11


Der Hieb war sanft im Vergleich zu dem, was er hätte anrichten können, aber trotzdem wuchtig genug, um dem Soldaten auf der Stelle das Bewußtsein zu rauben und ihn gegen den Geistlichen zu schleudern.

Andrej gönnte sich keine Atempause. Das Sarazenenschwert eilte wie von selbst seiner Bewegung voraus; die Waffe vollführte eine tänzelnde Welle und zischte plötzlich von unten nach oben durch die Luft. Doch plötzlich traf sie auf Widerstand.

Der Soldat, der auf Domenicus Wink hin Maria gepackt hatte, starrte verständnislos an sich herab und sank langsam in die Knie. Noch bevor er vollends am Boden lag, war Andrej schon bei der Schwester des Inquisitors, hatte sie an sich gerissen und ihr den Arm auf den Rücken gedreht. Das Sarazenenschwert verharrte reglos einen halben Zoll vor ihrer Kehle. Seit er seine Waffe gezogen hatte, waren weniger als drei Herzschläge vergangen.

»Nicht bewegen«, sagte Andrej. Er sprach schnell und sehr leise. Die Worte waren nur für Maria bestimmt.

»Ich tue dir nichts. Keine Angst.« Dann schrie er laut: »Niemand rührt sich, oder sie stirbt!«

Die junge Frau erstarrte in seinen Armen, und die beiden Soldaten, die sich langsam und unbeholfen - wie Marionetten in der Hand eines ungeschickten Spielers - herumgedreht hatten, um sich auf ihn zu stürzen, verharrten unschlüssig mitten in der Bewegung. Einzig der goldene Ritter reagierte schnell genug. Mit einem raschen Schritt in Andrej s Richtung eilte er heran und riß Frederic an sich; in seiner linken Hand blitzte ein Dolch.

»Malthus! Nein

Domenicus erhob hastig mit einer abwehrenden Geste den linken Arm in Richtung des Ritters, den anderen richtete er mit einer fast identischen, zugleich aber auch flehenden Bewegung auf Andrej. Er blutete aus einer kleinen Platzwunde an der Stirn, die er sich zugezogen haben mußte, als der Soldat ihn mit zu Boden gerissen hatte.

Malthus ging einen weiteren Schritt auf Andrej zu und bog Frederics Kopf in den Nacken zurück. Delãny sah, daß der Junge schreien wollte, aber nicht genug Luft bekam. In den Augen des goldenen Ritters erschien ein kaltes, boshaftes Glitzern. Er schenkte weder Domenicus' Geste noch seinen Worten auch nur die geringste Beachtung.

»Malthus, bleibt stehen!« sagte der Inquisitor scharf. »Ich befehle es Euch!«

Der Ritter machte noch einen Schritt, ehe er endlich innehielt und auch Frederics Kopf wenigstens so weit freigab, daß der Junge wieder richtig atmen konnte.

»Laßt meine Schwester los!« sagte Dominicus im Befehlston zu Andrej. Er war ein Mann, der mit Macht umzugehen wußte, das war deutlich zu spüren. Und wenngleich auch der gequälte Ausdruck in seinem Blick seine Worte Lügen zu strafen schien, klang seine Stimme doch hart und unnachgiebig.

»Ich fürchte, das kann ich nicht tun, ehrwürdiger Vater«, entgegnete Andrej spöttisch. »Das wäre nämlich äußerst dumm. Und ich hasse es, etwas Dummes zu tun.«

»Laß sie los, oder der Junge stirbt!« rief Malthus.

»Und wenn ich sie freigebe, laßt Ihr uns gehen?«

Malthus wollte antworten, aber Domenicus unterbrach ihn mit einer herrischen Geste.

»Ihr wißt, daß wir das nicht tun werden, Delãny«, sagte er. »Macht es nicht noch schlimmer. Ich gebe Euch mein Wort, daß wir diesen Zwischenfall hier vergessen werden, wenn Ihr Maria freigebt. Er wird keinerlei Einfluß auf Euren Prozeß haben.«

Es war beinahe grotesk - aber Andrej glaubte ihm. Er hatte gerade vor Domenicus Augen zwei seiner Männer getötet, und trotzdem war der Inquisitor bereit, diesen Zwischenfall einfach zu vergessen. Entweder liebte er seine Schwester abgöttisch, oder ein Menschenleben war ihm so gleichgültig wie der Schmutz unter seinen Schuhsohlen. Vielleicht beides.

