3


Die Spuren wurden deutlicher. Offenbar waren die Männer, hinter denen sie her waren, nicht annähernd so schnell vorangekommen, wie Delãny vermutet hatte. Er nahm an, daß sie die Bande noch im Laufe des Tages einholen würden.

Und dann?

Andrej hatte es bisher vermieden, allzu genau über diese Frage nachzudenken. Natürlich würden sie versuchen, die Gefangenen zu befreien und die Mörder seines Sohnes Marius, Baraks und der anderen zu bestrafen, aber irgend etwas in Andrej war bisher davor zurückgeschreckt, über das Wie nachzudenken. Ginge es nach Frederic - und auch nach einer leisen, aber beständig flüsternden Stimme in ihm selbst -, dann würde er sie alle töten.

Was in der Praxis wohl kaum möglich sein würde. Frederic zufolge handelte es sich bei den Angreifern um gut zwanzig Mann, einen Trupp wahrscheinlich vor allem Kirchenmänner, die er mit etwas Glück und ein wenig Umsicht austricksen konnte, sofern ihm diese goldenen Ritter nicht in die Quere kamen. Wenn ihm das Glück hold war, mochte es ihm so vielleicht gelingen, die Gefangenen zu befreien, um mit ihnen gemeinsam den Rückweg nach Borsã anzutreten - aber dann? Wie sollte er diese Menschen beschützen, wenn die Ritter Jagd auf sie machten? Er würde unter den entführten Dorfbewohnern wohl kaum waffenfähige Männer finden, die ihn dabei unterstützen konnten, sondern vor allem Frauen, Kinder und Greise.

Als andere Möglichkeit bot sich an, zuerst die Ritter auszuschalten. Doch bei allem Vertrauen in seine Fähigkeiten: Eine überlegende Klinge treffsicher einsetzen zu können bedeutete nicht, es gleichzeitig mit mehreren kampferprobten Männern aufnehmen zu können. Wenn es ihm nicht irgendwie gelang, sie in eine Falle zu locken, mußte er am Ende auf der Strecke bleiben. Aber wem war damit geholfen?

Auch das hatte ihm Michail Nadasdy beigebracht: Niemals blind drauf loszuschlagen, sondern sich zuvor zu überlegen, wie er die Schwächen seiner Gegner zu seinem Vorteil nutzen konnte. Doch wenn er ganz ehrlich war: Nach dem, was Frederic erzählt hatte, vermochte er bei den Goldenen Rittern nicht auch nur eine Schwäche zu erkennen. Es blieb ihm also nichts anderes übrig, als abzuwarten, in der Hoffnung, ein Zufall könnte ihm einen Trumpf in die Hand spielen.

Gegen Mittag teilte sich die Spur. Andrej und Frederic hatten einen weiteren, in einer endlosen Kette flacher, mit spärlichem Grün bewachsener Hügel überquert. Vor ihnen fiel das Gelände steil ab und erweiterte sich am Fuße der Erhebung zu einem schmalen, aber sehr langgestreckten Tal, um auf der anderen Seite ebenso steil wieder anzusteigen. Obwohl der Boden sehr felsig war, war die Spur unübersehbar: Sie zog sich schnurgerade durch die Senke und die gegenüberliegende Böschung hinauf. Andrej schätzte, daß es drei oder vier Reiter gewesen sein mußten, die ungefähr in der Mitte des Tales im rechten Winkel vom Haupttrupp abgewichen waren. Ihre Spur verlor sich nach wenigen Schritten zwischen Felsen und Geröll.

»Worauf wartest du?« Frederic hatte bisher hinter Andrej im Sattel gesessen. Nun glitt er mit einer fließenden Bewegung aus dem Sattel des Pferdes und lief unruhig ein kleines Stück voraus. Das Pferd schnaubte nervös, und nach kurzem Zögern stieg auch Andrej aus dem Sattel. Er war beunruhigt, und seine Unruhe übertrug sich entweder auf das Pferd, oder das Tier spürte eine Gefahr, die seinen viel weniger empfindlichen menschlichen Sinnen noch verborgen blieb. Das wiederum beunruhigte ihn noch mehr.

