delãny. Vielleicht schneller, als du ... denkst. Und jetzt tu es endlich!«

Die letzten Worte hatte er mit äußerster Kraftanstrengung aus sich herausgeschrien. Andrej starrte ihm noch einmal fest in die Augen, dann sprang er auf, riß das Schwert mit einem Ruck aus Malthus' Körper und ließ die Klinge aus der gleichen Bewegung durch die Luft pfeifen und das Herz des Ritters durchstoßen.

Malthus blieb noch für die Dauer eines einzelnen, trotzigen Herzschlages reglos und aufrecht auf den Knien hocken, dann fiel er langsam nach vorne und schlug mit einem dumpfen Geräusch auf den schmutzigen Holzbrettern auf.

Andrej trat einen Schritt zurück, schüttelte mit einem unbewußten, harten Ruck das Blut von der Klinge des Sarazenenschwertes und steckte die Waffe ein.

Er fühlte sich ... leer. Was immer er erwartet hatte, es kam nicht. Er empfand weder Triumph noch Befriedigung, ja, er fühlte nicht einmal Erleichterung darüber, daß es vorbei war. Er war einfach nur erschöpft. Was immer Malthus gemeint hatte, als er von der Überraschung sprach, die Andrej bei seiner ersten Transformation erwartete - es geschah nicht. Er hatte den ersten seiner Art getötet, aber er kam sich in diesen Sekunden nur wie ein Mörder vor, obwohl er zu dieser Tat gezwungen worden war. Er hatte diesen Mann nicht töten wollen.

Dann geschah etwas, was ihn im höchsten Maße entsetzte. Er ging mit langsamen Schritten auf den Toten zu. Im ersten Augenblick fürchtete er, die gebrochenen Augen würden sich wieder schließen, blinzeln, um sich dann mit einem eiskalten Blick auf ihn zu richten. Er glaubte in der Schwerthand des Toten ein leises Zittern zu sehen, eine kaum wahrnehmbare Bewegung, die sich über seinen Körper fortpflanzte, bis er sich schließlich aufrichten und auf ihn zukommen würde ...

Aber es war reine Einbildung. Malthus war so tot, wie ein Mensch - Mensch? - nur sein konnte. Trotzdem - er hatte nur das Wort des toten Ritters, daß ihn ein Stich durchs Herz wirklich zu töten vermochte. Vielleicht brauchte er ja nur etwas länger, diesmal, um wieder zu sich zu kommen und Kraft zu sammeln für den nächsten Schlag gegen einen Gegner, den er immer noch besiegen konnte. Vielleicht hatte er ihm das Märchen mit dem Stich durchs Herz nur aufgetischt, um ihn anschließend um so besser verhöhnen zu können.

Es mochten Gedanken sein, die nahelagen - aber irgend etwas tief in Andrej war sicher, daß sie nicht zutrafen. Und dieses Etwas wußte ganz genau, was er tun mußte.

Delãny ging neben dem Toten in die Hocke. Sein rechtes Knie berührte ganz leicht und fast zärtlich den Arm des Toten. Zu seiner eigenen Verblüffung ruhte er in diesem Moment vollkommen in sich selbst, tiefer noch als nach Durchführung der Übungen, die ihm Michail als Kampfvorbereitung empfohlen hatte, aber gleichzeitig war er meilenweit von sich selbst entfernt; er empfand nichts weiter als die Gewißheit, daß er nun tun würde, was getan werden mußte.

Sein Gesicht wanderte zum Kopf des Toten hinab, auf seinen Hals zu. Die Sonne, die hier nur mit sanften, gebrochenen Strahlen einfiel, schien sich gleichzeitig zu verdunkeln und ihn immer stärker zu blenden. Es war eine explosionsartige Steigerung seiner Lichtempfindlichkeit, die ihn zwang, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzukneifen, so daß er sein Opfer kaum noch wahrnehmen konnte. Gleichzeitig glaubte er eine eiskalte, grauenhafte Hand nach seinem Herzen greifen zu fühlen, um es erbarmungslos zusammenzudrücken. Alles lechzte nach der Nahrung, die ihm viel zu lange verweigert worden war. Alles in ihm schrie danach, endlich dem Ruf seiner Bestimmung zu folgen.