Andrej s Gedanken rasten wie wild. Die Situation entsprach dem, was Michail Nadasdy ein klassisches Patt genannt hätte - aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Das Kräfteverhältnis verschob sich mit jedem Moment weiter zu seinen Ungunsten. Die meisten Zuschauer waren mittlerweile verstummt. Sie sahen dem Geschehen mit morbider Neugier zu; die Nervosität setzte sich wie die Wellen eines ins Wasser geworfenen Steines in der Menschenmenge fort. Wie lange würde es noch dauern, bis die Soldaten des Herzogs auftauchten, denen das Wohl Marias vermutlich weniger am Herzen lag als ihrem Bruder?

»Ich meine es ernst, Domenicus«, sagte Andrej. »Gebt den Jungen frei und laßt uns gehen, dann passiert Eurer Schwester nichts. Ich habe nichts mehr zu verlieren.«

Er haßte sich selbst für das, was er jetzt tat, aber um seinen Worten den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ritzte er mit einer winzigen Bewegung des Sarazenenschwerts Marias Haut. Wahrscheinlich spürte sie den Kratzer kaum; trotzdem sog sie scharf die Luft ein und versteifte sich in seinen Armen. Ein einzelner roter Blutstropfen lief an ihrem Hals herab.

Domenicus Augen weiteten sich, und seine Linke schloß sich impulsiv um das schwere Goldkreuz vor seiner Brust.

Andrej bemerkte aus den Augenwinkeln heraus, daß nun genau das geschah, was er befürchtet hatte: Auf dem Marktplatz war eine Art stiller Panik ausgebrochen; die Menschen versuchten, schnell vom Ort des Geschehens zu flüchten - wenn auch nur die wenigsten wissen konnten, was überhaupt vorgefallen war. Doch aus der Richtung des Schlosses näherte sich ein halbes Dutzend Lanzenspitzen, die über den Köpfen der Flüchtenden zu pendeln schienen; und unter diesen Spitzen schimmerte es orangerot und weiß. Frederic und ihm würde eine Minute bleiben, schätzte Andrej; im besten Fall zwei, wenn die Menge die Soldaten lange genug aufhielt.

Auch Domenicus hatte die Soldaten bemerkt, aber Andrej las in seinen Augen, daß er keineswegs triumphierte. Vielmehr schien er sich der Gefahr, die das Erscheinen der Uniformierten für seine Schwester bedeutete, bewußt zu sein. Hinter seiner Stirn arbeitete es. Er ballte die rechte Hand zur Faust, schloß für einen Moment die Augen und nickte dann.

»Laßt den Jungen los!« befahl er.

Malthus schnaubte vor Wut. Statt Frederic freizugeben, zog er seinen Dolch langsam über die Kehle des Jungen. Der Schnitt war kaum tiefer als der, den Andrej Maria zugefügt hatte, aber viel länger. Ein schneller und abrupt wieder endender Schwall Blutes schoß aus Frederics Hals und versickerte in seiner Kleidung.

»Malthusl« Domenicus' Stimme war nur noch einen Deut davon entfernt, zu einem Schrei zu werden. »Laßt ihn los! Sofort!«

Für einen entsetzlich langen Moment reagierte der goldene Ritter nicht, sondern starrte Andrej nur mit einem Haß an, den dieser nicht verstand. Der blutige Dolch in seiner Hand bewegte sich, seine Spitze bohrte sich in das weiche Fleisch unter Frederics Kinn, so daß der Junge nun von sich aus den Kopf so weit in den Nakken bog, wie er nur konnte.

Domenicus rief noch einmal: »Malthusl«, und endlich ließ der Ritter den Dolch sinken. Gleichzeitig versetzte er Frederic einen Stoß, der diesen nach vorne taumeln und unmittelbar vor Andrej auf die Knie fallen ließ.

»Ich freue mich schon auf unser nächstes Zusammentreffen, Delãny«, höhnte er. »Ich hoffe für dich, daß du dann auch wieder eine junge Frau bei dir hast, hinter der du dich verstecken kannst.«

Die Verachtung, die er in seine Stimme legen wollte, war jedoch nicht echt. Andrej verstand zwar nicht, warum, aber er spürte ganz deutlich, daß sich hinter dem aufgesetzten Spott im Tonfall seines Feindes nichts anderes als Furcht verbarg. Vielleicht lag das daran, daß bei Delãnys letztem Zusammentreffen mit den Goldenen einer von ihnen tot zurückgeblieben war - zwar durch Sergés und nicht durch seine eigene Waffe gefällt, aber das konnte Malthus ja nicht wissen; wahrscheinlich ging er davon aus, daß Andrej den Ritter in einem Handgemenge nach dem Wirtshausbrand getötet hatte.

»Gilt Euer Wort, Andrej Delãny?« fragte Domenicus.