Er antwortete erst mit einiger Verspätung auf Frederics Frage. »Ich bin nicht ganz sicher, welcher Spur wir folgen sollen.«

»Der Hauptspur, natürlich«, sagte Frederic. »Wir haben sie fast eingeholt. Noch ein paar Stunden, und ...«

»Du solltest einen Gegner nie unterschätzen«, fiel ihm Andrej ins Wort. Er griff nach den Zügeln und begann das Pferd vorsichtig den Hang hinabzuführen. Unter den Hufen des Tieres lösten sich kleine Felsbrocken und Steine und polterten zu Tal. Es war eine vernünftige Idee gewesen, abzusteigen. Der Boden war abschüssiger, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Das Pferd hatte selbst ohne Reiter Mühe, sich auf den Beinen zu halten, und die Spuren, denen sie folgten, bewiesen, daß es den Verfolgten kaum anders ergangen war. Etliche von ihnen mußten gestürzt sein. Andrej fand eingetrocknetes Blut auf den Felsen. Es war noch nicht sehr alt.

Unten im Tal angekommen, hielt er abermals an. Sein Blick irrte unschlüssig zwischen den beiden unterschiedlich breiten Spuren hin und her.

»Worauf wartest du?« fragte Frederic erneut.

Andrej hob die Schultern. »Ich ... weiß nicht«, sagte er zögernd, während er gleichzeitig seine empfindlichen Augen abschattete. »Irgend etwas stimmt hier nicht. Ich habe kein gutes Gefühl.«

»Ich auch nicht«, versetzte Frederic scharf. »Wenn wir noch lange hier herumstehen, dann entkommen sie uns am Ende noch.«

Andrej sagte nichts dazu, aber er musterte seinen Begleiter mit einem langen, sehr nachdenklichen Blick. In Frederics Stimme war ein Ton, der ihm nicht gefiel. Der Junge brannte nicht nur darauf, seine Familie wiederzusehen und die Mörder seines Vaters und seines Bruders zu bestrafen. Da war noch mehr. Er konnte nicht genau sagen, was es war, aber er war ziemlich sicher, daß es ihm nicht gefallen würde.

»Du hast recht«, sagte er lahm. »Laß uns weitergehen.«

Der Überfall erfolgte, als sie die Kuppe des gegenüberliegenden Hügels erreicht hatten. Die Spur verlor sich. Es gab keinen vorgezeichneten Weg durch den Wald, aber die Bäume standen so licht, daß das Durchkommen kein Problem gewesen wäre. Und dieser Waldrand war nicht menschenleer. Jemand war hier. Andrej spürte es so deutlich, als könne er ihn sehen.

Die Gestalt erschien wie aus dem Nichts, ein gewaltiger, goldschimmernder Riese, aus dessen Helm Hörner wuchsen und der mit einem gellenden Kampfschrei auf ihn losstürmte. Delãny riß sein Schwert aus dem Gürtel und wich gleichzeitig in einer komplizierten Dreh- und Rückwärtsbewegung vor dem Angreifer zurück.

Der gehörnte Dämon stürzte mit einem gellenden Schrei auf ihn zu. Sein Schwert, groß wie ein Mann, beidseitig geschliffen und sicherlich mehr als einen Zentner schwer, bewegte sich mit unfaßbarer Schnelligkeit, und Delãny wußte, daß es treffen würde; ebenso sicher und zuverlässig, wie er umgekehrt immer genau spürte, wenn er treffen würde. Die Klinge bewegte sich in tödlicher Präzision auf seine Kehle zu. Andrejs Sarazenenschwert zuckte hoch, aber er war nicht schnell genug; die Strecke, die die Klinge zurücklegen mußte, um das Schwert des Dämonenkriegers abzufangen, war einfach zu lang. Der Angreifer würde ihn enthaupten.

Sein Fuß verfing sich an einem Stein. Delãny kippte nach hinten, und der gewaltige Bihänder des Dämonenkriegers fügte ihm eine bis auf den Knochen reichende, heftig blutende Wunde an der Schläfe zu, statt ihm den Kopf abzuschlagen.

Andrej stürzte, rollte wimmernd vor Schmerz auf die Seite und kämpfte mit aller Gewalt gegen eine drohende Ohnmacht an. Blut lief ihm in die Augen. Für einen Moment war er fast blind, und der Schmerz hinter seiner Stirn wurde immer schlimmer.

Aber der Schmerz hatte auch noch eine andere, unerwartete Nebenwirkung. Aus dem gehörnten Dämon wurde wieder das, was er wirklich war: Ein Mann in einem polierten Messingharnisch, der einen mit angedeuteten Hörnern versehenen Helm aus dem gleichen Material trug und einen anderthalb Meter langen Bihänder schwang. Er war groß, erschreckend breitschultrig und stark, aber kein Gigant und schon gar kein Dämon.