Seine Zähne berührten den Hals des Toten und einen entsetzlichen Herzschlag lang begriff er, was er zu tun bereit war. Seine Hände und Knie zitterten, als ihm die ganze fürchterliche Bedeutung dessen aufging, was ihm Malthus hatte beibringen wollen. Aber wie eine Hyäne, die ihr totes Opfer gefunden hatte und sich durch nichts als durch rohe Gewalt von ihrer grausigen Mahlzeit würde abhalten lassen, vollbrachte er die Tat, mit der er sich seine ganz spezielle Nahrung einzuverleiben gedachte.

Seine Zähne gruben sich in die Halsschlagader des Ritters.

Im gleichen Moment zuckte die sengende Hitze purer Lebenskraft durch seinen Körper. Während er saugte und saugte raste Welle auf Welle unglaublicher Energie durch seine Adern, versengte ihn und fraß sich in seine Gliedmaßen und seinen Leib - als wollte sie ihn vernichten.

Er schrie in purer Agonie. Ein unglaublicher Schmerz hämmerte in seinem Körper, Hitze und Qual pulsierten in einem nie gekanntem Ausmaß durch seinen Leib, in immer heftigeren, immer rascher aufeinanderfolgenden Wellen; aber zugleich spürte er auch einen stärker werdenden Strom schierer Lebenskraft in sich eindringen, deren Gewalt alles übertraf, was er sich je hatte vorstellen können, und die jede Zelle seines Körpers überflutete und sie schier zum Bersten zu bringen schien.

Und dann ... war Malthus da.

Mit der Energie, die diese Transformation brachte, strömte noch etwas anderes in Andrej hinein. Nichts Körperliches - es war nicht so, als nähme er das Bewußtsein des Goldenen in sich auf, dessen Gedanken, Gefühle oder Erinnerungen. Vielmehr war es die reine Idee dieses Mannes, das, was Malthus ausgemacht hatte; seine Verbitterung, sein Zorn und seine dumpfe Resignation gegenüber einem Schicksal, das er sich nicht freiwillig ausgesucht hatte, ja, das er tief im Grunde seines Herzens vielleicht nie hatte haben wollen. Und in all dem, was von Malthus zu Andrej hinüberströmte, waren zudem noch die Kraft und die Lebensenergie all derer enthalten, die Malthus getötet und deren Blut er in sich aufgenommen hatte ... durchpulste Energie, die er zu einem Teil seiner Selbst gemacht hatte ... jedoch nicht rein, sondern umgeformt und zu etwas verwandelt, das viel mehr Malthus glich als dem früheren Ich seiner bezwungenen Gegner.

Der Kampf war hart, unvorstellbar hart, und Andrej war lange nicht sicher, daß er ihn gewinnen würde. Mehr als einmal lief er Gefahr, zu Malthus zu werden statt dessen Ich zu einem Teil seines eigenen Selbst zu machen. Es war seine erste Transformation. Er hatte keinerlei Erfahrung mit diesem unheimlichen Vorgang, wußte nicht, was mit ihm geschah - und er wußte vor allem nicht, was er tun konnte oder sollte, um sich gegen die Überflutung seines Ichs durch eine rein negative Energie zu wehren.

Andrej drohte in einem Strudel aus Verbitterung und Haß zu versinken, der seinen Geist überflutete wie eine Woge aus schwarzem, klebrigen Teer, der ihn in die Tiefe reißen und seine Seele verschlingen wollte; aber plötzlich war er nicht mehr allein. In der Dunkelheit, die um ihn herum herrschte, erschienen plötzlich die Gesichter Raqis und Michail Nadasdys, der größten und einzigen Liebe seines Lebens und des väterlichen, besten Freundes, den er je gehabt hatte. Raqi, jung und strahlend schön wie an dem Tag, an dem er sie das erste Mal gesehen hatte, lächelte ihm zu, während er auf Michail Nadasdys Gesicht das vertraute, gutmütig-spöttische Stirnrunzeln entdeckte.