Andrejs Schwert blieb weiterhin einen halben Finger breit vor Marias Kehle liegen, aber er ließ mit der anderen Hand ihren Arm los und half Frederic auf die Füße. Der Schnitt am Hals des Jungen blutete nicht mehr, aber zwischen seinen Fingern quollen einige zähe Tropfen hervor, die die gleiche Farbe hatten wie Domenicus Mantel.

»Delãny!«

Andrej wandte sich wieder dem Inquisitor zu. »Eurer Schwester wird nichts geschehen«, sagte er. »Ich lasse sie frei, sobald wir in Sicherheit sind.«

Er trat einen Schritt zurück. Domenicus versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Der Geistliche war klug genug, die Situation richtig einzuschätzen. Aber er sagte: »Ihr kommt niemals aus der Stadt heraus, das ist Euch doch klar?«

»Wir werden sehen«, antwortete Andrej und machte einen weiteren, vorsichtigen Schritt zurück. In dieser Sekünde trat Frederic neben ihn, zog den schmalen Dolch aus Marias Gürtel und schleuderte die Waffe nach Vater Domenicus. Der Junge handelte so schnell, daß Andrej nicht den Hauch einer Chance hatte, ihn noch aufzuhalten.

Der Dolch drang bis ans Heft in die Kehle des Inquisitors und fuhr im Nacken wieder heraus. Domenicus preßte beide Hände gegen den Hals, stieß einen gurgelnden Schrei aus und spie Blut. Maria kreischte schrill und wie unter Schmerzen und stürzte so ungestüm vor, daß Andrej gerade noch Zeit fand, das Sarazenenschwert zur Seite zu ziehen, damit sich die junge Frau nicht selbst enthauptete. Malthus riß mit einem zornigen Knurren das Schwert aus dem Gürtel, prallte aber in seiner Hast gegen einen der Soldaten und fiel mit einem gellenden Wutschrei zu Boden.

Endlich überwand Andrej sein Entsetzen, drehte sich auf der Stelle herum und schleifte Frederic mit sich fort. Er sah noch, daß Maria von ihrem Bruder mit zu Boden gerissen wurde, als dieser zusammenbrach - dann tauchten die beiden Fliehenden in die auseinanderstiebende Menge ein. Rings um sie herum gellte erneut ein Chor entsetzter Schreie auf.

Andrej verschwendete keine Zeit darauf, sich nach möglichen Verfolgern umzublicken, sondern bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch die Menge. Als sie auf eine schmale Gasse zwischen zwei weiß getünchten Häusern zustürmten, blickte er schließlich doch über die Schulter zurück. Sie wurden tatsächlich verfolgt, wenn auch nicht von Malthus oder einem der Gefolgsmänner des Inquisitors, sondern von einem halben Dutzend Soldaten des Herzogs von Constãntã. Die Männer in den orangeweißen Uniformen drängten weit skrupelloser durch die Menge als Frederic und er und machten notfalls auch von ihren Waffen Gebrauch, um schneller voranzukommen. Tatsächlich verringerte sich der Abstand zwischen ihnen von Sekunde zu Sekunde.

Andrej schwenkte nach links, rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf einen Marktstand mit Gemüse zu und führte drei blitzartige Hiebe mit dem Sarazenenschwert aus. Der Marktstand brach augenblicklich zusammen und löste sich in eine Lawine aus rollenden Kohlköpfen, Lauchstangen und Rüben auf, über die Andrej und Frederic mit einem gewaltigen Sprung hinwegsetzten. Nachdem er dieses Manöver an einem weiteren Marktstand durchgeführt hatte, sah Andrej beim Blick über die Schulter, wie die Hälfte ihrer Verfolger auf einem Sturzbach zerbrechender Tontöpfe und Trinkbecher ausglitt und die andere Hälfte unter einem flatternden Tuch von der Größe eines kleinen Segels begraben wurde. Er versuchte sein Tempo noch einmal zu beschleunigen, aber es gelang ihm nicht. Die Menschenmenge durch die sie sich kämpfen mußten, bremste ihren Schritt.

Schließlich erreichten sie das andere Ende des Marktplatzes und liefen in eine schmale Straße hinein. Nach ein paar Metern erkannte Andrej diese Gasse; es war die gleiche, durch die sie schon am Vortag geflüchtet waren.

Nun hatten sie wenigstens eine Chance, ihren Verfolgern zu entkommen. Sie kamen rasch voran, niemand machte auch nur den Versuch, sie aufzuhalten. Obwohl sie immer wieder die Richtung wechselten, wußte Andrej genau, wo er hin wollte. Es mußte ihnen nur gelingen, ihre Verfolger in eine falsche Richtung zu locken, und sie würden frei sein - zumindest für den Moment. Um nicht unnötig aufzufallen und um wieder ein wenig zu Atem zu kommen verlangsamten sie ihre Schritte.