Dennoch fast so gefährlich.

Der Mann mußte ein erfahrener Kämpfer sein, denn er ließ sich von Andrejs heftig blutender Kopfwunde keine Sekunde lang täuschen, sondern sprang mit einem Satz über den Stein hinweg, über den Andrej gestolpert war, spreizte die Beine, um festen Stand zu haben, und schwang seine Waffe hoch über den Kopf, um zu Ende zu bringen, was ihm gerade mißlungen war.

Sein Angriff überschwemmte Andrej mit einer Flut purer, destruktiver Energie. Es war die gleiche, hell lodernde Kraft, die er auch bei Michail Nadasdy fast körperlich gespürt hatte, wenn sie bei einem Übungskampf zu hart aneinander geraten waren, nur daß Michail nicht darauf abzielte, ihn zu vernichten, sondern ihn vielmehr mit seinen Attacken den Weg weisen wollte, mehr zu sich selbst und damit auch zu einem konzentrierten Kampfstil zu finden. Den goldenen Krieger hielt dagegen das Feuer des Vernichtungswillens gepackt. Er wollte nichts weiter, als ihn töten; und das möglichst rasch und ohne eigenes Risiko. Doch damit weckte er in Andrej den Reflex des hervorragend trainierten Kämpfers, und etwas in ihm machte ihn sich - fast ohne sein Zutun - zu eigen und fachte den erlöschenden Lebensfunken in ihm neu an.

Als der Bihänder herabsauste, war Andrej schon nicht mehr da. Die gewaltige Klinge schlug Funken aus dem Stein und pflügte eine zweifingertiefe Scharte in den Boden, exakt dort, wo sich kurz zuvor sein Hals befunden hatte.

Delãny hörte einen enttäuschten Schrei. Ein Geräusch, als schlüge Metall auf Stein oder auf hartes Holz. Noch in der Bewegung, mit der er in die Höhe sprang, wechselte er das Sarazenenschwert von der rechten in die linke Hand und schlug aus diesem vorteilhaften Winkel heraus zu. Er traf nicht, zwang seinen Gegner aber zu einem hastigen Rückzug und hätte diesen Vorteil vielleicht weiter ausbauen können, hätte er nicht gleichzeitig aus dem Augenwinkel eine Bewegung registriert, die nur zu einem weiteren Angreifer gehören konnte. Eine kleinere, aber nicht minder tödliche Klinge züngelte nach seinem Hals.

Delãny vollführte eine komplizierte, rasend schnelle Pirouette, wechselte das Schwert abermals in die andere Hand und führte einen blitzschnellen, geraden Stich nach der Brust des Angreifers. Der rasiermesserscharfe Stahl seiner Klinge stieß fast ohne Widerstand durch den schimmernden Harnisch und fügte dem Mann eine häßliche Fleischwunde zu, sie so manchen Gegner außer Gefecht gesetzt hätte. Ihn hielt sie zumindest auf, und mehr brauchte Andrej im Augenblick nicht. Er machte einen weiteren Schritt zurück, nahm einen Schnitt an der Schulter hin, ohne mit der Wimper zu zucken, und wandte eine jener Kampftechniken an, die er von Michail Nadasdy gelernt hatte, um dem Angreifer mit einem Tritt die Kniescheibe zu zerschmettern.

Der Mann brüllte, ließ sein Schwert fallen und brach zusammen. Er war doch nicht so hart im Nehmen, wie er befürchtet hatte. Der Angriff hatte ihn nachhaltig kampfunfähig gemacht, und Andrej konnte sich wieder dem Gegner in der Messingrüstung zuwenden.

Wie sich zeigte, keine Sekunde zu früh. Der Kerl war zäh, selbst für einen Hünen, der mit einem Schwert kämpfte, das mancher Bauernjunge noch nicht einmal zu heben vermocht hätte. Andrej hatte sich kaum zwei oder drei Sekunden mit dessen Kumpan beschäftigt, aber diese kleine Zeitspanne hatte ihm gereicht, um den Schmerz seiner Verletzung zurückzudrängen; er hatte den Zweihänder in den Boden gerammt und stemmte sich taumelnd an dem Schwertgriff in die Höhe.