Tief in sich spürte Andrej, daß sie nicht wirklich anwesend waren. Aber das spielte keine Rolle. Seine Hände versuchten sich aus dem Dunkel hinauszutasten, als könnten sie die vertrauen Gesichter berühren; und mochte das alles auch eine Illusion sein - er schöpfte allein aus der Erinnerung an diese beiden Menschen schon neue Kraft. Es war gleich, ob sie hier waren oder nicht - was zählte war das, was Raqi und Michail Nadasdy ihm bedeuteten.

Doch dann war es fast leicht. Der blutrote dunkle Strom, der Andrej eben noch mit sich fortreißen wollte, bäumte sich ein letztes Mal auf - und erlosch. Die Kraft, die von Malthus ausgeströmt war, war noch immer spürbar, aber sie war nun zu einem Teil von ihm selbst geworden; sie war nicht länger sein Feind, sondern ein stilles, tiefes Reservoir auf dem Grunde seiner Seele, aus dem er schöpfen konnte. Vielleicht hatte er Malthus und die anderen in gewisser Weise sogar erlöst ... Er hoffte es.

Andrej kniete mit offenen Augen neben dem Toten. Er fühlte sich ausgelaugt und entkräftet wie nie zuvor in seinem Leben, aber zugleich auch von einer Kraft durchdrungen, die er mit Worten nicht beschreiben konnte.

In diesem Augenblick erklang ein reißendes Sirren, und ehe er ausweichen konnte, durchbohrte ein gefiederter, kaum handlanger Pfeil seine linke Schulter, riß ihn herum und nagelte ihn regelrecht an den Pfeiler, vor dem er hockte. Andrej keuchte vor Schmerz; seine rechte Hand griff nach dem winzigen Geschoß und versuchte es herauszureißen, aber er fügte sich damit nur noch größere Schmerzen zu. Stöhnend ließ er die Hand sinken, drehte den Kopf und sah zur Tür, darauf gefaßt, gleich einem der beiden anderen goldenen Ritter gegenüberzustehen. Statt dessen sah er Herzog Ják Demagyar, der zwei Schritte hinter der Tür stehen blieb, ohne die geringste Hast seine Armbrust hob - und mit einem gezielten Schuß auch noch Andrejs rechte Hand an den Balken nagelte.

»Unglaublich«, murmelte er, während er kopfschüttelnd näher kam und dabei einen weiteren Bolzen auf die Armbrust legte. »So ungefähr muß es gewesen sein, wenn die alten Götter miteinander gefochten haben ... Und ich habe Euch für einen ungebildeten Barbaren gehalten!«

Andrej kämpfte mit all seiner Willenskraft gegen den Schmerz an, spannte die Muskeln und versuchte, seine Hand loszureißen - aber es ging nicht. Der Bolzen hatte sich so tief ins Holz gebohrt, daß er schon beide Hände gebraucht hätte, um ihn herauszuziehen.

Natürlich bemerkte Demagyar Andrejs Versuch, sich loszureißen. Er schüttelte bedächtig den Kopf, hob die Armbrust und zielte diesmal auf Andrejs Herz. »Versuch es erst gar nicht, Delãny«, sagte er. »Ich habe gesehen, wie schnell du bist.«

Aber offensichtlich hast du nicht alles gesehen, dachte Andrej, sonst würdest du mich sofort töten. Trotzdem stellte er seine verzweifelten Bemühungen ein. Es hatte keinen Sinn, sich selbst weitere Schmerzen zuzufügen, wenn es dabei doch nichts zu gewinnen gab.

»Was bist du, Delãny?« fragte Demagyar. »Bist du ... ein Magier? Oder hatte Domenicus recht, und du bist wirklich mit dem Teufel im Bunde?«

Andrejs Gedanken rasten. Ják Demagyar war offensichtlich Zeuge der Transformation geworden, und mit ziemlicher Gewißheit hatte er auch die letzten Augenblicke des Kampfes verfolgt. Aber er wußte nicht alles. Anscheinend glaubte er noch immer, Andrej durch einen einzigen Schuß seiner Armbrust ausschalten zu können. Und außerdem würde er sich kaum noch Zeit nehmen, mit ihm zu sprechen, wenn er begriffen hatte, was es mit Andrej wirklich auf sich hatte. Jedenfalls nicht, wenn auch nur ein Funken Verstand in seinem Kopf war.