»Wo willst du hin?« fragte Frederic.

»Was glaubt du denn?« zischte Andrej. »Meinst du, nach deiner Glanzleistung können wir uns noch irgendwo blicken lassen?«

Obwohl ihnen die Menschen, an denen sie vorbeihasteten, aus dem Weg gingen oder sich zumindest bemühten, sie nicht zu auffällig zu mustern, spürte er ihr Mißtrauen. Es war kein Wunder, daß sie auffielen: Er trug das außergewöhnliche Sarazenenschwert deutlich sichtbar am Gürtel, und auch Frederics blutverschmierte Kehle war nicht gerade ein alltäglicher Anblick. Andrej war sich darüber im klaren, daß sie nur ein ungewöhnliches Versteck retten konnte, wenn sie nicht schon innerhalb kürzester Zeit denunziert werden wollten. Zumindest aber mußten sie unverzüglich die auffälligsten Spuren beseitigen, die die Ereignisse der letzten Minuten auf ihrer Kleidung und Frederics Körper hinterlassen hatten.

Wenn sie Glück hatten, konnten sie ihren alten Unterschlupf noch einmal nutzen.

Vom Marktplatz her drang noch immer Lärm und ein Durcheinander aufgeregter Stimmen und Schreie zu ihnen herüber, und Andrej zweifelte nicht daran, daß die Jagd auf Frederic und ihn sich längst ausgeweitet hatte. Ein fast kahlköpfiger, in ein auffälliges Gewand gehüllter Fremder mit einem kostbaren Schwert und ein ebenfalls seiner Haare beraubter Junge mit einer frischen Schnittwunde am Hals ... Sie würden nicht schwer aufzuspüren sein, nicht einmal in einer Stadt dieser Größe.

Fast wäre Andrej an der Toreinfahrt vorbeigelaufen, die zu dem baufälligen Haus führte, doch dann entschied er sich anders; sie waren heute nacht hier nicht entdeckt worden und würden vielleicht nochmals für ein paar Stunden Schutz in dem alten Gemäuer finden. Der Lärm und die Schreie aus der Richtung des Marktes wurden lauter, aber zumindest hier schien im Moment niemand von ihnen Notiz zu nehmen. Er blieb stehen, sah sich noch einmal nach allen Seiten um. Als er sich sicher war, nicht beobachtet zu werden, packte er Frederic am Arm und zog ihn mit sich.

Raschen Schrittes eilte er zusammen mit dem Jungen durch den gemauerten Torbogen und dann zielstrebig auf die morsche Tür des verfallenden Hauses zu. Ein letzter sichernder Blick bestätigte ihm, daß sich hier tatsächlich niemand für sie interessierte. Er konnte den Lärm vom Marktplatz und die Geräusche der Straße noch immer deutlich hören, aber aus dem Haus selbst drang nicht der mindeste Laut; es hätte ihn auch gewundert, wenn sich hier in der Zwischenzeit jemand eingenistet hätte.

Nachdem er die morschen Türbretter beiseite gezogen hatte, schob er Frederic unsanft hindurch und gab ihm einen Stoß, der ihn regelrecht in den Raum purzeln ließ. Wie auch beim letzten Mal empfing sie staubiges Zwielicht und ein süßliche Gestank, der ihn fast zum Würgen brachte. Doch das war ihm im Moment vollkommen egal. Die Ruine erschien ihm ganz im Gegenteil wie ein altvertrauter, guter Freund, der ihnen in einer verzweifelten Situation uneigennützig zur Seite stand.

Er zog die morsche Tür hinter sich zu, eilte durch den Raum zu dem grob zugenagelten Fenster an der gegenüberliegenden Wand, von dem er wußte, daß es ihm einen Überblick über die Straße gestatten würde, und spähte durch die Lücke zwischen zwei Brettern hindurch. Es waren hier nur wenige Menschen unterwegs, und sie schienen so mit sich selbst beschäftigt zu sein, daß sie ihrer Umgebung kaum Aufmerksamkeit schenkten. Andrej konnte nur hoffen, daß sich keiner von ihnen Gedanken über zwei auffällige Fremde machte, die sich hier heimlich Zugang verschafft hatten.

Langsam drehte er sich zu Frederic um. Der Junge hatte einen Streifen aus dem Saum seines Gewands gerissen und versuchte ungeschickt, sich selbst einen Verband anzulegen. Soweit Andrej erkennen konnte, blutete die harmlose Schnittwunde schon längst nicht mehr, aber vielleicht dachte Frederic ja ebenso wie er - daß diese eigentümliche Verletzung nämlich ein unverwechselbares Stigma war, anhand dessen man sie leicht identifizieren konnte. Er sah seinem Schützling eine geraume Weile dabei zu, wie er ungeschickt und erfolglos versuchte, den viel zu steifen Stoff hinter seinem Nacken zu verknoten; dann streckte er die Hand aus.