Delãny schmetterte ihn mit einem Fußtritt zurück, fegte das Schwert davon und setzte dem stürzenden Krieger aus der gleichen Bewegung heraus nach. Sein Schwert zielte nach dem Gesicht des Mannes. Er verfehlte sein Ziel, zerschmetterte aber den Helm und fügte dem Goldenen einen Kratzer zu. Über die Lippen des Riesen kam nicht der mindeste Laut, aber Andrej wußte, was er in diesem Moment empfand - Schmerz, Todesangst. Die absolute Gewißheit, daß es vorbei war.

Er genoß es.

Eine winzige Bewegung seines Handgelenks hätte gereicht, um der Sache ein Ende zu machen. Das Sarazenenschwert war scharf genug, um Muskeln und Knochen mit einem Hieb zu durchtrennen.

Aber er zögerte. Er wollte, daß der Mann litt. Er gehörte zu denen, die seine Familie ausgelöscht hatten, und vielleicht war er sogar der Mörder seines Sohnes. In jedem Fall war er aber einer von denen, die Barak auf so gräßliche Weise zu Tode gefoltert hatten; und Andrej wollte, daß er dafür bezahlte, jeden Schmerz, jede Sekunde der Qual hundertfach zurückbekam. Sein Schwert machte zwei, drei blitzartige Bewegungen, die den Helm des Goldenen endgültig zerteilten und blutige Spuren in dem Gesicht darunter hinterließen. Diesmal kam ein Schmerzenslaut über die Lippen des Besiegten. Andrej genoß ihn wie einen kostbaren, süßen Wein.

Die Wunden waren oberflächlich und nichts weiter als eine kleine, grausame Spielerei. So sehr er diesen Mann auch verabscheute: Er war es einfach nicht wert, daß er sich soweit vergaß und zu einer Bestie wurde, die Genugtuung dabei empfand, einen Gegner zu Tode zu quälen. Er hörte auf, an seinem Gesicht herumzuschnitzen, und setzte seine Klinge an die Kehle des Mannes. Etwas in ihm schrie vor Enttäuschung auf. Er wollte diesen Mann nicht töten. Nicht so schnell. Nicht so leicht. Das schwarze Feuer brannte noch immer in ihm, und diese Flamme verlangte, dem anderen Qualen zu bereiten.

»Tu es ... endlich, Delãny«, stöhnte der Goldene. »Bring es ... zu ... Ende.«

Seine Schwäche war nur gespielt. Unter all dem Blut und Schmutz gewahrte Andrej ein starkes, auf eine sonderbare Weise gutaussehend-brutales Gesicht. Das Gesicht eines Kriegers, der es gewohnt war, Schmerzen zu ertragen und seine Chancen abzuwägen.

Delãnys Schwert drückte gegen seine Kehle, und das auf eine Art, die jede Gegenwehr unmöglich machte. Er wartete. Er versuchte, Zeit zu gewinnen, vielleicht einen winzigen Moment der Unaufmerksamkeit abzupassen, in dem er der tödlichen Klinge an seinem Hals entwischen und Andrej überwältigen konnte.

»Wer bist du?« fragte Andrej.

Der andere lachte. »Was willst du?« fragte er. »Meinen Namen oder meinen Kopf?« Er hatte einen sonderbaren, schweren Akzent, den Andrej noch nie zuvor gehört hatte.

»Die Namen der anderen«, antwortete Andrej. »Ich will wissen, wohin sie gehen. Und warum ihr das getan habt.«

»Läßt du mich am Leben, wenn ich sie dir verrate?«

»Du kannst dir aussuchen, ob du schnell stirbst oder ob es so lange dauert wie bei Barak«, sagte Andrej düster. »Warum habt ihr diesen alten Mann gequält? Er hat niemandem etwas getan.«

Hinter ihm erscholl ein gellender Schrei. Ein Schrei aus der Kehle eines Kindes; schrill, hoch, ein Laut, der aus fürchterlicher Qual und schierer Todesangst geboren war.

Drei... schoß es Andrej durch den Kopf.

Er hatte einen fürchterlichen Fehler gemacht. Es waren die Spuren von drei Männern gewesen, die sich vom Haupttrupp getrennt hatten!

Delãny war nur für den Bruchteil einer Sekunde abgelenkt, aber schon dieser winzige Moment reichte seinem Gegner. Ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß das Sarazenenschwert eine blutige Spur in seine Schulter pflügte, wirbelte er herum, brachte sich vor der tödlichen Klinge in Sicherheit und trat gleichzeitig mit beiden Beinen nach Andrejs Fußgelenk.