»Wer weiß«, antwortete Andrej mit einiger Verspätung. »Aber wenn das zuträfe, wäre es nicht sehr klug von Euch, mich anzugreifen.«

Der Herzog lachte nur. »Ihr gebt nicht auf, wie? Niemals? Aber macht Euch nichts vor - ich werde Euch töten, wie ich den Jungen getötet habe. Doch beantwortet mir noch eine Frage.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Nun, vielleicht deshalb, weil Ihr immerhin noch so lange am Leben bleibt, wie ich mit Euch rede.« Demagyar wedelte belustigt mit seiner Armbrust, ging dann aber zu Malthus' Leichnam, bückte sich und ergriff nach einem kurzen Zögern das gewaltige Zweihänderschwert des Riesen. Er war gewiß kein Schwächling, dennoch bereitete es ihm einige Mühe, die Waffe mit beiden Händen zu heben und mit ausgestreckten Armen zu halten.

»Laßt mich nachdenken«, sagte er versonnen. »Es ist geschehen, nachdem Ihr ... sein Herz mit dem Schwert durchbohrt habt.« Er sah Andrej fast versonnen an. »Ich frage mich, ob wohl dasselbe mit Euch geschieht...«

Ein eisiger, lähmender Schrecken durchzuckte Andrej. Die Vorstellung war geradezu absurd: Nach allem, was er durchgestanden hatte, sollte er nun auf diese Weise sterben? Instinktiv bäumte er sich auf, aber es war sinnlos; seine Schulter und seine Hand waren fest an die Wand genagelt, und er hockte in einer demütigenden Haltung auf dem Boden, ohne auch nur eine Bewegung machen zu können.

»Ja«, sagte Demagyar. Er hatte Andrejs Reaktion richtig gedeutet. »Es geschieht.«

Er kam näher und hob das Schwert, doch plötzlich stutzte er. Sein Blick verharrte auf Andrejs rechter Hand, und auf seinem Gesicht erschien ein überrascht-nachdenklicher Ausdruck.

Auch Andrej sah an sich herab. Seine Hand hatte aufgehört zu bluten.

»Was ... ?« murmelte Demagyar.

Draußen vor der Tür polterte etwas, dann erscholl ein Laut, und es erklang ein erstickter Schrei, aber Andrej war sich nicht sicher, was er da gehört hatte. Sekundenbruchteile darauf glaubte er das Klirren von Metall zu vernehmen.

Auch Demagyar hatte es gehört und fuhr auf der Stelle herum. »Lauft nicht weg, Delãny«, bemerkte er zynisch. »Ich komme gleich zurück.«

Er näherte sich mit schnellen Schritten der Tür, und in dem Moment, als er höchstens noch einen Schritt von ihr entfernt war, flog sie mit solcher Wucht auf, daß sie laut gegen die Wand knallte und sich der Herzog nur durch einen hastigen Sprung zurück davor schützen konnte, daß sie gegen seinen Körper prallte. Ein Soldat in einem weiß und orange gestreiften Waffenrock stolperte rückwärts in die Lagerhalle, machte noch zwei taumelnde Schritte und fiel dann unmittelbar neben dem Herzog zu Boden.

Wenn er überhaupt eine Chance hatte, dann jetzt. Andrej mobilisierte seine Kräfte, wappnete sich innerlich gegen den Schmerz und riß seine rechte Hand los. Im allerersten Moment war er sich nicht einmal sicher, ob es ihm tatsächlich gelungen war, aber dann spürte er, daß er seinen Arm frei bewegen konnte. Der Armbrustbolzen steckte noch immer fest in der Wand - aber Andrej hatte sich zur Hälfte aus seiner erzwungenen Bewegungslosigkeit befreit.

Ihm wurde übel vor Schmerz. Er wäre wohl zusammengebrochen, aber das zweite Geschoß in seiner Schulter hielt ihn weiterhin in einer aufrechten Haltung an den Pfeiler genagelt.