Als Frederic näherkam, um sich helfen zu lassen, versetzte Andrej ihm eine Ohrfeige, die den Jungen zu Boden schleuderte. Frederic gab keinen Laut von sich, sondern blieb zwei oder drei Sekunden lang reglos liegen, ehe er sich benommen aufrichtete. Der improvisierte Verband war seinen Fingern entglitten. Statt dessen preßte er die Rechte gegen seine Wange, auf der Andrej trotz des Zwielichts in diesem düsteren Raum einen deutlichen roten Abdruck erkennen konnte. Ihm wurde klar, daß er viel fester als beabsichtigt zugeschlagen haben mußte.

Streng genommen hatte er den Jungen überhaupt nicht schlagen wollen - es war einfach so geschehen. Aber so sehr er auch danach suchte, es fand sich keine Spur von Bedauern in ihm. Ganz im Gegenteil: Er mußte sich plötzlich beherrschen, nicht über Frederic herzufallen und ihn windelweich zu prügeln.

»Warum ... hast du das getan?« murmelte Frederic. Seine Augen schimmerten plötzlich feucht, aber seine Stimme klang nicht im entferntesten weinerlich. Ihr leichtes Zittern und die Tränen in den Augen des Jungen hatten nur einen Grund: Wut.

»Danke Gott, daß du nicht zehn Jahre älter bist«, sagte Andrej kalt. »Sonst würde ich dich jetzt vielleicht töten.«

Er erschrak, als er den Klang seiner eigenen Stimme hörte. Nicht nur die Kälte darin erschreckte ihn, sondern noch mehr die Erkenntnis, daß er diese Worte vollkommen ernst meinte.

Frederic starrte ihn fassungslos an. Das feuchte Schimmern in seinen Augen versiegte so rasch, wie es gekommen war. Nach einer Weile nahm er die Hand herunter, tastete ohne hinzusehen nach seinem Stoffstreifen und stand vom Boden auf, als er ihn gefunden hatte.

»Verrätst du mir auch, warum?« fragte er in einem Ton, als interessiere ihn die Antwort nicht im geringsten.

»Das fragst du wirklich?« Andrej mußte sich zusammennehmen, ihn nicht erneut zu schlagen oder anzubrüllen. »Hast du denn gar nichts von all dem verstanden, was ich dir beigebracht habe?«

»Nein.« Frederic verknotete den Stoffstreifen auf eine Art in seinem Nacken, die ihm eigentlich den Atem abschnüren mußte. Er funkelte Andrej an. »Ich habe es nicht verstanden. Und ich glaube, ich will es auch nicht verstehen. Weißt du, es fällt mir nämlich schwer, Worte von Frieden und Sanftmut aus dem Mund eines Mannes zu hören, der so zu kämpfen versteht wie du - und auch noch an ihre Ernsthaftigkeit zu glauben!«

»Du hast nichts verstanden«, sagte Andrej traurig.

»Wie auch?!« Andrej registrierte mit einiger Verblüffung, daß es plötzlich Frederic war, der ihn anschrie. »Wie kann ich Worte von Frieden und Vergebung aus deinem Munde glauben, wenn du wie der Teufel selbst kämpft? Du hättest sie alle sechs töten können, nicht wahr? Ohne dich auch nur anzustrengen!«

»Nein«, sagte Andrej ruhig. »Am Ende hätten sie mich erwischt. Aber ich hätte einige von ihnen mitgenommen.«

»Wie lange hast du gebraucht, bis du so mit dem Schwert umgehen konntest?« gab Frederic herausfordernd zurück. »Zehn Jahre? Zwanzig? Die Hälfte deines Lebens? Oder mehr? Du hast den größten Teil deiner Lebenszeit damit zugebracht, das Töten zu lernen!«

»Ich habe das Kämpfen gelernt«, antwortete Andrej, »nicht das Töten.«

Verwirrt stellte er plötzlich fest, daß er nicht mehr antwortete, sondern sich verteidigte. Das war so ziemlich das letzte, womit er gerechnet hatte, aber plötzlich sah er sich in die Defensive gedrängt - von einem Halbwüchsigen!

»Das ist natürlich ein gewaltiger Unterschied«, bemerkte Frederic hämisch. »Wie viele Männer hast du in deinem Leben schon getötet, Andrej? Hundert? Zweihundert?«

»Sechs ... Und den ersten, um dein Leben zu retten.« So wie alle anderen auch, fügte Andrej in Gedanken hinzu. Aber es hätte nichts genutzt, es laut auszusprechen. Frederic hätte mit Sicherheit auch den Sinn dieser Worte nicht verstanden. Aber wenn er sie ausgesprochen hätte, hätten womöglich Andrejs eigene Gedanken einen Weg eingeschlagen, den er nicht beschreiten wollte.