Er traf nicht, aber die Attacke zwang Andrej zurückzuweichen; sein nachgesetzter Stich verwundete den Mann nicht so schwer, wie er gehofft hatte, ließ ihn aber trotzdem stolpern und auf die Knie fallen. Möglicherweise war das die Entscheidung. Ein blitzschneller Schritt, um ihm nachzusetzen, und diesmal würde er keine Sekunde zögern, sondern den Kampf mit einem sauberen Hieb beenden. Der Fremde war zu gut, um ihm eine zweite Chance zu geben.

Aber hinter ihm schrie Frederic noch immer. Andrej setzte dem Goldenen nach, warf aber in der Bewegung einen Blick über die Schulter zurück.

Was er sah, ließ ihn vor Entsetzen schier erstarren. Es waren drei Männer gewesen, aber nur zwei hatten sich - wohl im Vertrauen auf die vermeintliche Überlegenheit des Kriegers in der Messingrüstung - an dem Überfall auf ihn beteiligt.

Der dritte jagte Frederic.

Bisher schien es dem Jungen gelungen zu sein, sich zwischen den Felsbrocken und Bäumen auf dem Hang in Sicherheit zu bringen. Nun aber hatte ihn der Angreifer in die Enge getrieben und stand mit hoch erhobenem Schwert über ihm.

Andrej reagierte, ohne nachzudenken. Er hatte die Wahl, ein Leben zu nehmen oder eines zu retten, und er entschied sich instinktiv richtig: Statt den hilflos vor ihm Knienden zu enthaupten, wirbelte er herum und schleuderte sein Schwert. Die Waffe verwandelte sich in einen silbernen Blitz, traf den Mann über Frederic zwischen den Schulterblättern und schmetterte ihn zu Boden.

Aber den Bruchteil eines Atemzuges, bevor dies geschah, senkte sich sein Schwert auf Frederic hinab ... Die Schreie des Jungen verstummten, und Andrej rannte los. Er konnte hören, wie der Goldene hinter ihm ein überraschtes Grunzen ausstieß und in die Höhe taumelte. Zweifellos würde er sich im nächsten Moment nach seiner Waffe bücken und ihn erneut angreifen.

Andrej verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran. Frederic durfte nicht tot sein. Nicht auch noch er! Der Junge war alles, was ihm geblieben war. Mit fünf, sechs gewaltigen Sätzen erreichte er die Felsen, zwischen denen sich Frederic verkrochen hatte. Der tote Krieger war über dem Jungen zusammengebrochen, das Schwert war seiner Hand entglitten. Andrej registrierte entsetzt, daß die Klinge voller Blut war.

Mit einer gewaltigen Kraftanstrengung hievte er den Toten von Frederic herunter.

Der Körper des Jungen war voller Blut. Sein Hemd war aufgerissen, und das Fleisch darunter glitzerte im frischen Rot des Todes.

Er war zu spät gekommen, vielleicht nur um den Bruchteil einer Sekunde, aber trotzdem zu spät.

Frederic war tot.

Und im ersten Moment wollte er nichts anderes als Rache.

Der Schmerz, den er erwartet hatte, kam nicht. Er war nicht einmal wirklich erschrocken, aber die schwarze Flamme in seinem Inneren explodierte jäh zu einer brüllenden Feuersbrunst, die nach Nahrung schrie, nach Blut, um den Schmerz wegzuwischen, der ihm angetan worden war. Er fuhr herum, riß das Sarazenenschwert aus dem Körper des toten Kriegers und wandte sich wieder dem Waldrand zu. Er spürte noch immer nichts; nur diese schreckliche, verzehrende Kälte, mit der das schwarze Feuer in ihm nach Rache schrie.

Wie erwartet hatte der Goldene die Gelegenheit genutzt, sich aufzurichten und seine Waffe wieder an sich zu nehmen. Aber er verzichtete darauf, ihn anzugreifen. Der Mann in der goldschimmernden Rüstung stand hoch aufgerichtet, aber fast reglos am Waldrand und sah auf ihn herab.

Delãny machte einen Schritt auf ihn zu, blieb jedoch wieder stehen, als der Fremde den Kopf schüttelte.

»Nicht jetzt, Delãny«, sagte er.