Ják Demagyar hatte sich mittlerweile der Tür weiter genähert und kampfbereit das Schwert erhoben. Aber er hielt plötzlich in der Bewegung inne und blieb wie erstarrt auf dem Fleck stehen. Vor Andrejs Augen verschwamm alles, doch obwohl er Demagyars Gesicht nur von der Seite erkennen konnte, bemerkte er, daß alle Farbe daraus gewichen war. Seine Augen waren ungläubig aufgerissen und schwarz vor Entsetzen.

Andrej biß die Zähne zusammen, hob die Hand und versuchte nach dem Pfeil zu greifen, der in seiner Schulter steckte, aber seine Finger verweigerten ihm den Gehorsam. Und dennoch war er sich jetzt ganz sicher, daß er über die gleichen Fähigkeiten wie Malthus verfügen würde - zumindest im Moment.

Sein Körper würde sich so schnell regenerieren wie der des Hünen nach dem vernichtenden Schlag, mit der ihm Andrej fast sein Bein durchtrennt hatte. Aber das würde Zeit kosten. Er hatte keine andere Wahl, als so lange abzuwarten, bis die durchtrennten Muskeln und Sehnen seiner rechten Hand wieder zusammengewachsen waren. Allerdings wußte er nicht, ob der Prozeß schnell genug abgeschlossen sein würde.

Herzog Demagyar schien im Moment allerdings jegliches Interesse an ihm verloren zu haben. Er trat zitternd einen Schritt zurück und ließ das Schwert sinken; möglicherweise war die Waffe einfach zu schwer, als daß er sie lange auf diese Weise halten konnte.

»Nein«, stammelte er. »Das ... das kann nicht sein.«

Andrej hob erneut die Hand und griff nach dem Bolzen. Jede Bewegung bereitete ihm entsetzliche Schmerzen, jeder einzelne seiner Finger schien in Flammen zu stehen. Aber es ging.

Demagyar wich einen weiteren Schritt zurück. Vor ihm in der Tür zur Lagerhalle standen Graf Bathory und ein hochgewachsener Mann in einem schwarzen Kettenhemd. Beide waren mit Schwertern bewaffnet, und Graf Bathory trug einen Verband um die Stirn.

Das Entsetzen des Herzogs galt jedoch nicht dem Edelmann oder seinem Begleiter - Demagyar starrte eine viel kleinere, in zerschlissene, mit eingetrocknetem Blut besudelte Kleider gehüllte Gestalt an, die zwischen Graf Bathory und dem Soldaten im Kettenhemd stand.

»Aber das ... das kann nicht sein«, stammelte Demagyar erneut. »Ich habe dich getötetl«

»Ja«, antwortete Frederic. »Das hast du.« Er öffnete sein Gewand - aus seiner Brust ragte der Griff eines Dolches heraus.

Andrej erstarrte. Für einen Moment war er nicht einmal mehr in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.

»Aber beim nächsten Mal solltet Ihr direkt aufs Herz zielen - und nicht knapp daneben«, fuhr Frederic fort. Langsam hob er die Hand, schloß die Finger um den Dolchgriff - und begann die Waffe vorsichtig herauszuziehen. Aus der Wunde quoll Blut, und das Gesicht des Jungen färbte sich aschgrau. Er wankte, stieß ein tiefes, qualvolles Stöhnen aus und wäre um ein Haar gestürzt, aber im letzten Moment fand er doch sein Gleichgewicht wieder. Stück für Stück zog er den Dolch weiter heraus, und praktisch in demselben Augenblick, als die Spitze der fast handlangen Klinge aus seinem Körper glitt, hörte die Wunde auf zu bluten.

»Ihr hättet es anders tun sollen«, fuhr Frederic mit brechender Stimme fort. Er taumelte auf Demagyar zu, hob die blutige Hand mit dem Dolch und sagte: »Ungefähr so.«

Mit diesen Worten trieb er Demagyar die Klinge schräg von unten in die Brust.