»Ich glaube dir nicht.« Frederic schien doch ein wenig verunsichert zu sein. »Ich ... ich habe gesehen, wozu du fähig bist!«

Andrej schloß die Augen und atmete tief durch, ehe er antwortete. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Er mußte achtgeben, nicht Dinge zu sagen oder auch nur zu denken, die er vielleicht später bereuen würde.

»Ich habe nie einen Menschen getötet, und ich werde nie einen Menschen töten, außer um mein Leben oder das eines anderen zu retten«, sagte er ruhig. »Du hast in einem Punkt recht, Frederic: Ich habe viele Jahre meines Lebens damit verbracht, den Schwertkampf zu erlernen. Und ich hatte den besten Lehrer, den es jemals auf dieser Welt gegeben hat. Doch er hat mich nicht nur gelehrt, mit dem Schwert umzugehen; er hat mich noch etwas anderes gelehrt ... etwas viel Wichtigeres: Ehrfurcht.«

»Vor wem?«

»Vor dem Leben, Frederic. Dem einzigen Gut, das auf dieser Welt überhaupt irgendeinen Wert hat. Niemand hat das Recht, ein Menschenleben einfach so auszulöschen. Ich nicht, und du auch nicht.«

»Aber Vater Domenicus«, erwiderte Frederic spöttisch. »Wie konnte ich das nur vergessen! Er handelt ja in Gottes Namen! Warum hast du Barak das nicht gesagt? Ich bin sicher, er hätte die zwei Tage genossen, die dieses ... Vieh ihn hat foltern lassen!«

Der Haß, der in Frederics Stimme zitterte, ließ Andrej erschauern. Es war nicht richtig, daß ein Kind einen solchen Haß empfand.

»Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt«, fuhr der Junge leise fort. »Aber wenn, dann handeln Männer wie Domenicus nicht in seinem Namen. Sie behaupten es, aber es ist nicht wahr ... Er hatte den Tod verdient!«

»Er hatte mein Wort«, antwortete Andrej. »Du hast mich entehrt, indem du es gebrochen hast.«

Frederic verdrehte die Augen, aber Andrej schnitt ihm mit einer herrischen Geste das Wort ab. Er hatte endgültig begriffen, daß Frederic nicht verstehen wollte, was er ihm zu sagen versuchte. Und vielleicht hatte der Junge ja sogar recht. Vielleicht war er, Andrej, derjenige, der sich irrte, vielleicht war die alttestamentarische Vorstellung von Rache und blutiger Vergeltung, die Frederics Handeln und Denken bestimmte, die richtige Reaktion auf das, was im Tal und im Wehrturm von Borsã geschehen war. So oder so: Andrej wollte nicht darüber nachdenken und änderte seine Taktik.

»Dir ist anscheinend nicht klar, was du getan hast«, fuhr er fort.

»Ich habe einen Mann getötet, der es verdient hat«, antwortete Frederic trotzig. »Du warst ja zu feige dazu!«

»Du hast mehr als das getan«, sagte Andrej ernst. »Wir haben jetzt praktisch keine Chance mehr, die Menschen aus deinem Dorf zu befreien. Falls sie überhaupt noch am Leben sind.«

Diesmal erschrak Frederic wirklich. »Was ... soll das heißen?« fragte er stockend.

Andrej lachte bitter. »Du weißt es nicht besser«, bemerkte er leise. »Woher auch? Aber das alles ist nicht so leicht zu erklären, wie du denkst. Du hast mich gefragt, wie lange ich gebraucht habe, um das Kämpfen zu lernen. Lange. Viel länger, als selbst Ritter mit ihren Waffen trainieren. Aber es ist nicht damit getan, ein Schwert führen zu können.«

Er zog das Sarazenenschwert, drehte die Waffe herum und hielt Frederic den geschliffenen Elfenbeingriff hin. »Du willst es lernen?« fragte er. »Nimm es. Es dauert ein Jahr, bis du gut bist, und zwei, bis du mich fordern kannst. Aber das ist längst nicht alles. Es ist nicht einmal das Wichtigste. Es gibt Regeln, Frederic: Man bricht sein Wort nicht; nicht einmal seinem Todfeind gegenüber. Ja, gerade einem Feind gegenüber bricht man es nicht.«

Frederic betrachtete die Waffe auf eine Art, die Andrej schaudern ließ. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob die Saat der Gewalt in dem Jungen nicht schon längst aufgegangen war. Und schlimmer noch: Was, wenn die Ereignisse der letzten Tage nur Beschleuniger einer gefährlichen Veranlagung gewesen waren? Wenn dieser Junge einfach böse war; noch ein Kind zwar, das jedoch schon den Keim in sich trug, zu einem Menschen herangewachsen, der vielleicht auf andere Weise ebenso grausam und gnadenlos wie Domenicus oder der goldene Ritter in dessen Gefolge war?