»Komm her«, antwortete Andrej. »Bring es zu Ende - so oder so!«

»Nicht jetzt«, wiederholte der Fremde. »Du bist gut, Delãny - aber noch nicht gut genug. Wir sehen uns wieder, das verspreche ich dir.«

Und damit verschwand er, so schnell und lautlos, wie er aufgetaucht war. Andrej spürte seine Nähe noch für einen winzigen Augenblick, doch dann erlosch auch dieses Gefühl einer dunklen, dräuenden Präsenz, die bisher wie ein übler Geruch über dem Waldrand gelegen hatte.

Und endlich kam der Schmerz.

Andrejs Hände begannen zu zittern. Das schwarze Feuer in seiner Seele erlosch, doch zurück blieb keine Asche, sondern ein roter, brodelnder See aus schierer Pein. Seine Augen füllten sich mit Tränen, und seine Hände zitterten immer stärker. Er hatte Mühe, sein Schwert einzustecken, und die winzige Bewegung, sich zu Frederic herumzudrehen und auf den Jungen hinabzublicken, überstieg fast seine Kräfte.

Frederic lag auf dem Rücken. Seine Augen standen weit offen, und der Ausdruck darin schwankte zwischen Verständnislosigkeit und allmählich aufkeimendem, fassungslosen Entsetzen.

»Was ... ist passiert?« murmelte er. »Hast du ihn getötet?«

Für die Dauer eines Herzschlages war Andrej einfach nicht fähig zu begreifen, was er sah. Frederic lebte. Er lag in einem See von Blut, seine Kleider waren zerfetzt, und er mußte furchtbar schlimm verletzt sein, aber er lebte!

Andrejs Fassungslosigkeit machte einer jähen, fast schmerzhaft tiefen Erleichterung Platz.

»Nicht bewegen!« sagte er hastig. »Um Gottes Willen, rühr dich nicht! Bleibe ganz ruhig liegen!«

Er ließ sich neben Frederic auf die Knie sinken und drückte die Schultern des Jungen zurück, als der sich aufrichten wollte.

»Hast du ihn getötet?« wiederholte Frederic. Seine Stimme klang belegt. Vielleicht war die Schwäche, die Andrej darin hörte, schon die erste Berührung des Todes.

Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Du mußt...«

Andrej brach mit einem überraschten Stirnrunzeln ab. Während er sprach, hatte er behutsam mit den Fingern den Leib des Jungen abgetastet, um die Schwere der Verletzung zu erkunden, die ihm das Schwert zugefügt hatte. Frederics Brust war voller Blut, aber die Haut darunter war unversehrt.

»Du bist... nicht verletzt?« fragte er zweifelnd.

Frederic richtete sich benommen auf - diesmal ließ Andrej es zu -, sah an sich hinab und machte eine Bewegung, die irgendwo zwischen einem Achselzucken und einem Kopfschütteln lag.

»Nein«, sagte er zögernd. Es klang eher wie eine Frage als wie eine Feststellung.

Andrej starrte ihn an. Er hatte nicht wirklich gesehen, wie das Schwert Frederic getroffen hatte. Vielleicht hatte er einfach Glück gehabt. Vielleicht hatte die Klinge des Mörders nur sein Hemd zerfetzt, ohne die Haut darunter auch nur zu ritzen, und vielleicht stammte all das Blut tatsächlich nur von dem Toten, der über ihm zusammengebrochen war. Aber vielleicht ... er verscheuchte erschrocken den Gedanken. Er mußte sich hüten, mehr in Frederic zu sehen, als da war. Es war ein Zufall, ein unglaublicher Zufall, aber mehr auch nicht.

Um seine eigene Verwirrung zu überspielen, zwang er sich zu einem nervösen Lächeln und stand mit einer viel zu heftigen Bewegung auf.

»Hast du Schmerzen?« fragte er.

»Nein.« Diesmal war es eine Feststellung. Frederic drehte sich schwerfällig herum, so daß er für kurze Zeit reglos auf Händen und Knien dahockte, schüttelte den Kopf und stand dann übertrieben umständlich auf. Andrej beobachtete ihn sehr aufmerksam, bereit, beim geringsten Anzeichen von Schwäche sofort einzugreifen.

Es war nicht nötig. Frederic zitterte am ganzen Leib, war aber ganz offensichtlich wirklich unverletzt, auch wenn es an ein Wunder grenzte. Vielleicht hatte sich das Schicksal einfach entschieden, einen winzigen Teil der Schuld zurückzuzahlen, die es ihm gegenüber hatte.