Frederics Bewegung war langsam - kaum schneller als diejenige, mit der er die Waffe eben aus seiner eigenen Brust herausgezogen hatte. Trotzdem unternahm Demagyar nicht einmal den Versuch, sich zu wehren. Er stand einfach da und starrte entsetzt den Dolch an, den Frederic ihm gleichermaßen langsam wie erbarmungslos in die Brust trieb; schließlich sank er mit einem tiefen Seufzer auf die Knie.

Als sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden, riß Frederic die Hand zurück und vollzog vor dem Kopf des Herzogs eine blitzschnelle, wischende Bewegung. Demagyar ließ das Schwert fallen, griff sich mit beiden Händen an die Kehle und kippte röchelnd nach hinten. Zwischen seinen Fingern quoll hellrotes Blut hervor.

»Seht Ihr, Herr«, sagte Frederic mit beängstigend ruhiger Stimme, »so macht man das.«

Graf Bathory trat mit zwei schnellen Schritten neben den sterbenden Herzog und sah einen Moment lang kalt auf ihn herab; dann näherte er sich Andrej. Ohne ein Wort zu sagen, schob er sein Schwert in die Scheide, griff mit beiden Händen nach dem Armbrustbolzen und zog ihn mit einem harten Ruck heraus.

Andrej stöhnte vor Schmerz laut auf, hielt mühsam sein Gleichgewicht und preßte die Hand auf die Wunde, die sofort wieder heftig zu bluten begann. Das Mitleid auf Graf Bathorys Gesicht hielt sich jedoch in Grenzen.

Frederic kam langsam auf ihn zu. Auf seinem Gesicht lag ein angedeutetes, fast schüchternes Lächeln. Wäre da nicht etwas in seinen Augen gewesen, was Andrej erschauern ließ, man hätte ihn in der Tat für ein ganz gewöhnliches, vielleicht etwas zu schmächtig geratenes Kind halten können.

»Das war es, was ich dir die ganze Zeit sagen wollte«, sagte Frederic. »Aber es fiel mir unglaublich schwer. Und außerdem hast du mir ja nie richtig zuhören wollen.«

Vielleicht stimmt das sogar, dachte Andrej. Tief in seinem Inneren hatte er es vermutlich schon die ganze Zeit über gespürt; und endlich gestand er sich ein, daß er es hätte merken müssen, spätestens nach dem Brand im Gasthaus. Er hatte es einzig deshalb nicht bemerkt, weil er es nicht bemerken wollte.

»Bist du jetzt stolz auf dich?« fragte er bitter. »Ist es dir wenigstens leichtgefallen, deinen zweiten Menschen zu töten? Ich meine, allmählich müßtest du doch Übung darin haben.«

»Du hast eine seltsame Art, danke zu sagen«, maulte Frederic. »Wenn wir nicht...«

»Wenn er Demagyar nicht getötet hätte, hätte ich es getan«, mischte sich Graf Bathory ein.

»Ihr hättet Euren Herzog ...?« Andrej blickte den Edelmann ungläubig an und verharrte in einer etwas merkwürdigen Haltung. Die Wunde in seiner Schulter hatte aufgehört zu bluten, der Schmerz war erloschen - trotzdem preßte er weiter die Hand dagegen und versuchte, den Anschein zu erwecken, als könne er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten.

Graf Bathorys Blick machte allerdings deutlich, was er von Andrejs schauspielerischem Talent hielt.

»Er war ein schlechter Herrscher«, erklärte der Edelmann. »Und nicht sehr beliebt bei seinen Untertanen. Früher oder später hätte ihn ohnehin irgend jemand umgebracht. Ihr habt sein ... Schloß gesehen. Glaubt Ihr, er hat es grundlos in eine Festung verwandelt?« Er schüttelte abfällig den Kopf. »Ják Demagyar war ein grausamer Despot. Und ein Dummkopf dazu. Ich habe die Geschichte von dem angeblichen Diebstahl keinen Augenblick lang geglaubt ... so wenig übrigens wie diesen schlecht gespielten Überfall in der Nacht.«

»Ich wundere mich, daß Ihr noch lebt«, sagte Andrej.