Andrej wußte buchstäblich nichts über Frederic, kaum mehr als seinen Namen. In seinem Bemühen, möglichst wenig von seiner eigenen Geschichte und vor allem von seinen Familienbanden preiszugeben, war er jedem Gespräch ausgewichen, das über allgemeine Fragen hinausging.

Frederic zog die Hand zurück, und Andrej steckte das Sarazenenschwert mit einem erleichterten Seufzen wieder ein. Er wußte nicht, was er getan hätte, hätte der Junge nach der Waffe gegriffen.

»Es ist im Grunde nichts anderes als ein Spiel«, knüpfte er an das unterbrochene Gespräch an, leiser und in ruhigem, fast resigniertem Ton. »Es gibt Regeln, Frederic. Man gibt sein Wort, und man hält es, ganz gleich, was geschieht. Indem du Domenicus getötet hast, hast du Malthus und den anderen einen Freibrief gegeben, zu tun und zu lassen, was immer sie wollen.«

»Das tun sie doch ohnehin!« entgegnete Frederic zornig.

»Nicht so«, beharrte Andrej. Aber er spürte selbst, daß er nicht in der Lage war, dem Jungen zu erklären, was er wirklich meinte. Trotzdem fuhr er fort: »Sie werden Rache nehmen, Frederic. Vielleicht werden sie einige von deinen Leuten töten. Vielleicht alle. Und wenn wir ihnen das nächste Mal gegenüberstehen, dann wird es kein Verhandeln mehr geben.«

»Dann töte ich sie ebenfalls!«

Andrej resignierte. Es war sinnlos. Frederic konnte oder wollte nicht verstehen, was er ihm zu vermitteln versuchte. Für einen Moment hatte Andrej fast Angst vor diesem Kind.

Da er nicht wollte, daß Frederic dieses Gefühl in seinen Augen las, drehte er sich mit einem Ruck herum und trat wieder ans Fenster. Seine Gefühle waren in Aufruhr. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptete, niemals zuvor einen Menschen getötet zu haben, und er hatte mehr als die Wahrheit gesagt, als er behauptete, daß es ein schreckliches Erlebnis gewesen war. Er hatte sein Leben, beziehungsweise das Frederics, verteidigt, und das konnte er verantworten. Aber trotzdem wusch es nicht das Blut von seinen Händen.

Das Treiben draußen auf der Straße hatte sich inzwischen verändert. Die Menschen hasteten nicht mehr herum, sondern standen in kleinen Gruppen beieinander und redeten erregt über das, was sie gehört oder vielleicht sogar gesehen hatten. Der Lärm vom Marktplatz her hatte sich gelegt, aber über der ganzen Stadt schien nun eine Atmosphäre beinahe greifbarer Spannung zu liegen.

Frederic hatte viel mehr getan, als einen Mann zu töten. Er hatte einen Inquisitor umgebracht, einen Kirchenfürsten, der noch dazu Gast des Herzogs gewesen war. Andrej wußte nicht viel über die Macht und den Einfluß, die die Kirche in diesem Teil des Landes besaß, aber sie konnten nicht gering sein, sonst hätte Domenicus niemals so auftreten können, wie er es Andrej gegenüber getan hatte. Der Herzog mußte nun auf diese Herausforderung reagieren, ob er wollte oder nicht - gerade auch angesichts der Türken, die womöglich schon für einen Angriff auf Constãntã rüsteten. In solch einer prekären Lage konnte sich der Herzog nicht die geringste Schwäche leisten.

Andrej hörte, wie sich Frederic von ihm entfernte und die morsche Treppe ins obere Geschoß hinaufstieg, aber er sah ihm nicht nach. Einen Augenblick lang wünschte er sich, alles ungeschehen machen zu können, die Zeit zurückzudrehen bis zu jenem Punkt, als er - Jahre nach seiner Vertreibung - ins Borsã-Tal zurückgekehrt war. Im nachhinein betrachtet schien ihm jeder Schritt, den er seither getan hatte, jedes Wort, das er seither gesprochen hatte, falsch gewesen zu sein.

Kurz darauf erregte eine Bewegung auf der Straße seine Aufmerksamkeit. Zwei Soldaten in den Farben des Herzogs näherten sich mit schnellen Schritten dem Haus. Zwischen ihnen bewegte sich eine Gestalt in dunkelgrünem Samt. Die drei schritten in scharfem Tempo auf der gegenüberliegenden Straßenseite dahin, und die Menschen traten hastig zur Seite, um ihnen Platz zu machen.