Frederic drehte sich unsicher zu ihm um, sah einen Moment lang ihn und einen sehr viel längeren Augenblick den Krieger an. Dann holte er aus und trat dem Toten so wuchtig in die Rippen, daß der auf die Seite rollte. Andrej wollte ihn ganz instinktiv zurückreißen, führte die Bewegung dann aber nicht zu Ende, sondern legte ihm nur sanft die Hand auf die Schulter.

Frederic schüttelte sie ab und holte zu einem weiteren Tritt aus, setzte den Fuß dann aber wieder ab. Auf seinem Gesicht kämpften die widersprüchlichsten Gefühle miteinander, aber am stärksten waren wohl doch Furcht und Hilflosigkeit.

»Warum hast du das getan?« fragte Andrej leise.

Frederic starrte ihn trotzig an und schwieg.

»Weil er dich töten wollte?« fragte Andrej. »Oder weil er zu denen gehört, die Borsã überfallen haben?«

Frederics Augen wurden schmal. »Du hast ihn getötet«, sagte er.

»Das war etwas anderes«, widersprach Andrej. Er sah die Verwirrung, die seine Worte auf Frederics Gesicht auslösten, und ganz plötzlich begriff er, wie wichtig dieser Moment für den Jungen war. Was immer er jetzt sagte, mochte vielleicht darüber entscheiden, wie Frederics Leben weiter verlief.

»Warum?« fragte Frederic trotzig. »Weil du ein Krieger bist und ich ein Kind?«

»Weil er dich töten wollte«, antwortete Delãny. »Ich habe ein Leben ausgelöscht, um ein anderes zu retten.«

»Und wer gibt dir das Recht dazu?«

Andrej fühlte sich hilflos. Michail Nadasdy hatte ihn so vieles gelehrt, aber auf eine Situation wie diese hatte er ihn nicht vorbereitet.

»Ich weiß es nicht«, gestand er nach kurzem Zögern. »Vielleicht gibt es keinen Grund, der schwer genug wiegt, ein Leben auszulöschen. Aber wenn ich wieder vor der Entscheidung stünde, würde ich es wieder tun.«

»Hast du den goldenen Ritter deshalb verschont?« fragte Frederic böse. Seine Feindseligkeit war nichts als Trotz, kindlicher Zorn und vor allem Furcht, die ein Ventil suchte und dafür verantwortlich war, daß der Junge einfach auf den ersten Menschen losging, den er sah. Sie hätte von Andrej abprallen sollen, ohne ihn zu verletzen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Die Worte taten so weh, daß er für einen Moment nicht in der Lage war, etwas darauf zu erwidern.

»Ich bin nicht ganz sicher, wer wen verschont hat«, sagte er schließlich. »Aber wir werden uns wiedersehen, keine Sorge.«

Er drehte sich mit einem Ruck herum. »Komm mit«, sagte er. »Wir haben einen Gefangenen. Ich bin sicher, er hat eine Menge interessanter Dinge zu erzählen.«

Der dritte Angreifer hatte versucht, sich davonzuschleppen und den Waldrand zu erreichen, aber seine Kräfte hatten ihn auf halber Strecke verlassen. Er lag wimmernd im Gras. Als Andrej und Frederic herankamen, hob er die Arme vors Gesicht und schluchzte vor Angst. Vielleicht auch vor Schmerz. Sein rechtes Knie war zertrümmert. Andrej mußte nur einen einzigen, flüchtigen Blick darauf werfen, um zu wissen, daß es nie wieder heilen würde.

Der Anblick versetzte ihm einen leichten, aber überraschend schmerzhaften Stich. Auch das war etwas, worauf Michail Nadasdy ihn nicht hatte vorbereiten können. Er hatte ihn gelehrt, mit Fußtritten, Ellbogenstößen und Schlägen der bloßen Hand armdicke Holzscheite zu zertrümmern, und er hatte ihm gesagt, daß er mit der gleichen Leichtigkeit Knochen zerbrechen und Schädel einschlagen konnte.

Aber es gab einen Unterschied zwischen Wissen und Erleben, und dieser Unterschied war entsetzlich.