»Gott bewahre!« Graf Bathory lachte leise. »Ich mußte überleben. Demagyar brauchte einen glaubwürdigen Zeugen für den gemeinen Anschlag auf sein Leben. Das hätte ihm einen Vorwand gegeben, die Steuern und Abgaben noch weiter zu erhöhen - und sich vor allem einiger Kritiker zu entledigen, die ihm schon lange lästig waren. Wie gesagt: Ják Demagyar war ein Ungeheuer. Macht Euch keine Sorgen, niemand wird ihm eine Träne nachweinen - und niemand wird viele Fragen stellen, wie es zu seinem Tod kommen konnte.«

Andrej sah nachdenklich auf den Dolch, der in Frederics Gürtel steckte. Er wollte etwas sagen, aber Graf Bathory schüttelte den Kopf und sagte noch einmal und mit leicht erhobener Stimme: »Niemand wird viele Fragen stellen, Delãny ... es sei denn, Ihr zwingt sie dazu.«

Andrej verstand. Er hatte in den letzten Tagen viele Dinge gesehen, die er nicht hatte sehen wollen, und vermutlich war es wirklich besser, wenn er gar nicht herauszufinden versuchte, was das alles zu bedeuten hatte.

»Es wäre ratsam, wenn der Junge und Ihr die Stadt verlaßt«, fuhr Graf Bathory fort. »Wenigstens für eine Weile.« Plötzlich lachte er. »Schließlich müßte ich Euch doch noch hinrichten lassen. Stellt Euch nur das Gesicht des Scharfrichters vor, wenn er am Ende völlig verzweifelt aufgeben müßte. Und außerdem ... Ehrlich gesagt, ich möchte gar nicht wissen, was mit euch beiden wirklich los ist. Ich verstehe es nicht, aber ich bezweifle zugleich, daß ihr oder irgend jemand sonst es mir erklären könntet.«

Andrej blieb ernst. »Ihr laßt uns gehen?«

»Es wäre viel zu kompliziert, irgend etwas anderes zu tun«, antwortete Graf Bathory mit deutlicher Nervosität in seiner Stimme, während sein Blick nochmals Andrejs Schulter streifte, sich dann jedoch erschrocken von der schon fast vollständig verheilten Wunde abwandte.

»Und ...«, Andrej deutete auf Frederic, »... seine Familie?«

»Das Schiff ist ausgelaufen.« Graf Bathory antwortete im Tonfall ehrlicher Überraschung. »Ebenso wie das andere.«

»Welches andere?«

»Die ›Möwe‹«, erwiderte Graf Bathory. »Vater Domenicus' Schiff. Es legt in diesem Moment ab.«

Andrej wollte herumfahren, aber Graf Bathory legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Unterarm und schüttelte den Kopf.

»Es hat keinen Sinn, Delãny«, sagte er. »Ihr werdet niemanden finden, der Euch hilft, das Schiff eines Inquisitors aufzuhalten.«

Andrej riß sich los. »Und der Pirat?«

»Ist längst auf dem Meer«, sagte Graf Bathory. »Aber ich denke, ich kann Euch sagen, wohin sie wollen.« Er seufzte tief. »Aber Ihr müßt Euch entscheiden, welchem der beiden Schiffe Ihr folgen wollt, Delãny. Sie laufen verschiedene Häfen an ... Es sei denn, Ihr wäret in der Lage, gleichzeitig an zwei verschiedenen Orten zu sein.«

Der Blick, mit dem er diese Worte begleitete, ließ keinen Zweifel daran, daß er selbst dies mittlerweile nicht mehr für ausgeschlossen hielt - und daß er abermals auf eine Antwort lieber verzichtete.

Andrej s Blick wanderte zu Frederic, zu Graf Bathory und schließlich wieder zu dem Jungen. Dann sagte er: »Abu Dun.«

Und danach die beiden goldenen Ritter, fügte er in Gedanken hinzu. Sie mögen nahezu unbesiegbar sein, aber sie wissen nicht, was es heißt, den Zorn eines Delãny herauszufordern.


ENDE DES ERSTEN BUCHES

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