Als sie genau gegenüber seinem Versteck waren, drehte Maria den Kopf und sah ihn an.

Andrejs Herz raste wie wild.

Natürlich sah die junge Frau nicht direkt ihn an - es war völlig unmöglich, daß sie ihn wirklich sah oder auch nur ahnte, daß er hier war.

Tatsächlich verlangsamte sie nicht einmal ihren Schritt, sondern eilte, ohne zu zögern, weiter, und doch glaubte Andrej für einen Moment den Blick ihrer dunklen Augen wie die Berührung einer unsichtbaren Hand auf seinem Gesicht gespürt zu haben.

Selbst über die große Entfernung hinweg konnte er sehen, wie bleich Maria war. Ihr Gesicht war ein einziger weißer Fleck, der selbst vor der gekalkten Wand dahinter noch hell wirkte. Sie preßte ein weißes, blutgetränktes Taschentuch gegen den Hals, und in der anderen Hand hielt sie etwas, von dem Andrej glaubte, daß es Domenicus' goldenes Kreuz war. Ihr kostbares Kleid war mit häßlichen, eingetrockneten Flecken übersät ... dem Blut ihres toten Bruders.

Maria blickte weiterhin nachdenklich zum Haus hinüber - Andrej war sicher, daß sie das Fenster ansah, hinter dem er stand - und wandte ihre Aufmerksamkeit erst wieder nach vorne, als sie das Gebäude schon längst passiert hatten. Andrej schaute ihr nach, bis sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden war, und selbst danach stand er noch lange reglos da und starrte ins Leere.

Es verging fast eine halbe Stunde, ehe Frederic die Treppe wieder heruntergepoltert kam. Andrej hatte sich an der Wand unter dem Fenster zu Boden sinken lassen und den Kopf gegen den mürben Stein gelehnt.

Als Frederic nun die schmale Stiege herunterkam, ächzte die altersschwache Konstruktion unter seinem Gewicht. Eine der morschen Stufen löste sich, und eine gewaltige Staubwolke wirbelte hoch, als sie auf den Boden fiel und zerbrach. Andrej blickte auf und sah, daß der Junge nicht mit leeren Händen zurückkam, sondern mehrere unordentlich zusammengeknüllte Kleidungsstücke über dem Arm trug. Es fiel ihm sichtlich schwer, auf den morschen Stufen das Gleichgewicht zu halten.

Andrej erhob sich und ging ihm ein Stück entgegen, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen. »Was hast du da?« fragte er überflüssigerweise.

»Andere Kleider«, antwortete Frederic. »In unseren alten Sachen fallen wir überall auf. Sie suchen doch bestimmt schon nach uns.«

»Woher hast du das?«

»Oben im Haus gefunden«, behauptete Frederic. »In einer alten Kiste.«

Andrej griff wortlos nach einem langen Leinenhemd und roch daran. »Du lügst. Die Sachen sind frisch gewaschen.«

Frederic preßte trotzig die Lippen aufeinander, zuckte aber schließlich mit den Schultern und fügte mit einer Bewegung, die wohl ein Kopfnicken darstellen sollte, hinzu: »Man kann von oben in den benachbarten Hof hinuntersteigen. Die Sachen hingen auf der Leine. Niemand hat mich gesehen. Bestimmt nicht!«

Andrej verschluckte die ärgerliche Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, und sichtete statt dessen die Kleidungsstücke. Es handelte sich um einfache Hosen, bunte Schärpen und steife Gewänder, die Andrej wohl knapp, dem Jungen dagegen überhaupt nicht passen würden. Trotzdem würden sie in diesen Sachen natürlich viel weniger auffallen als in der blutbesudelten und ihren Häschern nur allzu gut bekannten Kleidung, die sie momentan trugen.

Nachdem sie sich umgezogen hatten, meinte Andrej: »Wir können nicht hierbleiben.«

Frederic krempelte die Ärmel des viel zu großen Gewandes auf und schlang sich die Schärpe um die Hüften, wodurch der zu üppig bemessene Stoff noch mehr als zuvor auftrug. Er wirkte ziemlich lächerlich in dieser Aufmachung. »Wäre es nicht besser, wenn wir hierbleiben, bis es dunkel ist?« fragte er.

»Wahrscheinlich. Aber ich fürchte, unsere Nachbarin wird nicht sehr erbaut sein, wenn sie feststellt, daß ihr jemand die Wäsche von der Leine gestohlen hat. Außerdem müssen wir Krusha und seinen Bruder treffen - jetzt dringender denn je.«

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