Er bedeutete Frederic mit einer Kopfbewegung, zurückzubleiben, ließ sich neben dem Verwundeten auf die Knie sinken und zwang mit sanfter Gewalt seine Arme herunter.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Ich werde dir nichts tun.«

Seine Worte zeigten keine Wirkung. Die Furcht in den Augen des Mannes explodierte zu nackter Panik, er begann am ganzen Leib zu zittern.

»Nein!« wimmerte er. »Rühr mich nicht an! Du bist der Teufel! Es ist wahr, was sie über dich erzählen.«

»Was erzählen sie denn?« fragte Andrej.

»Daß ihr mit dem Teufel im Bunde seid«, wimmerte der Krieger.

»Wir?«

»Die Delãnys«, antwortete er. »Ihr seid Zauberer. Hexer, die sich der schwarzen Magie verschrieben haben.«

Andrej sah aus den Augenwinkeln, wie Frederic zusammenzuckte, widerstand aber der Versuchung, sich zu dem Jungen herumzudrehen.

»Habt ihr Barak deshalb gefoltert?« fragte er.

»Ihr seid Hexer«, beharrte der Mann. »Ihr seid mit dem Teufel im Bunde. Niemand kann euch töten.«

»Wenn du das wirklich glaubst, dann war es ziemlich töricht von euch, es überhaupt zu versuchen«, antwortete Andrej. Er zwang sich, das verletzte Bein des Mannes einer zweiten, eingehenderen Untersuchung zu unterziehen, jedoch ohne zu einem anderen Ergebnis zu gelangen. Der Verletzte würde für den Rest seines Lebens ein Krüppel bleiben, falls er nicht in den nächsten Tagen an Wundbrand starb. Andrej konnte nichts für ihn tun - außer vielleicht seine Schmerzen ein wenig zu lindern. Ohne auf die schwachen Proteste des Mannes zu achten, tastete er nach einem der versteckten Nervenknoten, die Michail Nadasdy ihm gezeigt hatte, und übte für einige Momente einen schwachen Druck darauf aus. Die Schmerzen des Mannes würden nicht völlig verschwinden, aber doch auf ein weitaus erträglicheres Maß herabsinken. Wenigstens für eine Weile.

»Bevor du es sagst«, bemerkte er. »Das war keine Zauberei und auch kein Teufelswerk, sondern nur eine uralte Heilkunst aus einem fernen Land.«

Es war sinnlos. Die Angst auf den Zügen des Mannes erreichte ein Maß, das Andrej nicht mehr nachempfinden konnte. Es war gleich, was er zu ihm sagte oder was nicht, der Krieger war nicht mehr in der Verfassung, irgend etwas anderes zu empfinden als Angst.

»Wie ist dein Name?« fragte er.

»Draskovic«, antwortete der Krieger.

»Draskovic, gut.« Delãny nickte und legte sich seine nächsten Worte sehr sorgfältig zurecht. Es war möglich, daß er den Krieger umbrachte, wenn er die falsche Frage stellte oder Draskovic die falsche Antwort gab.

»Wer hat euch nach Borsã geschickt, Draskovic?« fragte er.

»Vater Domenicus«, antwortete Draskovic. »Laß mich in Ruhe! Geh! Töte mich, wenn du willst, aber ich ... ich werde nicht mehr mit dir reden.«

»Ich werde dich nicht töten, Draskovic«, sagte Andrej ruhig. Er haßte sich für seine nächsten Worte, aber als er sie aussprach, klang seine Stimme so kalt und drohend, daß er fast Angst vor sich selbst bekam. Vielleicht war das schwarze Feuer in ihm nicht erloschen, sondern hatte etwas in Brand gesetzt, das nun tief am Grunde seiner Seele wie ein böses Geschwür heranwuchs.

»Ich werde dich nicht töten, Draskovic«, wiederholte er. »Weder jetzt noch später. Wenn du meine Fragen ehrlich beantwortest, wird dir nichts geschehen. Wenn du dich weigerst oder lügst, werde ich deine Seele nehmen.«

Draskovic starrte ihn an. Er wollte etwas erwidern, aber seine Stimme verweigerte ihm den Dienst. »Ich bin kein Zauberer, und ich bin auch nicht der Teufel«, fuhr Andrej fort. »Aber ich weiß, wie man ihn ruft. Wer ist Bruder Domenicus, und warum habt ihr die Delãnys überfallen?«

Draskovic zitterte immer heftiger, und die Angst in seinen Augen wurde zu etwas, das die Grenzen des Wahnsinns berührte.

Dann begann er zu reden.

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